Der Verdachtsfreispruch

Zu den unangenehmsten Eigenschaften der Unabsetzbaren gehören sämtliche ihrer Eigenschaften. Der Justizminister pflegt gern von einer ›Vertrauens-Krise‹ zu sprechen; er irrt. Der Patient ist längst tot – kein verständiger Mensch hat zu dieser Rechtsprechung mehr Vertrauen als sie verdient. Und sie verdient keins. Nun möchte ich aber nicht hören, daß die deutschen Richter nicht bestechlich seien. Wir sind es auch nicht – und niemand macht davon viel Wesens.

Blättern wir im Sündenregister der Talare, so finden wir unter dem Buchstaben V den ›Verdachtsfreispruch‹. Der ist so:

Es wird einer angeklagt. Die Voruntersuchung ergibt ein sehr zweifelhaftes Bild. Die Kriminalkommissare bembern in den Mann hinein; er gesteht nicht. Die Staatsanwaltschaft zögert, stellt aber nicht ein. Sicher ist sicher. Die Beschlußkammer eröffnet; das geht fix, hopp, hopp, hopp; sicher ist sicher. Hauptverfahren.

Der Angeklagte gesteht auch da nicht. Die Zeugen wackeln. Der Vorsitzende ergeußt eine schöne Rede über den Mann in dem Holzkästchen: er solle doch gestehen und Reue zeigen, das werde das Strafmaß herabsetzen. Das sagt er, bevor das Urteil überhaupt feststeht. Der Angeklagte geht auf den Handel nicht ein, bereut nicht, gesteht nicht und ist überhaupt ein böses Luder. Beratung.

Es ergibt sich, daß man bei bestem schlechten Willen nicht verurteilen kann. Freispruch. Was, Freispruch?

Zähneknirschender Freispruch. Und statt nun zu sagen: »Wir haben alle Verdachtsmomente geprüft – in dubio pro reo – die Schuld des Angeklagten steht nicht fest«, denn das und nur das haben die Richter festzustellen: statt dessen befassen sie sich in der Begründung ihres freisprechenden Urteils mit der moralischen Unschuld des Angeklagten, nach der sie kein Mensch gefragt hat, und nun bekommt er es aber zu hören:

[238] Er solle sich ja nicht einbilden, daß er nun unschuldig sei. Nur den wackligen Zeugenaussagen habe er es zu verdanken, daß man ihn nicht verknacke; er sei ein ganz übler Lumpenhund; ein schuldiger Unschuldiger; man habe ihn – Himmelparagraphundzwirn! – zwar freisprechen müssen, aber es solle gewiß nie wieder vorkommen, und das nächste Mal . . . ! Und er könne zwar gehen, aber moralisch sei er gerichtet.

Was ist denn das alles –! Ist der Mann im strafrechtlichen Sinne schuldig oder ist er es nicht? Sind die Richter, diese Richter mit dieser Vorbildung und mit dieser politischen Denkungsart, legitimiert, über irgendjemand ein moralisches Urteil abzugeben? Sie sind es nicht.

Der Hund hat beißen wollen. Es hat nicht gegangen. Knurrend zieht er sich zurück. Und hinterläßt einen Verdachtsfreispruch, für den er jedesmal eine kräftige Züchtigung verdiente.



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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Der Verdachtsfreispruch. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-69A7-B