Der alte Fontane

Damals, so in den achtziger Jahren,
ist man noch nicht mit dem Auto gefahren;
alles ging seinen ruhigen Schritt,
und der alte Fontane ging ihn mit.
Ein stilles Antlitz hatten die Tage:
Frühmorgens bei Kroll, auf der Brunnenwaage
dann die Tiergartenpromenade
(»Kannten Sie Strousberg? Schade, schade!«),
dann ins Geschäft oder ins Büro,
und das ging alle Vormittage so.
Mittag zu Hause, friedliche Zeiten,
die Kinder machen Schularbeiten,
ein kleines Nickerchen mit der Zigarre,
und dann wieder in die geschäftliche Karre.
Und war der Tag besonders schön,
hieß es: »Ich habe den Kaiser gesehn!« –
Alles so sauber und preußisch und karg:
der alte Fontane und seine Mark.
Aber Fontane und alle die Alten
konnten sich auch nicht ewig halten.
Wollten noch so vieles erleben,
mußten doch gen Walhalla schweben.
Bis hin vor die Weltenesche sie ziehn,
da lagern sie sich um Vater Odin.
Tick, tick,
dreißig Jahre sind ein Augenblick.
Und als nun Michaelis den Abschied nahm,
eine Sehnsucht über Fontane kam,
und er sprach: »Herr, laß mich auf Urlaub gehn,
ich möchte die Spree noch einmal sehn.
Die Spree, die Havel, die Nette, die Nuthe,
den Schlachtensee und die Räuberkuthe;
ich kenne mich aus, und habe ich Glück,
bis Donnerstag bin ich wieder zurück.«
Odin hat huldvoll sich verneigt –
der Alte zur Erde niedersteigt.
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Und zunächst in der Neumark, in der Nähe von Bentschen,
landet er. »Himmel, was sind das für Menschen!«
Und er spricht hinter Schwiebus und hinter Zielenzig:
»Dickköpfe, Hamster! und so was nennt sich
nun Märker – wir wollen westwärts ziehn!«
Und so westwärts kommt er nach Berlin.
Da ist ein Schleichen und Drehen und Schieben,
wo ist das alte Berlin geblieben?
Einer drängt immer den andern weg:
»Harn Se nich greifbaren Schweinespeck?«
Und ein Dicker steht mitten auf dem Damm
und philosophiert über Pökelkamm.
Sie treten sich an die Schienenbeine,
die jüngeren Herren spielen ›Meine – Deine‹,
sie verkaufen Frauen und Gold und Eier
und alles um die paar lumpigen Dreier.
Golden leuchtet ein Kirchturmknopf – –
Und der Alte schüttelt schweigend den Kopf,
freiwillig kürzt er den Urlaub ab,
in wilde Karriere fällt sein Rückzugstrab.
Sein Rückmarsch ist ein verzweifeltes Fliehn.
»Wie war es?« fragt teilnahmsvoll Odin.
Und der alte Fontane stottert beklommen:
»Gott, ist die Gegend runtergekommen!«

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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1918. Der alte Fontane. Der alte Fontane. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-680C-4