[13] Stabat mater

An dem Kreuz die Mutter stande,
Schmerzen fühlt sie vielerhande,
Aufgelößt des Herzens Bande,
Wie der Heiland überwande.
Kommt mit mir zum Sehnsuchtslande!
Ach im Brande
Laßt die ganze Seele glühen,
Strahlen aus und einwärts ziehen,
Lilien werden auferblühen,
Nacht und Dunkel schüchtern fliehen
Von dem Lande,
Wo das Kreuz in Thränen stande.
[14]
Ach, Maria, welche Leiden
Mußten deine Seele schneiden!
Wer empfand doch von euch beiden
Wohl zumeist den Tod der Freuden?
Englein, kommt, im Niederklimmen
Laßt erglänzen eure Stimmen,
Ihr wart ja am Kreuz zugegen
Als der Welt geschah der Seegen,
Müßt euch klingend nun bewegen,
Flüglein fein zusammen legen,
Daß in den Gesanges-Stimmen,
Störend mag kein Rauschen schwimmen.
Als die Mutter in dem Sohne
Sah ihr eignes Herze tödten,
Ach, wie ward in bittern Nöthen
Dir des Todes Angst zum Lohne!
O, wo blieb die goldne Krone!
Deine Seele rief zum Throne
Mit dem Sohne: Vater, schone!
[15]
Ach! wer könnte sich versteinen,
Nicht mit dir, Maria, weinen?
Seel' und Herz nicht dir vereinen?
Thränen, brecht hervor mit Scheinen,
Zittert Töne, klage Stöhnen,
Siehe, wie in Schmach, Verhöhnen,
Noth, Angst, Schmerz zerbricht den Reinen!
Aber, Weinen,
Laß in dir ein Lachen scheinen;
Zittert Thränen, freundlich klingend,
Und lobsingend
Tritt hervor du tiefes Klagen!
Wonnevoll sind seine Plagen,
Und das Herz muß zu sich sagen:
Meinethalb hat er's getragen.
Selbst das Kreuz, an das geschlagen
Jesus Christus unverschuldet
Seine schwere Marter duldet,
Will vor Freuden und vor Leiden
Weinen,
Thränen mit dem Blute einen.
[16]
Menschen, seht hier eure Wonnen,
Ausgelöscht sind eure Sonnen,
Ausgetrocknet alle Bronnen:
Aber habt ihr euch besonnen
Daß euch dadurch Heil gewonnen?
Daß mein Herz am Kreuzesschafte,
Milder Jesus, ewig hafte,
Bis es liebend ganz verbronnen!
Ja, es soll in mir zerbrechen!
Klagen, Weinen, holdes Lachen,
Ihr müßt jetzt das Ende machen:
So wie kleine Kindlein sprechen,
Plötzlich aus in Thränen brechen;
Ist es Schuld wohl und Verbrechen,
Wenn sie in den Thränen lachen?
Wunden, seid wie süße Blumen,
Seufzer, aus den Heiligthumen
Steigt empor wie süße Düfte,
Wallet in die Himmelslüfte:
Sehnen,
Thränen,
[17]
Holdseeligkeiten,
Himmlische Freuden,
Wie sie süß und hell verbreiten
Durch mein Herz die Herrlichkeiten!
Nichts soll mich im Tode scheiden,
Jesu Christ, von deinen Leiden!
Sei mir du, Maria, milde,
Gegen dieses Leben wilde,
O du süßes Gottesbilde!
Deine Liebe sei mein Schilde!
Wann die letzte Stunde kommen,
Sei die Seel' in Lieb' entglommen,
In den Himmel aufgenommen.
Amen!
Es vernahmen
Gott, Maria, Christ, die Bitten,
Sie sind nicht von euch bestritten,
Denn sie kamen
Recht hier aus des Herzens Mitten,
Auch für mich hast du gelitten,
Amen!

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Tieck, Ludwig. Gedichte. Gedichte. Zweiter Theil. Gedichte über die Musik. Stabat mater. [An dem Kreuz die Mutter stande]. [An dem Kreuz die Mutter stande]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-567C-8