[5] Traurige Landschaften

[5][7]

Wundersame Dämmerung

Erinnerung in Dämmerlicht verglühend
Zittert und loht am fernen Himmelsrand
Der Hoffnung, die geheimnisvoll bald fliehend
Bald wachsend flammt, wie eine Scheidewand.
Wie mancher Blume farbenbunt Gewand,
Wie Dalie, Tulpe, Lilie erblühend,
Ein Gitter rings umrankend und umziehend
Mit gift'gem Hauch, der all mein Wesen bannt;
Voll schweren Wohlgeruchs, der zu mir fand,
Aus Dalie, Tulpe, Lilie erblühend,
Ertränkend Seele, Sinne und Verstand,
Bis mich mit schwerer Ohnmacht übermannt
Erinnerung in Dämmerlicht verglühend.

[7] Abendsonnen

Blass giesst im Verrinnen
Auf Felder und Rain
Schwermütiges Sinnen
Der scheidende Schein.
Schwermütiges Sinnen
Wiegt flüsternd mich ein,
Mein Herz zu umspinnen
Im scheidenden Schein.
Und fremde Träume
Ziehn sonnengleich
Über Heiden und Bäume,
Rotflimmernd und weich,
Endlos durch die Räume
Ziehn sonnengleich
Sie über das Reich
Der Heiden und Bäume.

[8] Herbstlied

Den Herbst durchzieht
Das Sehnsuchtslied
Der Geigen
Und zwingt mein Herz
In bangem Schmerz
Zu schweigen.
Bleich und voll Leid,
Dass die letzte Zeit
Erscheine,
Gedenk' ich zurück
An fernes Glück,
Und ich weine.
Und so muss ich gehn
Im Herbsteswehn
Und Wetter,
Bald hier, bald dort,
Verweht und verdorrt
Wie die Blätter.

[Am graubedeckten Horizont erhebt]

[9]
Am graubedeckten Horizont erhebt
Sich rot der Mond, vom Nebeltanz getragen.
Das Feld schläft dampfend ein, die Frösche klagen
Im grünen Schilf, durch das ein Frösteln bebt.
Den Kelch verschliesst die Wasserblume wieder,
Starr und gedrängt in weiter Ferne reihn
Sich Pappeln auf in ungewissem Schein,
Leuchtkäfer irren zu den Büschen nieder.
Der Eulen lautlos finstre Schar erwacht,
Die Luft mit schwerem Fluge zu durchsteuern,
Der Äther füllt sich mit gedämpften Feuern,
Venus taucht bleich hervor: das ist die Nacht.

[10] Die Nachtigall

Es senkt wie ein Schwarm von Vögeln sich
All mein Erinnern hernieder auf mich,
Hernieder durchs gelbe Laub von den Zweigen,
Und gebeugt ist mein Herz, wie Erlen sich neigen,
Die sich spiegeln, wo das Wasser der Reue
Schwermütig gleitet in tiefer Bläue.
Sie senken sich, bis im wachsenden Wehen
Des Winds ihre bösen Stimmen vergehen,
Im Baume verklingen mit sterbendem Laut,
Dass Stille rings von den Zweigen taut.
Nur die Stimme, die sie, die fern ist, in Tränen
Verherrlicht, tönt, nur die Stimme voll Sehnen
Des Vögleins, das erste Liebe mir war,
Das heute noch singt, wie vor manchem Jahr.
Und in dem trauernden Mondenscheine,
Der bleich und feierlich strahlt, wiegt eine
Schwermütige Nacht der Sommerszeit
Voll tiefer Sehnsucht und Dunkelheit
Im Himmel in flüsternden Windesschauern
Das Zittern des Baums und des Vogels Trauern.

Notes
Aus »Poèmes Saturniens«, Erstdruck der Sammlung: Paris (A. Lemerre) 1866. Hier in der Übers. v. Wolf v. Kalckreuth.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Verlaine, Paul-Marie. Traurige Landschaften. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-745E-B