[101] [103]Liebe

[103][105]

Ein Witwer spricht:

Ich seh eine Gruppe auf dem Meer,
Welch Meer? Dem Meer meiner Tränen!
Meine Augen, vom Salzwind feucht und schwer
In der Nacht voll Sturm und Sehnen,
Sind zwei Sterne über dem Meer!
Eine junge Frau seh ich nahen
Mit ihrem Kind, das schon gross,
In einem Schiff ohne Rahen,
Ohne Ruder und Segel im Flutgetos',
Ein Kind, eine Frau seh ich nahen.
Im Flutentosen, im Sturmgebraus
Umklammert die Mutter der Kleine,
Die nicht mehr weiss wo ein noch aus
Und doch hofft, dass Rettung erscheine
Im Flutentosen, im Sturmgebraus.
Ja, hoff auf Gott, arme Törin,
Zu dem Vater flehe, Kind,
Rast auch der Sturm übers Meer hin,
Mein Herz weissagt euch, dass der Wind
Bald schweigt, o Kind, arme Törin.
Und still die Gruppe auf dem Meer,
Diesem Meer der guten Tränen.
Meine Augen im Himmel, der wolkenleer
In der Nacht ohne Sturm und Sehnen,
Sind zwei Engel über dem Meer.

[Noch immer seh ich zu Pferde dich]

[105]
Noch immer seh ich zu Pferde dich
Bei dem frohen Klang der Trompeten,
Dein junges Antlitz däuchte mich
Wie heller Klang der Trompeten.
Noch seh ich dich vor mir im Drillichrock
Just wie ein Arbeitskerl dienen,
So elegant im Drillichrock,
Mit läss'gen Gebärden und Mienen.
Noch seh ich dich an den Geschützen dort,
Schmale Finger regierend Kolosse,
Und tönend-scharfes Kommandowort,
Schwache Arme, die Herrn der Kolosse.
Ich träumte, du solltest im Heldentod
Voll Ruhm dein Leben verbluten,
Doch Gott verhängte dir den Tod
In Typhus- und Fiebergluten.
Herr, deinen Willen bete ich an,
Doch wie ist er unergründlich!
Ja, deinen Willen bete ich an,
Doch wie ist er unergründlich!

[Denn zur Genüge litt ich jetzt]

[106]
Denn zur Genüge litt ich jetzt
Dem Wolf gleich, der gestellt, gehetzt,
Bis alle Kraft ihn verlasse,
Dass auf der Jagd nach Ruh und Rast
Er flieht und springt in wilder Hast
Unterm Schlag einer ganzen Rasse.
Geldmangel, Neid, versteckte Wut,
Spürhunde, deren Witt'rung gut,
Stehn drohend rings auf der Lauer.
Tag', Monat', Jahre dauert das;
Ich esse Grau'n, ich schlucke Hass,
Die harten Bissen der Trauer.
Doch in dem Wald voll grauser Not
Seh plötzlich ich den Spürhund Tod,
Die Bestie, sich zu mir wenden.
Auf mich, der schon halb tot vor Schmerz,
Wirft sich der Tod, beisst mir ins Herz,
Doch ohne den Kampf zu enden.
Und blutend schlepp ich mich allein
Dorthin, wo meinen stillen Hain
Der Strom durchbraust, der empörte.
Gönnt wenigstens das Sterben mir,
Getreue Brüder, Wölfe ihr!
Die das Weib, meine Schwester, zerstörte!

Notes
Aus »Amour«, Erstdruck der Sammlung: Paris (Vanier) 1888. Hier in der Übers. v. Wolf v. Kalckreuth.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Verlaine, Paul-Marie. Liebe. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-7504-9