Familie Ramler

Herr Ramler war in München Rentner.
Er wog die zwei bekannten Zentner
Und wohnte in der Lindwurmstraß',
Wo er dazu ein Haus besaß.
Sein Barvermögen, wie sie sagen,
Hat vierzigtausend Mark betragen,
Das ist verzinst mit vier Prozent
Ganz hübsch. Und Ramler war solvent.
Er war nicht tätig und geschäftlich
Und auch nicht arbeitsleidenschäftlich,
Er nahm den Mietzins pünktlich hin
Und steigerte auch manchmal ihn.
Er ließ sich jeden Tag verlocken
Zu Tertel, Schafkopf und Tarocken,
War bei drei Kegelabend' und
Beim Zimmerstutzenschützenbund.
Ich dächte, hiemit sei gegeben
Der Inhalt von Herrn Ramlers Leben.
Und sie – was seine Frau betraf –
Hieß Zenzi und geborne Graf.
Sie war natürlich neununddreißig,
In ihrem Fache auch so fleißig
Wie seinerseits der Herr Gemahl,
Der Gatte ihrer frühen Wahl.
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Fast als der Inhalt von zwei Blusen
Erschien ihr ungeheurer Busen.
Für jemand, der die Fülle liebt,
Der schönste Anblick, den es gibt.
Und dann die Rundung unterm Rücken
War meterweise ein Entzücken.
Im Geiste legt man seine Hand
Auf dieses schöne Wunderland.
Man kann sich denken, daß ihr Gatte
Nicht viel Verständnis für sie hatte.
Nach zwanzig Jahr' bleibt nichts zurück
Vom Feuer und vom Eheglück.
Sie war, wie viele, unverstanden,
Das heißt, es kam ihr auch abhanden
Der Honig, der ihr lieblich schien,
Und sonstiges von ihrem Bien.
Der Ehe waren auch gelungen
Zwei Töchter mit Befähigungen,
Die Zenzi zählte achtzehn Jahr',
Als Fanny kaum noch siebzehn war.
Sie waren beide rund entwickelt,
Nur daß die Fanny stark gepickelt
Von saurem Blute schien und wohl
War schuld Papa sein Alkohol.
Der Grundcharakter der Erscheinung
War nach der allgemeinen Meinung
Der von Mama, sehr rund und nett,
Entwicklungsfähig im Korsett.
Den dito hinteren Partien
War jetzt schon mancher Reiz verliehen,
Sie gaukelten im Zukunftsbild
Als angenehmstes Lustgefild.
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So weit nun alles, was persönlich
Den Leser int'ressiert. Gewöhnlich
Hat die Familie zweckbestrebt
So mühelos als froh gelebt.
Am Vormittag beim Franziskaner,
Am Nachmittag dann nach getaner
Verdauung eine Tasse Kaffee.
So ähnlich war die Grundidee.
Des Abends ging dann ins Theater,
Was weiblich war, indes der Vater
Die Bettschwer' sich durch Bier verschafft
Und fünf, sechs Schoppen Rebensaft.
Des Nachts kam Amor an die Betten.
Vielleicht, daß ihn die Töchter hätten
Begrüßt, doch waren sie noch dumm.
Der Vater drehte sich bloß um.
Mama sah ihn mit Seufzen wandern
Vermutlich hin zu einem andern,
Der dankbar sich dem Gott erschloß
Und nicht mit Zimmerstutzen schoß.
In dieser bürgerlichen Weise
Verbrachte man in Ramlers Kreise
Den Tages-, Wochen-, Mondenlauf.
In diesem Jahre hört' es auf.
Und zwar, wie stets am Isarstrande,
Kam das Verderbnis nun zustande
Im Karneval. Es war auch hier
Wie immer, doch es waren vier.
Begonnen hat es bei der Mutter.
Sie war zu reif, zerging wie Butter
Am Feuer eines Augenblicks.
Fast ohne Walten des Geschicks.
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Ihr Mann war wieder beim Tarocken,
Da konnte sie sofort verlocken
Ein Mensch von Schmederers Ballett.
Sie schwamm in Glück und er in Fett.
Der Sündenfall war unabwendlich
Und er geschah so selbstverständlich,
Als wenn es wirklich gar nichts wär';
Sie dachte ebenso wie er.
Und dachte an den Zimmerstutzen;
Das war ihr hinterher von Nutzen
Zu ihrer Selbstentschuldigung
Bei diesem ersten Seitensprung.
Merkwürdig doch, wie oft wir sehen
Das Gleiche gleicherzeit geschehen,
Dies heißt dann wohl Duplizität
Der Fälle, wer so was versteht.
Als Zenzi fiel, am gleichen Tage
War Ramler in derselben Lage,
Und glaubte, daß die Lumperei
Allein auf seiner Seite sei.
Das reizt so manche Gänseriche
Fast stärker wie das Eigentliche;
Die Sünde liegt im Intellekt
Und schwelgt wie nichts als wie im Sekt.
Es war, vermittelst auch des Sektes,
Ein Sündenfall des Intellektes,
Und Ramler freute sich am Schein,
Ein lüderlicher Mensch zu sein.
Ihm diente förmlich zur Reklame
Das aufgeputzte Mensch, die Dame,
Mit der er so umschlungen saß
Und irgend etwas Teures fraß.
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Den Schluß des Abends zu erraten,
Ist unschwer. Daß er noch in Taten
Der Schlechtigkeit zu Ende ging,
Die Meinung hiefür ist gering.
Jedoch der Wille und Versuche
Gereichen ebenso zum Fluche,
Weil immerhin, sagt der Jurist,
Die Absicht schon verwerflich ist.
So war nun Zenzi nebst dem Gatten
Auf schiefem Weg', und beide hatten
Die Schuld an dem verbotnen Gift,
Was ihre Töchter anbetrifft.
Er nicht daheim, sie auf dem Balle –
Du lieber Gott, in diesem Falle
Denkt sich ein Kind und sagt für sich:
Ich mach' es nach, und warum nich?
Für Zenzi gab sich ein gelockter
Student, ein sogenannter Dokter,
Mit so viel Dummheit eingefaßt,
Wie es für junge Mädchen paßt.
Im Anfang schüchtern, später frecher,
Zuletzt ein Sittlichkeitsverbrecher,
Zuerst ein froher Jugenddrang,
Dann zielbewußter Wachtelfang.
Erst sträubte sich die arme Trude,
Dann saß sie doch in seiner Bude;
Der Engel, der sie stets beschützt,
Entfernte sich, weil er nichts nützt.
Sie ging mit einer absoluten
Verwegenheit schon auf Redouten
Und sah als flotter Domino
Den Vater einmal irgendwo.
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Und alles, was sie da bemerkte,
War so, daß es sie noch bestärkte.
Wie schnell entgleitet aus der Hand
Das zärteste Familienband!
So ging 's bei Ramlers im Terzette.
Was aber frag' ich, ja was hätte
Nun Fanny noch zurückgedrängt,
Wie sie an diesem Abgrund hängt?
Ein Zahnarzt war es, der die Ärmste
Durch Güte und aufs allerwärmste,
Fast väterlich darum beschwor,
Daß sie den Tugendpreis verlor.
Der Habicht wird nur desto kühner,
Wenn eins der sanften, guten Hühner
In seinen Krallen ängstlich hupft.
Die Federn werden ausgerupft.
Das »wie« erlaßt mir, euch zu schildern.
Es führte nur zu solchen Bildern,
Daß jemand mit bewegter Hand
Sie hinterlegt' als Denunziant.
Kurz: Fanny war die Pfirsichblüte
Von duftender Charaktergüte,
Und war entblättert und gepflückt,
Wie es so manchem Zahnarzt glückt.
Der Maler der Familie Ramler
Wird sozusagen Lumpensammler.
Die beiden Töchter, sie und er,
Wer schlechter ist? Die Wahl ist schwer.
Was dann? So frägt man tief in Sorgen:
Wie wird die Zukunft, wird das Morgen?
Wie kann es gehen? frag' ich mich.
Ich glaube, ziemlich sengerich.
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Die Mutter ist nun schon im Schusse,
So weit von ihrem Geniusse,
So weit von ihrem alten Glück.
Die Alte findet nicht zurück.
Der Vater bleibt – das läßt sich denken –
Ein Lump, bis er in den Gelenken
Die Gicht verspürt. Am Marterpfahl
Wird er wohl fromm und klerikal.
Die Töchter werden sich entwickeln
In wilder Lust. Von ihren Pickeln
Wird Fanny im Gesichte frei.
Die Seele? Das ist zweierlei.
Hier kann nichts Gutes mehr entsprießen.
Papa wird zimmerstutzenschießen;
Die Mutter läßt es gern geschehn,
Sie achtet 's nicht und denkt an wen.
Verlassen wir die öde Stätte!
Wenn jeder Mensch die Tugend hätte,
Die uns von selber innewohnt,
Dann würde sie nicht so belohnt.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Thoma, Ludwig. Gedichte. Ausgewählte Gedichte. Moritaten und Balladen. Familie Ramler. Familie Ramler. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5265-D