y.

Ich war Informator in einem adligen Hause. Eines Tages komme ich nach Hause, öffne die Tür meines Zimmers und sehe vor mir eine Leiche auf dem Paradebette liegen. Ich war ganz sprachlos; als ich anfing, meine Gedanken zu sammeln, war die Erscheinung verschwunden. Das Gesicht verfolgte mich von da an Tag und Nacht. Ich glaubte zuletzt, darin den Finger Gottes sehen zu müssen, der mich auf einen baldigen Tod aufmerksam machen wollte, traf alle Vorbereitungen, [192] die man im Hinblick auf das kommende Ende zu treffen pflegt, und ergab mich in Gottes Willen. Nach einiger Zeit erkrankte einer der Söhne des Hauses. Die Krankheit nahm einen gefährlichen Charakter an, der Kranke wurde von Stunde zu Stunde unruhiger und verfiel bald auf diesen, bald auf jenen Wunsch. Zuletzt kam er auf den Einfall, in meinem Zimmer gebettet zu werden, dort werde er sich besser fühlen. Ich gab selbstverständlich meine Zustimmung, eilte sofort nach oben, um dorthin, wo ich früher die Leiche gesehen hatte, eine Kommode zu schieben, damit nicht das Bett des Kranken da zu stehen komme. Der Gedanke, der Spuk, den ich gesehen, könne sich auf meinen kranken Zögling beziehen, war mir unerträglich. Das Bett wurde nach meiner Anordnung aufgestellt, der Knabe hineingelegt und verhielt sich von da an ruhig. Einige Tage darauf war er tot. Nun wurde plötzlich die Frage aufgeworfen: Wo bahren wir die Leiche auf? Ich erklärte mich dahin, die Leiche dort aufzubahren, wo das Sterbebett stand. Da kommt die Mutter und sagt: »Nein, dort nicht, – wo die Kommode steht, da ist der beste Platz.« Ich durfte nicht widersprechen. Die Kommode wurde beseitigt, und wo ich früher die Leiche gesehen hatte, ruhte bis zum Begräbnis der junge Verstorbene auf dem Paradebette. (Der Erzähler ist Oldenburger und heute (1908) über 80 Jahre alt.)

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Strackerjan, Ludwig. Sagen. Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. Erster Band. Erstes Buch. Vierter Abschnitt. Vorgeschichten. Nachträge. y. [Ich war Informator in einem adligen Hause. Eines Tages komme ich]. y. [Ich war Informator in einem adligen Hause. Eines Tages komme ich]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-2CA3-E