[94] Unlängst und Einst

[95][97]

Die Besiegten I

Das Leben triumphiert, das Ideal ist tot,
Und wiehernd in den Wind, von jäher Freude trunken
Zerknirscht des Siegers Pferd und stampft in blut'gen Kot
Die Brüder, die mit stolzem Anstand hingesunken.
Und wir, die überlebt die Niederlage, ach!
Die Füsse wund, den Blick verweint, das Haupt zerschlagen,
Beschmutzt, ermattet, blutend, ehrberaubt und schwach
Gehn wir, und kaum ersticken wir die dumpfen Klagen.
Wir gehen immerfort den Weg, der düster droht,
Wie Mörder und Geächtete sind wir entflohen,
Verwaist, verwitwet, ohne Kind noch Morgenrot
Beim Schein der lieben Wälder, die in Flammen lohen.
Nun, weil sich unser Los vollendet, weil ihr wisst,
Dass alle Hoffnung aus und gänzlich wir verlassen,
Dass auch die größte Mühsal leer und eitel ist,
Dass es am Ende ist mit allem unsern Hassen,
So brauchen wir zur Stunde, da es nachten will,
Die wir die eitle Hoffnung auf ein Grab verachten,
Nur noch im Dunkel sterben, ungesehn und still,
Wie es Besiegten ziemt nach so gewalt'gen Schlachten.

[97] Die Besiegten II

Es zittert fern am Horizont ein schwacher Glanz;
Der Wind erhebt sich und erfrischt mit eis'gem Wehen
Das Laub der Wälder und das Blühn des Wiesenlands;
Des Frührots kalter Gruss lässt alles neu erstehen.
Der Osten fern erglüht, bleich wird die Silberbahn
Der Sterne, die im Gold des Äthers bald verborgen.
Ein froher Wächter ruft zur guten Zeit, der Hahn,
Hell schmetternd steigt die Lerche auf: das ist der Morgen.
Die Sonne bricht im Glanz hervor: das ist der Tag,
Der Tag, ihr Freunde, dessen freud'ger Strahl die Schleier
Vom dumpfen Schlummer hebt, dem unsre Schar erlag,
Und der vom Frasse scheucht die Wölfe und die Geier.
Und wunderbar! Der Strahl, der durch den Kürass drang,
Und durch das Erz ins Herz erneut die Kraft zum Hasse,
Die brennende Begier zu bessrem Untergang,
Den alten Zorn und Stolz von jeder edlen Rasse.
Aufrecht voran! Aufrecht voran und vorwärts! Mut!
Genug des Zauderns, dem wir schmachvoll unterlegen,
Zum Kampf! Zum Kampf! Denn unser wildes, heisses Blut
Soll rauchen auf der Schneide der gezückten Degen!

[Ich bin das Kaiserreich an seiner letzten Wende]

[98]
Ich bin das Kaiserreich an seiner letzten Wende,
An dem vorbeizieht der Barbaren blonde Flut,
Das Akrostychen sinnt, auf denen müde ruht
Ein spätes Sonnenlicht, wie flimmernd Goldgeblende.
Die kranke Seele fühlt mit dumpfem Weh das Ende.
Dort unten, sagt man, strömt in schweren Kämpfen Blut.
O nicht dabei zu sein! So schwach und lahm der Mut,
O dass das Leben nicht so blütenlos entschwände!
O ernstes Wollen nicht, noch wahre Kraft zum Tod!
Getrunken alles. Endest du Bathyll dein Lachen?
Getrunken alles und verzehrt – nichts mehr zu machen.
Ein eitel Lied nur, wert, dass es in Feuer loht,
Ein wenig Ärger mit der Sklaven Schar, der trägen,
Ein Rest von Schmerz und Müdigkeit, wer weiss, weswegen.

[99] Allegorie

Der Sommer dehnt sich träg in farblos starrem Kleid,
Als säh ein Fürst dem Urteil zu, das er verhängte,
Im Himmel, der das Land mit weisser Glut versengte,
Und gähnt. Tief ruht der Mensch in schwerer Mattigkeit.
Die müde Lerche sang nicht mehr zur Morgenzeit,
Kein Wölkchen ringst, kein Hauch, der uns mit Kühlung tränkte
Und den Azur verhüllt, der bleiern schwer sich senkte,
Wo tiefes Schweigen ruht in Unbeweglichkeit.
Betäubt von dieser Glut verstummen ringst die Grillen.
Die Bäche in den engen, kieselbunten Rillen
Enteilen fürder nicht, zur Hälfte schon versiegt.
Und wo in luft'gem Tanze die Libellen irren,
Blinkt ein metallnes Licht, das glitzert und verfliegt,
Und Wespen schwarz und gelb, die hin und wieder schwirren.

[100] Weinlese

Die Dinge, die in uns singen,
Wann unser Bewusstsein ruhte,
Sie tönen in unserem Blute,
O fernes, verschwiegenes Klingen!
Horcht! Unser Blut ist's, das leidet,
Wann unsere Seele entflohn ist,
Wie so fremd und seltsam sein Ton ist,
Der bald im Schweigen verscheidet.
O Blut der rosigen Traube,
O Wein der schwärzlichen Venen,
Wein und Blut, verklärender Glaube.
Singt! Löst unsre Seele in Tränen,
Und bis in die Tiefen hernieder
Durchbebt unsre armen Glieder.

Notes
Aus »Jadis et naguère«, Erstdruck der Sammlung: Paris (L. Vanier) 1881. Hier in der Übers. v. Wolf v. Kalckreuth.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Verlaine, Paul-Marie. Unlängst und Einst. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-74BE-2