[156] Das Pantheon

Des Abends Kühle lockt mich herab,
Ich durchwandle die belebten Gassen,
Durch Geschrei und Kauf und Gespräch,
Und irre, dem Corso vorüber,
In unbekannte, dämmernde Straßen hinein.
Wie wohl thut das Umirren
Durch fremde, hochberühmte Stadt;
Jeder Stein wird zum Wunder,
Jeder ohngefähre Laut zum Mährchen.
Ich dränge mich durch den Menschenhaufen,
Und ein neuer, enger, voller Markt,
Liegt mit finstern Buden vor mir,
Das Gewühl des alltäglichen Lebens
Betäubt mein müdes Ohr,
Und plötzlich erhebt sich der Blick
Und schaut vor sich nahe und heilig
Den edelsten Tempel,
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So wohlbekannt aus Bildern,
So vertraut dem Herzen.
Offen ist das Thor der Säulenhalle,
Und wenige Betende knien hier.
Mich umfängt das harmonische Gebäu,
Und edle Gedanken
Wachsen mir licht im Geiste auf.
So ist im Leben
Das Göttliche oft
Dicht am Gemeinen,
Geringen, Alltäglichen,
Nur sieht es nicht das blöde Auge.
Tadle dies Niemand,
Wenn nicht immer große Vorhöfe,
Prachtvolle Plätze,
Weite reiche Ferne
Das Ueberirdische unsern Sinnen vorbereiten.
Wir lieben in vertraulicher Nähe
Das Himmlische zu sehn und zu fühlen.

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TextGrid Repository (2012). Tieck, Ludwig. Das Pantheon. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-549E-E