Weltgericht

S. J. hat hier so oft auseinandergesetzt, wer und was Karl Kraus ist, daß mir zu tun fast nichts mehr übrig bleibt. Kraus hat nun (im Verlag der Schriften von Karl Kraus, München, Luisenstraße 31) zwei Bände erscheinen lassen: ›Weltgericht‹ – dieselben, die in Nummer 17 Eduard Saenger besungen hat. Er wird mich keineswegs hindern, es auch zu tun. Hier ist das gesammelt, was Kraus in der großen Zeit und zu der großen Zeit zu sagen hatte. Das war wie ein Schrei aus einer andern Welt, als er im Jahre 1914 – und so begann es – zu sprechen anhub: »In dieser großen Zeit, die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt . . . « Das waren die ersten Worte eines, der vom August bis zum November 1914 vor Schreck jäh verstummt war (die andern hatten längst ihre Sprache, und was für eine, wiedergefunden). Die dramatis personae dieses Weltgerichts sind tot oder werden es bald sein. Ihr schlechter Atem wird leben. Noch lebt er. Karl Kraus hat ein Geheimnis: er zitiert wörtlich die Zeit, und in seiner Luft, auf seinem Papier [331] enthüllt sie all ihre Widerlichkeiten. Man hat gesagt, er habe nicht gewagt, diesen oder jenen Mächtigen anzugreifen. Was war ihm dieser und jener! Er tat nichts weiter, als die Welt, so wie sie da war, mit den Forderungen Jesu zu vergleichen, und der Höhenabstand war schwindelerregend. Und er hat weniger Wilhelm angegriffen, weil der nur ein Symptom war – er griff alle an, weil er verstanden hatte, daß alle schuld waren.

In diesen beiden Bänden findet sich schon ein Teil des Rohmaterials, aus dem die ungeheure Tragödie der ›Letzten Tage der Menschheit‹ gebaut worden ist: da tanzen die Schmöcke als Polichinells einen blutigen Reigen, da dichten die Dichter, da fotografieren die Fotografen, und alle sind sich darüber einig, daß man mit Speck, Lederlieferung, Poesie und Presselügen durchhalten müsse. Und sie haben durchgehalten. Wir spürens heute noch.

Was aber wie ein roter Faden durch das Buch geht, ist ein Gedanke, so schauerlich und so groß, wie ihn nur wenige gefaßt haben: die Entdeckung des alten Ornaments, das auf die neue Zeit aufgeklebt ist. Daß es einen Kaiser gab und zugleich Eisenbahnen . . . daß einer das Schwert zog und einen Gas-Angriff befahl, und daß man Schlacht sagte, wo Schlachten gemeint war, Schlachtungen durch Maschinen, und daß die Technik die Verantwortung tötete, die die Kollektivität ohnehin schon eingeschläfert hatte. Böse Wahrheiten? Aber Wahrheiten. Es stehen beklemmende Sätze in dem Buch: »Es war bis zur Stunde, da der Wiener doch unterging, mir immer das unheimliche Wunder unsrer Existenz, daß dieses ganze Zubehör von Menschen und Maschinenbestandteilen nicht plötzlich mit einem ›Ah woos‹ sich hinlegte und seine Selbstauflösung den mühevollen Gesten eines unmöglichen Betriebs einfach vorzog.« Und diese paar Worte da, in ihnen eingefangen das Elend von achtzig Millionen: » . . . daß der Marschallstab der oberste Traum eines jeden Soldaten sei. Und ich war zu neugierig, ob er in einem dieser Erdäpfeltornister Platz hätte, an die angebunden solch ein armes, verschmutztes, verquältes Stück Mensch die große Zeit durchkeucht.« Kraus hat erkannt, wer gesündigt hat. Keine Herren. Beileibe nicht. »Sie waren nur Mörder aus Mangel an Phantasie, nicht weils die Sache wollte. Und Herzen mußten zu schlagen aufhören weils ihnen bei der Sorte an Protektion gefehlt hat. Nicht zum Zweck, nicht als Opfer der Natur, nicht in despotischer Verantwortung, die vor der Sünde seelisch sich behauptet, nein, durch vergnügte Spießbürger, die nicht wußten, obs die Schweinsjagd war oder nur die Menschenjagd, ist alles das vollbracht worden. Harmlose Mordskerle waren es, gemütliche Kanaillen, Folterknechte aus Hetz.« Und er prägt das Wort von dem ›Sklavenaufstand‹, und da steht: »Im Angesicht sterbender Männer wird ein Wesen, das mit dem Lorgnon zuschaut, für Tapferkeit dekoriert; Finanzgauner, deren Sprache kaum [332] zur Verständigung über die notwendigsten Berufspraktiken reicht, tragen das Kleid vorzeitlicher Ehre; Cafétiers nehmen mit Veteranen den Appell ab; Judenbuben sind die Dichter der Nation, der sie nicht angehören; und in der Plankengasse habe ich zugeschaut, wie ein Straßenkehrer einen Unterstraßenkehrer wegen vorschriftswidrigen Grußes gestellt hat. Ist nicht, was uns rings umgibt, die aufgewärmte Rache von Vorgesetzten, die Untergebene waren? Von Kellnern, die dem Piccolo heimzahlen, was sie auszustehen hatten? Von einst selbst geschundenen Abrichtern? Dem letzten Knecht ist noch ein Untertan das Pferd.« (Heinrich Mann: »Wie Diederich in der Furcht seines Herren, hatte Guste in der Furcht des ihren zu leben. Beim Eintritt ins Zimmer war es ihr bewußt, daß dem Gatten der Vortritt gebühre. Die Kinder wieder mußten ihr selbst die Ehre erweisen, und der Teckel Männe hatte alle zu Vorgesetzten.«) Und was Karl Kraus in einem seitenlangen Satz über den berüchtigten Einwand, man dürfe nicht generalisieren, sagt, müßte allen Generalen in die Ohren geschrien werden.

Österreich? Preußen. Deutschland. Und die ganze Welt, soweit sie militaristisch durchseucht ist. Ehre dem Tapfern, ders gesagt hat und wieder gesagt und wieder gesagt. Sie hatten aber keine Ohren, zu hören, sondern nur zwei linke Hände, die nicht wußten, was recht ist, und zwei Füße, mit denen sie gingen, es sich zu richten. Dann aber schritten sie stolz, und ohne auf das Gekläff eines Literaten zu horchen, dahin, wohin sie gehörten: in den Abgrund.


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1920. Weltgericht. Weltgericht. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5F2C-5