[50] Ein Märchen

Als jüngst im grünen Hage
Am Schlaf sich ein Dichter geletzt,
Da hat das Fräulein Sage
Sich neben ihn hingesetzt.
Es war ein schmuckes Pflänzchen,
Nur etwas sehr kokett;
Im Haare das Efeukränzchen,
Das stand ihr gar zu nett.
Ihr Haar war lang und flachsen,
Ihr Nacken war superb,
Sie war recht gut gewachsen,
Nur etwas gar zu derb.
Von Schminken und Schönheitspflastern,
Da ward dem Dichter nichts kund;
Ihr Busen war alabastern,
Nur etwas gar zu rund.
Ihr Aug' war tief und nächtig,
Nur etwas gar zu groß,
Sie trug sich reich und prächtig,
Nur etwas gar zu bloß.
Sie machten Wahlverwandtschaft,
Der Dichter war galant,
Sie war bei nährer Bekanntschaft
Ausnehmend interessant.
Viel Bilder, alt' und neue,
Die malte sie frisch und gut,
Das Blaue mit Augenbläue,
Das Rote mit Heldenblut.
Das Grüne mit Schmelz der Triften,
Das Goldne mit Sonnenpracht,
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Das Helle mit Himmelslüften,
Das Dunkle mit Waldesnacht.
Sie erzählte lange Geschichten,
Geschichten von Lust und Weh,
Von den Nixen, ihren Nichten,
Von ihrer Tante, der Fee.
Sie sprach mit vielem Geschnatter,
Nach echter Fräuleinsart,
Von dem Kobold, ihrem Gevatter,
Und seinem langen Bart.
Vom Strommann im Flutkristalle
Erzählte sie Zauberwerk,
In des Berges Rubinenhalle,
Da kannte sie jeden Zwerg.
Mit der Heinzelmännchen Gelichter,
Da hatte sie oft getost;
Ein jeder der toten Dichter,
Der hatte mit ihr gekost.
Ein jeder der toten Ritter,
Das war ein Buhle von ihr,
Sie folgt' ihm ins Kampfgewitter,
Als Fräulein Aventür'.
Dem Dichter täten gefallen
Nicht ganz die Märchen der Fee,
Er vermißte in dem allen
Die politische Grundidee.
Er frug mit ängstlichem Flüstern
– Die Sache war riskant –
Nach den Elfen, ihren Geschwistern,
Und den Dingen aus Elfenland.
Er schwärmte ganz ekstatisch
Von der Elfenkonstitution,
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Er bot recht demokratisch
Der Elfenregierung Hohn.
Sie aber sprach gar nicht verbindlich:
Mein Herr, was schwatzen Sie da!
Das erzählt man täglich und stündlich
Auf allen Märkten ja.
Von Ihren Freiheitsglorien,
Da schwärmt ja jedermann,
Was gehn dergleichen Historien
Ein romantisches Fräulein an.
Und wer unter Märchenbäumen
Will schlummern ungeniert,
Der muß die Welt verträumen
Und wie sie wird regiert.
Und wer sich an meinem Zauber
Nicht freun kann innig und ganz,
Der ist ein Blöder und Tauber
Beim tönenden Sphärentanz.
Das Fräulein tät sich flüchten,
Er aber glaubt' ihr nicht,
Er machte aus ihren Geschichten
Ein politisches Lehrgedicht.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Strachwitz, Moritz von. Gedichte. Lieder eines Erwachenden. Romanzen und Märchen. Ein Märchen. Ein Märchen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-2010-7