Theodor Storm
Geschichten aus der Tonne

[329] Einer der wackersten Spielkameraden in meinen Knabenjahren war Claas Räuber. Er war der Sohn eines armen Schuhflickers und schon seit mehreren Jahren ein Stadtwaisenkind; den Beinamen Räuber aber hatten seine Genossen ihm gegeben, weil er in dem Spiel »Räuber und Soldat«, das wir an hellen Sommerabenden zu exerzieren pflegten, eine besondere Geschicklichkeit besaß und daher auch stets nur als Räuber ausgehoben wurde. Trotz seines abschreckenden Titels aber war Claas Räuber der ehrlichste und spaßhafteste Bursche von der Welt und besaß außerdem noch ein anderes, von seinen Genossen sehr geschätztes Talent.

An den kurzen Herbstabenden nämlich, wo uns für die ausgelassenen Spiele nach der Schulzeit gar bald das Licht ausging, pflegten wir uns auf den breiten Steinen einer Haustreppe zusammenzufinden, und nun hieß es: »Stücken vertellen.« Hier war nun Claas Räuber wieder der beste und beliebteste Kamerad, denn sein Reichtum an allen möglichen Arten von Döntjes und Schnurren war unerschöpflich. Je heimlicher aber und verborgner wir unseren Märchensaal aufgeschlagen hatten, desto schöner hörten sich die Geschichten an, desto lebendiger traten all die wunderlichen und süßen Gestalten, die verwünschten Prinzen und Prinzessinnen, Schneewittchen und die Frau Holle vor unsere Phantasie; ja ich erinnere mich, daß wir einmal bei einer solchen Gelegenheit ganz deutlich den Niß Puk aus einer Dachöffnung in meines Vaters Scheune herausgucken sahen und infolgedessen einen zwar vergeblichen Feldzug durch die sämtlichen [329] Böden gegen den Kobold unternahmen. Mich vorzüglich trieb jene Vorliebe für heimliche Erzählungsplätzchen zur Entdeckung immer neuer Schlupfwinkel. So hatte ich unter andern eine große leere Tonne dazu ausersehen, welche in einem Packhause unweit meines Vaters Schreibstube stand. In dieser Tonne hab ich die schönsten Geschichten meines Lebens gehört. Sie war das Allerheiligste, das nur von mir und Claas bezogen wurde. Hier kauerten wir abends, wenn ich aus den Privatstunden kam, zusammen, nahmen meine kleine Laterne, die wir zuvor mit einigen Lichtendchen versehen hatten, auf den Schoß und schoben, nachdem wir hineingeklettert waren, ein großes, auf der Tonne liegendes Brett von innen wieder über die Öffnung derselben, so daß wir wie in einem kleinen Stübchen zusammen saßen. Wenn nun die Leute abends nach meines Vaters Schreibstube gingen und ein dumpfes Gemurmel aus der alten Tonne aufsteigen hörten und einzelne verlorene Lichtstrahlen daraus hervorschimmern sahen, so konnte der alte Schreiber nicht genug die wunderliche Ursache davon berichten.

Hätten die lieben Leute bei uns in der Tonne gesessen, so hätten sie wohl selbst Gefallen an unseren Abendunterhaltungen gefunden, wozu ich den Leser nach zwanzig Jahren nachträglich aufs beste eingeladen haben will.


»Nun, Claas«, sagte ich, nachdem ich unser Häuschen gehörig verschlossen hatte, »was hast du denn heute abend?«

»Es ist ein ganz altes Stück«, sagte Claas, »das meiner Großmutter schon von ihrer Urgroßmutter erzählt ist, und die hat gesagt, es sei ein Stück aus der Mauskiste.«

»Nun«, sagte ich, »so erzähle; die Stücke aus der Mauskiste sind mir immer die liebsten gewesen.« Und Claas erzählte:

[330] Das Märchen von den drei Spinnfrauen

Es war einmal ein Dienstmädchen, die war ebenso schön, als sie ehrbar und fleißig war; auch war sie im Nähen und Stricken und anderer häuslichen Arbeit wohl erfahren, nur spinnen konnte sie nicht. Sie hatte aber einen Freier, der war reich und jung und war gewaltig aufs Spinnrad versessen. Als nun die Hochzeit heranrückte, so kam er eines Sonntags zu ihr und ließ sich zehn Pfund Flachs nachtragen. Er umarmte sie und sprach: »Kannst du diesen Flachs zum feinen Faden verspinnen, dein goldenes Haar würde mir noch einmal so lieb sein. Hast du's fertig zum Sonnabend, so soll die Hochzeit sein.« Dann ging er fort; sie aber wußte sich keinen Rat, wer ihr die große Menge Flachs in so kurzer Zeit verspinnen sollte, und ging hinaus auf den Weg und weinte. Wie sie so eine Strecke gegangen war, kam sie an eine Hütte; als sie die Tür aufgemacht hatte, sah sie drinnen eine Frau am Spinnrad sitzen, die hatte Lippen, die waren so – lang. Das Mädchen erschrak gar heftig vor dieser Gestalt; denn die Alte brummte böse vor sich weg, was sie bei ihr zu suchen habe. Bald aber faßte sie sich einen Mut und sprach: »Ach! liebe Frau, ich sehe, daß Ihr gar tätig und kunstvoll seid; wolltet Ihr mir diesen Flachs nicht verspinnen bis zum Sonnabend der Woche? Ich will Euch gerne das Pfund mit einer baren Mark bezahlen.« Die Alte besah den Flachs und sagte, das sei unmöglich, soviel Flachs in einer Woche. Da fiel das Mädchen vor ihr auf die Knie und erzählte ihr alles und daß sie sonst keinen Mann bekommen würde. Als die Alte das hörte, schlug sie in sich und sagte: »Steh nur auf, Töchterchen, der Flachs soll versponnen werden; aber da muß ich deinen Ehrentag doch mitmachen.« Das Mädchen ward so froh, daß sie alles versprach, und ging dann ihren Weg wieder nach Haus.

Am Sonnabend hatte sie das schönste Garn im Hause, und als am Sonntage der Bräutigam kam, da freuete er sich über den Faden, der fast so fein war und so golden war als das [331] Haar seiner Braut; aber er ward durch das saubre Gespinste nur immer begieriger und konnte sein Herz nicht zufriedengeben. Daher küßte er seine Braut und sprach: »Noch diese sechzehn Pfund zum nächsten Sonnabend, dann soll die Hochzeit sein.« Damit ging er fort; die Braut aber ging in Traurigkeit den alten Weg hinaus und ging die erste Hütte vorbei und kam zu einer zweiten. Sie stieß die Tür auf und trat hinein; da saß drinnen eine alte Frau am Spinnrad, die hatte eine Nase, die war wohl eine Elle lang. Marie aber hatte sie mit der Tür an ihre große schöne Nase gestoßen; darüber schrie und schalt die Frau und war ganz braunrot im Gesicht, und die Nase schwoll ihr wie eine Blutwurst. Das Mädchen aber faßte sich einen Mut und erzählte ihr alles, wie es war, und daß sie keinen Mann bekäme, wenn das Garn nicht gesponnen wäre zum Sonnabend der Woche, und bot ihr zwanzig Schilling Spinnerlohn das Pfund. Die Frau besah den Flachs und sagte, es sei unmöglich; aber wenn sie mit auf ihrer Hochzeit tanzen dürfe, so wolle sie es versuchen. Da ward das Mädchen froh und ging heim, und am Sonnabend hatte sie das schönste Garn im Hause, noch ebener, als das erste war. Als aber der Bräutigam am Sonntag zu ihr kam und das saubre Gespinste betrachtete, da wollte er sich noch nicht zufriedengeben, sondern brachte aufs neue zwanzig Pfund und sagte: »Noch dieses bis zum Sonnabend, dann soll gewiß die Hochzeit sein.« Als er fortgegangen war, blieb das Mädchen in großer Traurigkeit zurück; denn es schien ihr unmöglich, das Verlangte ins Werk zu setzen. Es war aber schon Abend, und die Sterne schienen klar auf die Erde, und als sie so in trüben Gedanken den alten Weg wieder einschlug, da fiel ein Stern vom Himmel, der blieb in ihrer Schürze liegen auf dem Flachs; da dachte sie dran, daß ihre Mutter ihr immer gesagt habe, das bedeute Glück, und als sie etwas weiter gegangen war, da fand sie beim Sternenschein eine Kleevier und steckte sie ans Mieder; und als sie noch etwas weiter gegangen war, da gesellte sich ein schneeweißes Lamm zu ihr, dem ging sie nach, und so kamen beide an eine Hütte; [332] da saß drinnen eine alte freundliche Frau am Spinnrad, die war so breit, daß sie auf drei Stühlen nicht Platz hatte. Die Frau aber fragte das Mädchen, was sie herführe. »Es muß Gottes Schickung sein«, antwortete sie und erzählte ihr alles; und die Frau versprach ihr, das Garn zu spinnen, unter der Bedingung, daß sie mit zur Hochzeit käme. Das Mädchen aber ging frohen Herzens nach Hause, und als nun der Sonntag kam, da zeigte sie dem Bräutigam das Gespinste, das schöner war als alles andre. Da vermochte er der Schönheit des Mädchens nicht länger zu widerstehn und sagte: »Morgen soll die Hochzeit sein«; die Braut aber gedachte mit Angst ihres Versprechens. »Ich habe drei alte Bekannte«, sagte sie, »erlaubt mir, daß ich sie mit zur Hochzeit lade.« Der Bräutigam aber sagte es ihr willig zu, sie möchte laden, was sie an Freunden und Sippschaft hätte.

Als nun der Tag vorüber war, so war die Hochzeit; da ging's lustig her, und waren viel feine und saubre Leute zu Gast, denn der Bräutigam war wohl angesehen. Als nun die Gäste beinahe versammelt waren, so hielten noch drei Kutschen vor der Tür; da kam aus der ersten die mit den breiten Lippen, aus der zweiten die mit der langen Nase, und aus der dritten – – – nein, die dritte kam nicht heraus, denn die Kutschentür war zu eng, die mußte mit Stricken herausgezogen werden. Die drei gingen nun in den Hochzeitssaal und pflanzten sich unter den andern Frauen der Reihe nach auf. Die Gäste erstaunten sehr, und der Bräutigam fragte die Braut: »Wie kamst du zu der garstigen Freundschaft?« Dann ging er zu der ersten und fragte: »Liebe Frau, habt Ihr allzeit solche breite Lippen gehabt?« – »Ei, mein Söhnchen«, antwortete sie, »wie sollte man nicht breite Lippen haben, wenn man so lange am Spinnrad sitzt und den Faden leckt.« Darauf ging er zu der andern und fragte: »Liebe Frau, habt Ihr allzeit eine so entsetzlich lange Nase gehabt?« – »Ei, mein Söhnchen«, antwortete die, »da muß einem die Nase wohl ausschießen, wenn man so lange Jahre sitzt und nickt und tritt das Rad und stößt mit der Nase den Flachs auseinander.« [333] Endlich ging er auch zur dritten und fragte: »Liebe Frau, seid Ihr allzeit so gewaltig breit gewesen?« – »Ei, mein Söhnchen«, antwortete sie, »da muß man wohl breit werden, wenn man so lange Jahre am Spinnrad sitzen muß.« Da befiel den Bräutigam auf einmal eine Angst, daß seine Braut wegen des vielen Spinnens auch schon zu solchen Mißgestaltungen ansetzen möchte. Daher nahm er sie schnell in seinen Arm und besah sie von allen Seiten, aber er fand sie noch schlank und schön, daß es eine Freude war. Das Spinnrad aber ließ er heimlich zerschlagen, und war von der Zeit an vom Flachsspinnen nicht mehr die Rede, sondern als die Hochzeit vorüber war, lebten sie ohne Spinnrad in Glück und Freuden, denn wenn er unwirsch war, war sie freundlich. –


»Das Stück gefällt mir«, sagte ich, »vorzüglich, weil es am Ende doch noch so herauskommt, daß die alten häßlichen Spinnfrauen drei wohltätige Feen sind; aber unrecht war es doch von der Marie, daß sie ihrem Bräutigam solche Flausen vormachte.«

»Oh!« versetzte Claas, »meine Mutter pflegte immer zu sagen, das müsse eine schlechte Frau sein, die ihrem Manne nicht einmal was vormachen könnte, denn die Männer wären gar zu oft unvernünftig.«

»Das gefällt mir nicht«, erwiderte ich, »meine Frau soll mir nichts vormachen, auch wenn ich unvernünftig bin.«

»Nun«, sagte Claas, »du hast auch noch lange keine, sei jetzt nur still, da fällt mir gleich noch ein anderes Stück ein.«

»Wie heißt denn das?« fragte ich. Claas aber dehnte sich, daß die Tonne knackte, und erzählte dann das Stück:

Se dohn sick wat to gude

»Nu will wi uns wat to gude dohn«, sagte Frau Marthe; da ging ihr Mann, der Schustermeister, aus der Haustür, und die Frau »Naversch« watschelte hinein. ›Aha‹, dachte der [334] Meister, der es gehört hatte, ›nu geit 't över Koffee und Zucker her.‹ Als er aber nach einer halben Stunde wieder nach Hause kam, da ging »Fru Naversch« eben wieder aus der Stube, und die Kaffeetassen standen unberührt auf dem Brett über der Tür. Da konnte der Mann gar nicht begreifen, was doch die Weiber sich zugute täten. Es dauerte aber nicht lange, so ging er wieder aus dem Hause und sagte, daß er so bald nicht wiederkommen würde. Kaum ist er um die nächste Ecke, so hört er noch seine Frau rufen: »Kumm Se 'n bät um, Naversch, nu will wi uns recht wat to gude dohn«; und wie er so über die Straßensteine schreitet, so kann er's immer nicht loswerden, und er muß immer denken: ›Wat willt se sick denn to gude dohn?‹ Kaum kommt er wieder nach Hause, so geht »Naversch« aus der Tür, und die Tassen stehen ruhig auf ihrem Platz, ist auch sonst nichts gerührt. Da nimmt der Mann seine Marthe vor und fragt: »Na, laat mi doch oock mal wäten, wat jüm jüm denn to gude doht!« Die Frau aber sagt, daß sei nur so eine Redensart, und was sie sich wohl zugute tun sollten; sie täte sich nichts zugute als mit Arbeit und Plagen den ganzen Tag; genug, der Mann bekommt's nicht heraus. Da dacht er's mit List anzufangen – denn es ließ ihm nun einmal keine Ruhe mehr – und sagte eines Nachmittags, er wolle aufs Land gehen. Damit geht er um die nächste Ecke und hört sein Weib an »Fru Naversch« Fensterscheiben klopfen und wie gewöhnlich sagen: »Kumm Se 'rum, Naversch, min Ohl' is uut; wi willt uns en bät to gude dohn.« Der Mann aber geht hinten wieder ins Haus hinein und steigt leise die Bodentreppe hinauf; als er oben ist, bohrt er ebenso leise ein Loch in den Boden und sieht nun deutlich in die Stube hinab. Da sitzen Frau Marthe und Frau Naversch gegeneinander über, die Arme ineinandergeschlagen auf dem Tisch und die Feuerkieken unter den Füßen. ›Na‹, denkt der Mann, ›dohn se sick all wat to gude?‹ Aber auf dem Tisch liegt nichts als der wollne Strickstrumpf der Frau Marthe. Und wie die Weiber sich so einander gegenübersitzen, so fangen ihre Augen ordentlich an zu brennen und zu funkeln, [335] so als wenn die Katz einen Kanarienvogel oder eine feine Nachtigall zerreißen will.

›Na‹, denkt der Mann, ›nu geit 't los‹, und erwartet jeden Augenblick, daß die Magd das heimliche Gericht auf den Tisch tragen solle. Es kam aber keins, und doch ging's nun in der Tat los, und die Zungen hatten heiße Arbeit. Das war ein ganz anderes Gericht, das blieb nicht bei einem gebratenen Täubchen oder Hühnchen; die ganze Stadt verschlangen die beiden Weiber; Väter, Mütter, Bräute, Kinder, alle mußten herhalten, kaum die Wiegenkinder blieben verschont, und war bald von allen kein Haar mehr übrig. Dabei schmatzten sie mit den Lippen, und die Zungen gingen ihnen wie zwei Messerspitzen, und ihre Augen wurden immer brennender und gieriger, daß es genau den Anschein bekam, als wenn sie sich zum Beschluß noch selber verschlingen wollten, damit doch alles verputzt sei und es morgen schön Wetter werde. ›Tööf still‹, denkt der Meister, steigt leise die Bodentreppe herunter und platzt mit einem Male in die Stube hinein. Da wurden die Weiber auf der Stelle ruhig, Frau Marthe nahm hastig den Strickstrumpf in die Hand; Fru Naversch wickelte die Schürze um die Arme und wollte zur Tür hinaus. »Tööf still«, sagte der Mann und verschloß die Tür, »nu paß mal op, nu will ick mi mal wat to gude dohn.« Somit nahm er den Knieriemen von seinem Schustertisch, kriegte seine Frau Marthe beim Kranshaken und fing an, sie etwas durchzugerben, wobei er in einem fort ausrief: »Dat is för Hans und dat is för Greth, und dat is för Greth und dat för Hans«, und dabei ging es immer: »Hast du mich gesehen!« – »Sieh so,« sagte er endlich und warf den Knieriemen wieder auf den Tisch, »up so 'n Maaltied, as du von Dag holen hest, schall so 'n Motschion di wull gut dohn.« Dann schloß er die Tür auf, und Fru Naversch schlich wie 'ne Katze aus der Stube. »Nu nehm Se sick in acht«, rief der Meister hinterdrein, »dat ick mi nich ock 'n mal bi Är to Gaste laad.«

Seit der Zeit haben Frau Naversch und Frau Marthe sich niemals etwas wieder zugute getan; denn Frau Marthe hatte [336] allen Appetit auf ihre Nebenmenschen verloren; und – Schnipp, schnapp, schnuut, min Stück is uut! –


»Das ist ein sonderbares Stück, Claas«, sagte ich und putzte mit meinem Taschenmesser unser Lichtendchen; »das hast du wohl selbst gemacht.«

»Nein«, versetzte Claas, »das hat mein Vater immer meiner Mutter erzählt, wenn sie den Mund nicht darüber halten konnte, daß die Frau Muhme so breite Knüppels auf der Dormeuse trage.«

»Aber hat denn dein Vater seine Frau auch mitunter mit dem Knieriemen gegerbt?« fragte ich.

»So alle Festtage einmal«, erwiderte Claas, »er sagte dann immer, das sei nach dem jütschen Lov. – Aber nun sollst du auch etwas erzählen; denn mir wird der Mund trocken, und es ist hier auch gewaltig heiß in der Tonne.«

»Ich kann besser hören, lieber Claas«, sagte ich, »erzähle nur noch ein einziges kleines Stück; dein Vater hat dir ja soviel Schönes erzählt. Ich will das Brett etwas von der Tonne schieben. – Siehst du, nun ist's wieder ganz kühl und luftig!«

Und Claas ließ sich noch einmal bewegen und erzählte:

»Dree to beed«

Es wohnte einmal in einem Dorfe eine alte Frau, die hatte viel Geld und Gut. Nun hätte wohl mancher langfingrige Bursche sich gern sein Teil davon genommen; aber die Frau stand in dem Ruf, als könne ihr nichts verborgen bleiben. Trotzdem fanden sich jedoch drei Bursche, die nicht für voll dran glaubten und sich berieten, wie sie abends der Alten ein gut Stück Geld abholen möchten. Nun aber pflegte die Frau, wenn sie abends beim Spinnen das erstemal gähnte, zu sagen: »Dat wer een to Bedd«, wenn sie zum zweitenmal gähnte: »Dat weren twee«, und wenn sie beim drittenmal gesagt [337] hatte: »Dat weren dree!«, so setzte sie hinzu: »Nu kaam ick!« und ging zu Bette.

Als nun Abend geworden war, so kam der erste von den drei Dieben und guckte ins Fenster, da saß die Alte noch bei ihrer Lampe und spann. »Oha!« sagte sie und gähnte, »dat wer een!« Der Bursche aber glaubte, die kluge Frau habe ihn gemeint und wisse um ihr ganzes Vorhaben. Da machte er lange Beine und lief zu den andern zurück und erzählte ihnen, wie es ihm ergangen. Darauf kam der zweite dran; der guckte auch ins Fenster, da gähnte die Frau zum zweitenmal und rief: »Oha, dat weren twee!« Da glaubte auch er, die Frau meine ihn damit, weil er der zweite war, und lief zurück wie der erste. – »Jüm sind man all dumme Jungens«, rief der dritte und machte sich ebenfalls auf den Weg. Als er aber ans Fenster kam, da gähnte die Alte zum drittenmal und rief: »Oha, dat weren dree!« Dann stieß sie das Spinnrad von sich, stand auf und setzte hinzu: »Nu kaam ick!« Da lief der dritte auch weg; die Frau aber ging ruhig in ihr Bett.

»Denn«, pflegte mein Vater zu sagen, »wer ein bös Gewissen hat, den kann ein altes Weib mit der Nachtmütze durchs Schlüsselloch jagen.«


Als Claas diese Geschichte auserzählt hatte, hörten wir die Turmuhr neun schlagen, und von der Hoftür aus rief die Magd zum Abendessen. Da nun auch unsre Lichtendchen allmählich eins nach dem andern verbrannt waren, so hatten für diesen Abend die Geschichten in der Tonne ein Ende.


Notes
Erstdruck: Köln (Schaffstein) [1919], (Schaffstein's blaue Bändchen, 102).
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TextGrid Repository (2012). Storm, Theodor. Geschichten aus der Tonne. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-1CEC-F