Teelied

Ihr Saiten, tönet sanft und leise,
Vom leichten Finger kaum geregt!
Ihr tönet zu des Zärtsten Preise,
Des Zärtsten, was die Erde hegt.
In Indiens mythischem Gebiete,
Wo Frühling ewig sich erneut,
[50]
O Tee, du selber eine Mythe,
Verlebst du deine Blütezeit.
Nur zarte Bienenlippen schlürfen
Aus deinen Kelchen Honig ein,
Nur bunte Wundervögel dürfen
Die Sänger deines Ruhmes sein.
Wann Liebende zum stillen Feste
In deine duft'gen Schatten fliehn,
Dann rührest leise du die Äste
Und streuest Blüten auf sie hin.
So wächsest du am Heimatstrande,
Vom reinsten Sonnenlicht genährt.
Noch hier in diesem fernen Lande
Ist uns dein zarter Sinn bewährt.
Denn nur die holden Frauen halten
Dich in der mütterlichen Hut;
Man sieht sie mit dem Kruge walten
Wie Nymphen an der heil'gen Flut.
Den Männern will es schwer gelingen,
Zu fühlen deine tiefe Kraft;
Nur zarte Frauenlippen dringen
In deines Zaubers Eigenschaft.
Ich selbst, der Sänger, der dich feiert,
Erfuhr noch deine Wunder nicht;
Doch was der Frauen Mund beteuert,
Ist mir zu glauben heil'ge Pflicht.
Ihr aber möget sanft verklingen,
Ihr meine Saiten, kaum geregt!
Nur Frauen können würdig singen
Das Zärtste, was die Erde hegt.
[51]

Notes
Entstanden 1811, Erstdruck 1813.
License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Uhland, Ludwig. Teelied. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-70C3-9