Der Findling


1. Theil

1. Capitel
Erstes Capitel.
Im Innern von Connaught.

Irland, das eine Landfläche von zwanzig Millionen Acres – gegen acht Millionen Hektar – einnimmt, wird im Namen der Beherrscher Großbritanniens [5] von einem Vicekönig oder Lord-Lieutenant unter Mitwirkung eines »Privat-Rathes« regiert. Es zerfällt in vier Provinzen: Leicester im Osten, Munster im Süden, Connaught im Westen und Ulster im Norden.

Das Vereinigte Königreich soll in der Vorzeit eine einzige Insel gebildet haben. Jetzt sind deren zwei vorhanden, beide noch mehr getrennt durch geistige Verschiedenheit, als durch physikalische Grenzen. Die Irländer sind wie von jeher Freunde der Franzosen, und deshalb den Engländern feindlich gesinnt.

Ein herrliches Land für Touristen, ist Irland ein trauriges Land für seine Bevölkerung. Diese vermag es nicht zu befruchten, jenes sie nicht zu ernähren. Und doch ist es nicht ein unfruchtbares Stück Erde, denn seine Kinder zählen nach Millionen, und obwohl diese Mutter keine Milch für ihre Kinder hat, wird sie von ihnen doch leidenschaftlich geliebt. Die süßesten– most sweet – Namen (ein Wort, das man dort unendlich häufig hört) werden an sie verschwendet. Das »Grüne Erin«, und grün ist das Land in der That; weiter heißt Irland der »Schöne Smaragd«, ein Smaragd, der freilich statt des Goldes in Granit gefaßt ist; die »Insel der Wälder«, was besser Insel der Felsen heißen sollte; das »Land des Liedes«, nur erklingt dieses Lied von kränklichen Lippen; endlich nennt man es die »Erste Blume des Landes« oder die »Erste Blume des Meeres«, freilich welken diese Blumen schnell im Brausen toller Stürme. Armes Irland! »Insel des Elends« solltest du heißen, jetzt und schon seit Jahrhunderten, du mit deinen drei Millionen Armen unter acht Millionen Bewohnern!

Bei einer Erhebung von etwa hundertfünfundzwanzig Metern trennen in Irland zwei Höhenzüge die Ebenen, Seen und Torfmoore zwischen der Bai von Dublin und der von Galway. Die Insel bildet eine vertiefte Schale, in der es an Wasser nicht fehlt, denn die Seen des Grünen Erin bedecken allein gegen zweitausenddreihundert Quadratkilometer.

Westport, eine kleine Stadt der Provinz Connaught, liegt im Hintergrunde der Bai von Clew, die von dreihundertfünfundsechzig Inseln und Eilanden erfüllt wird, ähnlich wie der Morbihan an den Küsten der Bretagne. Diese Bai mit ihren Vorbergen, ihren Caps und den gleich Haifischzähnen angeordneten Spitzen, welche den Wogenschwall von der hohen See brechen, ist eine der schönsten des ganzen Küstenstriches.

In Westport begegnen wir dem »Findling« im Beginn seiner Geschichte; der Leser wird selbst sehen, wo, wann und wie sie endigte.

[6] Die Einwohner des etwa fünftausend Seelen zählenden Städtchens sind zum größten Theile Katholiken. An einem Sonntage, dem 17. Juni 1875, hatten sich die meisten Bewohner zum Morgengottesdienste in die Kirche begeben. Connaught, die Wiege der Familie Mac Mahon's, bringt ausgeprägt keltische Typen hervor, die sich in den alteingesessenen Geschlechtern fortgepflanzt haben. Und doch, wie traurig ist das Land, so traurig, daß es den gebräuchlichen Ausdruck: »Nach Connaught gehen, heißt in die Hölle gehen!« vollständig rechtfertigt.

In den kleinen Orten Irlands herrscht bittre Armuth, doch besitzen die Leute neben ihren für die Werktage benützten Lumpen auch noch solche für die Sonn-und Festtage. Dann trägt man dort die noch am wenigsten zerrissene Kleidung: die Männer erscheinen in geflicktem, unten ausgefranstem Mantel; die Frauen in mehrfach übereinander liegenden Röcken – lauter Ladenhütern des Trödlers – und bedecken den Kopf mit Hüten, die mit künstlichen Blumen verziert sind, von welchen freilich meist nicht mehr als die nackten Drahtstiele mit einzelnen Blättehen zu sehen ist.

Alle sind barfüßig bis zur Kirche gegangen zur Schonung des theuern Schuhwerkes – der Halbstiefeln mit geborstenen Sohlen und der Stiefeln mit zerrissenem Oberleder, ohne die nach Landessitte niemand die Schwelle der Kirche überschreiten würde.

Zur Zeit war kein Mensch auf den Straßen von Westport sichtbar, außer einem Individuum, das einen Karren schob, der mit einem großen mageren, langzottigen Hunde bespannt war.

»Königspuppen! rief der Mann aus vollem Halse, prächtige, bewegliche Königspuppen!«

Der Schausteller war von Castlebar, dem Hauptorte der Graffchaft Mayo, hierhergekommen. Auf seinem Wege nach Westen hatte er den Kamm jener Höhenzüge überschritten, die sich, wie die meisten Berge Irlands, nach der Küste zu senken, so im Norden die Kette des Nephin mit ihrem achthundertdreißig Meter hohen Gipfelpunkte, und im Süden den Croagh-Patrick, auf dem der größte irländliche Heilige, der Verbreiter des Christenthums im vierten Jahrhundert, die vierzig Tage der Fastenzeit verweilte. Hierauf war der Mann die gefährlichen Schluchten des Hochlandes von Connemara hinabgestiegen in der Richtung nach den Seen Mask und Corril, die einen Ausfluß nach der Clew-Bai haben. Ihn kümmerte keinen Pfifferling weder die Midland-Great-Westernbahn, [7] das große Verbindungsglied zwischen Westport und Dublin, noch die Post, die ihre »Cars« durch das Land rollen läßt. Er reiste als fahrender Künstler, der überall seine Puppenausstellung ausrief und anpries und den großen Hund von Zeit zu Zeit mit einem derben Peitschenhiebe aufmunterte. Der von kräftiger Hand erlittenen Züchtigung antwortete dann stets ein lautes Schmerzgeheul und aus dem Innern des Karrens zuweilen ein leises Schluchzen.

Dann wetterte der Mann gewöhnlich los.

»Wirst Du laufen lernen, Hundevieh!« rief er, und dann, als wendete er sich an einen andern, der im Karren verborgen sein mußte, klang es weiter: »Wirst Du still sein, Hundejunge!«

Darauf verstummte das Schluchzen und der Karren kam wieder langsam in Bewegung.

Dieser Mann nennt sich Thornpipe. Woher er stammt, ist gleichgiltig; es genügt zu wissen, daß er zu den Angelsachsen gehört, die in den untern Volksschichten der britannischen Inseln so ungemein häufig vorkommen. Dieser Thornpipe besitzt nicht mehr Gefühl als ein wildes Thier, nicht mehr Herz als ein Felsblock.

Nachdem der Mann die ersten Wohnstätten von Westport erreicht hatte, folgte er der Hauptstraße des Städtchens mit ihren ziemlich wohnlichen Häusern und den mit pomphaften Schildern versehenen Läden, worin freilich nicht viel zu finden ist. In diese Straße münden verschiedene schmutzige Nebengassen ein, wie trübe Bäche, die sich in einen klaren Fluß ergießen. Auf deren spitzen Pflastersteinen poltert und rasselt Thornpipe's Karren dahin, gewiß zum Nachtheil der Puppen, die er zur ergötzlichen Unterhaltung der Bewohner von Connaught hierher brachte.

Wegen Mangels an »geeignetem Publicum« trottete Thornpipe weiter, bis er zur Mail (Alleestraße) gelangte, die die Hauptstraße zwischen doppelter Ulmenreihe kreuzt. Jenseits der Mail dehnt sich ein geräumiger Park aus, dessen sorgsam unterhaltene Sandwege nach dem an der Bai von Clew liegenden Hafen führen.

Selbstverständlich gehören Stadt, Hafen, Park, Straßen, Fluß, Brücken, Kirchen, Häuser und Hütten einem jener reichen Landlords, die fast den ganzen Boden Irlands besitzen. Hier waren sie das Eigenthum des Marquis von Sligo, eines Mannes von reinem, altem Adel, und übrigens beiweitem nicht des schlechtesten Herrn für seine zahlreichen Pächter.

[8] Alle zwanzig Schritte etwa hielt Thornpipe mit seinem Wagen an, blickte um sich und rief mit einer Stimme, die einem mangelhaft geölten Mechanismus zu entschallen schien:

»Königspuppen!... Prächtige, bewegliche Königspuppen!«

Doch niemand trat aus den Läden, kein Gesicht erschien an den Fenstern. Nur da und dort tauchten aus den Nebengassen einige bewegliche Lumpen auf und aus diesen glotzten hagere, verhungerte Gesichter hervor mit gerötheten Augen, die so tief lagen, daß man durch sie ins Leere sehen zu können wähnte.


Einige Matrosen lustwandelten rauchend.... (S. 11.)

[9]

Weiter erschienen einzelne halbnackte Kinder, und fünf bis sechs dieser Gassenbuben schlichen endlich an den Wagen heran, als dieser in der großen Mail Halt machte.

»Copper!... Copper!« bettelten alle wie aus einem Munde.

Unter »Copper« ist eine winzige Kupfermünze zu verstehen, ein Theil des Pennys, d. h. des kleinsten im Lande vorkommenden Geldstücks. Und diese Kinder sprachen darum einen Mann an, der mehr Verlangen hatte, Almosen anzunehmen, als solche zu vertheilen. Natürlich empfing er mit drohender Hand- und Fußbewegung und mit zornsprühenden Augen die Buben, die sich außerhalb des Bereiches seiner Peitsche halten mußten... und noch sorgsamer fern genug den Spitzzähnen des Hundes, der wegen gewohnter übler Behandlung nie bei guter Laune war.

Thornpipe war schon an sich wüthend. Er schreit ja in die reine Wüste hinaus. Niemand kümmert sich um seine königlichen Marionetten. Paddy – d. i. der Irländer, wie John Bull der Engländer – Paddy zeigt keine Spur von Neugier. Er hegt nicht etwa Feindschaft gegen die erhabne königliche Familie. O nein! Was er nicht liebt, was er haßt mit allem durch Jahrhunderte lange Unterdrückung aufgehäuften Hasse, das ist nur der Landlord, der ihn als ein noch unter den Leibeigenen Rußlands stehendes Geschöpf betrachtet. Wenn der Ire O'Connell zujubelte, so geschah das, weil der große Patriot auf der Erhaltung der Rechte der Grünen Insel durch die Unionsacte der drei Königreiche vom Jahre 1806 bestand, weil die Thatkraft, die Zähigkeit, die kühne Politik dieses Staatsmannes später die Emancipations-Bill von 1829 durchsetzte und damit, Dank seiner unerschütterlichen Haltung, Irland, das Polen Englands, vor allem das katholische Irland, in eine Periode halber Freiheit eintrat. Thornpipe wäre also sicherlich besser dran gewesen, wenn er seinen Mitbürgern O'Connell vor Augen geführt hätte, doch das war ja noch kein Grund, Ihre graziöse Majestät in effigie so unbeachtet zu lassen. Freilich hätte Paddy dem Bildniß seiner Souveränin auf hübschen Geldstücken, auf Pfunden, Kronen, Halbkronen und Schillings, ganz entschieden den Vorzug gegeben, denn gerade dieses aus der britannischen Münze hervorgegangene Porträt fehlt der Tasche des Irländers am meisten.

Da kein ernstlicher Zuschauer den wiederholten Einladungen des Kunsthausierers Folge gab, setzte sich der von dem großen, knochendürren Hunde geschleppte Karren wieder in Bewegung.

[10] Unter dem herrlichen Ulmenschatten der Allee der Mail zog Thornpipe weiter. Er war allein. Die Kinder hatten ihn endlich verlassen. So erreichte er den von Sandwegen durchschnittenen Park, den der Marquis von Sligo dem öffentlichen Verkehr offen hielt, um einen Zugang zu dem eine gute (englische) Meile von der Stadt entfernten Hafen zu gewähren.

»Königspuppen!... Königspuppen!«

Niemand antwortete. Mit schwachem Schrei flatterten die Vögel von einem Baume zum andern. Der Park war ebenso verödet wie die Mail. Wie konnte auch Jemand einfallen, Katholiken während des Gottesdienstes zu einer solchen Schaustellung einzuladen! Thornpipe konnte unmöglich aus dem Lande selbst sein. Nach dem Mittagessen, zwischen Messe und Vesper, da ließ sich vielleicht eher etwas erzielen. Jedenfalls hinderte den Mann nichts, jetzt bis zum Hafen hinunter zu wandern, und das that er denn auch, indem er, statt im Namen des heiligen Patrick, in dem aller Teufel Irlands weidlich fluchte.

Der Hafen, den der Seenabfluß im Grunde der Bai von Clew bildet, ist nur wenig besucht, obwohl er an Geräumigkeit und Sicherheit alle andern Häfen an der Westküste der Insel übertrifft. Nur vereinzelt kommen Schiffe dahin, weil Großbritannien, d. h. England und Schottland, dem mageren Gelände von Connaught zusenden muß, was dieses dem Erdboden nicht selbst zu entlocken vermag. Irland ist ein Kind, das sich an zwei Brüsten nährt; die Ammen lassen sich ihre Milch aber recht theuer bezahlen.

Einige Matrosen lustwandelten rauchend auf dem Quai umher, denn wegen des Sonntags war die Entlöschung der Fahrzeuge natürlich unterbrochen.

Bekanntlich nimmt es die angelsächsische Rasse mit der Sonntagsheiligung sehr streng. Die Protestanten halten darauf mit aller Unbeugsamkeit ihres Puritanismus, und in Irland wenigstens wetteifern die Katholiken mit jenen in der Ausübung des Cultus. Ihrer sind übrigens zweieinhalb Millionen neben fünfmalhunderttausend Anhängern verschiedener Secten der anglikanischen Kirche.

In Westport befand sich zur Zeit kein andern Ländern zugehöriges Schiff. Nur Brigg-Goëletten, Schooner und Kutter nebst einigen Fischerbarken die außerhalb der Bai auf den Fang ausgehen, lagen bei der eben herrschenden Ebbe auf dem Trocknen. Jene von der Westküste Schottlands gekommenen Fahrzeuge segelten, nach Löschung ihrer Ladung von Getreide – das Connaught vor allem braucht – sofort wieder nach der Heimat ab. Um eigentliche Hochseeschiffe [11] zu sehen, mußte man nach Dublin, Londonderry, Belfast oder Cork gehen, wo die transatlantischen Packetboote der Londoner und der Liverpooler Dampferlinien anlaufen.

Aus der Hosentasche jener müßigen Seeleute konnte Thornpipe offenbar auch keinen Schilling locken, denn seine Ausrufungen blieben von den Quais des Hafens her ohne Anwort.

Er ließ jedoch den Karren ruhig stehen. Der vor Hunger und Anstrengung erschöpfte Hund streckte sich auf dem Sande aus. Thornpipe holte aus einem Sacke ein Stück Brot, einige Kartoffeln und einen Salzhäring und begann zu essen wie ein Mann, der nach langer Wegstrecke den ersten Bissen zu sich nimmt.

Der Zughund sah ihn an und knackte mit den Kinnladen, aus denen seine brennendrothe Zunge hervorhing. Jetzt schien seine Fütterungsstunde aber noch nicht geschlagen zu haben, denn er legte den Kopf wieder zwischen die Pfoten und schloß die Augen, um besser auszuruhen.

Eine leichte Bewegung im Innern des Karrens erweckte Thornpipe aus seiner Apathie. Er erhob sich und prüfte, ob ihn niemand beobachte. Dann lüftete er ein wenig die Decke, die den Kasten mit Puppen verhüllte, und steckte ein Stück Brot darunter hinein.

»Daß Du nicht plärrst!« rief er drohenden Tones dazu.

Ein Geräusch von hastigem Kauen antwortete ihm, als berge der Kasten ein vor Hunger sterbendes Thier, und er setzte sein Frühstück wieder fort. Bald war dieses aufgezehrt, und nun führte er eine bauchige Flasche an die Lippen, die saure Molken enthielt, ein Getränk, das hier zu Lande viel genossen wird.

Inzwischen schlug die Kirchenglocke in Westport an und verkündete den Schluß des Gottesdienstes.

Es war jetzt elfeinhalb Uhr.

Thornpipe trieb den Hund mit der Peitsche wieder auf, und rückwärts ging es mit dem Karren nach der Mail, in der Hoffnung, unter denen, die aus der Messe kamen, doch einige Zuschauer zu finden. Während der guten halben Stunde bis zum Essen ließ sich vielleicht noch eine Einnahme machen. Nach der Vesper gedachte Thornpipe seine Schaustellung noch einmal zu öffnen, er wollte aber erst am folgenden Tage weiter ziehen, um andre Ortschaften mit seiner Puppensammlung zu beglücken.

[12] Der Gedanke schien ja nicht so übel zu sein. Statt der Schillinge würde er sich auch mit Coppers begnügen, und seine beweglichen Puppen arbeiteten dann wenigstens nicht ganz und gar für nichts und wieder nichts.

Von neuem erschallte seine Stimme:

»Königspuppen!... Bewegliche Königspuppen!«

Binnen weniger Minuten hatten sich wohl an zwanzig Personen um Thornpipe gesammelt. Die Elite der westportischen Bevölkerung war es freilich nicht. Die Mehrzahl bestand aus Kindern, dazu kamen einige Frauen und wenige Männer, die meist das Schuhwerk wieder in der Hand trugen, nicht allein, um es zu schonen, sondern weil es ihnen auch bequemer war, barfuß zu gehen.

Immerhin befanden sich auch gewisse Honoratioren des Städtchens unter den Neugierigen, z. B. der Fleischer, der mit Frau und zwei Kindern stehen geblieben war. Freilich datierte sein »Tweed« schon von mehreren Jahren her, die bei dem regenreichen Klima doppelt oder gar dreifach zählen; der würdige Meister konnte sich im Ganzen aber noch sehen lassen. Das ist er schon seinem Laden schuldig, über dessen Thür in leuchtender Schrift die Firma »Central-Schlächterei« prangte. Er hatte sein Geschäft auch so in Schwung, daß es nirgends sonst in Westport Fleischwaaren gab. Neben dem stattlichen Manne zeigte sich auch der Droguist des Ortes, der gern den Titel »Pharmaceut« hörte, obwohl seiner Officin selbst die einfachsten Droguen oft fehlten. Dennoch blendete sein Schaufenster mit dem glänzenden Namen »Medical Hall«, so daß, wer die Inschrift nur betrachtete, sich schon geheilt fühlen mußte.

Wir dürfen auch einen Geistlichen nicht vergessen, der vor dem Karren Thornpipe's stehen geblieben war. Dieser Diener der Kirche trug ein recht sauberes Gewand: einen Halskragen von Seide, eine lange Weste mit so dicht wie an einer Soutane stehenden Knöpfen, und einen weiten Ueberrock aus schwarzem Stoffe. Er bildet das Oberhaupt der Parochie, in der ihm vielfache Functionen zufallen. So begnügt er sich nicht damit, zu taufen, zu predigen, zu verehelichen und seine Getreuen beim letzten Gange zu begleiten, er berathet sie auch in geschäftlichen Angelegenheiten, behandelt die Kranken, und das alles in voller Unabhängigkeit, denn er bezieht vom Staate gar keine Einkünfte. Die Gaben von Naturerzeugnissen und die Gebühren für Amtshandlungen, die sogenannten »Accidenzien« der geistlichen Stellen, sichern ihm ein anständiges und bequemes Leben. Er ist der natürliche Verwalter der Schulen und Wohlthätigkeitsanstalten, was ihn aber nicht hindert, auch bei sportlichen – Ruder- [13] oder Pferde– Wettkämpfen den Vorsitz zu führen, wenn Regattas oder Steeplechases in seinem Bezirke abgehalten werden. Innig vertraut mit den Familienverhältnissen seiner Beichtkinder, wird er nach Verdienst allgemein geachtet, selbst wenn er es nicht unter seiner Würde hält, in einem Laden einen ihm angebotenen Schoppen Bier anzunehmen. Die Reinheit seiner Sitten ist jedenfalls nie angefochten worden. Ueber seinen allgewaltigen Einfluß braucht man sich in jenen streng katholischen Gegenden auch gar nicht zu wundern, hier, wo nach dem bekannten Reisewerke Anna von Bovet's, das unter dem Titel »Drei Monate in Irland« erschienen ist, »schon die Bedrohung mit dem Ausschluß vom Abendmahle den Bauer durch ein Nadelöhr jagt«.

Den Karren umgab jetzt also ein Publicum, ein etwas productiveres, wenn man so sagen darf, als Thornpipe erhofft hatte. Wahrscheinlich winkte seiner Ausstellung nun einiger Erfolg, denn Westport war noch niemals mit einem Schauspiele dieser Art beehrt worden.

So ließ denn der fahrende Künstler noch einmal seinen Ausruf als »great attraction« ertönen:

»Königspuppen!... Prächtige, bewegliche Königspuppen!«

2. Capitel
Zweites Capitel.
Bewegliche Königspuppen.

Der Karren Thornpipe's ist in einfachster Weise eingerichtet: eine Deichsel, an der der wilde zottige Köter angespannt ist; ein viereckiger, auf nur zwei Rädern ruhender Kasten, der deshalb auf den hügeligen Wegen der Grafschaft leichter fortzuziehen ist; zwei Griffe an der Rückseite, um das Ganze, gleich den Wagen hausierender Händler, auch schieben zu können; über dem Kasten ein leichtes Leinenzeltdach auf vier Eisenstäben, das, wenn es auch nicht ganz gegen die hier kaum jemals brennende Sonne, so doch gegen den endlosen Regen des höheren Irlands schützt. Das Ganze ähnelt also den leichten Wägelchen, die die Drehorgeln durch Stadt und Land tragen, jene Instrumente mit [14] kreischenden Pfeifentönen, denen sich noch eine Art Trompetengeschmetter zugesellt. Eine Drehorgel ist es freilich nicht, womit Thornpipe von Stadt zu Stadt zieht, oder in der complicierteren Maschinerie ist die Orgel wenigstens zum einfachen Pfeifchen zusammengeschmolzen, wie sich das sogleich zeigen wird.

Der Kasten ist nach unten nämlich durch einen bis zu einem Viertel seiner Höhe aufragenden Deckel geschlossen. Wird dieser zurückgeschlagen, so bietet sich den Zuschauern ein für diese meist verblüffender Anblick.

Zur Vermeidung von Wiederholungen empfehlen wir, Thornpipe's gewohnte Erläuterungen achtsam anzuhören. Jedenfalls hat sich der wandernde Schausteller mit der unermüdlichen Beredsamkeit den berühmten Brioché, den Schöpfer der Marionettentheater auf den Messen und Märkten Frankreichs, zum Muster genommen.

»Ladies und Gentlemen....«, so beginnt er unabänderlich, um sich das Wohlwollen der Zuschauer zu sichern, selbst wenn er das jämmerlichst zerlumpte Dorfpublicum anredet.

»Ladies und Gentlemen! Hier erblicken Sie den großen Festsaal des königlichen Schlosses zu Osborne auf der Insel Wight.«

Das Kasteninnere stellt in der That einen Salon im Kleinen vor; vier Planken bilden seine Wände, worauf Thüren und drapierte Fenster gemalt sind; da und dort stehen hochmoderne Möbel aus Pappe, die mit Stiften auf einem farbigen Teppich festgehalten sind, Tische, Armstühle und Sessel, so angeordnet, daß sie die Bewegungen der Personen, der Prinzen, Prinzessinnen, Herzöge, Marquis, Grafen und Baronets nicht hindern können, die mit ihren vornehmen Gemahlinnen inmitten dieser officiellen Empfangscour einherstolzieren.

»Im Hintergrunde, so fährt Thornpipe fort, bemerken Sie den Thron der Königin Victoria, überragt von dem carmoisinrothen Sammetbaldachin mit goldenen Fransen und haargenau dem Throne nachgebildet, auf dem Ihre graziöse Majestät bei den Hoffestlichkeiten Platz nimmt.«

Der betreffende Thron mißt hier acht bis zehn Centimeter in der Höhe, und obgleich der Sammet nur durch wollebestäubtes Papier vertreten ist und die Goldfransen aus einfacher gelber Schnur bestehen, so verschlägt das nicht das mindeste bei den Wackern, die noch niemals ein solches ausgesprochen monarchisches Möbelstück zu Gesicht bekommen haben.

»Auf dem Throne, belehrt Thornpipe weiter, erblicken Sie die Königin – die Aehnlichkeit derselben wird garantiert! – in ihrer Galatracht; den an [15] den Schultern gehaltenen Königsmantel, die Krone auf dem Haupte und das Scepter in der Hand.«

Wir, die wir niemals die Ehre genossen, die Beherrscherin des Vereinigten Königreiches und Kaiserin von Indien in ihren Staatsgemächern zu erblicken, können für die zweifellose Aehnlichkeit der hohen Dame mit der sie darstellenden Puppe natürlich nicht gutsagen. Doch zugegeben, daß sie sich bei großen Hoffestlichkeiten mit der Krone schmückt, so wird sie in der Hand doch schwerlich ein Scepter führen, das, wie sein Ersatzstück hier, mehr dem Dreizack Neptuns gleicht. Das einfachste bleibt es freilich, Thornpipe aufs Wort zu glauben, und das thaten kluger Weise auch die Zuschauer.

»Zur Rechten der Königin, erläutert Thornpipe ferner, mache ich das geehrte Publicum aufmerksam auf Ihre königlichen Hoheiten den Prinzen und die Prinzessin von Wales, wie Sie die Herrschaften gelegentlich ihrer letzten Reise durch Irland gewiß selbst gesehen haben.«

Kein Zweifel, da steht der Prinz von Wales als britischer Feldmarschall, und die Tochter des Königs von Dänemark, angethan mit kostbarem Spitzenkleide, das hier freilich kunstvoll aus Silberpapier geschnitten ist, wie solches zum Schmucke von Bonbonschachteln verwendet wird.

Auf der andern Seite stehen der Herzog von Edinburgh, der Herzog von Connaught, der von Fife, der Prinz Battenberg mit den Prinzessinnen, ihren erlauchten Gemahlinnen, kurz die ganze königliche Familie, so angeordnet, daß sie vor dem Throne einen Halbkreis bildet. Unzweifelhaft erwecken diese bezüglich ihrer Porträttreue immer »garantierten« Puppen mit den gemalten Gesichtern und ihrer dem Leben abgelauschten Haltung eine deutliche Vorstellung von dem Hofe Englands.

Dann folgen die Großofficiere der Krone, darunter der Großadmiral Sir Georges Hamilton. Thornpipe befleißigt sich, mit dem Ende seines Stabes alle der Bewunderung des Publicums zu empfehlen, unter der Hinzufügung, daß jeder von ihnen seinem Range entsprechend den ihm nach der Hofetiquette zukommenden Platz einnimmt.


... Als Thornpipe seinen kleinen Umgang antrat. (S. 19.)

Da hält sich vor dem Throne in ehrfurchtsvoller Unbeweglichkeit ein hochgewachsener Mann von ausgesprochen angelsächsischem Typus, der nur ein Minister der Königin sein kann.

Es ist auch einer, nämlich der Chef des Cabinets von St. James, den man an dem unter der Last der Geschäfte etwas gekrümmten Rücken leicht genug erkennt.

[16] Thornpipe geht weiter in seinen Erklärungen.

»Und neben dem Premierminister, zur Rechten, der ehrwürdige Herr Gladstone.«

Wahrlich, es wäre schwierig gewesen, den berühmten »Oldman« nicht zu erkennen, den schönen Greis, der sich noch immer aufrecht hält, der immer bereit ist, seine liberalen Anschauungen gegen die der conservativen Regierung zu vertheidigen. Vielleicht könnte es auffallen, daß er den Premierminister mit freundlichem Blicke betrachtet; doch was bei Wesen aus Fleisch und Bein [17] unmöglich wäre, das hat bei Puppen aus Pappe und Holz ja nicht viel auf sich.

Ein außergewöhnlicher Anachronismus verschuldet auch noch eine andre Nebeneinanderstellung, denn Thornpipe bläst die Backen auf und verkündet:

»Hier, Ladies und Gentlemen, stelle ich Ihnen Ihren berühmten Landsmann O'Connell vor, dessen Name in jedem irländischen Herzen allezeit ein Echo finden wird.«

Ja, da befand sich O'Connell am Hofe Englands und im Jahre 1875, obwohl er schon seit einem Vierteljahrhundert todt war. Auf einen dagegen erhobenen Einwand hätte Thornpipe jedenfalls geantwortet, daß der große Agitator für einen Sohn Irlands immer fortlebt. Mit ähnlicher Begründung hätte er da auch Parnell aufstellen können, obwohl dieser Politiker jener Zeit kaum bekannt war.

Da und dort stehen noch andre Höflinge verstreut, deren Namen uns entgehen, alle mit Ordenssternen und Bändern übersäet, politische und kriegerische Berühmtheiten, darunter Se. Gnaden der Herzog von Cambridge neben dem seligen Lord Wellington, der verstorbene Lord Palmerston neben dem verstorbenen Pitt; endlich Mitglieder der Pairskammer in vertraulichem Gespräche mit solchen aus dem Hause der Gemeinen; hinter diesen eine Reihe Horse-guards in Parade, im Salon zwar, aber doch zu Pferde, eine Andeutung, daß es sich hier um ein Fest handelt, wie es selbst im Schlosse zu Osborne selten vorkommt.

Das Ganze umfaßt etwa fünfzig kleine Männchen, die alle schreiend bemalt sind und mit steifer Würde alles darstellen, was an Hocharistokratie, an Auszeichnung und Rangstellung in der militärischen und politischen Welt des Vereinigten Königreichs vorhanden ist.

Man bemerkt sogar, daß die britische Flotte nicht vergessen wurde, und wenn die königliche Yacht »Victoria and Albert« hier nicht unter Dampf ist, so sieht man wenigstens Schiffe an die Fensterscheiben gemalt, durch die man die Rhede von Spithead zu erkennen glaubt. Mit guten Augen würde man gewiß die Yacht »Enchantereß« unterscheiden können, mit Ihren Ehren den Lords der Admiralität an Bord, die in einer Hand ein Fernrohr, in der andern ein Sprachrohr halten.

Mit der Behauptung, daß seine Schaustellung einzig in ihrer Art sei, hat Thornpipe das Publicum nicht betrogen. Auf jeden Fall macht sie eine Reise [18] nach der Insel Wight unnöthig. Außerdem bereitet sie nicht nur den Gassenbuben, die sie mit Bewunderung betrachten, sondern auch den Erwachsenen, die niemals über die Grenzen Connaugths hinauskamen, ein wirkliches Vergnügen. Der Parochialgeistliche lächelt vielleicht im Stillen darüber; der Droguist kann sich nicht enthalten zu bestätigen, daß die Aehnlichkeit der dargestellten Personen überraschend sei, obwohl er diese in seinem Leben nicht gesehen hat. Der Fleischer gestand ein, was er hier sehe, übertreffe seine Vorstellungen davon, denn er könne nicht glauben, daß bei einem Empfange am Hofe so viel Luxus und Glanz entfaltet werde.

»Nun, Ladies und Gentlemen, nimmt Thornpipe wieder das Wort, das ist bis jetzt noch gar nichts. Sie glauben jedenfalls, daß diese königlichen und die andern Personen sich gar nicht bewegen könnten. Fehl geschossen! Sie leben wirklich, ich versichere es, leben, wie Sie und ich selbst, was Sie sofort sehen sollen. Vorerst bin ich so frei, eine kleine Einsammlung zu veranstalten, wozu ich mich Ihrem geneigten Wohlwollen empfehle.«

Das ist der kritische Augenblick für solche Schausteller, wenn die Sammelbüchse unter den Zuschauern zu kreisen beginnt. Ganz gewöhnlich zerfallen letztere in zwei Classen: in die, die sich aus dem Staube machen, um nicht in die Tasche greifen zu müssen, und in die, welche dableiben mit der Absicht, sich umsonst zu amüsieren – die zweite Classe bildet übrigens die Mehrzahl. Wohl giebt es noch eine dritte Classe, die der Zahlenden, deren sind aber so wenige, daß es sich gar nicht verlohnt, von ihnen zu sprechen. Das zeigte sich deutlich genug, als Thornpipe seinen kleinen Umgang antrat und dazu ein liebenswürdiges Lächeln heuchelte.

Sicherlich hätte man bei der ganzen Lumpengesellschaft, die nicht von der Stelle wich, keine zwei Coppers finden können, und alle, die das weitere Schauspiel unentgeltlich genießen wollten, wendeten beim Nahen der Sammelbüchse einfach den Kopf ab, so daß nur fünf bis sechs Zuschauer in die Tasche griffen, was den Ertrag von einem Schilling drei Pence ergab den Thornpipe mit süßsaurer Miene einsteckte. Was half's? Er mußte sich, in Erwartung einer reicheren Ernte bei der Nachmittagsvorstellung, schon begnügen und lieber das angekündigte Programm durchführen, als etwa das Geld zurückzugeben.

Jetzt verwandelte sich aber die bisher stumme Bewunderung in eine laute, lärmende Kundgebung des Beifalls. Es begann ein Händeklatschen, ein Trampeln [19] mit den Füßen und ein »Aoh«rufen, daß man's wohl bis zum Hafen hinunter hätte hören können.

Thornpipe hatte mit seinem Stabe an den Kasten geschlagen, worauf ein von niemand beachtetes leises Seufzen Antwort gab. Plötzlich erschien die ganze Scene wie durch ein Wunder in naturgetreuer Bewegung.

Die durch einen inneren Mechanismus bewegten Puppen schienen wirklich Leben bekommen zu haben. Ihre Majestät die Königin Victoria hatte zwar den Thron nicht verlassen, was ein Verstoß gegen die Etiquette gewesen wäre, sie hatte sich nicht einmal erhoben, sie bewegte aber das gekrönte Haupt und hob und senkte das Scepter, wie die Kapellmeister den Tactierstock beim Dirigieren. Die Mitglieder der königlichen Familie drehen und wenden sich, grüßend und Grüße erwidernd, hier- und dorthin, während die Herzöge, Marquis und Baronets in größter Ehrfurcht vorüberdefilieren. Der Premierminister verneigt sich vor Herrn Gladstone, der es ihm gleichthut. Nach ihnen schreitet O'Connell auf unsichtbarer Fuge mit Ernst und Würde vor, und ihm folgt der Herzog von Cambridge, der einen Charaktertanz aufzuführen scheint. Die andern Persönlichkeiten schließen sich dem Zuge an, und die Pferde der Horse-guards bäumen sich schweifwedelnd, als wären sie nicht in einem Saale inmitten des Schlosses von Osborne, sondern auf dessen geräumigen Hofe aufgestellt.

Das Ganze vollzieht sich unter einer leisen, aber scharfen Musikbegleitung, bei der allerdings manche Töne nicht zum Ausdruck kommen. Doch wie hätte Paddy – der für Musik so empfänglich ist, daß Heinrich VIII. das Wappen des Grünen Erin noch mit einer Harfe bereicherte – davon nicht entzückt sein sollen, obgleich er statt God save the Queen oderRule Britannia, den melancholischen Nationalgesängen des traurigen Vereinigten Königreiches, lieber eine irische Weise gehört hätte.

Für Jeden, der die Maschinerie eines größeren Theaters noch nicht kannte, mußte der Vorgang hier entschieden etwas Wunderbares an sich haben; so entfesselte denn auch der Anblick dieser sich bewegenden Puppen bei den Zuschauern einen Enthusiasmus ohne Gleichen.

Da, wie durch einen Ruck im Mechanismus, senkt die Königin ihr Scepter so tief, daß sie damit den runden Rücken des Premierministers berührt. Ein doppeltes Hurrah der Zuschauer braust durch die Lüfte.

»Sie leben wahrhaftig! ruft einer der Umstehenden.

– Es fehlt ihnen nur die Sprache! bemerkte ein andrer.

[20] – Das laßt Euch nicht leid thun!« setzt der Pharmaceut hinzu, der in unbewachten Augenblicken den Demokraten heraussteckt.

Er hatte auch Recht. Man denke sich nur Puppen, die höfische Redensarten drechseln.

»Ich möchte wohl wissen, was sie in Bewegung setzt, läßt sich der Schlächter vernehmen.

– Das ist der reine Gottseibeiuns, äußert ein Matrose.

– Ja, der Teufel, rufen einige schon halb überzeugte Matronen, die sich dem Geistlichen zugewendet bekreuzen, während der fromme Herr eine nachdenkliche Miene macht.

– Wie könnt Ihr annehmen, daß der Teufel in diesem Kasten steckt, erwidert ein wegen seiner Naivetät bekannter Ladenjüngling, der Teufel ist dazu viel zu groß...

– Na, wenn er nicht drin steckt, so steht er draußen! schwatzt eine alte Stadtklatsche. Der da, der dieses Schauspiel vorführt...

– Ach nein, unterbricht sie der Droguist, Ihr wißt doch, daß der Teufel nicht irländisch spricht!«

Das ist die Wahrheit, die Paddy ohne Widerspruch zugiebt, und man einigte sich also darüber, daß Thornpipe wegen seines rein irischen Dialects der Teufel nicht sein könne.

Wenn die Sache also nicht mit Hexerei zuging, mußte nothwendiger Weise ein innerer Mechanismus vorhanden sein, der diese kleine Welt in Bewegung setzte.

Niemand hatte Thornpipe jedoch etwa eine Feder aufziehen sehen. Ja, als die Bewegungen sich zu verlangsamen begannen, da hatte – eine Besonderheit, die dem Pfarrer nicht entging – ein Peitschenhieb Thornpipe's unter den von der Decke verhüllten Kasten genügt, die Puppengesellschaft aufs neue zu beleben.

Den Pfarrer drängte es, zu erfahren, wem diese fühlbare Aufmunterung wohl gegolten haben möge, deshalb fragte er Thornpipe:

»Sie haben wohl einen Hund dort in Ihrem Kasten?«

Der Mann sah ihn, die Stirn runzelnd, an, als finde er diese Frage etwas indiscret.

»Da drin ist, was eben drin ist! antwortete er. Das bleibt mein Geheimniß. Ich fühle mich nicht verpflichtet, es zu verrathen...

[21] – Dazu sind Sie nicht verpflichtet, meinte der Geistliche, wir aber haben doch das Recht, zu vermuthen, daß es ein Hund ist, der Ihren Mechanismus treibt...

– Nun ja... ein Hund! gab Thornpipe ärgerlich zu, ein Hund in einem Trommelkäfig. Es hat mir Zeit genug gekostet, ihn so weit zu dressieren. Und welchen Lohn hab' ich nun für meine Mühen erhalten? Nicht die Hälfte von dem, was man jedem Geistlichen für das Lesen einer einzigen Messe bezahlt!«

Eben als Thornpipe seinen Satz beendete, stand der Mechanismus still, zum großen Mißvergnügen der Zuschauer, deren Interesse noch lange nicht befriedigt war. Der Puppenvorzeiger ging daran, den Karrendeckel zu schließen, und erklärte, daß die Vorstellung zu Ende sei.

»Würden Sie bereit sein, noch eine zweite zu geben? fragte da der Pharmaceut.

– Nein! erklärte Thornpipe, der viele verdächtige Blicke auf sich gerichtet sah, mit barscher Entschiedenheit.

– Auch nicht, wenn wir Ihnen für eine Einnahme von zwei Schillingen einständen?

– Weder für zwei noch für drei Schillinge!« rief Thornpipe.

Er dachte nur, sich aus dem Staube zu machen, das Publicum schien aber nicht in der Laune, ihn so schnell fortzulassen. Auf einen Wink seines Herrn zog der Köter in der Gabeldeichsel schon an, als sich ein langer, mit Schluchzen untermischter Klagelaut aus dem Kasten hören ließ.

Wüthend rief Thornpipe, wie schon früher einmal:

»Wirst Du schweigen, Hundejunge!

– Das ist kein Hund, der da drin steckt, sagte der Geistliche, den Karren zurückhaltend.

– Und doch! versetzte Thornpipe.

– Nein... das ist ein Kind!...

– Ein Kind!... Ein Kind!« wiederholten die Zuschauer.

Jetzt ging in der Empfindung der Leute eine mächtige Veränderung vor sich.

Nicht Neugier, sondern Theilnahme war es, die sich in ihrer drohenden Haltung kundgab. Ein Kind war in diesem an der Seite offenen Kasten verborgen und wurde mit der Peitsche angetrieben, wenn es anhielt, weil ihm die Kräfte erlahmten, sich in seinem Käfig zu bewegen.

»Das Kind!... Das Kind heraus!« klang es von allen Seiten.

[22] Thornpipe sah sich einer Uebermacht gegenüber. Er wollte jedoch Widerstand leisten und seinen Karren vorwärts schieben.... Vergeblich. Der Schlächter packte ihn an der einen, der Droguist an der andern Seite und so wurde das Gefährt tüchtig geschüttelt. Der königliche Hof dürfte wohl niemals einen solchen Verlauf seiner Feierlichkeiten erlebt haben, bei dem die Prinzen die Prinzessinnen stießen, die Herzöge die Marquis umrannten, der Premierminister hinfiel und einen Sturz des ganzen Cabinets damit herbeiführte... kurz, ein Durcheinander, wie es im Schlosse Osborne gewiß nur vorkäme, wenn ein Erdbeben die ganze Insel Wight erschütterte.

Thornpipe wurde bald überwältigt, wenn er sich auch wie ein Rasender wehrte. Alle betheiligten sich dabei. Der Karren wurde untersucht, der Droguist kroch zwischen die Räder und zog aus dem Kasten ein Kind hervor....

Ja, ein Jüngelchen von etwa drei Jahren mit bleichem, leidendem Gesicht, mühsamem Athem und mit Beinchen, die mit Striemen überdeckt waren.

Kein Mensch in Westport kannte den Kleinen.

So gestaltete sich das erste Erscheinen des »Findlings«, des Helden dieser Erzählung. Wie er diesem Wütherich in die Hände gefallen und wer sein Vater wäre, das war schwerlich zu ergründen. In Wahrheit hatte Thornpipe das Kind vor neun Monaten in der Dorfstraße von Donegal aufgelesen und zu dem nun erkannten Dienste verwendet.

Eine wackre Frau nahm das Bürschchen in die Arme und sachte es aufzumuntern. Alle drängten sich um den Kleinen. Das arme Eichkätzchen, das verurtheilt gewesen war, seinen Käfig unter dem Karrenkasten in Drehung zu versetzen, hatte ein interessantes, ja intelligentes Gesicht; aber auf diese Weise sich den Unterhalt verdienen zu müssen – und in so zartem Alter!

Endlich öffnete der kleine Knabe die Augen und warf sich rückwärts, als er Thornpipe gewahrte, der herantrat und mit der Aufforderung: »Gebt mir den Jungen zurück!« ihn wiederzuerlangen sachte.


... Ein Jüngelchen von etwa drei Jahren. (S. 23.)

»Seid Ihr sein Vater? fragte der Geistliche.

– Ja..., antwortete Thornpipe hastig.

– Nein... das ist mein Papa nicht! rief weinend das Kind, das sich der Frau anschmiegte.

– Er gehört Euch gar nicht an! wetterte der Droguist.

– Ein gestohlener Bursche ist's! setzte der Schlächter hinzu.

– Und wir geben ihn nicht zurück!« erklärte der Pfarrer.

[23] Thornpipe wollte sich nicht ergeben. Mit geröthetem Gesicht und zornsprühenden Augen verlor er ganz die Fassung und war schon daran, »auf irländisch zu spaßen«, d. h. ein Messer zu ziehen, als sich zwei kräftige Männer auf ihn stürzten und ihn entwaffneten.

»Jagt ihn davon!... Jagt ihn fort! heulten die Frauen.

– Mach' Dich auf den Weg, Spitzbube! sagte der Droguist.

– Und laßt Euch in der Grafschaft nicht wieder erblicken!« schloß der Geistliche mit einer drohenden Bewegung.

[24] [27]Thornpipe trieb den Hund mit der Peitsche an und der Karren rollte die Hauptstraße von Westport wieder hinaus.

»Der Schurke! – so machte sich der Pharmaceut noch Luft – ich gebe ihm keine drei Monate, bis er das Menuet von Kilmainham getanzt hat!«


Die Frauen beklagten sein Schicksal. (S. 30.)

Dieses Menuet tanzen, bedeutet nach landläufiger Sprechweise, seine letzte Gigue vor einem Galgen abtanzen.

Der Pfarrer fragte das Kind nach seinem Namen.

– »Findling« heiß' ich,« lautete die sichere Antwort.

Und in der That: es hatte keinen andern Namen.

3. Capitel
Drittes Capitel.
Ragged-School (die Lumpenschule).

»Nummer 13, was hat der?...

– Das Fieber.

– Und Nummer 9?...

– Den Keuchhusten.

– Nummer 17?...

– Auch den Keuchhusten.

– Und Nummer 23?...

– Ich glaube, der wird den Scharlach bekommen.«

Alle diese Antworten schrieb O'Bodkins in ein musterhaft geführtes Register auf die offenen Conten der erwähnten Nummern ein. Hier war je eine Columne für den Namen der Krankheit, für die Stunde des Arztbesuches, für die verordneten Arzneien und für die Art der Verabreichung derselben angelegt, wenn die Erkrankten ins Hospital übergeführt waren. Da standen die Namen in gothischer Schrift, die Nummern in arabischen Ziffern, die Medicamente in Rundschrift und die Vorschriften in englischem Ductus – alles eingefaßt mit zierlichen Klammern in blauer Tinte und an gewissen Stellen schwarz doppelt unterstrichen, ein Muster von Kalligraphie und Uebersichtlichkeit.

[27] »Einige von diesen Kindern sind ernstlich erkrankt, bemerkte noch der Arzt. Achten Sie darauf, daß sie sich bei der Ueberführung nicht erkälten.

– Gewiß, ich werde schon dafür Sorge tragen, antwortete O'Bodkins. gleichgiltig. Sind sie nicht mehr hier, so bin ich ihrer ledig. Wenn dann nur meine Buchführung in Ordnung ist....

– Na, und wenn sie ihrer Krankheit erliegen, unterbrach ihn der Doctor, schon nach Hut und Stock fassend, ist der Verlust, mein' ich, auch nicht so arg....

– Gewiß nicht, stimmte O'Bodkins zu. Ich schreibe sie dann in die Rubrik der Verstorbenen ein und ihr Conto wird abgeschlossen. Ist das aber geschehen, so hat niemand mehr Ursache sich zu beklagen.«

Mit einem Händedrucke verabschiedete sich der Arzt des Hauses.

O'Bodkins war der Director der »Ragged-School« von Galway, einer Kleinstadt an der Bai und in der Grafschaft gleichen Namens, im Südwesten der Provinz Connaught. Nur hier dürfen die Katholiken Grundeigenthum besitzen, und hierher (und nach Munster) befleißigt sich England, das nicht protestantische Irland zurückzudrängen.

Man kennt die Art Leute wie O'Bodkins ja zur Genüge; auch er verdient kaum unter die liebevollen Vertreter der Menschheit gerechnet zu werden. Er ist ein untersetzter Mann, einer jener Cölibatäre, die weder eine Jugend gehabt haben, noch ein Alter haben werden, die sich immer gleich bleiben und Haare haben, die weder ausfallen noch ergrauen, die mit goldener Brille, welche man ihnen im Grabe am Besten läßt, schon auf die Welt gekommen sind, die keine Nahrungs-, keine Familiensorgen kennen, ausreichend haben, was sie bedürfen, und deren Herz von zarteren Empfindungen niemals bewegt worden ist. Er gehört zu den, weder guten noch schlechten Geschöpfen, die ihre irdische Laufbahn vollenden, ohne je etwas Gutes oder Böses gethan zu haben, und die niemals unglücklich sind... nicht einmal über das Unglück andrer.

O'Bodkins war also wie von Natur zum Director einer Lumpenschule geschaffen.

Wir haben bereits gesehen, mit welch' erstaunlicher Sorgfalt, welch' peinlicher Abwägung des Soll und Haben die Bücher des Mannes geführt waren. Im Hause standen ihm übrigens die bejahrte Mutter Kriß, an deren Munde stets die Tabakspfeife hing, und ein älterer Pensionär, namens Grip, helfend zur Seite. Letzterer, ein armer Teufel mit gutmüthigen Augen, einem gewissen [28] Ausdruck von Fröhlichkeit in den Zügen und einer für den Irländer charakteristischen, etwas aufgebogenen Nase, war unendlich mehr werth als Dreiviertel der elenden Kreaturen, die in dieser Art Schulhospiz Aufnahme gefunden hatten.

Diese Bewohner des Hauses waren Waisen oder verlassene Kinder, die ihre Eltern meist gar nicht gekannt hatten. Am Bachesrand oder am Feldrain geboren, auf Straßen oder Landwegen aufgelesen, kehrten sie nach Erreichung des arbeitsfähigen Alters auch dahin zurück... ein Ausschuß der menschlichen Gesellschaft. Doch was konnte aus zwischen Pflastersteinen verstreutem Samenkorn für andre Frucht wohl erwachsen?

In der Schule von Galway befanden sich deren etwa dreißig im Alter von drei bis zu zwölf Jahren, alle in Lumpen gehüllt und immer hungrig, da sie sich nur von der öffentlichen Mildthätigkeit ernährten. Mehrere davon waren immer krank, und diese Kinder schnellten die Sterblichkeit des Ortes nicht unwesentlich in die Höhe – freilich »kein arger Verlust«, nach Aussage des Arztes

Er hat ja damit nicht ganz Unrecht, wenn keine Erziehung im Stande ist, jene zu verhindern, einst Uebelthäter zu werden. Und doch wohnt eine Seele auch unter diesen zerfetzten Hüllen, und bei besserer Methode gelänge es vielleicht, so manchen zum Guten zu lenken. Jedenfalls wäre zur Erziehung und Heranbildung solcher Unglücklichen ein andrer Lehrer nöthig, als jener Hampelmann O'Bodkins, ein Lehrer, wie man solche selbst in den dürftigsten Gemeinden Irlands nicht gar so selten antrifft.

Der »Findling« war einer der jüngsten in dieser Ragged-School. Er zählte jetzt kaum vierundeinhalb Jahre. Armes Kind! Es hätte an seiner Stirn die trostlose Aufschrift »Keine Hoffnung! Keine Aassichten!« tragen sollen. Von Thornpipe zur lebendigen Kurbel erniedrigt, dann durch das Mitleid einiger guten Seelen in Westport seinem Peiniger entrissen und nun Zögling der Lumpenschule in Galway! Und wenn er diese einst verließ, drohte es ihm dann nicht noch schlechter zu ergehen?

Gewiß war es lobenswerth von dem Pfarrer des Kirchspiels gewesen, dieses unglückliche Wesen aus den Händen des Marionettenschaustellers zu befreien. Nach vielen vergeblichen Mühen mußte man damals endlich verzichten, seine Herkunft nachzuweisen. Der »Findling« entsann sich nur darauf, bei einer garstigen Frau gelebt zu haben, gleichzeitig mit einem kleinen Mädchen, [29] das ihm recht zugethan, und noch einer andern, die aber gestorben war. Einen Ort wußte er freilich nicht anzugeben. Ebenso konnte niemand sagen, ob er ein nur verlassnes oder ein gestohlnes Kind war.

Seit seiner Befreiung in Westport hatte bald dieses bald jenes Haus für ihn nach Kräften gesorgt. Die Frauen beklagten sein Schicksal. Der Name »Findling« war ihm geblieben. Einzelne Familien pflegten ihn acht, andere vierzehn Tage lang. So vergingen drei Monate. Das Kirchspiel war aber selbst recht arm, und schon lebten viele Bedürftige auf öffentliche Kosten. Wäre ein Waisenhaus vorhanden gewesen, so würde der Knabe darin einen Platz bekommen haben. Ein solches gab es aber nicht, und so hatte man ihn nach der Lumpenschule in Galway bringen müssen, und hier befand er sich nun seit neun Monaten, mitten unter einer Rotte verwahrloster Rangen. Was sollte aus ihm werden, wenn er diese Anstalt einmal verließ? Er gehörte zu jenen Enterbten, für die von frühester Jugend an die Beschaffung der täglichen Bedürfnisse eine Lebensfrage bildet, eine Frage, die gar zu oft ohne Antwort bleibt.

Seit neun Monaten also befand sich der Findling unter der Pflege und Zucht der halb verwilderten alten Kriß, des in sein Schicksal ergebenen Grip und des Directors O'Bodkins, dieser Maschine zur Ausgleichung von Einnahmen und Ausgaben. Seine gute Constitution half ihm aber, viele hier unvermeidliche Schädigungen zu überwinden. Er stand nicht mit in des Directors großem Buche in der Rubrik der Masern, des Scharlachs und andrer Kinderkrankheiten, sonst wäre sein Conto wohl schon beglichen gewesen... in dem gemeinsamen Grabe, das Galway seinen öffentlichen Armen gewährte.

Neben der körperlichen Gesundheit war in der Lumpenschule aber auch die geistige und moralische Entwicklung arg gefährdet, und es gehörte eine vortreffliche sittliche Veranlagung dazu, der Ansteckung durch tägliches böses Beispiel nicht zu erliegen. Hier befand sich sogar ein Knabe, dessen Mutter »ihre Zeit in Norfolk absaß«, auf ferner Insel inmitten des australischen Meeres, und dessen wegen Raubmords verurtheilter Vater hinter den Mauern von Newgate unter den Händen des berühmten (Scharfrichters) Berry geendet hatte.

Dieser Knabe hieß Carker. Schon in seinem zwölften Jahre schien er in den verbrecherischen Spuren der Eltern weiter zu wandeln. Daß dieser inmitten des verwahrlosten Gesindels der Lumpenschule eine gewisse Rolle spielte. ist ja nicht zu verwundern. Er, ein Verdorbener, der andre verdarb, genoß eines besondern Ansehens, er hatte seine Schmeichler und Helfershelfer, war der geborne [30] Anführer der Schlimmsten und bereits zu jedem schlechten Streiche bereit, eine Vorübung zu den Verbrechen, die er nach seinem Austritt aus der Schule gewiß beging.

Der »Findling« freilich empfand nur heftigen Widerwillen gegen Carker, wenn er ihn – den Sohn des Gehenkten! – zuweilen auch mit großen Augen voller Erstaunen betrachtete.

Im allgemeinen gleichen diese Armenschulen kaum den modernen Unterrichtsanstalten, für die der Cubikmeter Luft nach hygienischen Grundsätzen berechnet und der Raumbedarf nach der Kopfzahl bemessen ist. Zum Lager gab es Stroh, da ist das Bett bald gemacht und bedarf kaum des Aufschüttelns. Von einem Speisesaale war keine Rede, und der erschien auch überflüssig, wo man nur Brodrinden nebst einigen Kartoffeln, und auch das oft nur in unzureichender Menge, zu kauen hatte. Die Last des Unterrichtens der Lumpenschüler lag auf den Schultern des Herrn O'Bodkins. Er sollte ihnen Lesen, Schreiben und Rechnen lehren, doch ohne Gewähr des Gelingens, und wenn die Kinder zwei bis drei Jahre unter seiner Zuchtruthe gestanden hatten, gab es unter ihnen kaum ein Dutzend, die einen Maueranschlag zu entziffern vermocht hätten. Obgleich einer der Jüngsten, unterschied sich der Findling jedoch sehr von seinen Kameraden durch einen regen Lerntrieb, der ihm so manche Spöttelei einbrachte. Es ist doch tief bedauerlich und social unverantwortlich, wenn ein Menschenkind, das nach geistiger Ausbildung trachtet, diese entbehren muß. Niemand vermag ja den zukünftigen Verlust durch die Brachlegung eines jungen Gehirns abzuschätzen, das die Natur vielleicht mit den besten – jetzt nicht aufgehenden – Keimen ausgestattet hatte.

Wenn die Zöglinge nun hier kaum mit dem Kopfe arbeiteten, lag das nicht etwa daran, daß sie mit Handarbeit überbürdet gewesen wären. Die tägliche Beschäftigung der Kinder bestand vielmehr nur darin, daß sie etwas Brennmaterial für den Winter aufsammelten, sich bei mitleidigen Seelen abgelegte Kleidungsstücke erbettelten und den Unrath von Pferden und andern Thieren zusammenscharrten, um diesen an die Landleute für wenige Coppers zu verkaufen – eine Einnahmequelle, für die O'Bodkins eine besondre Rechnung führte – endlich durchwühlten sie, womöglich vor den Hunden oder im Nothfalle nach Verjagung der Vierfüßler, die Kehrichthaufen an den Straßenecken nach irgendwelchem verwendbaren oder verwerthbaren Abfall. Spiele, Unterhaltungen gab es hier nicht, wenn man es nicht als Vergnügen rechnen will, sich gegenseitig [31] zu zerkratzen, zu kneipen und zu beißen, abgesehen von den übeln Streichen, die Grip gar häufig gespielt wurden. Der brave Bursche machte davon wenig Aufhebens; doch das reizte Carker und die andern Schlingel nur noch mehr an, ihm auf gemeinste und grausamste Weise mitzuspielen.

Das einzige einigermaßen saubere Zimmer der Lumpenschule war das des Directors, das natürlich keiner betreten durfte, denn dann wären dessen Bücher unfehlbar zerrissen, seine Schreibereien überallhin verstreut worden. Im Gegentheil gefiel es dem Manne, wenn seine Zöglinge sich draußen umhertrieben [32] und dumme Streiche machten; ihm kamen sie, die der Hunger und die Müdigkeit in die Lumpenschule heimtrieb, doch immer zu zeitig zurück.


Die tägliche Beschäftigung der Kinder.... (S. 31.)

Bei seiner ernsteren Natur und seinen besseren Neigungen war der Findling unablässig nicht nur dem rohen Spotte, sondern auch den Gewaltthätigkeiten Carker's und eines halben Dutzend andrer preisgegeben. Er vermied es aber, sich zu beklagen.

Wenn er nur stark genug gewesen wäre! Er hätte sich schon Respect verschafft, hätte Schlag für Schlag, Fußtritt für Fußtritt zurückgegeben – [33] jetzt freilich schwoll ihm das Herz nur vor Ingrimm, zur Selbstvertheidigung zu schwach zu sein.


Wenn der Große den Kleinen an der Hand führte. (S. 35.)

Gleichzeitig verließ er das Schulhaus am wenigsten, da er sich ja der Ruhe erfreute, wenn die übrigen draußen herumlungerten. Er stand sich dabei freilich schlecht, denn unterwegs hätte er ja etwas zum abnagen finden oder ein altbackenes Brödchen für zwei bis drei als Almosen erhaltene Coppers kaufen können. Ihm widerstrebte es aber, die Hand auszustrecken und hinter den Wagen herzulaufen, um ein verlorenes Geldstückchen aufzulesen, vorzüglich aber, Ladenauslagen und dergleichen zu berauben, was die andern oft genug leichten Herzens thaten. Nein, er zog es vor, bei Grip zu bleiben.

»Nun, Du willst nicht fortgehen? fragte ihn dieser.

– Nein, Grip.

– Carker wird Dich schlagen, wenn Du heut' Abend nichts heimgebracht hast.

– Da will ich mich lieber schlagen lassen!«

Grip empfand für den Findling eine warme, von diesem getheilte Zuneigung. Selbst geistig ziemlich beanlagt und geübt im Lesen und Schreiben, bemühte er sich, dem Kinde zu lehren, was er gelernt hatte. Seit seinem Verweilen in Galway zeigte der Findling auch immer weitere Fortschritte, wenigstens im Lesen, und versprach also, seinem Lehrer Ehre zu machen.

Hier sei auch nicht vergessen, daß Grip einen großen Vorrath unterhaltender Geschichten im Kopfe hatte, die er gern erzählte.

Mit seinem herzlichen Lachen in dieser düstern Umgebung kam es dem Findling vor, als verbreite der gute Grip einen Lichtstrahl in der traurigen Finsterniß.

Was unsern Helden am meisten wurmte, war, daß die andern sich immer an Grip rieben und ihm ihr Uebelwollen auf jede Weise fühlen ließen, was dieser, wie erwähnt, mit philosophischer Ruhe duldete.

»Aber, Grip!... begann der Findling zuweilen.

– Was willst Du?

– Der Carker ist doch recht schlecht!

– Gewiß, sehr ungezogen.

– Warum klopfst Du ihm nicht den Rücken?

– Ich? Klopfen?...

– Ja, und auch den andern?«

[34] Grip zuckte mit den Schultern.

»Bist Du denn nicht stark, Grip?

– Das weiß ich nicht.

– Du hast aber doch lange Arme und Beine...«

Ja, groß war Grip wohl, doch auch hager, wie ein Blitzableiter.

»Nun also, Grip, warum prügelst Du sie nicht, die abscheulichen Kerle?

– Weil sich's nicht der Mühe lohnt.

– O, wenn ich Deine Arme und Beine hätte...

– Dann wär's besser, Kleiner, sich ihrer zum arbeiten zu bedienen.

– Meinst Du?

– Ganz gewiß.

– Nun gut, laß uns zusammen arbeiten. Sprich!... Wir versuchen's. Willst Du?«

Grip wollte das herzlich gern.

Zuweilen gingen beide aus. Grip nahm das Kind mit, wenn er etwas zu besorgen hatte. Der Findling trug freilich die erbärmlichste Kleidung, die ihm nicht einmal auf den Leib paßte; zerrissene Hosen, eine zerfetzte Jacke, eine Mütze ohne Deckel und an den Füßen Rindslederschuhe, deren Sohlen nur durch Bindfaden noch daran festgehalten wurden. Mit Grip, der auch nur das abgetragenste Zeug besaß, sah es allerdings kaum besser aus. Es waren gleiche Brüder mit gleichen Kappen. Jetzt, in der schönen Jahreszeit, ging das ja noch an. Gute Witterung ist in den nördlichen Grafschaften Irlands aber ebenso selten, wie ein gutes Essen in der Hütte Paddys. Beim Regen aber, beim Schnee erregten die beiden, halb entblößt und erfroren, die Füße vom Schnee fast angeätzt, das Mitleid der ihnen begegnenden Leute, wenn der Große den Kleinen an der Hand führte und beide Trab liefen, um sich etwas zu erwärmen.

So trollten sie durch die Straßen von Galway, das fast einer spanischen Stadt ähnelt, oft unbeachtet von einer gleichgiltigen Menge. Der Findling hätte gar zu gern gewußt, was in den Häusern da drin wäre. Durch die engen, meist mit Gittern verwahrten Fenster mit den herabgelassenen Jalousien war freilich nichts zu entdecken. Für ihn waren diese Häuser mit Silbermünzen angefüllte Geldschränke. Und die Gasthäuser, wohin die Reisenden im Wagen angefahren kamen, wie gern hätte er in deren schöne Zimmer einmal gesehen, vorzüglich in die des Royal-Hôtel! Die Dienerschaft hätte aber sicherlich beide [35] wie Hunde fortgejagt oder, was noch schlimmer ist, wie Bettler, denn ein Hund findet noch eher einmal eine liebkosende Hand.

Und wenn sie vor den, übrigens nur mangelhaft ausgestatteten Läden der Flecken des oberen Irland stehen blieben, schienen diese den beiden unschätzbare Reichthümer zu bergen. Da warfen sie brennende Blicke auf die Auslage eines Kleiderladens, sie, die sich nur in Lappen wickeln konnten, oder durch das Fenster eines Schuhwaarengeschäfts, sie, die nur fast barfuß gingen. Der Genuß, einmal einen neuen Rock auf dem Leibe oder eigens angemessene Stiefeln an den Füßen zu tragen, blieb ihnen voraussichtlich ja für immer versagt, ebenso wie den vielen Elenden, die da verurtheilt sind, sich mit dem, was andre wegwerfen, und mit Abfällen aus der Küche zu begnügen.

Auch Schlächterläden gab es da, mit ganzen Rindervierteln am Haken, von denen eines ausgereicht hätte, die Lumpenschule einen vollen Monat hindurch zu sättigen. Als Grip und der Findling das saftige Fleisch betrachteten, da öffneten sie weit den Mund, fühlten aber, wie ihr Magen sich dabei zusammen schnürte.

»Ei was, sagte Grip, bewege nur die Kinnladen, Kleiner, das ist fast ebenso gut, als wenn Du geschmaust hättest!«

Und vor den großen Brodlaiben, die noch einen angenehmen, warmen Duft ausströmten, vor den »Cakes« und andern feineren, den Gaumen reizenden Backwaaren standen sie wohl auch zuweilen mit trockner Zunge und zusammengepreßten Lippen, Hunger, den quälenden Hunger in den Zügen, und dann murmelte der Findling wohl:

»Ach, das muß aber gut schmecken, Grip!

– Gewiß, Kleiner, bestätigte dieser.

– Hast Du schon so etwas gegessen?

– Ja, einmal doch.

– Ach!« seufzte der kleine Junge.

Er hatte ja nie dergleichen gekostet, weder bei Thornpipe. noch seit die Lumpenschule ihm Obdach gewährte.

Eines Tages fragte ihn eine Frau, die für sein blasses Gesicht Mitleid empfand, ob ihn wohl so ein Kuchen erfreuen würde.

»Da wünscht' ich mir lieber Brod, erwiderte er.

– Warum denn das, mein Kind?

– Weil man davon mehr bekommt.«

[36] Eines Tages aber, als Grip für einige Besorgungen ein paar Pence erhalten hatte, kaufte dieser einen kleinen, mindest acht Tage alten Kuchen.

»Schmeckt er gut? fragte er den Knaben.

– O, herrlich... so süß, als ob er gezuckert wäre!

– Da ist auch Zucker drin, versicherte Grip, echter, richtiger Zucker!«

Bisweilen lustwandelten die beiden Freunde bis zur Vorstadt Salthill. Von hier aus kann man die ganze Bai überblicken, die zu den schönsten Irlands gehört. Da sieht man die drei Inseln Aran, die sich am Eingange erheben, wie die drei Felskegel von Vigo – eine weitere Aehnlichkeit mit Spanien – und rückwärts die wilden Bergmassen des Burren und des Clare, sowie die steilen Uferklippen von Moher. Dann gingen sie nach dem Hafen zurück, nach den Quais und längs der Docks hin, deren Anlage begonnen hatte, als einmal die Absicht aufgetaucht war, Galway zum Ausgangspunkte einer transatlantischen Dampferlinie zwischen Europa und Nordamerika zu machen, da von hier aus der Seeweg am kürzesten wäre.

Als beide da verschiedene Schiffe, theils in der Bai vor Anker liegend, theils an der Hafenmauer vertäut, erblickten, fühlten sie sich mächtig davon angezogen, als wenn das Meer gegen arme Leute minder grausam sein könnte als die Erde, da es eine sichrere Existenz verspricht und das Leben in der freien Luft der Oceane jedenfalls dem in den dunstigen, verpesteten Gassen der Städte vorzuziehen ist. Vor allen andern Berufen schien ihnen der des Seemannes ebenso dem Kinde die Gesundheit, wie dem Manne den Lebensunterhalt zu gewährleisten.

»Das muß schön sein, Grip, auf diesen Schiffen mit ihren großen Segeln zu fahren! rief der Findling aufjubelnd aus.

– Wenn Du wüßtest, wie es mich danach verlangt! antwortete Grip, der den Kopf zurückwarf.

– Warum bist Du dann nicht Seemann geworden?...

– Du hast Recht... ich hätte Matrose werden sollen.

– Du wärst so weit... so weit gefahren....

– Nun, vielleicht macht sich das noch.« – Jetzt war es freilich nichts damit.

Der Hafen von Galway wird durch die Mündung eines Flusses gebildet. der aus dem Lough Corrib abströmt und sich in die Bai ergießt. Am andern Ufer, jenseits einer Brücke, erhebt sich das bemerkenswerthe Dorf Claddagh, [37] das viertausend Einwohner zählt, lauter Fischer, die sich seit langer Zeit einer selbstständigen Gemeindeverwaltung erfreuen, und deren Ortsvorsteher in alten Urkunden als »König« aufgeführt ist. Grip und das Kind kamen dann und wann bis nach Claddagh. Der Findling hätte alles darum gegeben, einer der rüstigen, muthwilligen, wettergebräunten Knaben hier, der Sohn einer kräftigen Mutter zu sein, in deren Adern noch ein Tropfen galicisches Blut rollte, wenn die Frauen gleich ihren Männern auch ein etwas wildes Aussehen haben. Ja, er beneidete diesen lebenslustigen Schwarm, der sich gewiß glücklicher fühlte, als die Kinder in so manchen Städten Irlands. Wie gern hätte er sich zu den Knaben gesellt, die da lachten, kreischten, im Wasser herumplätscherten, wie gern hätte er zu ihnen gehört! Bei seiner zerfetzten Kleidung wagte er's aber nicht, sich ihnen zu nähern, sie hätten ja glauben können, er wolle betteln. So hielt er sich, eine schwere Thräne im Auge, beiseite und schlürfte nur nach dem Marktplatze hin, um sich die schönfarbigen Makrelen und die silbergrauen Häringe, die einzigen Meeresbewohner, auf deren Fang die Fischer von Claddagh ausgehen, etwas anzusehen. Von den Hummern und Taschenkrebsen, die es zwischen den Klippen der Bai ebenfalls in großer Menge gab, konnte er nicht glauben, daß sie gut schmeckten, obgleich ihm Grip, nach dem, was ihm zu Ohren gekommen war, versicherte, »es wäre wie Schaumkuchen, was die Thiere unter ihrer Schale hätten«. Vielleicht sollten sie das einmal selbst erproben.

Nach ihrem Spaziergange begaben sich beide durch die engen und schmutzigen Straßen in der Richtung nach der Lumpenschule zurück. Dabei gingen sie an Ruinen vorüber, die Galway das Aussehen verleihen, als sei es zur Hälfte durch ein Erdbeben zerstört worden. Und doch haben Ruinen, wenn die Zeit sie geschaffen hat, auch ihren Reiz. Hier freilich, wo sie nur aus Häusern bestanden, die wegen Mangels an Baucapitalien unvollendet blieben, deren kaum dem Erdboden entstiegene Mauern überall Risse zeigten, kurz, hier, wo nur eine Folge der Vernachlässigung und nicht ein Werk der Jahrhunderte vorlag, machte das Ganze eher einen beklemmenden, traurigen Eindruck.

Noch schlimmer als die ärmeren Stadttheile, noch abstoßender als die verwitterten Hütten der Vorstädte Galways, so freilich sah die elende, dumpfige Wohnung, das unzureichende Obdach aus, wo das Elend die Genossen des Findlings zusammenpferchte, und Grip und er beeilten sich auch gar nicht, als die Stunde der Heimkehr geschlagen hatte.

[38]
4. Capitel
Viertes Capitel.
Das Begräbniß einer Möwe.

Leicht dürfte man sich fragen, ob der Findling im Kreise dieser moralisch tief stehenden Genossen nicht auch mit Rückschritte gemacht habe. Man begreift wohl, daß ein Kind, dem alle Sorgfalt zu Theil wird, das überall Liebe umgiebt, sich ganz dem Glücke des Lebens hingiebt, daß es, ohne nach dem zu fragen, was gewesen ist oder sein wird, seine Jugend genießt. Doch wenn die Vergangenheit nur eine Kette von Trübsal und Leiden gewesen ist, da erscheint die Zukunft wohl in düstrer Färbung, die sich vom Bilde der Vergangenheit auf sie überträgt.

Was konnte aber der Findling, wenn er ein oder zwei Jahre zurückblickte, sehen? Jenen Thornpipe, den rohen, verthierten Menschen, den mitleidslosen Quälgeist, den er noch immer einmal in den Straßen der Stadt oder draußen auf dem Landwege wieder zu treffen fürchtete und der sich dann seiner gewiß zu bemächtigen suchen würde; daneben kam ihm noch die Erinnerung an jene grausame Frau, die ihn mißhandelte, freilich auch das Bild des kleinen Mädchens, die ihn zuweilen auf den Knien schaukelte.

»Ich glaube mich zu erinnern, daß sie Sissy 1 hieß, sagte er eines Tages zu seinem Freunde.

– Welch' hübscher Name!« antwortete Grip.

Grip war im Grunde der Meinung, daß jene Sissy nur in der Einbildung des Kindes existierte, denn man hatte nie etwas näheres von ihm in Erfahrung bringen können. Wenn er in dieser Hinsicht indessen einen Zweifel durchblicken ließ, war der Findling nahe daran, bös zu werden. Da er sie in der Erinnerung noch deutlich vor sich sah, mußte er ihr ja einst wieder begegnen. Doch was mochte aus ihr geworden sein? Trennten sie viele Meilen von einander?... Sie liebte ihn ja und er auch sie.... Das war die erste Neigung, die er vor seinem Bekanntwerden mit Grip empfunden hatte, und er sprach von ihr wie [39] von einem großen Mädchen. Sie war so sanft und gut und liebkoste ihn und trocknete seine Thränen, ja sie küßte ihn und theilte mit ihm ihre Erdäpfel....

»Ich hätte sie so gern schützen mögen, wenn die alte häßliche Frau sie schlug, sagte der kleine Knabe.

– Ich auch, und ich glaube, ich würde da derb zugepackt haben!« antwortete Grip, um dem Kinde ein Vergnügen zu machen.

Wenn der wackre Bursche sich übrigens nicht selbst vertheidigte, wenn man ihm zu nahe kam, so wußte er doch recht gut, andre zu vertheidigen und hatte davon schon manchen Beweis geliefert, sobald es darauf ankam, seinen Schützling vor den böswilligen Angriffen der Rotte zu decken.

Einmal schon, in den ersten Monaten seines Aufenthaltes in der Lumpenschule, war der Findling, verlockt durch den Ton der Kirchenglocke, eines Sonntags in die Kathedrale von Galway eingetreten. Nur ein glücklicher Zufall hatte ihn dahin führen können, denn selbst die Touristen haben Mühe, das Bauwerk zu entdecken, das in einem Labyrinth von unsaubern, engen Straßen verloren ist.

Da stand nun das Kind verschämt und furchtsam. Der unerbittliche Küster hätte den Knaben, wenn er diesen erblickte, wie er halb entblößt sich in die Ecke drückte, gewiß nicht in der Kirche gelitten. Der Kleine war ganz erstaunt und entzückt von dem, was er hörte, von den geistlichen Liedern in Begleitung der Orgel, und von dem, was er sah, dem Priester am Altar im goldgestickten Ornate, und den großen Kerzen, die am hellen Tage brannten.

Der Findling hatte nicht vergessen, daß der Pfarrer von Westport manchmal von Gott zu ihm gesprochen hatte, von Gott, der unser aller Vater ist. Er erinnerte sich auch, daß sogar der Puppenschausteller den Namen Gottes in den Mund nahm, freilich nur, wenn er schreckliche Verwünschungen ausstieß, und das verwirrte jetzt seine Gedanken inmitten der religiösen Handlung. Dennoch empfand er, unter der hohen Wölbung hinter einem Pfeiler versteckt, eine Art Neugier, indem er den Geistlichen betrachtete, wie er Soldaten angestaunt hätte. Und während sich die ganze Versammlung beim Aufheben der Monstranz und den Tönen des Glöckchens tief verneigte, da verschwand er wieder, ohne bemerkt worden zu sein, und glitt über die Steinplatten so leise hinweg, wie eine Maus, die in ihr Loch huscht.


Als er sich gerade mit der alten Kriß allein befand. (S. 41.)

Aus der Kirche nach Hause gekommen, erwähnte er davon gegen niemand etwas, nicht einmal gegen Grip, der übrigens nur eine unklare Vorstellung von[40] der Bedeutung der Messe und der Vesper hatte. Nach einem zweiten Besuche aber, als er sich gerade mit der alten Kriß allein befand, wagte er die Frage, was denn Gott eigentlich sei.

»Gott?... antwortete die alte Frau, deren schreckliche Augen durch die dicken ihrer Pfeife entströmenden Wolken blitzten.

– Ja, Gott?...

– Das ist der Bruder des Teufels, dem er die unartigen, vormäuligen Kinder zuschickt, um sie in dessen höllischen Feuer verbrennen zu lassen.«

[41] Auf diese Antwort erblaßte der Findling, und obwohl er gern gewußt hätte, wo sich diese glühende Hölle befinde, wagte er es doch nicht, die alte Frau Kriß danach zu fragen.

Fortwährend aber dachte er an diesen Gott, der nur die Aufgabe zu haben schien, kleine Kinder zu bestrafen, und wie schrecklich zu bestrafen, wenn er die Worte der Kriß für Wahrheit halten konnte.

Die Sache drückte ihn dermaßen, daß er darüber eines Tages mit seinem Freunde Grip reden wollte.

»Sage mir einmal, Grip, hast Du schon zuweilen von der Hölle reden hören?

– Ja, dann und wann, Kleiner.

– Und wo ist denn die Hölle?

– Das weiß ich freilich nicht.

– Sage mir... wenn man dort die bösen Kinder verbrennt, wird da auch Carker verbrannt werden?

– Gewiß, im lichterlohen Feuer!.

– Ich, Grip, ich bin wohl nicht so schlecht, nicht wahr?

– Du?... Schlecht?... Nein, das glaub' ich nicht.

– Dann werd' ich also nicht verbrannt?...

– Kein Härchen wird Dir versengt!

– Und Dir auch nicht, Grip?

– Nein, nein, mir auch nicht!«

Grip hielt es aber für angezeigt, hinzuzufügen, bei ihm lohne es gar nicht der Mühe, da er so mager sei.

Das war also alles, was der Findling bis jetzt von Gott wußte und was er vom Katechismus gelernt hatte. Dennoch verrieth ihm trotz seiner Jugend eine innere Stimme, was Recht und was Unrecht war. Wenn er auch nicht nach den Vorschriften der alten Hausverwalterin der Lumpenschule bestraft zu werden fürchtete, so drohte ihm das um so mehr von seiten O'Bodkins'.

Dieser war nämlich gar nicht zufrieden mit ihm. Der Findling figurierte noch nicht auf dem Conto der Einnahmen, wohl aber auf dem der Ausgaben. Das Bürschchen verursachte nur Unkosten (wenn diese auch gering waren) und erwarb nichts. Die andern, welche bettelten und gelegentlich wohl Kleinigkeiten stahlen, trugen doch in etwas zu den Kosten der Wohnung und der Nahrung bei, während dieses Kind gar nichts heimbrachte.

[42] Eines Tages machte ihm O'Bodkins darüber die bittersten Vorwürfe, wobei er ihn durch die Brille mit strengem Blicke maß.

Der kleine Knabe hatte Selbstbeherrschung genug, nicht zu weinen, als er von O'Bodkins als verantwortlichem Leiter und Director der Schule diese Predigt erhielt.

»Du willst wohl gar nichts thun? herrschte dieser ihn an.

– Doch, Herr Director, erwiderte das Kind. Sagen Sie mir nur, was ich thun soll.

– Nun irgend etwas, was so viel einbringt, wie Du hier kostest.

– Das möcht' ich gerne, ich weiß es aber nicht anzufangen.

– Ei, da läuft man den Leuten auf der Straße nach, spricht sie an, ob sie etwas zu besorgen haben....

– Ich bin zu klein, niemand will mich dazu haben.

– So durchwühlst Du die Abraumhaufen an den Ecksteinen, darin ist immer noch etwas zu finden.

– Ja, mich beißen aber die Hunde, und ich bin nicht stark genug, ich kann sie nicht fortjagen.

– Wirklich? Hast Du denn Hände?

– Ja.

– Und hast Du auch Beine?

– Ja.

– Nun also, so laufe den Wagen nach und bettle einige Coppers, da Du nichts andres machen kannst.

– Ich soll Coppers betteln!«

Der Findling fühlte einen Stich im Herzen, so empörte sich sein natürlicher Stolz, und er erröthete bei dem Gedanken, die Hand ausstrecken zu sollen.

»Das bin ich nicht im Stande, Herr O'Bodkins! sagte er.

– Ach, das könntest Du nicht? –

– Nein!

– Doch könntest Du denn leben, ohne zu essen?... Nein, nicht wahr? Ich sage Dir aber, daß ich nächstens mit Dir doch eine solche Probe anstellen werde, wenn Du nicht etwas ersinnst, Deinen linterhalt zu verdienen! Jetzt trolle Dich weg!«

Seinen Unterhalt verdienen, und das im Alter von vier Jahren und wenigen Monaten! Freilich verdiente er ja schon etwas bei dem Puppenschausteller, [43] doch auf welche Weise! Der Kleine trollte sehr bestürzt davon. Wer ihn dann in seinem Winkel gesehen hätte, wie er mit gekreuzten Armen und hängendem Kopfe dasaß, der hätte Mitleid mit ihm haben müssen. Das Leben war für das arme kleine Geschöpf eine recht schwere Last!

Sind solche verlassene kleine Wesen nicht schon von allerfrühester Zeit durch das Elend abgestumpft, so mag sich selten jemand vorstellen können, was sie leiden, und keiner würde ihnen gewiß seine Theilnahme versagen.

Nach den Vorwürfen des Directors kamen dann noch die Schmähungen der Schlingel aus der Schule.

Diese ärgerte es, daß der Junge ehrbarer war als sie. Alle strebten danach, ihn zum Schlechten zu verleiten, und an schlimmen Rathschlägen und... Hieben ließen sie es dazu nicht fehlen.

Carker vorzüglich zeichnete sich in dieser Hinsicht vor allen übrigen aus.

»Du willst nicht betteln? fragte er eines Tages.

– Nein, antwortete der Findling mit fester Stimme.

– Nun, Du Dummkopf, man bettelt und bettelt auch nicht, man nimmt einfach!

– Nehmen?

– Natürlich! Sieht man einen gutgekleideten Herrn mit einem aus der Tasche hervorhängenden Taschentuche, so schleicht man an ihn heran, zieht vorsichtig an dem Taschentuche, und da kommt das ganz allein heraus.

– Lass' mich in Ruhe, Carker!

– Manchmal folgt auch noch ein Portemonnaie dem Taschentuche nach....

– Das nennt man stehlen!

– Und in den Portemonnaies der reichen Leute findet man keine Coppers, sondern Schillinge, Kronen und auch Goldstücke; die steckt man hübsch ein und theilt sie mit den Kameraden.

– Ja, fiel ein andrer ein, und während man davon läuft, macht man den Polizisten eine lange Nase.

– Na, übrigens, fuhr Carker fort, wenn man nun auch eingeschlossen würde, was hätte das zu bedeuten? Da, im Gefängniß ist es ebenso gut wie hier, wenn nicht noch besser. Dort erhält man Brod, Suppe, Kartoffeln und ißt sich ordentlich satt.

– Ich mag aber nicht, ich mag nicht!« wiederholte der Kleine, der sich der Taugenichtse zu erwehren sachte, die ihn wie einen Ball hin- und herstießen.

[44] Da erschien Grip im Saale und beeilte sich, ihn seinen Peinigern zu entreißen.

»Daß Ihr mir den Kleinen ungeschoren laßt!« rief er, die Hände ballert.

Dieses Mal war Grip wirklich wüthend.

»Du weißt, sagte er zu Carker, ich schlage nicht oft zu, nicht wahr, doch wenn's einmal geschieht, dann auch ordentlich!...«

Die Buben ließen ihr Opfer frei, warfen ihm aber wüthende Blicke, offenbar mit dem Versprechen zu, daß sie wieder über den Kleinen herfallen würden wenn Grip nicht mehr da wäre, und nur die Gelegenheit abwarteten, womöglich beiden etwas auszuwischen.

»Na, Du wirst ganz gewiß verbrannt, Carker! sagte der Findling mit etwas Theilnahme in den Mienen.

– Verbrannt?...

– Ja, in der Hölle, wenn Du Dich nicht besserst!«

Diese Versicherung rief bei dem Taugenichtse freilich nur ein tolles Gelächter hervor, während bei dem Kleinen die Ueberzeugung, daß Carker geröstet werden würde, unerschütterlich feststand.

Das Dazwischentreten Grip's reizte die Rangen selbstverständlich noch mehr und trieb sie an, sich an Beschützer und Beschützten ordentlich zu rächen.

In den Winkeln des Hauses beriethen die schlimmsten Insassen der Ragged-School ihre hinterlistigen Pläne. Grip ließ sie jedoch nicht aus den Augen und blieb, so viel er konnte, in der Nähe des bedrohten Knaben. Für die Nacht nahm er ihn mit nach der Bodenkammer, die er unter den Dachsparren bewohnte War's hier auch kalt und recht dürftig, so blieb der Findling doch gegen die gemeinen Knaben und die schlechte Behandlung der übrigen Rotte geschützt.

Eines Tages lustwandelten Grip und er auf dem Strande von Salthill wo sie sich badeten und der ältere, der des Schwimmens kundig war, seinen kleinen Begleiter darin unterrichtete. O, wie glücklich fühlte sich dieser, in die klare Fluth tauchen zu können, auf der die schönen Schiffe dahintrieben... weit weit weg, bis die weißen Segel am Horizonte verschwanden.

Beide belustigten sich in den langen Wellen, die gegen das Ufer brandeten wobei Grip das Kind an den Schultern hielt und ihm die zum Schwimmer nöthigen Bewegungen lehrte.

Da ließ sich plötzlich von den Uferklippen her ein wahrhaft teuflisches Geheul vernehmen und in der Nähe wurde der ganze Auswurf der Lumpenschule sichtbar.

[45] Es waren nur ein Dutzend, aber die schlimmsten und rohesten Burschen, und natürlich Carker an der Spitze.

Sie schrien so unbändig, weil sie eine flügellahme Möwe entdeckt hatten, die zu entfliehen sachte, was ihr vielleicht noch gelungen wäre, wenn sie Carker nicht mit einem Stein getroffen hätte.

Der Findling stieß einen Aufschrei hervor, als wäre er von dem Wurfe getroffen worden.

»Die arme Möwe!... Das arme Thier!« rief er klagend.

In Grip's Herzen kochte der Zorn auf und er hätte Carker wahrscheinlich eine Tracht Prügel verabreicht, die dieser nicht so leicht vergessen hätte, als er sah, daß das Kind den Strand hinauf mitten unter die Bande eilte und für den Vogel um Erbarmen bat.

»Carker, ich bitte Dich... wiederholte der Kleine... schlage lieber mich, nicht aber die Möwe... nur die Möwe nicht!«

Ein Hagel von Spottreden war die Antwort darauf, als die andern ihn ganz nackt mit den dünnen Beinchen und den vorspringenden Hüftknochen ans Land laufen sahen, während er noch immer rief:

»Gnade... Gnade... für die arme Möwe!«

Keiner hörte auf sein Flehen, sondern alle lachten ihn aus und verfolgten den Vogel weiter, der sich vergeblich von der Erde zu erheben und dann, mühsam auf den Füßen forthüpfend, zwischen den Felsen Schutz zu finden sachte.

Vergeblich.

»Ihr Feiglinge!... Ihr Thierquäler!« rief der Findling ihnen zu. Carker hatte die Möwe an dem einen Flügel gepackt, schwenkte sie herum und warf sie dann in die Luft. Sie fiel wieder zu Boden, wo sie ein andrer ergriff und auf die Strandkiesel schleuderte.

»Grip... Grip!... rief der Findling wiederholt, nimm sie in Schutz, Grip!«

Dieser stürzte sich zwar auf die Rangen, um ihnen den Vogel zu entreißen, er kam jedoch zu spät. Carker hatte der Möwe schon mit dem Absatz den Kopf zertreten.

Ein gellendes Lachen und ein jubelndes Hurrah belohnte diese Heldenthat.

Der kleine Knabe war außer sich. Der Zorn aber übermannte ihn, und in blinder Wuth hob er einen Stein auf und traf damit Carker mitten auf die Brust.

[46] »Ha, das sollst Du mir theuer bezahlen!« brüllte Carker.

Und ehe Grip es verhindern konnte, stürzte er auf den Schwachen zu, zerrte ihn nach dem Strande und schlug nach Kräften auf ihn los.

Während dann die übrigen Grip an Armen und Beinen zurückhielten drückte jener den Kopf des kleinen Knaben unter das Wasser, daß dieser beinahe erstickt wäre.

Als es Grip endlich gelungen war, sich durch hageldicht ausgetheilte Schläge von den Taugenichtsen, die meist heulend auf den Sand hinkollerten, zu befreien, eilte er Carker nach, der natürlich mit der ganzen Bande davonlief.

Zurückkehrend sah er, wie die Wellen den Findling schon fast mit hinausgezogen hatten, als er den halb bewußtlosen Knaben noch im letzten Augenblick erfaßte und emporzog.

Nachdem er ihn tüchtig gerieben, kam der Kleine wieder zu sich. Schnell hüllten sich beide in ihre erbärmliche Kleidung und Grip führte den Kleinen an der Hand mit fort.

Am Ufer lag der muthwillig getödtete Vogel. Da höhlte der Kleine, dem die Thränen in die Augen traten, ein Loch am Uferrande aus und vergrub das arme Thier... er, der selbst ja weiter nichts war, als ein verlassener Vogel... eine arme menschliche Möwe.

Fußnoten

1 Abkürzung des Namens Cecilie.

5. Capitel
Fünftes Capitel.
Noch einmal die Ragged-School.

Nach Hause gekommen, glaubte Grip den Herrn O'Bodkins auf das Betragen Carters und der übrigen aufmerksam machen zu sollen. Nicht, daß er da über ihm selbst gespielte Streiche – worüber er ja gutmüthig hinwegsah – Klage führen wollte, nein, nur die üble Behandlung, die dem kleinen Knaben zu Theil geworden war, lag ihm am Herzen. Und diesmal war das sogar so weit gegangen, daß das Kind ohne die Hilfe Grip's jetzt todt gewesen wäre.

[47] Als einzige Antwort zuckte O'Bodkins nur mit den Achseln. Grip mußte das verstehen: es handelte sich um Dinge, für die der Director nicht verantwortlich war und die ihn also nichts angingen. Das Hauptbuch konnte doch unmöglich noch eine Rubrik für Ohrfeigen und eine andre für Fußtritte erhalten.

So etwas ließ sich ja ebensowenig nach arithmetischen Regeln zusammenstellen, wie drei Kieselsteine und fünf Disteln. Ohne Zweifel war O'Bodkins als Leiter der Anstalt verpflichtet, das Betragen der Zöglinge zu überwachen, die Verantwortung [48] dafür liebte er aber auf den Aufseher der Schule – als solcher galt eben Grip – abzuwälzen.


Da höhlte der Kleine ein Loch aus. (S. 47.)

Von diesem Tage ab ließ nun Grip seinen Schützling niemals aus dem Auge, vorzüglich nicht allein in dem großen Saale, und wenn er ausging, schloß er den Kleinen sorgsam in seine Dachkammer ein, wo dieser sich dann wenigstens in Sicherheit befand.

So verflossen die letzten Sommertage; der September kam heran. Für die nördlichen Bezirke des Landes bedeutet das schon den Beginn des Winters [49] und der Winter besteht für das obere Irland in fast ununterbrochenem Schneegestöber, scharfen Winden und Nebeln, die von den übereisten Ebenen des nördlichen Amerika stammen und von den Meereswinden nach Europa getrieben werden.


Die ganze Schule drängte sich um den Ofen. (S. 50.)

Es herrscht unfreundliches, rauhes Wetter an den Ufern der Bai von Galway, die zwischen den umgebenden Bergen wie zwischen den Wänden eines Gletschers liegt. Da giebt es kurze Tage und lange Nächte, peinlich genug für alle, in deren Kamin kein wärmendes Feuer flackert. In der Lumpenschule herrschte natürlich auch eine recht niedrige Temperatur, außer vielleicht im Zimmer des Directors O'Bodkins. Doch wenn«der verantwortliche Leiter der Anstalt nicht warm gesessen hätte, wäre ihm ja die Tinte im Schreibzeug eingefroren, und das ging doch nicht wohl an.

Jetzt galt es vor allem, auf Straßen und Landwegen zusammenzuraffen, was irgend brennbar war und einige Wärme liefern konnte. Freilich ergab das nicht viel, wenn man wie hier auf herabgefallene dürre Zweige, auf durch den Rost gefallene Kohlenstückchen, die in den Haufen vor den Häusern lagen, angewiesen war, und etwa auf die längs der Quais verstreut liegend verlornen Kohlenstücke, um die sich die armen Leute fast schlugen.

Die Zöglinge der Lumpenschule mußten sich also dieser Arbeit unterziehen und auch der Findling nahm daran ohne Widerspruch theil, das war doch wenigstens kein Betteln. Dann brannte denn auch ein Feuer im Ofen, so gut es eben zu unterhalten war.

Die ganze, in der zerrissenen Kleidung frierende Schule drängte sich um den Ofen, wobei die Größten natürlich die besten Plätze eroberten, während das Abendbrod im Kessel bereitet wurde. Und welches Abendbrod! Weggeworfene Kartoffeln, Brodrestchen, Knochen, an denen zuweilen noch ein Bissen zähes Fleisch hing.... Das ganze eine jämmerliche Suppe, worauf einige Fettklümpchen die Augen guter Bouillon vertraten.

Nahe dem Feuer gab es für den Findling selbstverständlich niemals einen Platz und selten einen Löffel von der Suppe, die die alte Hausverwalterin für die Größeren aufhob. Diese stürzten gleich hungrigen Hunden darüber her und wiesen den andern die Zähne, um ihre magere Mahlzeit zu vertheidigen.

Den Kleinen pflegte Grip in sein Loch mitzunehmen, wo er ihm das Beste von dem zuschob, was er von den täglichen Rationen empfing. Da gab es freilich kein wärmendes Feuer. Doch wenn sich beide unter das Stroh versteckten [50] und sich aneinander drängten, dann gelang es ihnen wohl, sich einigemaßen vor der Kälte zu schützen und einzuschlafen. Vielleicht wärmte sie wenigstens der wohlthätige Schlaf!

Eines Tages begünstigte Grip das Glück in ganz besondrer Weise. Er war unterwegs und ging eben auf der Hauptstraße von Galway hin, als er in das Royal-Hôtel zurückkehrender Reisender ihn beauftragte, noch einen Brief nach der Post zu besorgen. Grip beeilte sich, diesem Wunsche nachzukommen und er hielt einen ganzen Schilling zur Belohnung. Das war nun freilich immer noch kein großes Capital, um dessen Anlegung in Staatspapieren er sich etwa den Kopf zu zerbrechen brauchte, dagegen war er sofort entschlossen, für das Geld etwas Eßbares einzukaufen, was zum größeren Theil dem Findling, zum kleineren ihm selbst zu Gute kommen sollte. So erhandelte er denn einige Fleisch und Wurstwaaren, die für drei Tage ausreichten und die von Carker und den andern unbemerkt verzehrt wurden, denn Grip hatte begreiflicher Weise keine Ursache, mit den andern Zöglingen zu theilen, die auch niemals mit ihm theilten

Besonders wichtig wurde das Zusammentreffen Grip's mit dem Fremden noch dadurch, daß dieser angesichts der erbärmlichen Kleidung des Burschen ihm noch eine recht gut erhaltene wollene Weste schenkte.

Grip dachte natürlich gar nicht daran, diese selbst in Gebrauch zu nehmen; nur sein kleiner Schützling lag ihm am Herzen, und dieser sollte sich in der warmen Hülle unter seinen Lumpen gewiß recht wohl fühlen.

»Da steckt er darin wie ein Lamm in der Wolle!« sagte der brave junge Mann für sich.

Das Lamm wollte aber nicht zugeben, daß sich Grip seines Vließes beraubte. Es wurde hin und her verhandelt, und endlich kam man zu einer befriedigenden Entscheidung.

Der Herr, von dem die Weste herrührte, war ziemlich stark und Grip hätte in jene zweimal hinein gesteckt werden können. Er war auch groß, so daß die Weste dem kleinen Knaben vom Kopf bis zu den Füßen verhüllt hätte. So erschien es also nicht unmöglich, das Kleidungsstück für beide Freunde zurecht zu machen. Die alte trunksüchtige Frau Kriß zum Zertrennen und wieder Zusammennähen desselben aufzufordern, wäre freilich ebenso viel gewesen, wie sie zum Verzicht auf ihre Pfeife zu bestimmen. So machte sich denn Grip in seiner Bodenkammer selbst an die Arbeit. Er nahm dem Kinde Maß und erwies sich so geschickt, daß er eine ganz brauchbare wollene Jacke zu Stande brachte.

[51] Er selbst erhielt dann noch eine Weste, freilich ohne Aermel, aber doch eine Weste, und das war auch etwas.

Natürlich bestimmte er den Findling, die Jacke unter seinen Lumpen zu tragen, damit die andern sie nicht sehen sollten. Statt sie ihm zu lassen, hätten diese sie ganz gewiß einfach zerrissen. Der Kleine befolgte den klugen Rath und befand sich denn auch bei strenger Winterkälte ganz erträglich in der weichen warmen Hülle.

Nach ungemein regenreichem October brachte der November recht kalten Wind, der alle Feuchtigkeit der Atmosphäre zu Schnee verwandelte. In den Straßen von Galway lag die weiße Decke zwei Fuß hoch. Das wirkte recht hemmend beim Einsammeln von Brennmaterial ein. In der Ragged-School froren alle gehörig, und wie es dem Ofen an Heizmaterial fehlte, so fehlte es dem Magen, der ja auch ein Ofen ist, daran oft nicht minder.

Dennoch mußten die Zöglinge, trotz der Schneestürme, dem eisigen Winde, auf Straßen und Wegen sich bemühen, den Bedarf der Schule zu decken. Auf dem Erdboden war nichts mehr zu finden, so blieb denn nichts anders übrig, als von Thür zu Thür zu gehen. Das Kirchspiel that ja für seine Armen, was es konnte; doch ohne von der Lumpenschule zu reden, machten noch recht viele Wohlthätigkeitsanstalten in harten Zeiten Anspruch auf die Mildthätigkeit der Einwohner.

Die Kinder sahen sich also gezwungen, von einem Hause zum andern betteln zu gehen, und wo nicht alles Mitgefühl erstorben war, da wurden sie auch nicht unfreundlich empfangen. Meist freilich wies man sie barsch genug ab und bedrohte sie wohl auch noch für den Fall, wenn sie wiederkämen, so daß sie nicht selten mit leeren Händen zurückkehrten.

Wohl oder übel mußte der Findling dem Beispiele der andern folgen, und doch, wenn er vor einer Thür stehen blieb und den Klopfer in die Höhe gehoben hatte, schien es ihm, als fiele dieser mit schwerem Schlage auf seine eigene Brust nieder. Statt dann die Hand auszustrecken, fragte er an, ob er nicht irgend etwas besorgen könnte. Das ersparte ihm doch die Beschämung zu betteln. Wer wollte aber einem fünfjährigen Knaben einen Auftrag anvertrauen?... So warf man ihm zuweilen lieber ein Stück Brod zu, das er weinend in Empfang nahm. Ja, Hunger thut weh!

Im December wurde die Kälte noch schlimmer. Immer und immer fiel der Schnee in großen Flocken. Kaum konnte man in den Straßen den Weg [52] noch erkennen. Um drei Uhr nachmittags wurde das Gas schon angezündet, doch das gelbliche Licht der Brenner vermochte den dicken Nebel kaum zu durchdringen, so als wenn es alle Leuchtkraft verloren hätte. Wagen und Karrewaren jetzt gar nicht mehr unterwegs, nur vereinzelt huschten die Menschen nach ihren Wohnungen. Und mit frostgerötheten Augen, Hände und Gesicht blau von dem schneidenden Winde, irrte der Findling umher, während er sich dicht in seine beschneiten Lumpen hüllte.

Endlich ging der traurige Winter zu Ende. Die ersten Monate des Jahres 1877 waren minder hart. Auch der Sommer trat zeitig ein und im Juni herrschte schon eine recht starke Wärme.

Am 17. August hatte der jetzt fünfeinhalb Jahre zählende Findling das Glück, etwas zu finden, was für ihn unerwartete Folgen haben sollte.

Gegen sieben Uhr ging er durch eine auf die Brücke von Claddagh mündende Straße auf dem Rückwege nach der Anstalt, wo ihm, da er mit leeren Händen kam, gewiß nicht der beste Empfang zutheil wurde. Hatte Grip nicht noch ein Stück alte Brodrinde übrig, so war für beide heut Abend nichts zu essen da. Das war übrigens nicht zum ersten Male der Fall, denn jeden Tag und zwar zur bestimmten Stunde essen zu wollen, das wäre eine Anmaßung gewesen.

Solche Gewohnheiten mochten reiche Leute haben, denen ihre Mittel das erlaubten, ein armer Teufel ißt aber, wenn er etwas dazu hat, und wenn's daran mangelt, dann ißt er einfach nicht, so sagte wenigstens Grip, der schon gewöhnt war, sich mit philosophischen Grundsätzen satt zu machen.

Da, kaum zweihundert Schritte von der Schule entfernt, stolperte der Findling und fiel der Länge nach hin. Da er nicht groß war, ging das ohne Schaden für ihn ab. Gleichzeitig rollte aber etwas, woran er mit den Füßen gestoßen hatte, vor ihm her. Es war eine große Weinflasche, die zum Glück nicht entzwei gegangen war, denn der Knabe hätte sich sonst schwer verletzen können.

Der Findling erhob sich und umhersuchend, fand er die Flasche, die zwei bis drei Gallonen fassen mochte. Ein Pfropfen verschloß deren Hals, und diesen brauchte er nur herauszuziehen, um zu sehen, was sie enthielt.

Der Knabe erkannte, daß sie voller Gin war.

Damit hätten sich alle Insassen der Lumpenschule befriedigen können, und der Findling durfte gewiß sein, mit dieser Bürde bestens empfangen zu werden.

[53] In der menschenleeren Straße hatte ihn niemand gesehen und die Anstalt lag ganz nahe.

Da kam ihm aber ein Gedanke, der Carker und dessen Genossen gewiß nie eingefallen wäre. Diese Flasche gehörte ihm doch nicht. Sie war kein Geschenk, war nicht auf den Kehricht geworfen, sondern offenbar ein verlorner Werthgegenstand. Den Eigenthümer zu finden, mochte freilich etwas schwierig sein. Immerhin sagte ihm sein Gewissen, daß er über den Fundgegenstand nicht nach Gutdünken verfügen dürfe. Es war der natürliche Instinct, der ihm das sagte, denn weder Thornpipe noch O'Bodkins hatte ihm je gelehrt, ehrlich zu sein. Zum Glück giebt es auch Kinderherzen, in die dieses Gebot schon allein eingeschrieben ist.

Sehr in Verlegenheit wegen seines Fundes, beschloß der Findling, Grip darum zu fragen; dieser würde die Wiedereinhändigung desselben an den rechtmäßigen Eigenthümer schon veranlassen. Jetzt kam es vorzüglich darauf an, die Flasche von den Taugenichtsen unbemerkt nach der Dachkammer zu schaffen, denn jene hätten sich gewiß nicht darum gekümmert, wem sie gehörte. Zwei bis drei Gallonen Gin! Welcher Ueberfluß!... Mit Anbruch der Nacht wäre aber doch kein Tropfen davon mehr dagewesen. Bei Grip dagegen stand der Branntwein sicher; dieser rührte die Flasche gewiß nicht an, sondern hätte sie unter das Stroh versteckt, bis er am folgenden Morgen in der Nachbarschaft Umfrage hielt. Wenn nöthig, wollten beide dazu von Haus zu Haus gehen... sie bettelten ja nicht.

Der Findling schritt also mit seiner Last der Schule zu, und bemühte sich, die Flasche unter seiner Kleidung zu verbergen.

Eben als er vor die Thür kam, stürmte aber zum Unglück Carker daraus hervor, so daß er einen Zusammenstoß mit diesem nicht vermeiden konnte. Da Carker ihn erkannte und allein vor sich sah, hielt er es für die beste Gelegenheit, dem Knaben zurückzuzahlen, was er ihm von dem Zusammentreffen an dem Strande von Salthill her schon zugedacht hatte.

Er warf sich also über den Findling und entriß diesem die Flasche, die er bald unter dessen Lumpen gefühlt hatte.

»Eh, was ist denn das? rief er.

– Das?... Das gehört nicht Dir!

– Also wohl Dir?

– Nein, mir auch nicht!«

[54] Der Knirps wollte Carker zurückdrängen, dieser versetzte ihm aber einen Stoß, daß er selbst drei Schritte weit zurücktaumelte.

Sofort ergriff Carker die Flasche und eilte damit nach dem Saal zurück während der kleine Knabe ihm weinend folgte.

Er versuchte noch Einspruch zu erheben, da aber Grip nicht da war, der ihn unterstützt hätte, so erhielt er nur tüchtige Prügel, bis die alte Kriß sich einmengte, sobald sie die Flasche bemerkt hatte.

»Gin, rief sie, guter Gin! O, das ist ja für alle genug!«

Der Findling hätte gewiß besser gethan, die Flasche in der Straße liegen zu lassen, wo sie deren Eigenthümer jetzt wahrscheinlich suchte, denn zwei bis drei Gallonen Gin kosten schon verschiedene Schillinge, ja sogar mehr als eine halbe Krone. Er hätte sich sagen müssen, daß es unmöglich sein würde, ungesehen bis zur Dachkammer Grip's zu gelangen. Jetzt war es freilich zu spät.

Sich an O'Bodkins zu wenden, diesem den Vorfall zu erzählen, würde auch nichts genutzt haben, und dem wäre ein schlechter Empfang zu Theil geworden, der die Thür zu des Directors Zimmer öffnete und den Insassen vielleicht bei seinen verwickeltsten Rechnungen störte. Im besten Falle hätte O'Bodkins die Flasche nach seinem Zimmer bringen lassen, und was da hinein kam, kam gewiß nicht wieder heraus.

Der kleine Knabe konnte also nichts thun und beeilte sich nur, Grip aufzusuchen, um diesem seine Noth zu klagen.

»Grip, eine Flasche, die man findet, gehört einem doch nicht?

– Nein, ich glaube nicht, antwortete Grip. Hast Du denn eine Flasche gefunden?

– Ja, und ich wollte sie Dir geben, und morgen hätten wir in der Nachbarschaft zu erfahren gesucht...

– Wem sie gehörte?... fiel Grip ein.

– Ja, und wenn wir uns erkundigten...

– Sie haben Dir wohl die Flasche weggenommen? unterbrach ihn Grip.

– Ja; Carker! Ich versuchte, sie ihm zu entwinden... und da waren die andern da... Ach, wenn Du hinunter gingst, Grip!

– Ich werde hinuntergehen, und da werden wir schon sehen, wer die Flasche behält!«

Als Grip aber die Kammer verlassen wollte, konnte er das nicht; die Thür war von außen verschlossen.

[55] Trotz seiner Bemühungen gab die Thür nicht nach, zur großen Freude der rohen Gesellen draußen, die von unten her riefen:

»He, Grip!...

– He, Findling!...

– Auf Eure Gesundheit!«

Da Grip die Thür nicht zu sprengen vermochte, fügte er sich wie gewöhnlich der Nothwendigkeit und bemühte sich nur, seinen erzürnten kleinen Freund zu beruhigen.

»Lassen wir sie tollen, die ungezogenen Burschen! sagte er.

– Oh, daß man nicht stark ist!

– Wozu das?... Hier, Kleiner, hier sind noch Kartoffeln, die ich für Dich aufgehoben habe. Komm her, iß lieber....

– Ich habe keinen Hunger, Grip!

– Iß trotzdem, nachher wickeln wir uns ins Stroh, um zu schlafen.«

Wenn Carker die Thür der Dachkammer versperrt hatte, so geschah das, um heute Abend jedenfalls nicht gestört zu werden. War Grip eingeriegelt, so konnte man beliebig sich dem Genusse des starken Getränkes hingeben, denn die alte Kriß, die ja auch ihren Theil davon erhielt, hatte gewiß nichts dagegen einzuwenden.

Nun kreiste der Branntwein in allerlei Gefäßen. Alle heulten und schrien, denn es dauerte nicht lange, bis alle berauscht waren, mit Ausnahme Carker's, der an starke Getränke schon gewöhnt war.

Noch war die Flasche kaum halb leer, obwohl die Kriß tüchtig dazu mitgeholfen hatte, als die ganze Bande kaum noch ihrer Sinne mächtig war. Das Geschrei, das Lärmen und Toben vermochte aber doch nicht, O'Bodkins aus seiner gewohnten Gleichgiltigkeit aufzurütteln.

Was ging's auch ihm an, was da unten vorging, wenn er oben vor seinen Büchern saß! Davon hätte die Trompete des Jüngsten Gerichtes ihn nicht fortlocken können.

Und doch sollte er heute sehr schnell aus seinem Zimmer getrieben werden – nicht ohne großen Nachtheil für seine Verantwortlichkeit.

Nachdem etwa einundeinhalb Gallonen verzehrt waren, lagen die meisten Theilnehmer an der Orgie schon auf dem Stroh, und hier wären sie ohne Zweifel bald eingeschlafen, wenn Carker nicht auf den Gedanken gekommen wäre, noch einen »Brander« zu brauen.

[56] [59]Ein »Brander« ist nämlich ein Punsch. Statt des Rums gießt man Gin zu ein wenig Wasser in einem Gefäß, zündet das Gemisch an und trinkt es noch ganz heiß.

Das hatte denn auch Carker vor, zur großen Genugthuung der alten Kriß und zwei oder drei andrer, die sich noch auf den Füßen hielten. Wohl fehlten hier so manche Zusätze zu einem wirklichen Punsch. Die Insassen der Lumpenschule machten aber nicht so große Ansprüche.


O'Bodkins entschloß sich endlich, sich selbst zu retten. (S. 60.)

Sobald die Flamme in dem Suppenkessel – dem einzigen Gefäße, das die alte Kriß zur Verfügung hatte – aufloderte, begannen die, die noch nicht ganz zusammengebrochen waren, einen wilden Tanz um den Kessel. Wer jetzt auf der Straße vorübergekommen wäre, der hätte glauben müssen, eine Legion von Teufeln sei in die Schule eingedrungen. Dieses Stadtviertel war jedoch mit Eintritt der Dunkelheit meist schon sehr verlassen.

Plötzlich leuchtete in dem Hause ein auffallend heller Schein auf. Das Gefäß, aus dem der brennende Gin emporflackerte, war durch Ungeschick umgestoßen worden, und schnell verbreitete sich die lodernde Flüssigkeit auf dem Stroh bis in alle Ecken des gemeinsamen Saales. Alle, die noch einigermaßen bei Sinnen waren, und alle, die durch das Knistern der Flammen aus dem Stroh aufgescheucht wurden, hatten nichts weiter zu thun, als die Thür aufzustoßen, die alte Kriß mit hinauszuschleppen und sich nach der Straße zu retten.

In demselben Augenblick suchten auch Grip und der Findling, die ebenfalls erwacht waren, vergebens aus der von erstickendem Qualm erfüllten Dachkammer zu entfliehen.

Der Brand war übrigens schon bemerkt worden. Mit Eimern und Leitern stürmten verschiedene Leute heran. Zum Glück lag die Lumpenschule isoliert, und der nach der Rückseite wehende Wind bedrohte auch die Häuser gegenüber nicht weiter.

War auch kaum Hoffnung vorhanden, die alte Baracke zu erhalten, so mußte man doch an die denken, die darin waren und denen die Flammen vielleicht den Ausgang versperrten.

Da öffnete sich ein Fenster im obern Stockwerk nach der Straße hinaus.

Es war ein Fenster von dem Zimmer O'Bodkin's, dem sich das Feuer mehr und mehr näherte. Der Director schien ganz von Sinnen zu sein und raufte sich die Haare.

An seine Zöglinge und ob diese in Sicherheit wären, daran dachte er freilich nicht, ja nicht einmal an die ihn selbst bedrohende Gefahr...

[59] »Meine Bücher... meine Bücher!« rief er verzweifelnd mit den Händen fechtend.

Nach vergeblichem Versuche, die Treppe hinabzugelangen, an der schon überall die Flammen leckten, entschloß er sich, seine Hefte, Bücher, Bureaugeräthschaften und alles mögliche zum Fenster hinauszuwerfen. Natürlich fielen die Schlingel gleich darüber her, traten darauf herum oder zerstreuten die losen Blätter, während O'Bodkins sich endlich entschloß, mittelst einer an die Mauer gelehnten Leiter sich selbst zu retten.

Was dem Director aber noch möglich gewesen war, das hatten Grip und das Kind nicht auch thun können. In die Dachkammer fiel das Tageslicht nur durch eine kleine Luke, und die hinausführende Treppe brach schon Stufe für Stufe unter der Glut zusammen. Jetzt begann auch das Holzwerk der Mauer zu brennen und ein Feuerregen fiel bald auf das Strohdach des Bauwerks nieder, der die Lumpenschule schnell in einen großen Brandherd verwandelte.

Grip's Hilferufe übertönten doch endlich einmal das Geräusch von der Feuersbrunst.

»Sind denn noch Menschen in dieser Spelunke?« fragte da eine Dame in Reisetracht, die ebenfalls nach der Unglücksstätte gekommen war.

Der Brand hatte schon so weit um sich gegriffen, daß man seiner nicht mehr Herr zu werden vermochte. Nachdem der Director sich gerettet hatte, dachte deshalb kaum jemand noch an Unterdrückung des Feuers selbst, da sich voraussichtlich niemand im Hause befand.

»Hilfe... Hilfe für die, die noch da oben sind!« rief von neuem die Reisende mit ausdrucksvollen Bewegungen. Leitern herbei, Ihr Leute, Leitern und ein paar beherzte Männer, die sich hinaufwagen!«

Wie konnte man aber Leitern an diese Mauern legen, die jeden Augenblick einzustürzen drohten? Wie hätte jemand die von dickem Rauch eingehüllte Dachkammer erreichen können, über der und um die herum die gierigen Flammen emporstiegen?

»Wer befindet sich denn in jenem Bodenraum? fragten mehrere O'Bodkins, der nur damit beschäftigt war, seine Schriftsachen zusammenzuraffen.

– Wer?... Das weiß ich doch nicht...« antwortete der ganz verstörte Director, den nur sein eigenes Unglück in Anspruch nahm.

Dann kam ihm aber doch die Erinnerung wieder.

»Ah,... ja,... zwei... Grip und der Findling....

[60] – Die Unglücklichen! rief die Dame. Mein Gold, meinen Schmuck, alles was ich besitze, dem, der sie rettet!«

In das Innere des Hauses zu gelangen, war jetzt ganz unmöglich; schon zischte eine rothe Lohe durch die geborstenen Mauern, der ganze untere Theil brannte, krachte und brach zusammen. Noch wenige Minuten bei dem Winde, unter dem die Flammen wie eine Flagge hinflatterten, und die ganze Lumpenschule war nichts mehr, als eine Feuerhöhle, ein Wirbel von glühenden Dämpfen.

Plötzlich entstand eine Oeffnung im Dache dicht über der Luke. Grip war es gelungen, die Bedeckung zu zerreißen und die Sparren zu durchbrechen, als die Holzwände seiner Kammer schon zu knistern anfingen. Er schwang sich dann durch das Sparrenwerk und zerrte den kleinen, halb erstickten Knaben nach sich. Als er dann bis zu dem Theile der Mauer gekrochen war, der die rechte Giebelwand bildete, ließ er sich auf der schrägen Kante hinabgleiten, wobei er den Findling immer in den Armen hielt.

In diesem Augenblick brach eine furchtbare Flammengarbe durch das Dach und schleuderte tausende glühender Funken hoch empor.

»Rettet ihn... rief Grip, rettet den Knaben!«

Damit ließ er das Kind nach der Seite der Straße zu fallen, wo es glücklicher Weise ein Mann auffing, ehe es auf den Erdboden stürzte.

Grip sprang nun ebenfalls herunter und stürzte halb bewußtlos an einem Trümmerhaufen neben der Mauer zusammen.

Da trat die Reisende auf den Mann zu, der den kleinen Knaben noch immer trug, und fragte ihn mit vor Erregung zitternder Stimme:

»Wem gehört dieses unschuldige Wesen?

– Niemand!... Es ist ein Findelkind, erklärte der Mann.

– Nun gut, so gehört es mir... mir...! rief sie, während sie schon den Knaben nahm und an ihr Herz drückte.

– Gnädige Frau... ließ sich da ihre Kammerfrau vernehmen.

– Schweig, Elisa, schweig! – Das ist ein Engel, der mir vom Himmel zugefallen ist.«

Da der »Engel« nun weder Eltern noch sonstige Angehörige hatte, war es ja das Beste, ihn den Händen der schönen, edelmüthigen Dame zu überlassen, und ein freudiges Hurrah dankte dieser in dem Augenblick, wo die letzten Reste der Ragged-School zusammenstürzten.

[61]
6. Capitel
Sechstes Capitel.
Limerick.

Wer die mitleidige Dame war, die hier so entschlossen für die Rettung der beiden Bedrohten eintrat, wußte zunächst niemand, und niemand wäre auch erstaunt gewesen, wenn sie selbst durch die Flammen gedrungen wäre, um diesen das schwächliche Opfer zu entreißen. Und wäre das Kind ihr eignes gewesen, sie hätte es kaum liebevoller in die Arme nehmen können, als sie es nach ihrem an der nächsten Straßenecke wartenden Wagen trug, während sich die Kammerfrau der Fremden vergeblich bemühte, die Dame von ihrem Entschluß abzubringen.

»Nein, Elisa! wiederholte sie, lass' ihn, er gehört mir. Der Himmel hat es mir vergönnt, ihn dem brennenden Hause zu entreißen. O, ich danke Dir, ich danke Dir, mein Gott!... Ach, wie ich ihn schon lieb habe.«

Der »geliebte« war schon halb erstickt, sein Athem unterbrochen, der Mund stand wie gelähmt etwas offen und seine Augen waren geschlossen. Er hätte der frischen Luft bedurft, und jetzt, wo er von dem Rauch der Feuersbrunst fast erstickt war, lief er Gefahr, von den Liebkosungen erstickt zu werden, die seine Retterin an ihn verschwendete.

»Nach dem Bahnhofe, rief diese dem Kutscher zu, als sie den Wagen erreichte, nach dem Bahnhofe!... Eine Guinee, wenn wir den Zug um neun Uhr fünfundvierzig nicht versäumen!«

Gegen ein solches Versprechen konnte der Kutscher nicht unempfindlich sein, vor allem, da die Trinkgeldunsitte in England noch nicht so heimisch ist. So trieb er das Pferd vor seinem »Growler« an, wie diese alterthümlichen und unbequemen Fuhrwerke heißen.

Doch wer war nun diese von der Vorsehung geschickte Dame? War der Findling durch besondres Glück in Hände gefallen, die sich für immer über ihn breiten sollten?

Miß Anna Walston war es, die erste Heldin des Drury-Lane-Theaters, eine Art Sarah Bernhardt, auf der Tournée, welche augenblicklich am Theater [62] zu Limerick, in der gleichnamigen Grafschaft der Provinz Munster, Vorstellungen gab. Eben hatte sie eine mehrtägige Erholungsreise durch die Grafschaft Galway gemacht, wobei ihre Kammerfrau sie begleitete. Die wortkarge Elisa Corbett war übrigens eine ebenso mürrische, wie treuergebene Freundin ihrer Herrin

Die Schauspielerin war eine vortreffliche, beim Publicum ungemein beliebte Dame, die sich für alles lebhaft interessierte und Herz und Hand stets offen hatte, während sie sich ihrer Kunst mit heiligem Ernste widmete und eifrigst bemüht war, ihren Ruhm nicht durch einen Schnitzer aufs Spiel gesetzt zu sehen.

Miß Anna Walston, die jedermann in allen Grafschaften des Vereinigten Königreichs kannte, wartete nur auf die passende Gelegenheit, sich in Amerika, in Indien und Australien, d. h. überall, wo die englische Sprache vorherrschte, neue Lorbeeren zu pflücken, denn sie war es müde, da zu glänzen, wo ihr jede Anerkennung mühelos zu Theil wurde.

Vor drei Tagen war sie, müde der fortwährenden Anstrengungen bei den Trauerspielen, in denen sie im letzten Acte regelmäßig sterben mußte, hierher gekommen, um die reine und stärkende Luft von Galway zu genießen. An jenem Abende wollte sie sich eben nach dem Bahnhofe begeben, um nach Limerick zurückzufahren, wo sie am nächsten Tage aufzutreten hatte, als ihre Aufmerksamkeit durch laute Hilferufe und den Widerschein von Feuer erweckt wurde. DieRagged-School stand in hellen Flammen.

Eine Feuersbrunst! Wie hätte sie dem Verlangen widerstehen können, einer solchen, die sich von den zahmen Bränden auf der Bühne so gewaltig unterschied, mit beizuwohnen! Auf ihr Geheiß und trotz des Widerspruchs Elisas hatte der Wagen an der nächsten Ecke gehalten, und Miß Anna Walston beobachtete die verschiedenen Stadien dieses Schauspiels, das denen, die die Feuerwehrleute hinter den Coulissen mit wachsamem Auge beobachteten, so wesentlich überlegen war. Hier sanken die Versetzstücke thatsächlich zusammen und unter ihnen stand alles in leibhaftigem Feuer.


Grip zerrte den kleinen Knaben nach sich. (S. 61.)

Der Verlauf des Unglücks entbehrte auch sonst nicht des spannenden Interesses. Zwei menschliche Wesen waren in einer Dachkammer eingeschlossen, deren Treppenzugang schon in Flammen stand und die keinen andern Ausweg bot. Zwei Knaben, ein großer und ein kleiner... vielleicht wäre ein gefährdetes kleines Mädchen noch interessanter gewesen. Wie herzzerreißend schrie Miß Anna Walston da auf. Sie wäre den beiden wohl selbst zu Hilfe geeilt, wenn ihr weiter Staubmantel sich nicht gar so leicht selbst [63] entzündet hätte. Da öffnete sich übrigens schon das Dach neben der Bodenkammer. Die beiden Unglücklichen erschienen inmitten der Rauchwolken, wobei der Große den Kleinen trug.

Ah! Der Große! Welcher Held und in welcher künstlerischen Pose zeigte er sich! Das war der Ausdruck unnachahmlicher Wahrheit!... Der arme Große! Er hatte wohl keine Ahnung davon, welchen Effect er hervorbrachte. Und der andre... der nice Boy! Der hübsche Junge! rief Miß Anna Walston wiederholt, das ist ein Engel, der aus den Flammen der Hölle kam!... Wahrlich, [64] Findling, das war wohl das erste Mal, daß Du mit einem Cherub oder einem andern Muster der himmlischen Heerschaaren verglichen wurdest!

Ja, diese Inscenierung hatte Miß Anna Walston bis in jede Einzelheit verfolgt. Wie auf der Bühne rief sie: »Mein Geld, meinen Schmuck, alles was ich besitze dem, der sie rettet!« Doch niemand hatte an den glühenden Wänden und auf das prasselnde Dach hinaufklimmen können. Endlich war der Cherub von ein paar offenen Armen aufgefangen worden und von da in die Arme der Miß Anna Walston übergegangen.... Jetzt besaß der kleine Knabe [65] plötzlich eine Mutter, von der die Leute meinten, es müsse eine große Dame sein, die ihr eignes Kind im Brande der Ragged-School entdeckt hätte.

Nachdem sie die Umstehenden mit einer Verneigung begrüßt und von diesen bejubelt worden, war Miß Anna Walston mit ihrem Schatze verschwunden, was auch die Kammerfrau dagegen einwenden mochte. Von einer fünfundzwanzigjährigen Schauspielerin mit warmen Gefühlen und etwas freien Anschauungen durfte man da nicht verlangen, daß sie ihrer Eingebung Zügel anlegte und sich immer auf goldner Mittelstraße hielt, wie die siebenunddreißigjährige, blonde, kalte und nörgelige Elisa Corbett, die schon mehrere Jahre im Dienste ihrer etwas phantastischen Herrin stand. Die Schauspielerin dagegen glaubte sich immer auf den Brettern zu befinden und wurde sozusagen stets von ihrem Repertoire beherrscht. Ihr gestalteten sich die gewöhnlichsten Vorkommnisse des Lebens zu »Situationen«, und wenn eine solche einmal gegeben war....


... Miß Walston bemerkte, daß ihr Schützling sie ansah. (S. 67.)

Natürlich traf der Wagen rechtzeitig am Bahnhofe ein und der Kutscher erhielt seine versprochne Guinee. Und jetzt konnte sich Miß Anna Walston, die mit Elisa ein Coupé allein einnahm, allen den Pflichten widmen, die das Herz einer wirklichen Mutter nur zu dictieren vermocht hätte.

»Es ist mein Kind!... Mein Blut... mein Leben! er klärte sie, niemand soll mir ihn wieder rauben!«

Es hätte ja auch kein Mensch daran gedacht, ihr diesen kleinen Verlassnen wieder abzunehmen.

Elisa freilich bemerkte dazu:

»Wir werden ja sehen, wie lange es dauert!«

Der Zug rollte mit mäßiger Geschwindigkeit nach dem Kreuzungspunkte von Artheury, durch die Grafschaft Galway dahin, die er mit der Hauptstadt Irlands verbindet. Während dieses ersten kurzen Theiles der Fahrt war der kleine Knabe nicht wieder zur Besinnung gekommen, obwohl sich die Schauspielerin darum in jeder Weise bemühte.

Miß Anna Walston beschäftigte sich zuerst damit, ihn umzukleiden, und nahm ihm die von Rauch geschwärzten Lumpen ab, bis auf die noch ziemlich gut erhaltene wollene Jacke, während sie ihn sonst von ihren eignen Kleidungsstücken anpaßte, was sich nur dazu verwenden ließ, und ihn mit ihrem kostbaren Shawle zudeckte. Das Kind schien aber gar nicht zu bemerken, daß es jetzt warme Hüllen trug und ein noch wärmeres Herz, das für ihn sorgte, gewonnen hatte.

[66] An der Kreuzungsstelle wurde ein Theil des Zuges abgekoppelt und nach Kilkree, an der Grenze der Grafschaft Galway, übergeleitet, wo ein halbstündiger Aufenthalt stattfand. Auch während dieser Zeit war der kleine Knabe noch nicht wieder zum Bewußtsein gekommen.

»Elisa... Elisa!... rief Miß Anna Walston, wir werden uns erkundigen müssen, ob sich nicht vielleicht ein Arzt im Zuge befindet.«

Elisa that das, obgleich sie ihrer Herrin versicherte, daß es sich kaum der Mühe lohne.

Ein Arzt fand sich nicht.

»O, diese Unmenschen... jammerte Miß Anna Walston, man trifft sie nie da, wo sie sein sollten!

– Aber ich bitte Sie, Madame, dem Jungen fehlt ja gar nichts; der wird schon wieder zu sich kommen, wenn Sie ihn nicht ersticken....

– Glaubst Du, Elisa?... Das herzige Kind!... Ich weiß nicht, wie mir ist, ich habe ja noch nie ein Kind gehabt!... Ach, wenn ich ihn selbst hätte nähren dürfen!«

Das war freilich unmöglich, und übrigens stand der kleine Knabe in den Jahren, wo man nach einer festeren Nahrung verlangt.

Der Zug durchflog die Grafschaft Clare – jene Halbinsel zwischen der Bai von Galway im Norden und der langen breiten Ausmündung des Shannon im Süden – einen Landstrich, den man hätte zur Insel umgestalten können, wenn ein kaum fünfzig Kilometer langer Canal am Fuße der Sliève-Sughty ausgehoben worden wäre. Die Nacht war dunkel und es wehte ein ziemlich scharfer Westwind – ein Himmel, wie er zur Situation paßte.

»Ach, der Engel erholt sich nicht wieder! rief Miß Anna Walston immer wieder.

– Soll ich Ihnen etwas sagen, Madame?.

– Sprich, Elisa, sprich, um Gottes Willen!

– Nun... ich glaube, er schläft einfach!«

So war es in der That.

Der Zug gelangte nach Dromor, nach Emis, der Hauptstadt der Grafschaft, wo er gegen Mitternacht eintraf. Weiter nach New-Market, nach Six-Miles an der Grenze und endlich fuhr er gegen fünf Uhr morgens in Limerick ein.

Und nicht nur der kleine Knabe allein hatte während der Reise geschlafen, auch Miß Anna Walston waren die Augen zugefallen, und als sie wieder erwachte, bemerkte sie, daß ihr Schützling sie mit großen Augen ansah.

[67] Da drückte sie ihn wieder in die Arme.

»Er lebt!... Er lebt!... Gott, der ihn mir gegeben hat, kann nicht so grausam sein, ihn mir wieder zu entreißen!«

Elisa meinte zwar, daß Gott auch dann gar nicht grausam gewesen wäre; jedenfalls sah sich der Knabe eigentlich ohne Uebergang aus der Lumpenschule in die prächtigen Zimmer versetzt, die Miß Anna Walston während ihrer Gastvorstellung am Theater zu Limerick im Royal-George-Hôtel bewohnte.

Die Grafschaft Limerick hat sich in der Geschichte Irlands einen Namen gemacht, denn hier regte sich zuerst der Widerstand der Katholiken gegen das protestantische England. Treu der Jacobitischen Dynastie, ist seine Hauptstadt dem schrecklichen Cromwell entgegengetreten und hat eine merkwürdige Belagerung ausgehalten, bis sie, von Hunger bezwungen und in Blut gebadet, schließlich unterlag. Hier wurde der Vertrag, der den gleichen Namen führt, unterzeichnet, der Vertrag, der den irländischen Katholiken gleiche bürgerliche Rechte und freie Ausübung ihres Cultus gewährleistete. Freilich wurden die damaligen Abmachungen von Wilhelm von Oranien rücksichtslos verletzt. Wieder mußte das Volk nach langen, erniedrigenden Quälereien zu den Waffen greifen; trotz allen Muthes aber und obwohl ihnen die französische Revolution ihren Hoche zu Hilfe geschickt hatte, unterlagen die Irländer, die, wie sie sagten, »mit dem Stricke am Halse« kämpften, doch endlich bei Ballinamach den weitaus überlegenen Gegnern.

Endlich, im Jahre 1829, fanden die Rechte der Katholiken, Dank den Bemühungen des großen O'Connell, die langentbehrte Anerkennung. Dieser schwang das Banner der Unabhängigkeit und rang der Regierung Großbritanniens die ersehnte Emancipationsbill ab.

Da diese Erzählung in Irland spielt, sei es uns gestattet, folgende flammende Rede anzuführen, die O'Connell jener Zeit den Staatsmännern Englands ins Gesicht schleuderte. Man darf ihre Bedeutung nicht unterschätzen. Sie hat sich tief in das Herz der Irländer eingegraben, und an verschiedenen Stellen dieser Erzählung wird der Leser noch ihren Einfluß herausfühlen.

»Niemals hat es ein unwürdigeres Ministerium gegeben! rief O'Connell eines Tages. Stanley ist ein Renegat; Sir James Graham vielleicht etwas noch schlimmeres; Sir Robert Peel eine scheckige Fahne mit fünfhundert Farben und nicht einmal echt in der Farbe, denn sie erscheint heute orangeroth, morgen grün, übermorgen wieder anders; es ist aber darauf zu achten, daß sie einmal mit Blut gefärbt wird. Was Wellington, den armen Mann betrifft, erscheint es [68] geradezu sinnlos, ihn in England zu feiern. Hat der Historiker Alison nicht nachgewiesen, daß er sich bei Waterloo überraschen ließ? Zum Glück für ihn standen ihm raschentschlossene Truppen, irische Soldaten, zur Seite. Die Irländer sind dem Hause Braunschweig, als es ihr Feind war, treu ergeben gewesen, treu Georg III., der sie verrieth, treu Georg IV., der vor Wuth aufschrie, als er die Emancipation zugestand, treu dem alten Wilhelm, dem das Ministerium abscheuliche und blutige Maßregeln gegen Irland unterbreitete. Auch der Königin haben sie ihre Treue bewahrt. Darum England den Engländern, Schottland den Schotten, aber auch Irland den Irländern!« – Das sind herrliche Worte!... Der Leser wird bald erkennen, wie der Wunsch O'Connell's in Erfüllung gegangen ist und ob der Boden Irlands seinen Kindern gehört.

Limerick ist noch immer eine der Hauptstädte der Smaragdnen Insel, obwohl es, seitdem Tralee ihm einen Theil seines Handels raubte, vom dritten auf den vierten Rang gesunken ist. Es zählt gegen dreißigtausend Einwohner. Seine Straßen sind regelmäßig. breit und gerade; seine Läden, Magazine, Hôtels und öffentlichen Gebäude erheben sich an geräumigen Plätzen. Ueberschreitet man aber, nach Begrüßung des Steines, auf dem der Emancipationsvertrag unterzeichnet wurde, die Brücke des Thomond, so findet man, daß dieser Theil der Stadt hartnäckig irländisch geblieben ist. Hier sieht man noch das Elend und die Ruinen von der Belagerung her, die zerstörten Bollwerke, den Standort jener »Schwarzen Batterie«, die unerschrockne Frauen, gleich ebensovielen Johanna Hachette's, gegen die Orangisten bis zum Tode vertheidigten. Ein trauriger, beklagenswerther Contrast!

Limerick hat eine Lage, die es zu einem Mittelpunkte der Industrie und des Handels machen könnte. Der Shannon, der »Azurne Fluß«, bietet ihm einen jener Wege, die selbst gehen, wie der Clyde, die Themse oder der Mersey. Wenn London, Glasgow und Liverpool aber ihre Flüsse ausnützen, so macht das Limerick mit dem seinen leider nicht ebenso. Kaum beleben einige Barken seine trägen Fluthen, die nur die schönen Theile der Stadt benetzen und die fetten Weiden ihres Thales ernähren. Die auswandernden Irländer sollten ihren Shannon nur mit nach der Neuen Welt versetzen: die Amerikaner würden schon etwas daraus zu machen wissen.

Beschränkt sich auch die ganze Thätigkeit Limericks auf die Erzeugung von Schinken, so bleibt es doch eine angenehme Stadt mit wirklich hübschen weiblichen Bewohnern, was jedermann leicht auffallen mußte.

[69] Hervorragende Schauspielerinnen sind nicht die Persönlichkeiten, die für ihr Privatleben nach undurchsichtigen Mauern verlangen; sie würden im Gegentheil lieber in Glashäusern wohnen, wenn es solche gäbe. Miß Anna Walston hatte keine Ursache zu verheimlichen, was in Galway vorgegangen war. Schon am Tage nach ihrer Rückkehr sprach man in ganz Limerick von der dortigen Lumpenschule, und es ging das Gerücht, die Heldin so vieler Dramen habe sich in die Flammen gestürzt, um ein kleines Wesen zu retten. Sie widersprach dem nicht ausdrücklich, ja zuletzt glaubte sie es vielleicht selbst. Ohne Zweifel hatte sie in das Royal-George-Hôtel ein Kind mitgebracht, das sie adoptieren, einen Waisenknaben, dem sie ihren Namen geben wollte, da er keinen hatte... nicht einmal einen Taufnamen.

»Findling,« lautete seine Antwort, als sie ihn fragte, wie er hieße.

So mochte es auch dabei bleiben; sie hätte doch keinen besseren gefunden; jener war ja ebenso gut wie Eduard, Arthur oder Mortimer. Uebrigens nannte sie ihn am liebsten »Baby«, »Bebery«, »Babilsky«, oder wie die mütterlichen Kosenamen in England sonst lauten.

Natürlich verstand unser Held hiervon nicht das geringste. Er ließ alles über sich ergehen, Liebkosungen und Küsse, die er nicht gewöhnt war, ließ sich schöne Kleider gefallen – und er wurde nach neuester Mode aufgeputzt – und glänzende Stiefelchen. Er murrte nicht darüber, daß man ihm Locken machte, natürlich auch nicht über das vortreffliche Essen oder über die Süßigkeiten, die er in Ueberfluß erhielt.

Wie zu erwarten, stellten sich die Freunde und Freundinnen der Schauspielerin baldigst im Royal-George-Hôtel ein, um Miß Anna ihre Complimente zu machen, die diese dankend annahm. Dann wurde von der Geschichte der Ragged-School gesprochen. Schon nach kurzer Unterhaltung hatte da das Feuer meist die ganze Stadt Galway vernichtet. Man verglich den traurigen Vorfall nur noch mit dem großen Brande Londons, an den die »Feuersäule«, die einige Schritte von der London-Bridge aufragt, noch erinnert.

Natürlich wurde bei diesen Besuchen auch des Kindes nicht vergessen, was der Miß Anna Walston herzliche Freude bereitete. Und doch kam ihr der Gedanke, daß der Kleine, wenn auch nicht so gehegt und gepflegt, doch schon geliebt worden sein möge. Eines Tages fragte dieser nämlich:

»Wo ist denn Grip?

– Wer ist denn Grip, mein Babish?« antwortete Miß Anna Walston.

[70] Jetzt erfuhr sie erst etwas über Grip Ohne ihn wäre der kleine Knabe in den Flammen umgekommen. Das war schön, war lobenswerth von diesem Grip. Sein Heroismus aber – man liebte dieses Wort für seine That – konnte doch das Verdienst nicht schmälern, das der gefeierten Künstlerin bei diesem Rettungswerke zukam. Wenn sich die vortreffliche Frau nun nicht an der Brandstelle befunden hätte, was wäre da aus dem kleinen Burschen geworden? In welche Höhle hätte man ihn mit den andern Taugenichtsen der Lumpenschule eingepfercht?

In der That hatte sich bisher niemand um Grip bekümmert und keiner verlangte danach, etwas von ihm zu hören. Auch der kleine Knabe würde ihn schließlich vergessen und nicht mehr von ihm sprechen. Das war jedoch ein Irrthum; nie verblich in seinem Herzen das Bild dessen, der ihn ernährt und beschützt hatte.

Dem Adoptivkinde der Schauspielerin fehlte es jetzt auch nicht an Unterhaltung und Zerstreuung jeder Art. Er begleitete Miß Anna Walston bei ihren Spazierfahrten und saß neben ihr im Wagen, wenn jene durch die schönsten Theile von Limerick zu der Stunde fuhr, wo die feinere Welt sie sehen konnte. Dazu putzte sie den Knaben in jeder Weise heraus, so daß er einmal in schottischer Nationaltracht, einmal als Page und dann wieder als phantastischer Schiffsjunge erschien. Er vertrat fast die Stelle eines Schoßhündchens der Schauspielerin, die ihn, wenn er klein genug gewesen wäre, in ihren Muff gesteckt hätte, um nur dessen krauslockigen Kopf herausgucken zu lassen. Gelegentlich durchstreiften beide auch die Stadt oder lustwandelten bis zu den Badeplätzen von Kilkree mit ihren großartigen Uferfelsen an der Küste von Clare und nach Miltow-Malbay mit seinen gefährlichen Klippen, woran einst ein Theil der unbesiegbaren Armada zerschellte. Dabei stellte die glückliche Pflegemutter den kleinen Knaben immer nur als den »aus den Flammen geretteten Engel« vor.

Einige Male führte man ihn auch ins Theater, wo er – mit Handschuhen angethan! – in einer Loge des ersten Ranges unter dem strengen Auge Elisas thronte, sich kaum zu rühren wagte und bis zum Schluß der Vorstellung... nur gegen das Einschlafen ankämpfte.


Schon nach kurzer Unterhaltung. (S. 70.)

Natürlich ohne Verständniß für die Schauspiele selbst, hielt er doch alles, was er sah, für die reine Wahrheit. Wenn Miß Anna Walston einmal im Prunke einer Königin erschien, dann wieder als Frau aus dem Volke oder gar als in Lumpen gekleidete Bettlerin, so konnte er gar nicht glauben, daß sie es war, die er im Royal-George-Hôtel [71] wiedertraf. Das verwirrte seine kindliche Phantasie; er wußte nicht mehr, was er denken sollte. Er träumte davon in der Nacht, als spänne sich das seltsame Schauspiel weiter fort, und dann keuchte er unter schwerem Alpdrücken, wobei der Puppenschausteller, der bösartige Carker und die andern Schlingel aus der Lumpenschule eine Rolle spielten. Und wenn er dann schweißdurchnäßt erwachte, wagte er nicht zu rufen....


Die großartigen Uferfelsen von Clare. (S. 71.)

Die Irländer sind leidenschaftliche Liebhaber allen Sports, vorzüglich der Pferderennen.

[72] Auch jener Zeit strömte nach Limerick einmal aus gleicher Ursache die ganze »Gentry« der Umgebung zusammen, ihr schlossen sich die Landleute an, die ihre Höfe verließen, und sogar die Aermsten jeder Art, denen es nur gelungen war, sich einen Schilling oder halben Schilling abzusparen, um diesen auf ein Pferd zu verwetten.

Der Findling wurde ebenfalls zu diesem Feste mitgenommen, aber geschmückt, saß er schon mehr einem Blumenstrauß glich, den Miß Anna Walston von ihren Freunden bewundern, ja fast auffangen ließ.

[73] Die Künstlerin war etwas extravaganter Natur, doch gut und wohlthätig, wo sie das wenigstens in mehr Aufsehen erregender Weise bethätigen konnte. Waren die Zärtlichkeiten, womit sie das Kind überhäufte, sichtlich theatralischer Art und glichen die ihm gegebenen Küsse nur Bühnenküssen, so konnte der Findling den Unterschied ja nicht wahrnehmen. Immerhin fühlte er sich nicht so geliebt, wie er es gewünscht hätte, und vielleicht sagte er sich unbewußt, was Elisa nicht selten wiederholte:

»Wer weiß, wie lange es dauern wird, wenn es überhaupt andauert!«

7. Capitel
Siebentes Capitel.
Eine gefährdete »Situation«.

Sechs Wochen verflossen unter diesen Verhältnissen, und niemand wird es wundern, daß sich der Findling an dieses angenehme Leben gewöhnte. Wer das Elend erdulden gelernt hat, wird noch leichter das Wohlleben ertragen. Dagegen blieb es fraglich, ob Miß Anna Walston's warme Empfindung für den Knaben sich mit der Zeit nicht abkühlen würde. Gefühle unterliegen ja ebenso dem Gesetze der Trägheit wie greifbare Körper: erhält man die Triebkraft nicht länger, so kommen sie zum Stillstand. Sie war jener Zeit nur einer »Rührung« verfallen, wie sie durch manche Scene auf der Bühne die Zuschauer gefangen nehmen. Und dennoch durfte man nicht glauben, daß das Kind für sie nur den Werth eines Zeitvertreibs, eines Spielzeugs oder einer Reclame hatte, denn sie war von Natur wirklich gutherzig angelegt. Wenn sie auch weiter für den Kleinen sorgte, so wurden ihre Liebkosungen doch kürzer, ihre Aufmerksamkeiten seltner. Dazu kommt die starke Inanspruchnahme einer Schauspielerin, die ihre Rollen zu lernen, viele Proben zu besuchen hat, und der die Vorstellungen kaum einen Abend frei lassen. Das strengt ja schließlich an. In den ersten Tagen hatte sie sich den Cherub früh an ihr Bett bringen lassen, wo sie mit ihm wie ein »Mütterchen« spielte.

[74] Das störte aber ihren gewöhnlich lang ausgedehnten Morgenschlummer und so verlangte sie sehr bald das Kind erst beim Frühstück. Wie freute der Kleine sich, auf einem eigens für ihn beschafften hohen Stuhle zu sitzen, und wie schmauste er mit vortrefflichem Appetit!

»Na, mein Junge, so ist's hübsch, nicht wahr? fragte sie.

– Ach ja, Miß Anna, erwiderte er eines Tages, so gut wie das, was wir im Hospiz bekamen, wenn wir krank waren.«

Der Findling hatte eine feinere Lebensart eben noch nicht gelernt – weder Thornpipe noch O'Bodkins hätte ihm diese ja lehren können – er war sonst zurückhaltender Natur, sanften und liebevollen Charakters und, wie wir wissen, so ganz anders als die verwahrlosten Zöglinge der Ragged-School. Wie seinem Alter, war er aber auch nach geistiger Seite weit voraus, und Miß Anna Walston konnte das nicht entgehen. Von seiner Vergangenheit wußte sie freilich nur das, was er ihr darüber seit seiner Befreiung aus den Händen des Marionettenschaustellers erzählen konnte. Jedenfalls war er also ein Findelkind. Seine »angeborne Vornehmheit«, wie sie es nannte, bestärkte in der Künstlerin jedoch den Glauben, daß er der Sohn einer großen Dame sein müsse, wie das in Dramen ja so gewöhnlich ist, ein Sohn, von dem jene sich ihrer gesellschaftlichen Stellung wegen habe lossagen müssen. Daraufhin dichtete sie sich über ihren Schützling einen ganzen Roman zusammen, der übrigens nicht einmal mehr den Reiz der Neuheit hatte. So ersann sie gewisse »Situationen«, die in dramatischer Bearbeitung einen starken Thräneneffect erzielen würden. Sie wollte in diesem Stücke spielen, sie versprach sich davon einen ungewöhnlichen Erfolg... sie würde sich darin hinreißend... himmlisch zeigen u. s. w. Und als sie in Gedanken so weit gelangt war, da ergriff sie ihren Engel, umarmte ihn stürmisch, ganz wie auf der Bühne, und glaubte schon den jubelnden Beifall der Zuschauer zu hören.

Eines Tages sagte da der Findling, dem die Sache unheimlich zu werden anfing:

»Miß Anna?...

– Was willst Du, mein Herzchen?

– Ich möchte Sie etwas fragen.

– So frage nur, mein Schatz.

– Sie werden mir darum nicht böse?

– Ich... Dir böse werden?

[75] – Jeder hat doch wohl eine Mutter?

– Natürlich, mein Engel, hat jedes Kind eine Mutter.

– Warum kenne ich denn dann meine Mutter nicht?

– Warum?... Ja, weil... antwortete Miß Anna Walston verlegen, weil... das... seine Gründe hat. Später einmal... ja, das glaub' ich bestimmt... wirst Du sie schon zu sehen bekommen....

– Ich habe Sie doch sagen hören, daß es eine schöne Dame sei, nicht wahr?

– Ja, ganz gewiß!... Eine schöne Dame!

– Und warum denn gerade eine schöne Dame?

– Nun weil... nun ja, Deine Gestalt... Dein Gesichtchen... Ist er doch drollig, der liebe Kleine, mit seinen Fragen!... Uebrigens... die Situation... ja, die Situation in dem Drama erfordert, daß sie schön sei... vornehm... doch, das verstehst Du nicht....

– Nein, das versteh' ich auch nicht! versicherte der kleine Knabe traurig. Mir kommt es manchmal vor, als wäre meine Mama schon todt....

– Todt?... O nein!... Mach' Dir nicht solche Gedanken!... Wenn sie todt wäre, dann gäb's ja kein Stück mehr....

– Was für ein Stück?...«

Miß Anna Walston umarmte den Kleinen, und das war am Ende die beste Antwort, die sie ihm augenblicklich geben konnte.

»Wenn sie aber nicht todt ist, fuhr der kleine Bursche mit der seinem Alter eignen Zähigkeit fort, wenn sie eine schöne Dame ist, warum hat sie mich denn verlassen?...

– Sie wird dazu gezwungen gewesen sein, mein Babery... gewiß ganz wider Willen... doch... bei der Lösung des Knotens...

– Miß Anna?...

– Was willst Du noch?

– Meine Mama...

– Nun, weiter!

– Das sind Sie doch nicht?...

– Wie... ich... Deine Mama?

– Weil Sie mich »mein Kind« nennen.

– Das sagt man so, mein Cherub, so nennt man Kinder Deines Alters immer.... Das arme Würmchen, so etwas glauben zu können!... Nein, ich bin [76] Deine Mama nicht!.. Wärst Du mein eignes Söhnchen, ich hätte Dich nicht verlassen, Dich nicht dem Elend preisgegeben!... O, gewiß nicht!«

Mit einer neuen Umarmung beendete Miß Anna Walston das Gespräch, nach dem der Findling recht betrübt davonschlich.

Armes Kind! Ob reicher oder armer Herkunft, höchst wahrscheinlich sollte es seine Angehörigen niemals kennen lernen, wie so viele aufgelesene Findlinge.

Als Miß Anna Walston ihn mit sich nahm, hatte sie freilich nicht daran gedacht, welche Pflichten ihr das für die Zukunft auferlegen würde. Ja sie hatte sich nicht einmal vorgestellt, daß dieses Baby wachsen könnte, daß sie für seinen Unterricht, für seine Erziehung zu sorgen haben werde. Es ist ja recht gut und schön, ein kleines Wesen zu liebkosen, besser aber doch noch, auch seinem Geiste die nöthige Nahrung zu gewähren. Ein Kind zu adoptieren, schließt auch die Verpflichtung ein, es zum Menschen zu machen. Diese Pflicht hatte die Schauspielerin gar nicht bedacht. Freilich zählte der Findling jetzt kaum fünfeinhalb Jahre, in diesem Alter beginnt aber das Erwachen der geistigen Fähigkeiten. Was sollte nun aus ihm werden? Er konnte ihr doch nicht bei ihren Gastspielreisen von Theater zu Theater, von Stadt zu Stadt folgen, vorzüglich wenn sie ins Ausland ging... So würde sie sich also genöthigt sehen, ihn einer Pension anzuvertrauen... natürlich nur einer ganz guten. Auf jeden Fall würde sie ihn niemals verlassen.

Eines Tages bemerkte sie gegen Elisa:

»Er entwickelt sich alle Tage besser. Hast Du das nicht beobachtet? Welch' empfindsame Natur! O, seine Liebe wird mir lohnen, was ich für ihn that!... Und dann... wie frühreif! Alles will er wissen. Ich finde sogar, er ist überlegter, als er es bei seiner Jugend sein sollte... und er hat sich für meinen Sohn halten können! Der arme Kleine! Ich dürfte doch seiner Mutter schwerlich ähnlich sein!... Das war gewiß eine sinnende, ernste Frau. Sprich doch, Elisa, wir werden ja einmal daran denken müssen....

– Woran denn?

– Was aus ihm werden soll.

– Aus ihm werden?... Jetzt schon?...

– Nein, jetzt noch nicht, meine Liebe; jetzt mag er noch wie eine Blume freudig aufwachsen... Nein, später... später, wenn er sieben bis acht Jahre zählt. Ist das nicht das Alter, mit dem die Kinder gewöhnlich in eine Pension kommen?«

[77] Elisa wollte ihr schon entgegenhalten, daß der Junge doch an die Lebensweise in einer Pension schon gewöhnt sein müsse – sie hatte ja Recht, freilich nur in Bezug auf die Lebensweise in der Lumpenschule – und ihrer Meinung nach wäre es am besten, wenn er baldigst wieder einer, natürlich besseren Anstalt übergeben würde. Miß Anna Walston ließ sie darüber gar nicht zu Worte kommen.

»Sag' einmal Elisa...?

– Was denn, Miß Anna?

– Glaubst Du, daß unser Cherub Lust zum Theater haben könnte?

– Er?...

– Ja. Betrachte ihn nur genau. Er hat ein hübsches Gesicht, prächtige Augen und tadellose Haltung. Das erkennt man schon, und ich bin überzeugt, daß er einen entzückenden Liebhaber abgeben würde....

– Halt... halt... halt, Miß Anna! Sie lassen Ihren Gedanken die Zügel schießen!

– Ei, ich werde ihm Komödie spielen lehren. Der Schüler der Miß Anna Walston!... Ahnst Du den Effect?

– In fünfzehn Jahren....

– Zugegeben, Elisa, in fünfzehn Jahren, doch ich sage Dir, in fünfzehn Jahren wird er der reizendste junge Mann sein. Alle Frauen werden...

– Vor Eifersucht umkommen, fiel Elisa ein. Das kenne ich schon. Doch, Miß Anna, wollen Sie meine aufrichtige Meinung hören?

– Nun, und die wäre?...

– Aus diesem Kinde wird im Leben kein Schauspieler werden.

– Ja, warum denn nicht?

– Weil der Junge zu ernsthaft ist.

– Das ist wohl wahr, gab Miß Anna Walston zu, doch... wir werden ja sehen....

– Und Zeit genug haben wir dazu, Miß Anna!«

Gewiß war's dazu Zeit genug, und wenn der Findling dann, trotz der Vermuthung Elisas, Neigung für das Theater zeigte, war ja alles gut.

Inzwischen kam der Miß Anna Walston ein herrlicher Gedanke, wie solche ihr ganz ausschließlich eigen zu sein schienen: sie wollte das Kind baldigst auf der Bühne von Limerick einmal auftreten lassen.

[78] Wenn der und jener das auch als eine wahnsinnige Idee verurtheilen mochte, so zeigte sich doch, daß dieses »einzige Auftreten«, wie die Placate ankündigten, von ganz bedeutender Wirkung zu sein versprach.

Miß Anna Walston studierte jetzt aufs neue ein »Rührstück mit Knalleffecten« ein, wie solche im englischen Repertoire gar nicht selten sind. Dieses Drama, richtiger Melodrama, mit dem Titel »Die Reue einer Mutter«, hatte bereits einer ganzen Generation Thränen genug entlockt, um die Flüsse des Vereinigten Königreichs damit speisen zu können.

In diesem Stücke des Dramaturgen Furpill kam, wie allemal, eine Kinderrolle vor – ein Kind, das die Mutter nicht hatte behalten können, das sie ein Jahr nach seiner Geburt verlassen mußte, während sie es später elend wiederfand und man es ihr aufs neue rauben wollte u. s. w.

Selbstverständlich war das eine stumme Rolle. Der kleine Figurant, der sie spielte, hatte nur alles mit sich geschehen, sich umarmen, küssen, an einen Mutterbusen drücken und sich hierhin und dorthin zerren zu lassen, ohne je ein Wort zu sprechen.

Unser Held schien zu einer solchen Rolle ja wie geschaffen. Er hatte das richtige Alter und die passende Größe, dazu ein bleiches Gesichtchen mit Augen, die gar oft geweint hatten. Welcher Effect, wenn man ihn auf der Bühne sähe und hier gerade mit seiner Adoptivmutter! Mit welcher Begeisterung, welchem Feuer würde diese die fünfte Scene des dritten Actes spielen, die große Scene, in der sie das Kind vertheidigt, das man ihr wieder entreißen will! Hier kamen ja die thatsächlichen Verhältnisse den erdichteten zu Hilfe. Dabei entrang sich der Künstlerin unzweifelhaft ein aufrichtiger Schmerzensschrei und vergoß sie gewiß wirkliche Thränen... kurz, es winkte ihr ein Triumph ohne Gleichen.

Die Vorbereitungen nahmen ihren Anfang und der kleine Knabe mußte den letzten Proben beiwohnen.

Das erste Mal erstaunte er ungemein über alles, was er da sah und hörte. Miß Anna Walston nannte ihn wohl, gemäß dem Texte der Rolle, »mein Kind«, es schien ihm aber, als ob sie ihn nicht so innig wie sonst umschlänge und keine Thränen vergösse, wenn sie ihn an ihr Herz zog. Wozu auch weinen bei Theaterproben? Wozu die Augen abnutzen? Dazu war's bei der Aufführung Zeit genug.

Auf den kleinen Knaben machte übrigens alles einen tiefen Eindruck... die sperrigen Gestelle der Coulissen, die etwas feuchtmodrige Luft, der große,[79] leere Zuschauerraum, in den nur kleine Fenster über der höchsten Gallerie wenig Licht eindringen ließen, das Ganze sah so traurig aus, wie ein Haus mit einem Todten darin. Immerhin that Sib – so hieß der Kleine in dem Stücke – was man von ihm verlangte, und Miß Anna Walston prophezeite ihm schon den schönsten Erfolg... und sich natürlich mit.

Vielleicht wurde diese Zuversicht nicht allgemein getheilt. Der Künstlerin fehlte es ja, vor allem unter den Colleginnen, nicht an Neidern. Sie hatte diese verletzt durch ihre eigenwillige Persönlichkeit, ihre Launen, gewiß ohne Absicht und ohne daß sie es merkte, und wer hätte ihr das auch mittheilen sollen? Jetzt erklärte sie nun, eine Folge der Erregbarkeit ihres Temperaments, gar noch, der Kleine, der jetzt kaum so hoch wie ein Ritterstiefel war, werde noch einen Kean, einen Macready und andre Größen der heimischen Bühne ausstechen. Das ging doch über alles Maß hinaus.

Endlich kam der Tag der ersten Aufführung.

Es war am 19. October, an einem Donnerstage. Miß Anna Walston befand sich natürlich in hochgradiger Aufregung. Einmal ergriff sie Sib, umarmte ihn und schüttelte ihn mit nervöser Gewalt, dann wieder reizte sie seine Gegenwart und sie schob ihn weg, während dieser nichts von allem begriff.

Am Abende der ersten Aufführung strömten die Leute in hellen Haufen nach dem Theater in Limerick. Der Theaterzettel hatte eine ganz außergewöhnliche Zugkraft geübt.


Gastvorstellung


der Miß Anna Walston,


Die Reue einer Mutter.


Schauspiel von dem


berühmten Furpil.


Personen:


Die Herzogin von Kendalle .......... Miß Anna Walston.

Sib, dargestellt von deren Pflegesohne, der »Findling« genannt, z. Z. 5 Jahre 9 Monate alt ... u. s. w.


Wie stolz wäre der kleine Bursche gewesen, wenn er vor diesem Anschlage gestanden hätte. Er konnte ja lesen, und hier stand sein Name schwarz auf weiß in großen Buchstaben.

[80] Dieser Stolz wäre freilich bald gedemüthigt worden. In der Garderobe der Miß Anna Walston erwartete ihn ein wirklicher Kummer.

Bis zum heutigen Abend hatte er keine »Costümprobe« gehabt, weil man das für unnöthig erachtete. Er war also stets mit seinen besten Kleidern nach dem Theater gegangen. Jetzt brachte aber Elisa, während sich Miß Anna als Herzogin von Kendalle schmückte. für ihn eine ganz zerfetzte Tracht herbei, die sie ihm anzulegen begann, scheinbar schmutzige, zerrissene Lumpen, die freilich auf der Innenseite völlig sauber waren. In dem rührseligen Stücke ist Sib in [81] der That ein verlassenes Kind, das seine Mutter in den dürftigsten Verhältnissen wiederfindet, seine Mutter eine Herzogin, eine Schönheit in Sammet, Seide und duftigen Spitzen.


Während ihn der Regisseur an der Hand hielt. (S. 85.)

Als er den Anzug sah, glaubte der kleine Knabe zuerst, er solle nach der Lumpenschule zurückgeschickt werden..

»Miß Anna... Miß Anna! rief er schluchzend.

– Was willst Du? fragte die Künstlerin.

– Schicken Sie mich nicht wieder zurück, bitte, bitte!

– Dich zurückschicken?... Warum denn?

– Hier die alten, schlechten Kleider...

– Nein... was er sich gleich einbildet!

– Ach was, halte still, kleiner Querkopf! fiel Elisa ein, die ihn mit fester Hand anfaßte.

– Ach, die Engelsliebe!« sagte Miß Anna tiefgerührt.

Und mit seiner Pinselspitze malte sie sich leicht geschwungne Augenbrauen.

»Das süße Herz... wenn das jemand von den Zuschauern wüßte!«

Sie legte etwas Roth auf die Wangen.

»Die Leute sollen's aber erfahren, Elisa. Morgen schon steht es in den Blättern, daß er hat glauben können...«

Sie warf sich eine kostbare weiße Hülle um die Schultern.

»O über den seltsamen Babish!... Jene schlechten Kleider... ach, es ist zum Lachen...

– Zum Lachen, Miß Anna?...

– Ja, weinen darf man ja nicht.«

Sie hätte wohl Thränen vergossen, fürchtete aber ihre künstliche Färbung zu beschädigen.

Elisa bemerkte jedoch kopfschüttelnd:

»Sie sehen, Miß Anna, daß wir aus dem nie einen Komödianten machen werden!«

Der Findling ließ sich indeß, eingeschüchtert und recht schweren Herzens, die Lumpen für die Rolle Sibs anlegen.

Da kam Miß Anna Walston auf den Gedanken, ihm eine glänzende Guinee zu schenken, das sollte ihn beim ersten Auftreten ermuntern. Schnell getröstet, nahm der Kleine das Goldstück hastig an und steckte es, nach gehöriger Besichtigung, tief in seine Tasche.

[82] Nachher streichelte ihm die Künstlerin noch einmal die Wangen und begab sich nach der Bühne hinunter, indem sie Elisa beauftragte, ihn in der Garderobe zu behalten, da er erst im dritten Acte aufzutreten hatte.

Heute Abend füllten die seine Welt und die bessern Kreise überhaupt das Theater vom Orchester bis zum Schnürboden, obgleich dieses Stück keine Novität war. Schon seit zwölf bis dreizehn Jahren hatten es alle Bühnen des Vereinigten Königreichs aufgeführt, was effectreichen Stücken selbst untergeordneten Werthes ja nicht selten widerfuhr.

Der erste Act verlief nach Vorschrift. Miß Anna Walston erntete rauschenden Beifall, den sie durch die Leidenschaft ihres Spiels und den Glanz ihres Talents von den hingerissenen Zuschauern gewiß verdiente.

Nach dem ersten Acte begab sich die Herzogin von Kendalle nach ihrer Garderobe zurück und legte hier, zum größten Erstaunen Sibs, ihre Seiden- und Sammetkleidung ab, um diese mit der Tracht einer einfachen Magd zu vertauschen – wie es die, übrigens recht altersgraue Entwickelung des Dramas verlangte.

Der Findling starrte die Dame in Sammet an, die zu einer Frau in grober Wolle wurde. Ihn beunruhigte das mehr und mehr, denn es schien ihm, als wenn eine Fee jene phantastische Veränderung vor seinen Augen durchführte.

Dann tönte die Stimme des Inspicienten bis zur Garderobe herauf, eine Stentorstimme, die ihn erzittern machte, und die »Magd« gab ihm ein Zeichen mit der Hand und sagte:

»Nun, aufgepaßt, Findling, jetzt kommst Du bald dran.«

Damit stieg auch sie nach der Bühne herunter.

Zweiter Act: Die Magd erntet den gleichen Beifall, wie die Herzogin im ersten, und der Vorhang muß unter dreifachem Applaus ebenso viele Male wieder aufgezogen werden.

Den »guten Freundinnen« und deren getreuen Schildknappen fehlte es demnach an Gelegenheit, sich an Miß Walston zu reiben.

In ihrer Garderobe warf sich diese etwas ermüdet auf ein Sopha, obgleich sie ihren höchsten dramatischen Triumph erst im folgenden Acte ausspielen wollte.

Noch einmal wechselte sie das Costüm; jetzt verwandelt sie sich aus der Magd wieder zur Dame, zu einer etwas weniger jugendlich erscheinenden Dame in Trauer, denn zwischen dem zweiten und dritten Aufzuge liegen fünf Jahre.

[83] Regungslos in seiner Ecke macht der kleine Knabe große Augen, ohne ein Wort zu äußern. Die etwas angegriffene Miß Anna Walston beachtet ihn zunächst nicht weiter.

Nach Beendigung ihrer Toilette beginnt sie:

»Nun, Kleiner, nun kommst Du auf die Bühne.

– Ich, Miß Anna?...

– Weißt Du denn noch, daß Dein Name da »Sib« ist?

– Sib?... Ja wohl.

– Elisa, schärfe ihm ja noch einmal ein, daß er Sib heißt, bis zum Augenblicke, wo Du ihn dem Regisseur neben der Thür zuführst.

– Gewiß, Miß Anna.

– Und daß er nur das Stichwort nicht verfehlt! Du weißt übrigens, wendete die Künstlerin sich, mit den Finger drohend, an den Knaben, Du weißt, daß Dir sonst Deine Guinee wieder genommen wird. Also Achtung vor der Geldbuße....

– Und vor dem Gefängniß!« setzte Elisa dazu, ihn mit strengem Blicke musternd.

Genannter Sib sah nach, ob die Guinee, die er sich schon nicht wieder abnehmen lassen würde, noch in seiner Tasche war.

Jetzt kam der große Moment. Elisa faßte ihn an der Hand und ging mit ihm nach der Bühne hinunter.

Sib war anfänglich ganz verwirrt durch die vielen Flaschenzüge und Seile, wie über die von allen Seiten strahlenden Gasflammen und das Durcheinander von Figuranten und Schauspielern, die ihn lächelnd betrachteten.

Der arme Kleine schämte sich wirklich in seiner zerfetzten Hülle.

Endlich ertönte das Zeichen zum Anfang.

Sib zitterte, als hätten die Glockenschläge seinen Rücken getroffen.

Der Vorhang rauschte empor.

Die Herzogin von Kendalle war allein auf der Bühne und sprach in der eine ärmliche Hütte darstellenden Decoration einen Monolog. Bei einem gewissen Stichworte sollte sich die Thür im Hintergrunde öffnen, ein Kind eintreten, auf sie zugehen und bittend die Hand ausstrecken; in diesem Kinde sollte sie das ihrige erkennen.

Hier sei erwähnt, daß der Findling schon bei den Proben immer sehr betrübt darüber war, daß er um ein Almosen betteln sollte, wogegen sich sein [84] natürlicher Stolz ja bereits in der Lumpenschule auflehnte. Miß Anna Walston hatte ihm zwar wiederholt erklärt, daß es sich hier nicht um ein wirkliches Betteln handelte, das beruhigte ihn jedoch noch nicht. In seiner Naivität nahm er die suchen für Ernst und glaubte schließlich wirklich, daß er der unglückliche kleine Sib sei.

In Erwartung seines Auftretens und während ihn der Regisseur an der Hand hielt, lugte er durch die nur angelehnte Thür. Mit größter Verblüffung durchflogen seine Augen den gefüllten Zuschauerraum, der wie in einem Lichtmeer gebadet erschien, theils von den Girandolen der einzelnen Ränge und theils von dem großen, einem feurigen Ballon ähnlichen Kronleuchter. Das war ein so ganz andres Bild, als er es bei seinen wenigen Theaterbesuchen von der Loge aus gesehen hatte.

Da raunte der Regisseur ihm zu:

»Achtung, Sib!

– Ja, ja, Herr....

– Du weißt... Du gehst grade auf Deine Mama zu. Hüte Dich, nicht etwa zu fallen.

– Ich werde mich vorsehen.

– Und strecke hübsch die Hand aus...

– Ja, nicht wahr, so hier?«

Er zeigte dabei eine fest geschlossene Hand.

»Nein, Dummkopf!... Du machst ja eine Faust und mußt doch die Hand offen hinhalten, wenn Du um eine Gabe bittest....

– Ach ja, Herr....

– Und vor allem, sprich kein Wort... keine Silbe!

– Nein, Herr....«

Die Thür der Hütte öffnete sich und der Regisseur schob den Findling genau beim Stichworte hinein.

Der kleine Knabe hatte sein Debüt in der theatralischen Laufbahn. O, wie klopfte ihm das Herz!

Vom Zuschauerraume her tönte ein Gemurmel, ein Ausdruck theilnehmenden Mitleids, während Sib, mit gesenkten Augen und ungewissen Schritten herankommend, gegen die trauernde Dame die Hand ausstreckte. Die Zuschauer glaubten herauszufinden, daß er solche Lumpen gewöhnt gewesen war.

Man bereitete ihm einen »Empfang«, was den Kleinen noch mehr verwirrte.

[85] Plötzlich erhebt sich die Herzogin, sie starrt ihn an, sinkt zurück und öffnet die Arme.

Ein markdurchdringender Schrei nach allen Regeln der Kunst.

»Er ist's!... Er ist's!... Ich erkenne ihn wieder!... Das ist Sib, mein... mein Kind!«

Darauf zieht sie ihn an sich, drückt ihn ans Herz, bedeckt ihn mit Küssen... er läßt sie gewähren. Sie weint – diesmal leibhaftige Thränen – und schluchzt:

»Mein Kind... mein Kind ist es, dieser kleine Unglückliche, der mich um ein Almosen anfleht!«

Das ergreift den armen Sib.

»Ihr Kind, Miß Anna? fragte er trotz der Mahnung, kein Wort zu sprechen.

– Schweig doch!« zischelt ihm die Künstlerin heimlich zu.

Dann fährt sie fort:

»Um mich zu strafen, hatte der Himmel mir ihn genommen, heute giebt er ihn mir wieder!«

Unter diesen von Seufzern unterbrochenen Worten verzehrt sie Sib fast mit ihren Küssen, überschüttet sie ihn fast mit ihren Thränen. Niemals, nein, niemals war der kleine Knabe so stürmisch geherzt und gepreßt worden, nie hatte er sich so mütterlich geliebt gefühlt.

Die Herzogin erhebt sich, als höre sie Geräusch von draußen.

»Sib, ruft sie, Du wirst nicht von mir gehen!

– Gewiß nicht, Miß Anna!

– So schweig doch nur!« ruft sie auf die Gefahr hin, von den Zuschauern gehört zu werden.

Die Thür der Hütte wird hastig aufgestoßen. Zwei Männer erscheinen auf der Schwelle.

Der erste ist der Gemahl der Trauernden, der andre ein Gerichtsdiener der jenen zur Unterstützung begleitet.

»Ergreifen Sie dieses Kind... es gehört mir!

– Nein, das ist Dein Sohn nicht! antwortet die Herzogin, die Sib ein Stück hinwegzieht.

– Sie sind nicht mein Papa!« erklärt der kleine Junge laut

Die Fingerspitzen der Miß Anna Walston haben sich so tief in seinen Arm eingebohrt, daß ihm ein Schrei entfährt. Dieser Schrei paßt ja zur [86] Situation und compromittiert sie nicht. Jetzt ist es eine Mutter, die ihn an sich preßt... keiner soll ihr das Kind entreißen können. Eine Löwin vertheidigt ihr Junges....

Der kleine sich sträubende Löwe, der den Vorgang für Ernst nimmt, wird zu widerstehen wissen. Der Herzog hat sich seiner bemächtigt; er entschlüpft ihm und eilt auf die Herzogin zu.

»Ach, Miß Anna, ruft er weinend, warum haben Sie mir gesagt, daß Sie nicht meine Mama sind?

– Wirst Du schweigen, Unglücksvogel!... Wirst Du endlich schweigen! murmelt sie, während Herzog und Gerichtsdiener bei diesen unerwarteten Zwischenreden ganz aus der Rolle fallen.

– Ja, ja... antwortet Sib, Sie sind doch meine Mama... ich hatte es Ihnen ja gesagt, Miß Anna... meine richtige Mama.«

Die Zuschauer begreifen allmählich, daß das nicht zum Stüche gehört; sie kichern und lächeln, einige klatschen scherzweise Beifall. Eigentlich hätten sie weinen sollen, denn es war rührend zu sehen, wie das Kind in der Herzogin von Kendalle seine leibliche Mutter zu erkennen wähnte.

Die »Situation« blieb aber – so oder so – compromittiert. Man fing an zu lachen, wo hätte man weinen sollen, und um den großen Auftritt war es geschehen.

Miß Anna Walston erfaßte die ganze Lächerlichkeit der Lage. Ihre vortrefflichen Collegen raunten ihr ironische Bemerkungen zu.

Außer sich vor Erregung ergriff sie eine blinde Wuth. Den kleinen Dummkopf, der die Ursache all dieses Unheils war, hätte sie vernichten mögen!... Da schwanden ihr die Kräfte. sie fiel auf die Bühne nieder und der Vorhang senkte sich unter homerischem Gelächter der Zuschauer.

Noch in derselben Nacht verließ Miß Anna Walston, die man nach dem Royal-George-Hôtel geschafft hatte, die Stadt in Begleitung der Elisa Corbett. Sie verzichtete auf die für die folgende Woche angekündigten Vorstellungen und entrichtete deshalb die übliche Conventionalstrafe. Auf dem Theater in Limerick wollte sie nie wieder auftreten.

Um den kleinen Knaben hatte sie sich gar nicht weiter gekümmert. Sie entledigte sich seiner wie eines Dinges, das ihr nicht mehr gefiel und dessen Anblick ihr verhaßt war. Bei dem Frostschauer der Eigenliebe erstarrt jede andre Neigung.


Hier verbrachte das Kind die Nacht. (S. 89.)

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Der Findling, der sich allein sah, nichts begriff, aber doch ahnte, daß er ein großes Unglück angerichtet haben müsse, hatte sich unbemerkt geflüchtet. Aufs Gradewohl durchirrte er die ganze Nacht die Straßen von Limerick und verkroch sich endlich in eine Art großen Garten mit da und dort verstreuten [87] Häuschen und steinernen, von Kreuzen überragten Tafeln. In der Mitte erhob sich ein gewaltiges Bauwerk, das an der vom Mondschein nicht getroffenen Seite sehr düster aussah.


Großmutter hatte keine andre Beschäftigung. (S. 93.)

Dieser Garten war der Friedhof von Limerick – eine jener englischen Todtenstätten mit Buschwerk, blühenden Pflanzen, besandeten Wegen, mit Rasen [88] flächen und kleinen Springbrunnen, wodurch das Ganze zum vielbesuchten Spaziergang wird. Die Tafelsteine waren Gräber, die kleinen Häuser Grüfte, das große Bauwerk die Kathedrale der heiligen Maria.

Hier hatte das Kind Zuflucht gefunden und verbrachte es die Nacht auf einer Steinplatte im Schatten der Kirche, beim geringsten Geräusche zitternd vor Furcht... daß der böse Mann, der Herzog von Kendalle, es suchen könnte.

[89] Und nun war auch Miß Anna nicht zu seiner Vertheidigung da! Man werde ihn, so meinte er, weit wegführen in ein unbekanntes Land, wo er seine Mama nicht wiedersähe... und große Thränen perlten ihm aus den Augen.

Mit Tagesanbruch hörte der Findling eine Stimme, die ihn anrief.

Unsern von ihm standen ein Mann und eine Frau, ein Farmer und dessen Gattin. Beim Vorübergehen hatten sie den Kleinen bemerkt. Beide begaben sich nach dem Bureau des öffentlichen Fuhrwesens, von wo aus ein Wagen nach dem Süden der Grafschaft abgehen sollte.

»Was machst Du da, Kleiner?« fragte der Mann.

Der Knabe schluchzte, daß er kein Wort hervorbringen konnte.

»Nun, was hast Du denn da vor?« erklang jetzt die sanftere Stimme der Frau.

Der Findling schwieg noch immer.

»Wer ist Dein Vater? fuhr sie fort.

– Ich habe keinen Vater, antwortete er endlich.

– Aber Deine Mutter?...

– Ich habe keine mehr!«

Dabei streckte er die Arme gegen die Farmersfrau aus.

»Es ist ein verlassnes Kind,« sagte der Mann.

Hätte der Findling noch seine schöne Kleidung getragen, so würde der Farmer ihn für ein verirrtes Kind und sich für verpflichtet gehalten haben, es den Seinigen wieder zuzuführen. In den Lumpen Sibs aber konnte es nur einer jener kleinen Unglücklichen sein, die niemand angehörten.

»So komme mit!« schloß der Farmer.

Dabei hob er ihn schon auf, legte ihn seiner Frau in die Arme und sagte mit freundlicher Stimme:

»So ein Bübchen mehr im Hause, das merken wir auch nicht. Nicht wahr, Martine?

– Nein Martin!«

Und mit einem herzhaften Kusse löschte die gute Frau die Thränen des kleinen Knaben.

[90]
8. Capitel
Achtes Capitel.
Die Farm von Kerwan.

Daß dem kleinen Burschen in der Provinz Ulster kein Glücksstern geschienen hatte, war leicht genug zu erkennen, obgleich niemand wußte, wie er seine erste Kindheit in irgend einem Dorfe der Grafschaft zugebracht haben mochte.

Die Provinz Connaught war ihm auch nicht gnädig gewesen, weder als er über die Landstraßen der Grafschaft Mayo unter der Fuchtel des Puppenschaustellers hinwanderte, noch die Grafschaft Galway während der zwei Jahre in der Ragged-School.

Nun hätte man wenigstens hoffen können, daß sein Elend in der Provinz Munster, Dank der Laune einer Schauspielerin, ein Ende genommen hätte. Nein... er war wieder verlassen worden, und jetzt sollte ihn der Zufall tief nach Kerry hinein, an das Südwestende Irlands verschlagen. Diesmal nahmen sich sehr wackre Leute seiner an... möchte er bei ihnen bleiben können!

Im Nordosten der Grafschaft Kerry und nahe dem Flusse Cashen liegt die Farm von Kerwan. In der Entfernung von einem Dutzend (englischen) Meilen liegt Tralee, der Hauptort, von wo, alter Ueberlieferung nach, im sechsten Jahrhundert Saint-Brandon abgesegelt sein soll, um Amerika lange vor Columbus zu entdecken. Hier laufen die verschiedenen Schienenwege des mittleren Irland zusammen.

Das sehr unebene Gebiet enthält die höchsten Berge der Insel, wie die Clanaraderry- und die Stacksberge. Zahlreiche Wasserläufe verbinden sich mit dem Cashen und bedingen, im Verein mit vielen Sumpfstrecken, auch eine große Unebenheit der Landstraßen. Dreißig Meilen gegen Westen trifft man auf die tiefeingeschnittene Küste, wo sich die Flußmündung des Shannon und die lange Bai von Kerry ausbreiten, deren vielgestaltige Felswände von der Kohlensäure des Meerwassers benagt werden.

Jeder erinnert sich der Worte O'Connell's: »Irland den Irländern!« Im folgenden wird sich zeigen, wie weit das wahr geworden ist.

Man zählt hier dreihunderttausend Farmen, die fremden Besitzern gehören. Unter dieser Zahl umfassen fünfzigtausend mehr als vierundzwanzig Acres (etwa [91] zehn Hektar) und achttausend haben nur acht bis zwölf Acres. Die übrigen sind alle kleiner. Daraus darf man aber nicht auf eine weitgehende Zerstückelung des Eigenthums schließen. Im Gegentheil. Drei dortige Großbesitze übersteigen hunderttausend Acres, z. B. der von Richard Borridge, der hundertsechzigtausend Acres mißt.

Doch was sind diese Complexe gegen die der Landlords von Schottland, eines Grafen von Breadalbane, der vierhundertfünfunddreißigtausend Acres sein eigen nennt, eines J. Matheson, der vierhundertsechstausend, eines Herzogs von Sutherland, der gar zwölfhunderttausend Acres – das Areal eines ganzen Herzogthums – besitzt!

Seit der Eroberung durch die Anglo-Normannen im Jahre 1100 ist die »Schwesterinsel« streng feudal regiert worden und ist ihr Boden Feudaleigenthum geblieben.

Der Herzog von Rockingham war jener Zeit einer der großen Landlords der Grafschaft Kerry. Sein Besitzthum von hundertfünfzigtausend Acres enthielt Getreideland, Wiesen, Wald und Teiche mit fünfzehnhundert darüber verstreuten Farmen. Er war ein Fremder, einer derer, die die Irländer mit Recht des Absentismus wegen anklagen. Die Folge dieses Fernbleibens aber ist, daß das durch irischen Fleiß erworbene Geld zum Nachtheil Irlands nach auswärts geht.

Das »Grüne Erin« bildet bekanntlich keinen Bestandtheil Großbritanniens, das nur aus England und Schottland besteht. Der Herzog von Rockingham war ein englischer Lord. Wie so viele andre, die neun Zehntel der Insel besitzen. hatte er es noch nicht für der Mühe werth gehalten, sein Landeigenthum zu besuchen, und so kannten ihn auch seine Pächter nicht. Für eine gewisse jährliche Summe überließ er die Ausbeutung seines Grundbesitzes einigen Generalpächtern oder »Middlemen«, die diesen in kleinen Parcellen an die eigentlichen Landbauern weiter verpachteten. So gehörte die Farm von Kerwan mit vielen andern eigentlich einem gewissen John Eldon, einem Agenten des Herzogs von Rockingham.

Diese Farm von mittlerem Umfang enthält nur hundert Acres und dazu besteht sie aus minderwerthigem, vom Oberlauf des Cashen benetztem Culturlande, dem der Bauer nur mit emsiger Arbeit so viel entlocken kann, wie er zur Zahlung des Pachtzinses braucht, vorzüglich, wenn dieser sehr hoch, mit einem Pfund Sterling jährlich für den Acre, angesetzt ist.

[92] Das war der Fall bei der Farm von Kerwan, die der Landmann Mac Carthy bearbeitete.

Es giebt wohl auch gute Grundherren in Irland; die Pächter haben es aber nur mit den Middlemen, meist harten, unerbittlichen Leuten, zu thun. Die Aristokratie, die sich in England und Schottland so liberal zeigt, tritt in Irland dagegen sehr herrisch auf. Statt die Hand zu reichen, zerrt sie an den Zügeln. Eine Katastrophe liegt immer in der Luft. Wer den Haß säet, wird die Empörung ernten.

Martin Mac Carthy, einer der besten Farmer der ganzen Domäne, stand in dem kräftigen Mannesalter von zweiundfünfzig Jahren. Fleißig, gewandt, im Landbau wohlerfahren und unterstützt durch seine streng erzogenen Kinder, hatte er trotz aller Steuern und Abgaben, die das Budget eines irischen Bauern belasten, doch noch eine kleine Summe zurücklegen können.

Seine Frau hieß Martine, wie er Martin. Dieses überaus thätige Weib besaß alle Eigenschaften einer guten Haushälterin. Sie arbeitete mit ihren fünfzig Jahren noch, als ob sie deren erst zwanzig zählte. Im Winter aber, wenn die Feldarbeit ruhte, sah man sie beim schnurrenden Spinnrade vor dem Kamin sitzen, wenn keine häusliche Arbeit sie in Anspruch nahm.

Die in guter Luft lebende, durch Thätigkeit im Freien abgehärtete Familie Mac Carthy erfreute sich vortrefflicher Gesundheit und ruinierte sich weder durch Arzneien noch durch Aerzte. Sie gehörte zu der kräftigen Rasse irischer Landleute, die sich ebenso leicht in den Prairien des amerikanischen Far-West acclimatisiert, wie in den Gebieten Australiens oder Neuseelands.

Als Haupt der Familie galt, von allen geliebt und geehrt, die Mutter Martins, eine Greisin von fünfundsiebzig Jahren, deren Mann früher die Farm innehatte.

»Großmutter« – anders nannte man sie nicht – hatte keine andere Beschäftigung, als mit ihrer Schwiegertochter zu spinnen, da sie, so weit dies an ihr lag, ihren Kindern möglichst wenig zur Last fallen wollte.

Der älteste der Söhne, der siebenundzwanzigjährige, aber besser als sein Vater unterrichtete Murdock, nahm lebhaftesten Antheil an den Fragen, die ganz Irland unablässig bewegten, und alle fürchteten sehr, daß er sich einmal in eine schlimme Geschichte einlassen könne. Er gehörte zu den eifrigsten Anhängern des home rule, d. h. der Erkämpfung der Autonomie des Landes, ohne freilich zu bedenken, daß das home rule weit mehr auf politische, als auf sociale [93] Reformen abzielt. Gerade der letzteren bedarf aber Irland, da es noch unter der schweren Last der Feudalherrschaft seufzt.

Murdock, ein kräftiger junger Mann von schweigsamem Charakter, hatte unlängst die Tochter eines benachbarten Farmers geheiratet. Die von der Familie Mac Carthy geliebte, vortreffliche junge Frau besaß jene regelmäßige, stolze und ruhige Schönheit und die vornehme Haltung, die man bei Irländerinnen der unteren Classen so häufig findet. Ihr Gesicht wurde von großen blauen Augen belebt und lockig quoll das reiche blonde Haar unter den Kopfbändern hervor. Kitty liebte ihren Gatten herzlich, und Mardock, der sonst niemals lächelte, vergaß sich hierin zuweilen doch, wenn er sie ansah, denn auch er bewahrte ihr die innigste Zuneigung. Sie benützte ihren Einfluß auch, ihn zu mäßigen und zurückzuhalten, wenn ein Sendbote der Nationalisten Propaganda im Lande zu machen und die Leute zu überzeugen sachte, daß von einer Versöhnung zwischen Landlords und Pächtern nie die Rede sein könne.

Selbstverständlich waren die Mac Carthy's gute Katholiken, es kann also nicht auffallen, daß sie die Protestanten als ihre Feinde betrachteten. 1

Murdock besuchte eifrig alle solche Versammlungen, und Kittys Herz klopfte immer recht ängstlich, wenn sie ihn so nach Tralee oder einem andern Orte in der Nachbarschaft gehen sah. Bei diesen Gelegenheiten sprach er auch öffentlich mit der den Irländern angebornen Beredtsamkeit, und Kitty mußte ihn bei der Heimkehr immer erst zu beruhigen suchen, wenn sie die Erregung noch in seinen Zügen las und er unter einem gemurmelten Aufrufe zur agrarischen Erhebung wohl gar noch mit dem Fuße stampfte.

»Mein guter Murdock, sagte sie dann bittend, wir müssen Geduld haben... uns vorläufig ins Unabänderliche fügen...

– Geduld! unterbrach er sie grollend, wenn Jahre dahingehen und nichts sich bessert! Ergebung, wenn man thätige Leute wie unsre Großmutter nach langem Leben voller Arbeit noch immer im Elend schmachten sieht! Geduldig sein und sich fügen, arme Kitty, bedeutet, alles ruhig hinnehmen, das Gefühl eignen Rechtes verlieren, sich unters Joch ducken und das.. das thu' ich niemals... niemals!«

[94] Martin Mac Carthy hatte noch zwei andre Söhne, Pat oder Patrick, und Sim oder Simeon, im Alter von fünfundzwanzig und von neunzehn Jahren.

Pat segelte meist als Matrose auf einem Handelsschiffe des angesehenen Hauses Marcuart in Liverpool. Sim hatte, wie Murdock, die Farm niemals verlassen, und ihr Vater fand an beiden wichtige Helfer für die Feldarbeit und die Pflege der Thiere. Sim gehorchte ohne Widerspruch seinem älteren Bruder, dessen Ueberlegenheit er neidlos anerkannte. Er bezeugte ihm so viel Achtung, als ob jener das Haupt der Familie wäre. Als letzter Sohn, als »Nesthäkchen«, mit besondrer Liebe aufgezogen, neigte er zu der harmlosen Lustigkeit, die allgemein im Charakter des Irländers liegt. Er liebte es, zu scherzen, zu lachen und verbreitete Sonnenschein in dem sonst etwas düstern Hause. Sehr muthwilliger Natur, unterschied er sich auffallend von dem gesetzten, ernsthaften Wesen seines Bruders Murdock.

Das war also die fleißige Familie, in deren Mitte der Findling durch Zufall gekommen war. Seinem lebhaften Geiste konnte der Unterschied zwischen dem erbärmlichen Leben in der Lumpenschule und dem gesunden Aufenthalt in einer irländischen Farm nicht unbemerkt bleiben. Wohl hatte unser Held mehrere Wochen behaglichen Wohlbefindens bei der launenhaften Miß Anna Walston verlebt, dort aber nicht die wahre herzliche Zuneigung gefunden, die das Leben am Theater überhaupt mehr oder weniger am Aufkeimen zu hindern pflegt.

Die gesammten Baulichkeiten des Mac Carthy'schen Pachtgutes beschränkten sich nur auf das unbedingt nothwendige. Viele Güter in den reichen Grafschaften des Vereinigten Königreichs sind in ganz andrer und luxuriöserer Weise ausgestattet. Uebrigens verleiht ja der Farmer erst der Farm den Werth, und deren Umfang ist nicht von so entscheidender Bedeutung, wenn sie nur einsichtig bewirthschaftet wird. Martin Mac Carthy gehörte also nicht zu der begünstigteren Classe der »Yeomen«, die kleine Bodeneigenthümer sind, sondern nur zu den zahlreichen Pächtern des Herzogs von Rockingham, so zu sagen: zu den Hunderten von landwirthschaftlichen Maschinen, die auf dem ausgedehnten Grundbesitz der reichen Landlords in Thätigkeit sind.

Das Hauptgebäude, das aus Mauerwerk mit Strohdach bestand, enthielt nur ein Erdgeschoß, worin die Großmutter, Martin und Martine Mac Carthy und Murdock mit seiner Frau je ein Zimmerchen bewohnten. Dazu kam ein größerer Raum mit weitem Kamin, der die Insassen des Hauses bei den Mahlzeiten vereinigte. Darüber lag, zwischen Kornböden, eine von zwei Fensterchen erhellte Mansarde, wo Sim und auch Pat, wenn dieser einmal da war, Unterkunft fanden.


In der Mitte glänzte eine Wasserfläche. (S. 97.)

An der einen Seite der Rückwand des Wohnhauses folgten die Tenne. die Scheuern und Schuppen zur Unterbringung der Acker- und Wirthschaftsgeräthe; an der andern der Kuh- und der Schafstall, die Milchkammer, der Schweinestall und der Geflügelhof.


[95]
Nachdem die Farmersleute abgestiegen waren. (S. 102.)

Infolge nicht rechtzeitig vorgenommener Verbesserungen zeigte freilich alles ein recht klägliches Aussehen. Da und dort verdeckten einzelne Bretter verschiedener [96] Herkunft, Thürflügel, überflüssige Fensterläden, Planken von alten Schiffen, von deren Abbruch herrührende kleine Balken oder Zinkblechstücke die Lücken und Löcher der Mauern, und auf dem Strohdache lagen schwere Feldsteine. um dieses gegen den Anprall der Stürme zu sichern.

Zwischen den drei Gebäudecomplexen dehnte sich der Hof mit zweiflügligem Thorweg aus. Eine lebende, reich mit leuchtenden Fuchsien geschmückte Hecke bildete dessen Abschluß. Im Innern des Hofes grünte ein Rasenplatz mit üppigen Gräsern auf dem sich die Hühner tummelten, und in dessen Mitte glänzte eine [97] kleine Wasserfläche, deren Rand Azaleen, goldgelbe Margueriten und halb verwilderte Asphodelen zierten.

Auf den Strohdächern grünte und blühte es übrigens rings um die Feldsteine nicht weniger als auf dem Rasen und der Hecke, vorzüglich gediehen hier unzählige Fuchsien mit ihren vom Winde immer bewegten Glöckchen. Selbst die zersprungenen Mauern des Wohnhauses entbehrten des Pflanzenschmuckes nicht, denn diese verhüllte ein so starkstämmiges Epheugerank, daß letzteres das Dach desselben allein getragen hätte.

Zwischen dem eigentlichen Ackerland und dem Pachthofe lag noch ein Küchengarten, worin Martin den Hausbedarf an Gemüsen anbaute, vorzüglich Kohl, Rüben und Kartoffeln, und das Gartenland umsäumte wieder ein Kranz von Bäumen und Buschwerk aller Art.

Hier wucherten kräftige Stechpalmen mit ihren stachligen, leuchtend grünen Blättern, die seltsam geformten Muscheln ähneln; dort erhoben sich wild wachsende Taxusbäume, denen keine unnütze Scheere die Gestalt von Weinflaschen oder Lampenträgern gegeben hatte. In Flintenschußweite zur Linken stand ein Wald von Eschen, und die Esche bildet einen der schönsten Bäume dieser Gegenden. Weiterhin mischen sich tiefgrüne Buchen ein, stellenweise unterbrochen von der Purpurfarbe hoher Büsche, der Ebereschen, die von ferne Weinstöcken gleichen, an deren Reben korallene Trauben hingen. Kaum drei Meilen von hier erhebt sich schon der Erdboden unter den letzten Ausläufern der Clanaraderrykette, mit harzreichem Fichtenbestand, dessen Zapfen an den Gaisblattranken zu hängen scheinen, die sich überall durch das Geäst der Bäume schlingen.

Der Betrieb der Farm von Kerwan erfordert ziemlich verschiedene Culturen, giebt im ganzen aber nur einen mittelmäßigen Ertrag. Die Weizenfrucht, die in der Hauptsache zu Grütze vermahlen wird, zeichnet sich weder durch Länge der Halme, noch durch Ergiebigkeit der Aehren aus. Der Hafer ist mager und schwächlich, was hier um so schlimmer erscheint, als das Hafermehl fortwährend verwendet wird. Besser gedeihen noch Gerste und Roggen, welch letzterer den größten Theil des Brodes liefert. Bei der Rauhigkeit des Klimas können aber auch diese Feldfrüchte vor October oder November selten geerntet werden.

Unter den im Großen angebauten Gemüsen, wie den Rüben und dem starkhäuptigen Kohl, nehmen die Kartoffeln den ersten Rang ein, die, vorzüglich in den minder begünstigten Theilen Irlands, die eigentliche Volksnahrung ausmachen. Man fragt sich wirklich, wovon die Landleute wohl gelebt haben mögen [98] ehe Parmentier die werthvolle Knollenfrucht auf der Insel einführte. Vielleicht hat die Kartoffel freilich die Bauern etwas sorgloser gemacht, da diese auf die Ausbeute an solchen rechnen, wodurch sie vor Hungersnoth geschützt bleiben, so lange nicht gar zu ungünstige Verhältnisse eintreten.

Wenn die Erde die Thiere ernährt, so tragen diese auch wieder zur Ernährung der Erde bei. Ohne sie ist kein Anbau möglich. Die einen dienen zur Arbeit mit Pflug und Egge, die andern liefern Eier, Fleisch und Milch, alle aber die nöthige Düngung für den Acker. Zur Farm von Kerwan gehörten auch sechs Pferde, und doch reichten sie, als Zwei- oder Dreigespann verwendet, kaum aus, die Pflugschaar durch den steinigen Boden zu ziehen. Standen sie auch nicht verzeichnet im »Stud-book«, der Adelsrolle der Pferdefamilien, so leisteten sie doch die besten Dienste und begnügten sich mit trocknem Heidekraut, wenn's einmal an besserem Futter mangelte. Ein Esel leistete ihnen Gesellschaft, und diesem konnte es nimmer an Disteln fehlen, deren es hier in solchen Mengen giebt, daß alle dahin zielenden Verordnungen die Vertilgung dieser wuchernden Pflanze nicht erzwingen werden.

Unter dem Stallvieh gab es ein halbes Dutzend schöne, rothhaarige Milchkühe und gegen hundert schwarzköpfige Schafe mit sehr weißer Wolle, deren Unterhaltung im Winter, wo fußtiefer Schnee die Fluren bedeckt, mit vielen Schwierigkeiten verknüpft ist. Weniger gilt das von den zwanzig Ziegen, die der Farmer besaß und denen man es mehr selbst überlassen konnte, sich Nahrung zu suchen. Gab es kein Gras, so fanden sie noch immer Blätter, die auch der strengsten Kälte widerstanden.

Ein Dutzend Schweine barg ein besondrer Stall an der rechten Hofseite; diese wurden für den eignen Bedarf gemästet. Der Farmer betrieb nämlich die Aufzucht solcher nicht, obgleich von Limerick sehr viele Schinken versendet werden, die denen von York an Güte gleichkommen und auch unter dieser Marke im Handel sind.

Hühner, Gänse und Enten gab es so viel, daß noch Eier nach dem Markte von Tralee geliefert werden konnten, Truthühner und Haustauben aber nicht, und diese findet man in den Bauernhöfen Irlands überhaupt nur selten.

Auch eines Hundes müssen wir gedenken, eines schottischen Terriers, der zur Bewachung der Schafheerde diente. Einen Jagdhund gab es hier nicht, trotz des Wildreichthums der Gegend. Die Jagd ist ja nur ein Vergnügen der Landlords. Der sehr hohe Preis für den Jagdschein, der der britischen Staatscasse [99] zufällt, und die Taxe für Berechtigung zum Halten eines Jagdhundes, verbieten sie dem kleinen Manne schon allein.

Das war das Pachtgut von Kerwan, das ziemlich isoliert innerhalb einer Schleife des Cashenflusses und fünf Meilen von der Parochie Silton entfernt lag. In der Grafschaft gab es gewiß noch schlechteren Boden, leichtes, kieselreiches Land, das keine Düngung festhält und wo der Pachtschilling nicht einmal eine Krone (noch nicht fünf Mark) für den Acre beträgt; der Grund und Boden Martin Mac Carthy's war aber auch höchstens von mittlerer Güte.

Jenseits des angebauten Gebietes dehnten sich unfruchtbare, sumpfige Ebenen aus, da und dort bedeckt mit Stechginster oder mit wilden Rosen, zwischen denen wucherndes Haidekraut blühte. Ueber den Fluren flatterten in dichten Schwärmen Krähen umher, die nach den eingesäeten Körnern suchten, oder Völker von großschnäbligen Sperlingen, die die neugebildeten Getreidekörner, zum argen Schaden für die Pächter auspicken.

Noch weiter hinaus stiegen stille Wälder von Birken und Lärchenbäumen auf, die in den steilen Abhängen der Berge wurzelten und die von den Winterstürmen, welche durch das schmale Thal des Cashen jagen, oft mit unheimlicher Gewalt geschüttelt und zerzaust werden.

Im Ganzen bildet diese Grafschaft Kerry ein merkwürdiges Land, das die Aufmerksamkeit der Touristen mit seinen Amphitheatern bewaldeter Höhen, seinen überraschenden Fernsichten, die durch die hyperboräischen Nebeldünste eher verfeinert erscheinen, entschieden mehr verdiente, als bisher.

Ein hartes, schlimmes Land ist es nur für die, die es bewohnen, eine knauferische Stiefmutter für die, die es bebauen.

Doch wenn nur die Ernte an Kartoffeln, der wirklichen Brodfrucht der Insel, in Kerry und den andern Grafschaften nicht versagt. Wenn das aber auf der Million dem Knollenbau eingeräumten Acres eintrifft, dann bedeutet es den Hunger mit allen seinen Schrecken. 2

Wenn der fromme irische Bauer sein God save the Queen gesungen hat, dann sollte er es wirklich vervollständigen durch ein:


»God save the potatoes!«

Fußnoten

1 Das ist die allgemeine Anschauung bei den Irländern, die indeß mit Parnell eine »Ausnahme machten, als dieser »nicht gekrönte König Irlands« – wie man ihn nannte – einige Jahre später (1879) die zum Zwecke der agrarischen Reform gegründete »National Land Leage« leitete.

2 Eine solche Hungersnoth herrschte 1740 bis 1741 und tödtete 400.000 Irländer, weiter 1847, wo eine halbe Million Bewohner aus Entbehrung umkam und eine gleiche Zahl aus Verzweiflung den schmerzlichen Entschluß faßte, nach der Neuen Welt überzusiedeln.

9. Capitel
Neuntes Capitel.
Die Farm von Kerwan. (Fortsetzung).

Am 20. October, nachmittags gegen drei Uhr, erschollen auf der nach der Farm von Kerwan führenden Straße laute Jubelrufe.

»Da kommt der Vater!

– Da ist die Mutter!

– Nun sind sie ja beide zurück!«

Kitty und Sim waren es, die Martin und Martine Mac Carthy schon von weither begrüßten.

»Guten Tag, Kinder! sagte Martin.

– Guten Tag, meine Söhne!« rief Martine, die in das Wörtchen »meine« ihren ganzen mütterlichen Stolz legte.

Der Farmer und seine Gattin hatten Limerick heute Morgen frühzeitig verlassen. So einige dreißig (englische) Meilen bei schon recht kühlem Herbstwind zurückzulegen, hat schon etwas auf sich, zumal wenn das mittelst eines »Jauntingcar« geschieht.

Das Gefährte wird »Car« genannt, weil es ein Wagen ist, und die nähere Bezeichnung durch das Beiwort »Jaunting« erhält es, weil seine Passagiere, Rücken gegen Rücken, auf zwei in der Längenachse des Fuhrwerks angebrachten Bänken sitzen. Man braucht sich nur die Ruhebänke in städtischen Parkanlagen verdoppelt und auf ein paar Rädern befestigt vorzustellen, wozu man noch je ein Brett als Fußstütze für die zu befördernden Personen zu denken hat, die sich an die Gepäckstücke hinter ihnen anlehnen, so hat man den in Irland am meisten gebräuchlichen Wagen. Wem er auch nicht sehr vortheilhaft erscheint, weil man davon nur nach je einer Seite Aussicht hat, und nicht sehr comfortabel, weil er ganz ohne Dach ist, so rollt er wenigstens ziemlich flott dahin und sein Kutscher entwickelt meist ebensoviel Geschicklichkeit wie Schnelligkeit.

So konnte es nicht wundernehmen, daß Martin und Martine Mac Carthy, die gegen sieben Uhr früh von Limerick abgefahren waren, gegen drei Uhr in Sicht des Pachthofs eintrafen. Sie befanden sich auf dem Jaunting-car auch [101] nicht allein, denn dieser brachte wohl noch zehn andre Personen mit. Nachdem die Farmersleute abgestiegen waren, rollte das Gefährt in schnellem Trabe nach dem Hauptorte der Grafschaft Kerry weiter.

Eben trat Murdock aus seinem an der Hofecke gelegenen Zimmer, wo die Nebengebäude der rechten Seite an das Wohnhaus stießen.

»Ihr habt eine glückliche Fahrt gehabt, Väterchen? fragte die junge Frau, nachdem sie Martine umarmt hatte.

– Eine sehr gute Fahrt, Kitty.

– Fandet Ihr auf dem Markte in Limerick die gewünschten Kohlpflanzen? erkundigte sich Murdock.

– Ja, mein Sohn; morgen sollen sie uns zugeschickt werden.

– Und auch den Rübensamen?...

– Gewiß; sogar von bester Sorte.

– Das ist gut, Vater.

– O, wir fanden auch noch eine andre Art Samen....

– Welche denn?

– Ein... Babysamenkorn, das uns von bester Sorte erschien.«

Murdock und sein Bruder machten große Augen, als sie das Kind bemerkten, das ihre Mutter in den Armen hielt.

»Da habt Ihr ein Knäblein, sagte sie, in Erwartung, daß Kitty uns einen kleinen Kameraden dazu schenkt.

– Er ist ja ganz erfroren, der Kleine! antwortete die junge Frau.

– Ich hab' ihn aber während der Fahrt in meinen Tartan (eine Hülle von großwürfeligem Wollenstoff) eingewickelt, so gut ich konnte, versicherte die Farmersfrau.

– Schnell, schnell, drängte Martin, wir wollen ihn vor dem Kamine wieder warm machen und auch die Großmutter begrüßen, die darauf warten wird.«

Kitty nahm den kleinen Knaben aus den Händen Martines, und bald war die ganze Familie in dem großen Mittelzimmer versammelt, wo die Großmutter auf einem alten gepolsterten Armstuhle saß.

Man zeigte ihr das Kind. Sie nahm es in die Arme und setzte sich's auf die Knie.

Der Kleine ließ es sich gefallen. Seine Blicke wanderten von einem zum andern. Er verstand nicht, was mit ihm vorging. Jedenfalls glich das Heute [102] nicht dem Gestern. War alles nur ein Traum? Er sah hübsche Gesichter, junge und alte um sich. Seit seinem Erwachen hatte er nur liebevolle Worte gehört. Die Fahrt auf dem schnell durch das Land hineilenden Wagen war ihm eine Zerstreuung gewesen. Gute Luft und der Morgenduft der Blumen und Büsche füllten seine Brust. Eine kräftige Suppe vor der Abfahrt hatte ihn gestärkt und unterwegs hatte er, immer an kleinen Kuchen aus der Tasche Martines nagend, erzählt, was er von seinem Leben wußte, von dem Aufenthalt in der abgebrannten Lumpenschule, von der Freundlichkeit Grips, dessen Name sehr oft über seine Lippen kam, ferner von Miß Anna, die ihn ihren Sohn genannt hatte und doch gar nicht seine Mutter war, weiter von einem sehr erzürnten Herrn, den sie den Herzog nannten, dessen Namen er aber vergessen hatte und der ihn mit wegnehmen wollte, endlich von seinem Verlassensein und wie er sich allein auf dem Friedhofe von Limerick befunden habe. Martin Mac Carthy und seine Frau verstanden von der ganzen Geschichte nicht viel, außer daß er weder Eltern noch Angehörige hatte, und daß er ein verlassenes kleines Geschöpf sei, das die Vorsehung ihrer treuen Sorge anvertraut hatte.

Gerührt umarmte ihn die Großmutter und dann auch die andern, deren Theilnahme für ihn erwachte.

»Ja, wie heißt er denn? fragte die Großmutter.

– Er konnte uns keinen andern Namen als »Findling« angeben, antwortete Martine.

– Na, er braucht keinen andern, meinte Martin; wir rufen ihn ebenso, wie er bis jetzt gerufen wurde.

– Wenn er aber einmal groß wird?... warf Sim ein.

– So bleibt er nach wie vor der Findling!« erklärte die Großmutter, die ihn mit einem herzhaften Kusse taufte.

Das war also der Empfang, den unser Held beim Eintreffen auf dem Pachthofe fand. Man nahm ihm die Lumpen ab, die er für die Rolle des Sib angelegt bekommen hatte. Dafür erhielt er die letzten Kleidungsstücke Sims, die dieser. als er im gleichen Alter war, getragen hatte und die zwar nicht neu, aber doch reinlich und warm waren. Seine Wollenjacke ließ man ihm, da er auf diese, obgleich sie allmählich zu egg wurde, viel zu halten schien.

Dann aß er, auf hohem Stuhle sitzend, mit der Familie und fragte sich, ob das alles nicht auch bald verschwinden würde. Doch nein, die Hafersuppe, die in reichlich vollem Teller vor ihm stand, verschwand nicht, auch nicht das [103] Stück Speck mit Kohl, wovon er ein gutes Theil erhielt, ebensowenig der Eierkuchen, der unter allen redlich vertheilt wurde und den man hier mit einem Schluck ausgezeichneten »Potheens« begoß, welchen der Farmer ans der eignen Gerste durch Gährung herstellte.

Das war ein Schmaus, zumal da das Knäblein nur fröhliche Gesichter sah, außer vielleicht an dem ältesten Bruder, der immer ernst, ja fast etwas traurig erschien. Da wurden ihm die Augen feucht und Thränen glitten seinen Wangen hinab.

»Was fehlt Dir, Findling? fragte Kitty.

– Ei, warum denn weinen! setzte die Großmutter hinzu. Hier werden Dir alle gut sein!

– Und ich besorge Dir auch Spielzeug, versprach Sim.

– Ich weine ja nicht, antwortete er. Das sind keine Thränen!«

Wirklich war es nur das Herz, das dem armen Kleinen überlief.

»Nun, heute mag's gut sein, erklärte Martin, doch gar nicht zürnenden Tones, ich sage Dir aber, mein Junge, daß es hier verboten ist, zu weinen.

– Ich werd' es auch nicht mehr thun!« versicherte er, in die ausgestreckten Arme der Großmutter hinübergleitend.

Martin und Martine bedurften der Ruhe. Auf der Farm legte man sich im allgemeinen zeitig nieder und stand sehr früh des Morgens auf.

»Wo werden wir das Kind denn unterbringen? fragte der Farmer.

– In meiner Stube, meldete sich Sim; ich trete ihm, wie einem kleinen Bruder, die Hälfte meines Bettes ab.

– Nein, Kinder, erklärte die Großmutter. Laßt ihn bei mir schlafen, er wird mich nicht belästigen. Da kann ich ihn schlummern sehen, und das wird mir eine Freude sein.«

Ein Wunsch der Großmutter fand nie auch nur einen Schatten von Widerspruch. Neben deren Bett wurde also, wie sie es verlangt hatte, eine Lagerstatt hergerichtet und der kleine Knabe sogleich hineingelegt.

Weißes Bettzeug und eine gute Decke hatte er schon kennen gelernt in den wenigen Wochen, wo er im Royal-George-Hôtel im Zimmer der Miß Anna Walston wohnte. Die Zärtlichkeiten der Schauspielerin wogen aber die dieser achtbaren Familie nicht auf. Gewiß bemerkte er darin schon einigen Unterschied, vorzüglich als ihm die Großmutter beim Niederlegen einen herzlichen Kuß gab.

[104] »Ach, ich danke... ich danke!« murmelte er.

Das war heute sein einziges Nachtgebet, und jedenfalls kannte er auch kein andres.


Hat er mit dem Langohr fast Freundschaft geschlossen. (S. 109.)

Man stand jetzt im Anfang der kalten Jahreszeit. Die Ernte war eben hereingebracht. Außerhalb des Pachthofes gab es wenig oder nichts zu thun. In diesen rauhen Gegenden findet die Einsaat des Korns, der Gerste und des Hafers nicht mit beginnendem Winter statt, weil dessen Länge und Strenge sie wie der vernichten könnte. Das ist Sache der Erfahrung. Martin Mac Carthy [105] pflegte hier den März und sogar den April abzuwarten, ehe er mit der sorgfältig gewählten Saat begann. Dabei hatte er sich bisher gut gestanden. Furchen in einem Boden zu ziehen, der bis auf mehrere Fuß Tiefe friert, das wäre eine ebenso harte wie unnütze Arbeit gewesen; da hätte er die Samenkörner auch auf einen sandigen Strand oder auf die Felsen der Küste verstreuen können.

Immerhin fehlte es im Pachthofe nicht an Arbeit. Galt es doch, die Vorräthe an Gerste und Hafer auszudreschen und an Geräthen auszubessern, was schadhaft geworden war. Der Findling konnte sich schon am folgenden Tage von der hier herrschenden Geschäftigkeit überzeugen und versuchte auch vom frühen Morgen an selbst, sich nützlich zu machen. So begab er sich nach den Viehställen. Jetzt nahe am Ende des sechsten Lebensjahres, mußte er doch, wenigstens im Stande sein, Gänse oder Kühe, ja auch Schafe zu hüten, wenn er einen guten Hund zur Seite hatte.

Beim Frühstück und vor einer Tasse warmer Milch sitzend, bot er sich zu einer solchen Dienstleistung an.

»Schön, mein Junge, antwortete Martin, Du willst arbeiten. Recht so. Man muß sich sein Brod verdienen....

– Und ich werd' es mir verdienen, Herr Martin, versicherte er.

– Er ist ja noch gar so jung, bemerkte die Großmutter.

– Das thut nichts, Madame....

– Ei was, nenne mich Großmutter!

– Nun gut... das thut nichts, Großmutter. Ich will so gern arbeiten....

– Und wirst auch hübsch thätig sein, fiel Murdock ein, den ein so entschlossener Charakter bei einem bisher vom Unglück verfolgten Kinde in Erstaunen setzte.

– Ich danke, Herr Murdock!

– Ich werde Dir lehren, die Pferde zu besorgen, fuhr Murdock fort, und auch darauf zu reiten, wenn Du keine Angst hast....

– O, so gern! jubelte der Knabe.

– Und ich, ich lehre Dir die Kühe zu pflegen, ließ Martine sich vernehmen, und sie zu melken, wenn Du Dich nicht vor ihren Hörnern fürchtest.

– Nein, gar nicht, Frau Martine!

– Ich zeige Dir dann, fiel Sim ein, wie man auf dem Felde die Schafe hütet....

– Ich freue mich schon darauf!

– Kannst Du lesen? fragte der Farmer.

[106] – Ein wenig, und auch ein bischen große Buchstaben schreiben.

– Und rechnen?

– Ja... ich kann bis hundert zählen, Herr Martin.

– Na, sagte Kitty lächelnd, ich werde Dir bis tausend zählen und auch kleine Buchstaben schreiben lehren.

– Ich danke, liebe Frau Kitty!«

Das Kind war thatsächlich zu allem bereit, was man ihm vorschlug. Der Kleine wollte sich offenbar dankbar beweisen für die Wohlthaten, die er bei den wackern Leuten schon genoß und noch zu genießen hoffte. Der kleine Diener der Farm zu werden, dahin strebte zunächst sein Ehrgeiz. Ein Zeugniß für den von Natur ernsten Sinn des Knaben lieferte aber die Antwort, die er dem Farmer gab, als dieser ihn lachend fragte:

»Ei, Findling, Du wirst uns ja ein schätzbarer Helfer sein!... Die Pferde, die Kühe, die Schafe... ja, wenn Du alles besorgst, bleibt ja für uns gar nichts zu thun übrig. Wie viel verlangst Du denn Lohn?

– Lohn?...

– Nun ja; Du wirst doch nicht ganz für nichts und wieder nichts arbeiten wollen?

– Nein, das nicht, Herr Martin.

– Wie? rief Martine verwundert, außer der Wohnung, Nahrung und Bekleidung verlangt er auch noch Bezahlung....

– Ja, Frau Martine!«

Alle sahen den Knaben an; es schien ihnen, als ob er etwas ganz ungeheuerliches ausgesprochen hätte.

Murdock, der ihn beobachtet hatte, bemerkte aber:

»Laßt ihn doch sich erst erklären!

– Freilich, meinte die Großmutter. Sag' uns frei heraus, was Du verdienen willst. Baares Geld?...«

Der Findling schüttelte den Kopf.

»Nun... vielleicht eine Krone für den Tag? sagte Kitty.

– Ach nein, Frau Kitty.

– Oder monatlich so viel?... fuhr die Pächtersfrau fort.

– Frau Martine!...

– Also wohl jährlich? meinte Sim, laut auflachend. Eine ganze Krone Jahreslohn....

[107] – Nun, was willst Du denn, lieber Junge? begann Murdock wieder. Ich begreife, daß Du Dir Deinen Lebensunterhalt verdienen willst, ganz wie wir. So wenig man auch empfängt, es sammelt sich endlich doch. Was willst Du also?... Einen Penny... einen Copper täglich?...

– Nein, Herr Murdock!

– So erkläre Dich doch!

– Nun, Herr Martin, Sie geben mir jeden Abend einen Kieselstein...

– Was? Einen Kiesel? rief Sim überrascht. Willst Du Schätze in Kieseln sammeln?...

– Nein... doch es wird mir Vergnügen machen, und nach Jahren einmal, wenn ich groß bin und Sie mit mir zufrieden waren...

– Richtig, Findling, fiel Martin ein, da vertauschen wir Deine Kieselsteine mit Pence oder Schillingen!«

Alle lobten den Kleinen wegen seiner guten Idee, und noch an demselben Abend gab ihm Martin einen Kiesel aus dem Bette des Cashen, der an solchen unerschöpflich war. Der Kleine aber legte ihn in einen alten Steinguttopf, den die Großmutter ihm als Sparbüchse zugewiesen hatte.

»Ein sonderbares Kind!« sagte Murdock zu seinem Vater.

Gewiß, doch dessen gute Natur hatte keinen Schaden erlitten, weder durch die herzlose Behandlung Thornpipe's, noch durch die schlechten Beispiele in der Lumpenschule. Als die Pächterfamilie ihn im Laufe einiger Wochen näher kennen lernte, traten seine natürlichen Eigenschaften nur noch mehr zutage. Ihm fehlte nicht einmal die Heiterkeit, der Grundzug des Nationalcharakters, den man in Irland auch bei den ärmsten Leuten ausgeprägt findet. Dann gehörte er auch nicht zu dem Schlage von Jungen, die den ganzen Tag lang nur herumlungern, deren Augen hierhin und dahin gehen, da sie durch jede Fliege, jeden Schmetterling abgelenkt werden. Immer sah man ihn überlegt, stets sachte er den suchen auf den Grund zu gehen und sich durch Befragung andrer zu unterrichten. Seinen Blicken entging auch nicht das geringste. Er hob jede Stecknadel ebenso auf, wie er einen Schilling aufgehoben hätte. Seine Kleidung hielt er stets reinlich und alles in musterhafter Ordnung. Der Sinn für diese war ihm angeboren. Er antwortete höflich, wenn man ihn fragte, und ließ sich jede erhaltene Antwort erklären, wenn er sie nicht ganz verstanden hatte. Gleichzeitig machte er im Schreiben sichtliche Fortschritte. Das Rechnen schien ihm sehr leicht zu fallen und dabei gehörte er nicht zu den frühreifen Wunderkindern die [108] später so oft nicht halten, was sie versprachen; er brachte aber Berechnungen im Kopfe fertig, bei denen viele andre zur Feder gegriffen hätten. Zu seinem wahrhaften Erstaunen erkannte Murdock auch, daß der Kleine sich bei allen Handlungen nur von seiner hochentwickelten Vernunft leiten ließ.

Dank den Lehren der Großmutter eignete er sich auch schnell die Gebote der Religion an, wie sie die katholische Lehre vorschreibt und die alle tief im Herzen jedes Irländers wurzeln. Jeden Tag verrichtete er sein Morgen- und sein Abendgebet mit aufrichtiger Innigkeit.

Der Winter verstrich – ein sehr kalter Winter mit vielen Stürmen, die oft erschreckend durch das Thal des Cashen brausten. Ost fürchtete man, daß die Strohdächer abgerissen oder daß die Lehmwände nicht Stand halten würden. Von dem Middleman John Eldon Reparaturen zu verlangen, wäre ganz nutzlos gewesen. Martin Mac Carthy und seine Kinder mußten sich eben selbst zu helfen suchen. Neben dem Ausdreschen des Getreides nahm sie das am meisten in Anspruch: hier war ein Stück Strohdach wieder herzustellen, dort eine Mauer zu dichten und an vielen Stellen die Einfriedigung zu stützen.

Inzwischen arbeiteten die Frauen in verschiedener Weise; die Großmutter spann fleißig in der Nähe des Kamins, Martine und Kitty besorgten die Ställe und den Geflügelhof, wobei sie der Findling nach Möglichkeit unterstützte. Er achtete genau auf alles, was den Betrieb der Wirthschaft anging. Zu jung, um schon mit Pferden umzugehen, hatte er mit einem grauen Langohr, einem gutmüthigen Thiere, fast Freundschaft geschlossen, die dieser ihm erwiderte. Er wollte, daß sein Esel ebenso sauber aussähe, wie er selbst, was ihm Martines besondre Anerkennung einbrachte. Bei den Schweinen wäre das freilich ein vergebliches Bemühen gewesen, so daß er darauf von vornherein verzichtete. Die Zahl der Schafe hatte er, nach sorgfältiger Feststellung derselben – mit 103 – in ein altes von Kitty erhaltenes Notizbuch eingetragen. Seine Neigung für eine solche Buchführung trat immer mehr hervor, und man hätte glauben können, daß ihm O'Bodkins in der Ragged-School diese übererbt habe.

Seine Peinlichkeit darin trat besonders hervor, als Martine eines Tags einige von den für den Winter aufbewahrten Eiern holen wollte.

Die Pächterin nahm etwa zwölf ohne Wahl heraus, als der Findling ihr zurief:

»Nicht diese, Frau Martine!

– Diese nicht?... Warum denn nicht?

[109] – Weil dadurch die gehörige Ordnung gestört würde.

– Welche Ordnung?... Sind denn diese Hühnereier einander nicht ganz gleich?

– Gewiß nicht. Sie haben das achtundvierzigste genommen, wo Sie beim siebenunddreißigsten hätten anfangen sollen. Sehen Sie nur hin.«

Wirklich entdeckte Martine da, daß jedes Ei eine Nummer auf der Schale trug, eine Nummer, die der kleine Knabe mit Tinte darauf geschrieben hatte. Da die Farmersfrau zwölf Eier haben wollte, mußte sie sie der Reihe nach entnehmen, d. h. vom siebenunddreißigsten bis mit dem achtundvierzigsten, nicht aber die Nummern achtundvierzig bis mit neunundfünfzig. Das that sie denn auch, nachdem sie das Knäblein für seinen Ordnungssinn belobt hatte.

Als sie die Sache beim Frühstück erwähnte, schlossen sich alle diesem Lobspruche an und Murdock fragte:

»Findling, hast Du denn auch die Hennen und die Küchlein im Hühnerstalle gezählt?

– O, gewiß!«

Damit zog er sein Notizbuch heraus.

»Es sind dreiundvierzig Hühner und neunundsechzig Küchlein darin.«

Darauf konnte sich Sim nicht enthalten zu bemerken:

»Du solltest auch zählen, wie viele Haferkörner in jedem Scheffel stecken....

– Scherzt darüber nicht! fiel Martin Mac Carthy ein. Das beweist, daß er Ordnung hält, und Ordnung im Kleinen bedeutet erst recht auch Ordnung im Großen und im ganzen Leben.«

Dann wendete er sich an das Kind.

»Und Deine Kiesel, fragte er, die Steine, die ich Dir jeden Abend gebe?...

– Die liegen in der Kruke, Herr Martin; ich habe schon siebenundfünfzig

– O, sagte die Großmutter lächelnd, das wären ja für ebenso viele Tage bereits siebenundfünfzig Pence, den Stein einen Penny gerechnet.

– He, Kleiner, scherzte Sim, für das Geld könntest Du Dir aber eine Menge Kuchen kaufen.

– Kuchen, Sim?... Ach nein, da würd' ich schöne Schreibhefte vorziehen!«

Das Ende des Jahres nahte heran. Auf den stürmischen November folgte eine sehr harte Kälte. Eine dichte Lage gefrorenen Schnees bedeckte die Erde, und für den Knaben war es ein entzückendes Bild, die Bäume im Schmuck [110] des Reifs und da und dort mit glitzernden Eiszapfen zu sehen. Auf den Scheiben der Fenster schlug sich die Feuchtigkeit in formenreichen Krystallen nieder, die hübsche Zeichnungen bildeten. Dazu war der Fluß ganz zugefroren und auf ihm lagerten übereinander gethürmt massige Schollen. Diese Winterbilder waren für ihn zwar nichts neues, denn er hatte sie auf den Landstraßen von Galway bis Claddagh wiederholt gesehen. Zu jener traurigen Zeit trug er aber kaum etwas auf dem Leibe und watete mit nackten Füßen durch den Schnee. Da thränten ihm die Augen und seine Hände wurden ihm rissig. lind wenn er dann in die Lumpenschule zurückkam, gab's für ihn kein Plätzchen am Ofen.

Wie glücklich fühlte er sich dagegen jetzt. Wie zufrieden verbrachte er seine Tage bei diesen einfachen Leuten, die ihn aber liebten! Fast schien es, als ob deren Zuneigung ihn noch mehr erwärmte, als seine Kleider, die ihn vor der eisigen Zugluft schützten, als die gesunde Nahrung, die auf den Tisch kam, mehr als die lodernden Flammen im Kamin. Jetzt, wo er sich schon etwas nützlich machte, fühlte er sich wie zum Hause gehörig. Hier hatte er eine Großmutter, eine Mutter, Brüder, Eltern.... Bei ihnen, so dachte er, wollte er sein ganzes Leben verbringen. Hier wollte er sich seinen Unterhalt verdienen, das war und blieb sein einziger Gedanke.

Wie freute er sich, zum ersten Male an dem Feste theilzunehmen, das im irischen Kirchenjahre fast als das heiligste gefeiert wird.

Es war der 25. December, Weihnachten, die Christmas. Der Findling wußte schon, welchem historischen Ereignisse die Feier galt, die alle Christen an diesem Tage veranstalten. Unbekannt war ihm aber, daß man im Vereinigten Königreich damit auch ein schönes Familienfest verband. Für ihn mußte das also eine Ueberraschung werden. Er bemerkte wohl am Morgen ungewöhnliche Vorbereitungen. Da die Großmutter, Martine und Kitty dieselben jedoch mit vollständiger Heimlichkeit betrieben, hütete er sich wohl, sie darüber zu fragen.

Jedenfalls wurde er veranlaßt, die besten Kleider anzulegen, was Martin Mac Carthy und seine Söhne, die Großmutter, deren Tochter und Kitty schon sehr frühzeitig gethan hatten, um nach der Kirche in Silton zu fahren. Sie behielten den Staat auch den ganzen Tag über an. Dazu kam, daß das Mittagsessen heute für zwei Stunden später angesetzt und es fast schon Nacht war, als der Tisch im großen Zimmer mit einem Reichthum an Licht, der geradezu blendend wirkte, hergerichtet wurde. Ferner gab es ganz besonders ausgewählte Speisen und deren gar noch drei oder vier Gerichte mehr als gewöhnlich. Hierzu wurde schäumendes [111] Bier aufgetragen und ein Ungeheuer von Kuchen, den Martine und Kitty nach einem schon sehr lange Zeit in der Familie aufbewahrten Recepte hergestellt hatten.

Daß tüchtig gegessen und getrunken wurde, versteht sich ja von selbst. Alle waren höchst aufgeräumt. Selbst Murdock ließ sich weit mehr gehen, als er das sonst zu thun pflegte. Wenn die andern laut auflachten, lächelte er freilich nur, und ein Lächeln von ihm glich einem Sonnenstrahl im Nebel.

Am meisten freute sich der Findling über den auf dem Tische stehenden Christbaum, eine Tanne mit Bänderschmuck und mit Lichtsternen, die zwischen den Zweigen funkelten.

Da sagte die Großmutter zu ihm:

»Sieh nur auch unter die Zweige, Kleiner; ich glaube, da findet sich noch etwas für Dich!«

Der Findling ließ sich darum nicht bitten; doch wie beglückt fühlte er sich, wie rötheten sich seine Wangen vor Vergnügen, als er unter dem Baume ein schönes irländisches Messer mit an einem Ledergürtel befestigter Tragkette entdeckte.

Das war das erste Weihnachtsgeschenk, das er je erhalten hatte, und wie stolz fühlte er sich, als Sim ihm half, den Ledergurt um die Hüften zu schnallen.

»Ach, herzinnigen Dank, Großmutter, herzlichen Dank allen... allen!« rief er jubelnd, während er von einem zum andern ging.

10. Capitel
Zehntes Capitel.
Was sich in Donegal zugetragen hatte.

Wir dürfen jetzt nicht unerwähnt lassen, daß dem Farmer Mac Carthy der Gedanke gekommen war, wegen des Civilverhältnisses seines Adoptivkindes Nachforschungen anzustellen. Bekannt war dessen Lebensgeschichte ja nur seit dem Tage, wo gute Menschen den Knaben der schlechten Behandlung des Puppenschaustellers entzogen. Bezüglich seiner früheren Existenz hatte der Kleine, [112] [115]wie wir wissen, eine unklare Erinnerung davon bewahrt, daß er bei einer recht bösen Frau, zugleich mit einem oder auch zwei Mädchen, in einem Dörfchen des inneren Donegal gewohnt hatte. Nach dieser Seite hin mußte Martin seine Nachforschungen also richten.

Dadurch erhielt er aber nur folgende Aufschlüsse: Im Armenhause von Donegal fand sich die Spur eines achtzehnmonatlichen Kindes, das unter der Bezeichnung »Der Findling« aufgenommen und später in ein Dorf der Grafschaft an eine Frau abgegeben worden war, die sich mit dem Aufziehen kleiner Kinder gegen Entgelt befaßte.

Wir wollen diese Nachricht durch weitere uns zugegangene Aufklärungen vervollständigen. Diese ergeben freilich nur die ganz gewöhnliche Geschichte kleiner, unglücklicher Wesen, die der öffentlichen Fürsorge anheimgefallen sind.


Das im Hintergrunde der Bai gelegene Städtchen. (S. 115.)

Donegal, mit einer Bevölkerung von zweimalhunderttausend Seelen, ist vielleicht die allerärmste Grafschaft in der Provinz Ulster, ja in ganz Irland. Vor einigen Jahren gab es dort kaum zwei Matratzen und acht Strohsäcke auf je viertausend Einwohner. In jenen unfruchtbaren nördlichen Gebieten der Insel fehlt es nicht an willigen Armen für den Landbau, wohl aber an anbaufähigem Boden. Der ausdauerndste Arbeiter erschöpft sich dort vergebens. Im Innern sieht man nichts als dürre Thalmulden, öde Schluchten, hügeliges Land, Steinwüsten, sandige Dünen, gähnende Torfmoore, wie sumpfige Strecken, überragt von steilen Höhen, wie den Glendowan- und den Derryveaghbergen, kurz ein »zerbrochenes Land«, wie die Engländer sagen. An der Küste finden sich Baien und Fjorde, Buchten und Einschnitte, die ebenso viele Aushöhlungen bilden, worin die Winde vom hohen Meere sich fangen.... riesige Granitorgeln, die der Ocean mit vollen Lungen anbläst. Gerade Donegal ist den von Amerika herüberbrausenden Stürmen, die unterwegs noch locale Wirbel mit sich fort reißen, in erster Linie ausgesetzt. Es ist wirklich eine Eisenküste nothwendig, um dem Anprall der wüthenden Nordwestwinde zu widerstehen.

Vorzüglich die Bai von Donegal, an der der Fischerhafen gleichen Namens liegt und die gleich einem Haifischrachen aus dem Lande geschnitten ist, leidet unter diesen von Seenebeln geschwängerten Luftströmungen. Durch das im Hintergrunde der Bai gelegene Städtchen fegt immer eine scharfe Brise. Die umliegende Hügelwand vermag die Schneestürme nicht zu brechen, und diese haben noch nichts von ihrer Wuth verloren, wenn sie das Dorf Rindok, sieben Meilen von Donegal, erreichen.

[115] Ein Dorf?... Nein. Kaum zehn längs einer engen Thalschlucht verstreute Hütten, zwischen diesen ein Wasserlauf, der im Sommer ein dürftiger Wasserfaden, im Winter oft ein brausender Strom ist. Von Donegal nach Rindok giebt es keinen gebahnten Weg, nur einige Pfade, die kaum für die landesüblichen Karren benutzbar sind, welche man mit den klugen, sicher auftretenden irländischen Pferden bespannt. Auch ein Jaunting-car rollt wohl zuweilen mühsam darüber. Trotz den in Irland schon vorhandenen Eisenbahnen scheint der Tag noch sehr fern zu sein, wo das Dampfroß regelmäßig das Gebiet von Ulster durcheilt. Flecken und Dörfer sind ja auch zu selten, das Ziel der meisten Reisenden sind nur einfache Pachthöfe.

Da und dort lugen jedoch einige Schlösser aus üppigem Grün hervor und ergötzen das Auge durch den phantastischen Schmuck ihrer angelsächsischen Bauart. So, mehr im Nordwesten und nach Milford zu, der Herrschaftssitz Carrikhart inmitten einer ausgedehnten Domäne von neunzigtausend Acres (36.000 Hektar), das Besitzthum des Grafen von Leitrim.

Die Häuschen oder Hütten des Dorfes Rindok – gewöhnlich nennt man sie nur »Cabinen« – haben alle Strohdächer, die zwar gegen die Winterregen nicht besonders schützen, im Sommer aber mit blühenden Levkojen und mit wucherndem Hauslaub bedeckt sind. Ein solches Strohdach liegt auf Wänden aus getrocknetem Lehm, der nothdürftig mit Kieselschichten verstärkt ist, und die meist so viele Risse zeigen, daß sie kaum mit der Ajoupa der Wilden oder der Isba der Kamtschadalen einen Vergleich aushalten. Man würde nicht glauben, daß solche Eulennester menschlichen Wesen zur Wohnung dienen, ohne den bläulichen Rauch, der aus der Blumendecke hervorwirbelt. Holz oder Steinkohle erzeugen diesen Rauch freilich nicht, nur Torf aus den benachbarten Sümpfen, der »Bog« von rostbrauner Farbe, den sich die Bewohner von Rindok nach Bedarf aus der nassen Erde schneiden. 1

Durch Kälte umzukommen, brauchte in diesem rauhen Lande niemand zu fürchten, leider aber weit eher durch Hunger. Der Boden liefert hier kaum einige Gemüse und wenige Früchte; nichts will recht gedeihen, mit einziger Ausnahme der Kartoffeln.

[116] Als Zulage zu der dürftigen Nahrung hat der Bauer von Donegal höchstens gelegentlich eine Gans oder eine Ente, und auch davon nur die wild vorkommenden, da sie weniger gezüchtet werden. Das Wild, Hafen, wilde Kaninchen u. dergl., gehört allemal dem Landlord. Weiter giebt es, in den Schluchten zerstreut, einige Ziegen, die etwas Milch liefern, und schwarzborstige Schweine, die sich mühsam ihr Futter suchen müssen. Das Schwein ist hier der wirkliche Hausfreund, ganz wie der Hund in mehr begünstigten Ländern. Es ist »der Herr, der die Rente bezahlt«. wie der bezeichnende Ausspruch lautet.

Eine der erbärmlichsten Hütten von Rindok enthielt folgendes: einen einzigen Wohnraum, den eine wurmzerfressene, windschiefe Thür abschließt; zwei Löcher zur Rechten und zur Linken, die durch eine Lage dürres Stroh etwas Licht und Luft eindringen lassen; auf dem Fußboden eine Decke von Schmutz; an den Dachsparren Fetzen von Spinngewebe; im Hintergrunde einen Herd, dessen Rauchfang bis zum Strohdach hinausreicht; ein elendes Lager in einem Winkel, eine Streu im andern. An Mobiliar fand sich eine bucklige Bank, ein wackliger Tisch, ein alter Kübel mit grünlichen Schimmelstreifen, ein Spinnrad mit knarrender Kurbel. Als Geräthe ferner ein Kochtopf, eine kleine Pfanne, einige wohl kaum jemals gereinigte Näpfe und zwei oder drei Flaschen, die mit Wasser aus dem Bache gefüllt wurden, nachdem sie von dem vorher darin enthaltenen Whisky oder Gin geleert waren. Da und dort hingen oder lagen Fetzen und Lumpen umher, die kaum noch die Form von Kleidungsstücken verriethen, und etwas schmutzige Wäsche, die entweder im Kübel eingeweicht war oder draußen auf einer Stange zum Trocknen hing. Auf dem Tische aber lag fortwährend eine vom vielen Gebrauch abgenutzte Ruthe. Das war das Elend im schlimmsten Grade... das Elend, wie es in den ärmsten Stadttheilen Dublins oder Londons, in Glerkenwell, Marylebone und in Whitechapel herrscht, das irische Elend, das schlimmste von allen, das Gespenst, das in den Ghettos des Ostends spukt. Die Luft freilich ist in den Spelunken von Donegal nicht in gleicher Weise verpestet; hier athmet man die belebende Luft der Berge und die Lunge füllt sich nicht mit gefährlichen Miasmen, den gesundheitsschädlichen Ausdünstungen der großen Städte.

Natürlich war in dieser Hütte das Lager der Hard vorbehalten, die Streu aber für die Kinder bestimmt und ... die Ruthe ebenfalls.

Die »Hard«, so bezeichnete man die Bewohnerin, d. h. »die Harte«, und diesen Namen verdiente sie in der That. Es war die abstoßendste Megäre, die [117] man sich nur vorstellen kann, zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt, lang und stark, mit dünnem, wirr herabhängendem Haar, von rothen Brauen überschatteten Augen, mit Hakenzähnen, schnabelförmiger Nase, knochigen Händen – mehr Tatzen als Händen – mit Krallen als Fingern, nach Alkohol riechendem Athem und bedeckt mit einem zerschlitzten Hemd und zerrissenen Rocke, während sie stets barfuß ging und auch eine so derbe Haut an den Fußsohlen hatte, daß diese nicht einmal durch das Gehen über lose Kieselsteine belästigt wurden.

Dieser weibliche Drache beschäftigte sich mit dem Spinnen von Leinen, das in Irland, vorzüglich aber von den Bäuerinnen in Ulster, gewöhnlich betrieben wird. Die Leinencultur liefert auch wirklich noch einige Ausbeute, obwohl sie an die der Ackerfruchternten eines besseren Bodens nicht heranreicht.

Mit dieser Arbeit, die ihr täglich einige Pence einbrachte, verband die Hard noch eine andre – für sie ganz unpassende – Erwerbsquelle: sie zog kleine Kinder auf, die ihr von öffentlichen Anstalten überwiesen wurden.

Bei Ueberfüllung der Armenhäuser der Städte oder bei drohenden Seuchen schickt man diese zu bejahrteren Frauen, die ihre mütterliche Sorge ebenso verkaufen, wie sie jede andre Waare verkaufen würden, und zwar zu einem Jahrespreise von zwei oder drei Pfund Sterling (40 oder 60 Mark). Erreicht das Kind ein Alter von fünf bis sechs Jahren, so wird es an das Armenhaus zurückgegeben. Die Pflegemutter kann bei jener geringen Entlohnung für sich kaum etwas erübrigen. Und wenn solch ein Baby unglücklicher Weise in die Hände eines Geschöpfes ohne Herz und Gemüth fällt – was gar so häufig zutrifft – so ist es nicht selten, daß es an der schlechten Behandlung und dem Mangel an Nahrung zu Grunde geht. Wie viele solcher schwachen Menschenkinder gelangen in das Armenhaus nicht wieder zurück! – Das war wenigstens der Fall vor dem Kinderschutz-Gesetz von 1889, das in Folge strenger Ueberwachung der »Engelmacherinnen« die Sterblichkeit der aus der Stadt weggegebenen Kinder wesenlich vermindert hat.

Zur Zeit, von der wir berichten, bestand nur eine leichte oder gar keine Beaufsichtigung. In Rindok hatte die Hard weder den Besuch eines Inspectors, noch auch eine Anklage seitens der im eignen Unglück verhärteten Nachbarn zu fürchten.

Vom Armenhause in Donegal waren ihr drei Kinder anvertraut worden, zwei kleine Mädchen von vier und von sechseinhalb Jahren, und ein Knäblein von zwei Jahren und neun Monaten.

[118] Natürlich waren es verlassene Kinder oder gar auf der Straße gefundene Waisen. Jedenfalls kannte man ihre Eltern nicht und würde man diese auch nie kennen lernen. Mit der Rückkehr nach Donegal stand ihnen blos das Work-House (Arbeitsanstalt) offen, das Work-House, das sich in allen Städten und selbst in vielen Dörfern Großbritanniens wiederfindet.

Im Armenhause erhielten die eingelieferten Pfleglinge den ersten besten Namen. Der des jüngsten der kleinen Mädchen interessiert uns nicht, denn sie steht nahe vor ihrem Ende. Die größere hieß Sissy, eine Abkürzung von Cecily. Ein hübsches, blondhaariges Kind, das sich bei besserer Pflege gewiß vorzüglich entwickelt hätte, war es, mit großen blauen, intelligenten, guten Augen, deren Klarheit durch Thränen freilich schon gelitten hatte. Jetzt erschienen, bei der schlechten Behandlung, ihre Züge dagegen matt und traurig, der Teint erblaßt, die Glieder abgemagert, die Brust eingesunken, und weit sprangen unter ihren Lumpen die eckigen Hüften hervor. Bei ihrem geduldigen fügsamen Charakter nahm sie jedoch das Leben hin, wie es eben war, ohne nur daran zu denken, daß es auch anders sein könnte. Mutterliebe und häusliche Pflege hatte sie ja nie gekannt, und im Armenhause wurden die Kinder auch nicht viel anders behandelt, denn als kleine Thiere.

Der Knabe bei der Hard hatte gar keinen Namen. Er war im Alter von sechs Monaten an einer Straßenecke in Donegal gefunden worden, wo er, blau im Gesicht und fast athemlos, in ein Stück grobes Leinen gewickelt gelegen hatte. Im Armenhause war er zu den übrigen Kindern gesteckt worden, ohne daß es jemand einfiel, ihm einen Namen zu geben. Aus Gewohnheit nannte man ihn einfach »Little-Boy«, Kleiner Junge oder »Findling«, und diese Bezeichnung war ihm bekanntlich geblieben. Offenbar war er einer reichen Familie nicht etwa gestohlen worden; so etwas ist nur in Romanen beliebt.


Die »Hard«, so bezeichnete man die Bewohnerin. (S. 117.)

Von den »drei Stücken« jener Sendung war der Findling der jüngste, nur zwei Jahre neun Monate alt. Brünett, mit leuchtenden Augen, die auf erwachende Energie schließen ließen, wenn sie der Tod nicht vorzeitig schloß, zeigte er eine kräftige Constitution, wenn die Pestluft dieser Hütte, die unzureichende Nahrung diese nicht erschütterten und ihm dafür eine Rhachitis zuführten. Jedenfalls sollte dieser Kleine, der eine ungewöhnliche Lebenskraft besaß, allen Schädlichkeiten einen merkwürdigen Widerstand entgegensetzen. Immer hungrig, wog er freilich nur halb so viel, wie sonst Kinder dieses Alters. Während der langen Winter Irlands immer vor Kälte zitternd, trug er über [119] seinem zerrissenen Hemd nur ein Stück alten gerippten Sammet, in das für die Arme einfach zwei Löcher geschnitten waren. Trotz der bloßen Füße trabte er ruhig seines Weges. Schon die geringste Sorgfalt hätte dieser Natur gewiß schnell Kräfte gegeben, die sie später in Intelligenz umgesetzt hätte. Doch wo sollte er diese Sorgfalt finden?

Das jüngste der kleinen Mädchen lag an einem schleichenden Fieber darnieder. Das Leben entwich aus ihr, wie das Wasser aus einem gesprungenen Gefäße sickert. Sie hätte Arzneien gebraucht, doch diese sind theuer; hätte [120] einen Arzt haben müssen, doch wo wäre ein solcher bereit gewesen, von Donegal aus so ein armes gottverlassenes Geschöpfchen zu besuchen? Die Hard machte sich hierüber also keine Sorge. Starb die Kleine, so »lieferte« ihr das Armenhaus einen Ersatz und sie büßte nichts von den wenigen Schillingen ein, die für sie vielleicht noch abfielen.


Mit einem Stocke schlug sie jetzt... (S. 123.)

Da im Rindoker Bache aber kein Gin, kein Whisky oder Porter floß, nahm die Befriedigung der Leidenschaft dieser Trunksüchtigen freilich den größten Theil des erhaltenen Pensionsgeldes in Anspruch. Augenblicklich besaß sie von der [121] Januarzahlung im Betrag von fünfzig Schillingen für jedes Kind und für das ganze Jahr nur noch zehn bis zwölf. Womit sollte sie nun die Bedürfnisse ihrer Pfleglinge decken? Lief sie auch nicht Gefahr, vor Durst zu sterben, da sich in einem Winkel der Hütte noch einige Flaschen versteckt fanden, so drohte doch dafür der Hungertod den Kleinen.

Zuweilen dachte die Hard wohl auch hieran, soweit es ihr von Alkohol vergiftetes Gehirn zuließ. Ein Gesuch um Zuschuß zu dem Pensionsbetrage wäre bestimmt nutzlos gewesen. Es waren zu viel Kinder vorhanden, für die die öffentliche Mildthätigkeit eintreten mußte. War sie gezwungen, ihre Pfleglinge zurückzuschicken, so verlor sie ihren Broderwerb und mußte sie dem guten Gin Valet sagen. Das schnitt ihr ins Herz, nicht aber der Gedanke, daß das arme, kranke Würmchen seit gestern keinen Bissen genossen hatte.

Das Ergebniß solcher Betrachtungen lief immer darauf hinaus, daß sie von neuem zu trinken anfing. Jammerten die Mädchen und der kleine Knabe, so gab es Schläge. Verlangten sie nach Brod, so erhielten sie einen Stoß, daß sie zurücktaumelten. Natürlich konnte das nicht für immer so fortgehen. Für die wenigen Schillinge, die noch in ihrer Tasche klimperten, hätte sie wohl oder übel einige Nahrungsmittel erkaufen müssen, denn Credit hätte ihr niemand mehr gewährt.

»Nein... nein... nein! polterte sie. Die Bettelkinder mögen lieber ins Gras beißen!«

Es war jetzt Mitte October.

In der kaum verschlossenen Hütte wurde es schon recht kalt und durch das da und dort mangelhafte Strohdach sickerte der Regen. Der Wind pfiff durch das morsche Gebälk. Das dürftige Torffeuer vermochte keine erträgliche Temperatur zu erhalten. Sissy und Findling drängten sich dicht aneinander, um sich nur etwas zu erwärmen.

Während das Fieber die kleine Kranke auf dem Strohlager schüttelte schwankte die Megäre trunken hin und her, und vorsichtig wich ihr das Knäblein aus, den sie sonst gewiß umgestoßen hätte. Sissy kniete neben der Leidenden und netzte deren trockene Lippen mit kaltem Wasser. Von Zeit zu Zeit warf sie einen Blick in den Kamin, worin die schwache Torfgluth zu erlöschen drohte. Auch der Topf stand nicht auf dem Dreifuß. Wozu auch? Es war ja nichts hineinzuthun im Hause.

Die Hard aber knurrte für sich:

[122] »Fünfzig Schillinge!... Dafür soll unsereins ein Kind erhalten! Und wenn ich von den Steinklötzen im Armenhause einen Zuschuß verlangte, da würden sie mich schön heimschicken!«

Das war freilich richtig. Doch selbst bei höherer Entschädigung hätten die beklagenswerthen Pflegekinder der Hard auch kein Stückchen Brod mehr bekommen.

Am letzten Tage war der letzte »Stirabout«, ein dickes, mit Wasser gekochtes Hafermehlmus, aufgegessen worden, und seitdem hatte in der Hütte niemand, auch die Hard nicht, einen Bissen über die Lippen gebracht. Die Frau selbst hielt sich mit Gin aufrecht, hütete sich aber wohl, für Nahrungsmittel auch nur einen Penny ihres letzten Geldes auszugeben. So blieb ihr nichts andres übrig, als von einem Felde einige Kartoffeln für das Abendbrod zu holen....

Da machte sich von draußen ein tiefes Grunzen hörbar. Die Thür wurde aufgestoßen. Ein Schwein, das durch die kothige Dorfstraße trabte, drang in die Hütte ein.

Das hungrige Thier durchsuchte laut schnüffelnd alle Ecken und Winkel. Die Hard schloß die Thür wieder, bemühte sich aber gar nicht, den Eindringling wieder zu entfernen, sondern sah das Thier nur mit den unstäten Blicken eines Trunkenboldes an.

Sissy und Findling sprangen auf, um dem Borstenvieh aus dem Wege zu gehen. Während dieses mit dem Rüssel den Schmutz des Fußbodens durchwühlte, leitete es sein Instinct hinter den erloschenen Kamin, wo es eine dahin verlorene Kartoffel fand. Sofort packte es diese mit den Zähnen.

Findling bemerkte es. Diese Knollenfrucht konnte er selbst gebrauchen. So stürzte er sich auf das Thier auf die Gefahr hin, getreten und gebissen zu werden. Dann rief er Sissy, und beide verzehrten die Kartoffel mit gierigen Lippen.

Das Thier blieb einen Augenblick stehen, dann stürzte es auf das Kind zu.

Der Findling suchte, noch mit einem Stück Kartoffel in der Hand, zu entfliehen; ohne das Dazwischentreten der Hard wäre er aber, weil er hingefallen war, gewiß arg gebissen worden, obgleich ihm Sissy schon zu Hilfe gekommen war.

Die betrunkne Frau begriff endlich, was hier vorging. Mit einem Stocke schlug sie jetzt auf das Schwein los, das nicht sobald nachgeben zu wollen schien.

[123] Ihre schlecht gezielten Streiche hätten Findling beinahe den Kopf zerschmettert, und der Ausgang dieses Zwischenfalles wäre sehr unsicher geworden, als sich an der Thür ein leichtes Geräusch vernehmen ließ.

Fußnoten

1 Die Torfgruben Irlands mit rothem oder schwarzem »Bog« umfassen über zwölftausend Quadratkilometer oder den siebenten Theil der Insel und enthalten bei einer durchschnittlichen Mächtigkeit von acht Metern gegen sechsundneunzigtausend Millionen Cubikmeter Brennmaterial.

11. Capitel
Elftes Capitel.
Ein vortheilhaftes Geschäft.

Die Hard erschrak fast. In ihre Höhle kam ja sonst kein Mensch. Und warum gar an die Thür klopfen? Man brauchte diese ja nur aufzuklinken.

Die Kinder waren in einen Winkel geflüchtet, wo sie schmunzelnd und mit aufgetriebenen Wangen ihre Kartoffel vollends aufaßen.

Da klopfte es von neuem und etwas stärker. Vielleicht stand ein Straßenbettler draußen, der hier, in der Hütte der Armuth, noch um ein Almosen ansprechen wollte.

Die Hard richtete sich auf, sachte einen festen Stand zu gewinnen und machte den Kindern ein drohendes Zeichen. Es konnte ja auch ein Inspector aus Donegal sein, und vor dem durften doch Findling und seine Genossin nicht vor Hunger jammern.

Die Thür ging auf und mit wildem Grunzen drängte sich das Borstenvieh hinaus.

Ein auf der Schwelle stehender Mann wäre beinahe umgerannt worden. Er richtete sich wieder zurecht, doch statt ungehalten zu sein, schien er sich vielmehr wegen der durch ihn verursachten Störung entschuldigen zu wollen. Sein Gruß galt fast ebenso viel dem unreinlichen Vierfüßler, wie der nicht minder unreinlichen Insassin der Hütte. Es konnte ihn ja nicht verwundern, aus dem Schmutz des Innern ein Schwein hervorbrechen zu sehen.

»Was wollen Sie?... Wer sind Sie? fragte die Hard barsch, während sie dem Fremdling den Weg versperrte.

– Ich bin ein Agent, liebe Frau,« antwortete der Mann.

[124] Ein Agent?... dieses Wort machte sie zurücktaumeln; der Mann konnte ja zu der Waisenkinderpflege gehören, obgleich sich ein Inspector im Dorfe Rindok noch so gut wie nie hatte sehen lassen. Vielleicht kam dieser Mann wirklich, um über die aufs Land geschickten Kinder Bericht zu erstatten, und um nach dieser Seite ganz sicher zu gehen, bemühte sich die Hard sofort, ihn durch ihre Redseligkeit zu verblüffen.

»O, verzeihen Sie, mein Herr!... Sie kommen gerade, wo ich im Begriff stehe, rein zu machen... diese lieben Kleinen; sehen Sie, wie die sichs wohl sein lassen? Sie haben eben eine tüchtige Schüssel Hafergrützsuppe verzehrt.... Das Mädchen da und der Knabe, versteht sich, denn die andre liegt leider krank... ja... an einem Fieber, dem keiner Einhalt zu thun vermag. Ich wollte schon nach Donegal, einen Doctor zu holen.... Die armen süßen Herzchen, ich hänge so sehr an den Kleinen!«

Mit ihren rohen Gesichtszügen und dem wilden Blicke ähnelte die Hard jetzt einer Tigerin, die das zahme Kätzchen spielen möchte.

»Herr Inspector, fuhr sie fort, wenn das Armenhaus mir einen Beitrag zu den Kosten der Arzneien bewilligen wollte. Man hat ja kaum so viel, daß es zum Essen und Trinken ausreicht.

– Ich bin kein Inspector, gute Frau, unterbrach sie der Mann mit süßlicher Stimme.

– Was sind Sie denn?... fragte die Hard schon aufbrausend.

– Der Vertreter einer Versicherungsgesellschaft.«

Der Fremde gehörte zu den Agenten, von denen es in Irland ebensoviele giebt, wie Disteln auf Unland. Sie durchstreifen alle Dörfer, um das Leben der Kinder zu versichern, was unter den obwaltenden Umständen so viel bedeutet, wie ihnen den Tod zu sichern. Gegen monatliche Zahlung weniger Pence haben – so entsetzlich das klingt – Eltern oder Pflegeeltern, lauter solch verabscheuungswürdige Geschöpfe wie die Hard, die »frohe Hoffnung«, beim Ableben der Kleinen eine »Tröstung« von drei bis vier Pfund Sterling (sechzig bis achtzig Mark) einzustreichen. Das ist geradezu eine Verleitung zum Verbrechen und eine so mächtige Triebfeder, daß die ungeheure Kindersterblichkeit zu einer wirklichen nationalen Gefahr geworden ist. Mit Recht hat deshalb Day, der Vorsitzende des Schwurgerichts in Wiltshire, die Anstalten, die daran schuld sind, als Landplagen, als Schulen für Mord und Brandstiftung gekennzeichnet.

[125] Seit jener Zeit hat das schon erwähnte Gesetz von 1889 allerdings eine wesentliche Besserung dieser Zustände erzwungen, und so ist es auch nicht zu verwundern, daß die »Gesellschaft zur Ausrottung der Grausamkeit gegen Kinder« heute schon recht gute Erfolge erzielt.

Wer erröthet aber nicht vor zorniger Ueberraschung, daß gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein solches Gesetz bei einer civilisierten Nation nothwendig war, ein Gesetz, das die Eltern verpflichtet, »die Wesen, die ihrer Obhut unterstehen, auch zu ernähren und, selbst wenn sie diese nur in Pflege genommen hatten, sie zwingt, für die Bedürfnisse der Unmündigen unter ihrem Dache zu sorgen« – und das unter Androhung schwerer Strafe, die bis zu zwei Jahren Zwangsarbeit gehen kann.

O, der Schande, daß es eines Gesetzes bedurfte, wo das natürliche Gefühl hätte ausreichen müssen!

Zur Zeit des Anfangs dieser Erzählung gab es freilich noch keinen Schutz für die, den Armenanstalten anheimgefallenen Kinder.

Der Agent, der sich der Hard hier vorstellte, war ein Mann in den hohen Vierzigern, mit lauernder Miene und einschmeichelnder Rede und Haltung – der richtige Typus jener Unterhändler, denen es nur um ihre Provision zu thun ist und die kein Mittel scheuen, sich diese zu verdienen. Er hoffte auch hier »sein Geschäft zu machen«, indem er der Megäre schmeichelte, sich stellte, als ob er von dem traurigen Zustande ihrer Opfer nichts sehe, und indem er sie im Gegentheil beglückwünschte wegen der herzlichen Zuneigung, die sie für die Kleinen hegte.

»Liebe Frau, fuhr er fort, dürfte ich Sie wohl ersuchen, mit mir einen Augenblick hinauszutreten?

– Sie haben etwas mit mir zu sprechen? fragte die Hard, noch immer beunruhigt.

– Ja, beste Frau, über die kleinen Kinder hier... und ich würde mir Vorwürfe machen, die Angelegenheit in deren Beisein zu behandeln, da es ihnen vielleicht schmerzlich sein könnte...«

Beide traten hinaus, schlossen die Thür, und gingen einige Schritte fort.

»Nun, gute Frau, begann der Versicherungsagent, Sie haben also drei Kinder?

– Ja wohl.

– Ihre eignen?...

[126] – Nein.

– Sind Sie mit denselben verwandt?

– Nein.

– Ah so, sie haben jene also wohl aus dem Donegaler Armenhause übernommen?

– Ganz recht.

– Dann, beste Frau, konnten sie ja gar nicht in bessere Hände kommen. Und doch kommt es trotz sorgsamster Pflege vor, daß solche kleine Wesen erkranken. Das Leben eines Kindes hängt oft nur an einem Faden, und ich glaube gesehen zu haben, daß die eine Ihrer zarten Pfleglinge...

– Ich thue, was ich kann, mein Herr, unterbrach ihn die Hard, die ihren Wolfsaugen mit Mühe eine Thräne entpreßte. Ich wache Tag und Nacht über diese Kinder... oft darbe ich selbst, damit es ihnen nicht am Nöthigen fehlt. Das Armenhaus zahlt für die Erziehung der Kleinen gar zu wenig, kaum drei Pfund bester Herr, drei Pfund Sterling für das Jahr...

– Das reicht allerdings nicht aus, liebe Frau, und es bedarf einer großen Opferwilligkeit Ihrerseits, um die Bedürfnisse der hübschen Kinder zu decken... Sie haben zur Zeit also zwei kleine Mädchen und einen Knaben?...

– Ja.

– Ohne Zweifel Waisen?

– Jedenfalls.

– Meine vielfachen Berührungen mit Kindern erlauben mir, das Alter der Mädchen auf vier und sechs Jahre, das des kleinen Knaben auf zwei Jahre abzuschätzen...

– Wozu alle diese Fragen?

– Wozu? Das werden Sie gleich hören, gute Frau!«

Die Hard warf ihm einen forschenden Blick zu.

»Gewiß ist die Luft, fuhr er fort, in der Grafschaft Donegal sehr rein... die hygienischen Verhältnisse sind vortrefflich... lind doch, solche Babys sind so zarter Natur, daß es trotz Ihrer liebevollsten Pflege vorkommen kann – verzeihen Sie, wenn ich Ihnen das Herz zerreiße! – daß es vorkommen kann, eines oder das andre der Kleinen zu verlieren.... Sie sollten sie versichern....

– Sie versichern?...

[127] – Jawohl, beste Frau; versichern... zu Ihrem Vortheil....

– Zu meinem Vortheil! rief die Hard, deren Blick sich durch die erwachende Habsucht belebte

– Das werden Sie sofort verstehen. Durch monatliche Zahlung von wenigen Pence an meine Gesellschaft sichern Sie sich eine Summe von zwei bis drei Pfund Sterling, wenn eines der Kinder sterben sollte....

– Zwei bis drei Pfund!« wiederholte die Hard.

Der Agent konnte schon auf die Annahme seines Vorschlags rechnen.

»Das geschieht ganz allgemein, liebe Frau, fuhr er mit honigsüßer Stimme fort. Wir haben in den Pachthöfen von Donegal schon mehrere hundert Kinder versichert, und wenn auch nichts über den Tod eines zarten Wesens, das man herzinnig geliebt hat, eigentlich zu trösten vermag, so ist es doch mindestens... eine... eine Art Ersatz, ich gesteh' es zu, ein sehr minderwerthiger, einige Guineen in gutem englischen Golde zu erheben, die meine Gesellschaft dann darzubieten so glücklich ist....«

Die Hard faßte die Hand des Agenten.

»Und die erhält man... ohne Schwierigkeiten? fragte sie mit heiserer Stimme und sich scheu rings umsehend.

– Ganz ohne Schwierigkeiten, gute Frau. Sobald ein Arzt das Ableben eines Kindes beglaubigt hat, braucht man nur zu dem Vertreter der Gesellschaft in Donegal zu gehen.«

Dabei zog er ein Papier aus der Tasche.

»Hier habe ich bereits ausgefüllte Policen, sagte er, und wenn Sie sich entschließen, diese zu unterschreiben, so werden Sie der Zukunft weniger besorgt entgegensehen. Ich bemerke Ihnen noch, daß Sie, wenn eines der Kinder sterben sollte, was ja ach! gar zu häufig vorkommt, die Versicherungssumme ja zum besten der andern verwenden können. Das Armenhaus zahlt wirklich allzuwenig....

– Und das würde mir kosten?... erkundigte sich die Hard

– Den Monat drei Pence für jedes Kind, also neun Pence....


»Nun, gute Frau, Sie haben also drei Kinder?« (S. 126.)

– Sie würden auch das kleinere Mädchen versichern?...

– Natürlich, beste Frau, obgleich sie mir sehr krank erschien. Wenn Ihr Bemühen sie nicht rettet, so sind das zwei Pfund – verstehen Sie recht! – zwei Pfund Sterling für Sie. Bedenken Sie auch, daß das was unsre Gesellschaft thut, nur zum besten der lieben Babys geschieht... [128] wir haben ein Interesse daran, daß sie leben bleiben, denn ihre Existenz geht uns ja an. Wir sind trostlos, wenn eines oder das andre mit Tode abgeht!«

Trostlos waren die braven Versicherer freilich nicht, so lange die Sterblichkeit eine berechnete Mittelgrenze nicht überschritt. Und wenn der Agent sich auch zur Aufnahme der kleinen Sterbenden bereit erklärte, wußte er, daß das ein vortheilhaftes Geschäft sei, wie aus der Erklärung eines erfahrenen Directors der Gesellschaft hervorging, der da sagte:

[129] »Am Tage nach der Beerdigung eines versicherten Kindes schließen wir stets mehr Versicherungen ab als sonst!«

Das war in der That der Fall, ganz ebenso freilich, daß einzelne – sagen wir vereinzelte – Elende auch vor einem Verbrechen nicht zurückschreckten, um die Versicherungssumme zu erlangen.

Es beweist das, wie nothwendig diese Gesellschaften und ihre Kundschaft streng im Auge zu behalten sind. In einem Dorfe wie hier gab es freilich keine Controle. So brauchte auch der Agent gar nicht zu fürchten, mit der widerwärtigen Hard in Verbindung zu treten, obgleich er sich sagen mußte, wessen sie fähig wäre.

»Nun, gute Frau, nahm er eindringlicher werdend das Wort, verstehen Sie denn Ihr eignes Interesse nicht?«

Noch immer zögerte sie, die neun Pence auszugeben, selbst mit der Aussicht, die Versicherungssumme für die kleine Kranke sehr bald zu erheben.

»Wie viel kostet also die Geschichte? fragte sie, als hoffte sie auf eine Preisermäßigung.

– Drei Pence monatlich für jedes Kind, also neun zusammen.

– Neun Pence!«

Sie versuchte zu handeln.

»Das ist nutzlos, gute Frau, erwiderte der Agent. Bedenken Sie, daß jene Kleine trotz Ihrer Sorgfalt morgen... schon heute sterben kann, und daß die Gesellschaft Ihnen dann zwei Pfund Sterling auszuzahlen hat. Nun also, unterzeichnen Sie, glauben Sie mir; hier setzen Sie Ihren Namen darunter!«

Feder und Tinte führte er bei sich. Eine Unterzeichnung der Police, und alles war abgemacht.

Die Hard unterschrieb, und von den zehn Schillingen in ihrer Tasche händigte sie dem Agenten die verlangten neun Pence aus.

Dann verabschiedete sich dieser mit den heuchlerischen Worten:

»Jetzt, gute Frau, empfehle ich, wenn es auch unnöthig erscheint, diese Kinder im Namen der Gesellschaft, der Vorsehung der Kleinen, Ihrer besondern Obhut. Wir sind die Stellvertreter Gottes auf Erden, Gottes, der das den Unglücklichen gespendete Almosen hundertfältig wieder zurückgiebt. Leben Sie wohl, gute Frau, leben Sie wohl! Nächsten Monat komme ich, die kleine Prämie einzuziehen, und hoffe da, alle drei Pfleglinge frisch und munter zu finden, auch das kleine Mädchen, die bei Ihrer mütterlichen Sorgfalt schon [130] wieder gesunden wird. Vergessen Sie nicht, daß das menschliche Leben in unserm alten England einen hohen Werth hat, und daß jeder Todesfall ein Verlust an socialem Capital ist. Adieu, gute Frau, adieu!«

Im Vereinigten Königreich berechnet man thatsächlich genau, wie viel Geldwerth ein englisches Leben darstellt, nämlich hundertundfünfzig Pfund oder dreitausendeinhundert Reichsmark; so hoch wird der Menschenschlag geschätzt, in dessen Adern sächsisches, normannisches, kymbrisches und pictisches Blut gemischt ist.

Still stehen bleibend, ließ die Hard den Agenten sich erst von der Hütte entfernen, die zu verlassen die Kinder nicht gewagt hatten. Bisher berechnete sie nur die wenigen Guineen, die deren Leben ihr jährlich einbrachte, und jetzt sollte deren Tod für sie ebenso viel werth sein! Es hing ja doch von ihr ab, die neun Pence nicht noch ein zweites Mal bezahlen zu müssen.

Beim Wiedereintritt heftete sie auf die Unglücklichen einen Blick des Sperbers, der den unter dem Laube verborgnen Vogel belauert. Findling und Sissy schienen das Weib zu verstehen. Instinctmäßig wichen sie vor ihr zurück, als ob die Hände des Ungeheuers sich schon anschickten, sie zu erwürgen.

Einige Klugheit mußte sie aber doch beobachten. Der plötzliche Tod dreier Kinder hätte wohl Verdacht erregen müssen. Von den acht oder neun übrig behaltenen Schillingen wollte sie einen kleinen Theil verwenden, um jene noch einige Zeit zu ernähren... noch vier Wochen... o, nicht länger. Stellte sich der Agent wieder ein, so bekam er noch einmal seine neun Peace, da die Versicherungssumme diese Auslage ja zehnfach deckte. Jetzt fiel es ihr gar nicht mehr ein, die Kinder ins Armenhaus zurückzuschicken.

Fünf Tage nach dem Besuche des Agenten verschied das kleine Mädchen, ohne daß vorher ein Arzt hinzugezogen worden wäre.

Es war am Morgen des 6. Octobers. Die Hard, die auswärts etwas trinken wollte, hatte die Kinder in der verschlossenen Hütte zurückgelassen.

Die Kranke röchelte. Außer etwas Wasser zur Befeuchtung der Lippen, konnte sie keine Erquickung erhalten. Arzneimittel hätten in Donegal geholt und bezahlt werden müssen.... Da wußte die Hard ihre Zeit und ihr Geld besser anzuwenden. Das kleine Opfer hatte nicht mehr die Kraft. sich zu bewegen. Mitten in der Fieberhitze zitterte sie vor Kälte. Noch einmal öffneten sich weit ihre Augen, wie um das Licht zum letzten Male zu sehen, und als ob sie sagen wollte:

[131] »Ach, warum, warum wurd' ich geboren?«

Ueber sie gebeugt, netzte ihr Sissy sanft die Schläfe.

Findling starrte auf die beiden hin, etwa wie auf einen Käfig, der sich öffnen und einen Vogel herausflattern lassen sollte....

Als das Kind kläglicher seufzte und sich sein Mund dabei verzerrte, fragte er:

»Wird sie etwa gar sterben?« – ein Verständniß dafür hatte er freilich nicht.

– Ja... antwortete Sissy, sie wird in den Himmel kommen.

– Ohne zu sterben kann man wohl gar nicht in den Himmel kommen?

– Nein, das kann man nicht.«

Wenige Augenblicke später erschütterte ein krampfhaftes Zucken das schwache Wesen, dessen Leben nur noch an einem Windhauch hing. Da verdrehten sich die Augen und die kindliche Seele floh unter einem letzten Seufzer aus der zarten Hülle.

Erschrocken sank Sissy in die Kme. Findling ahmte ihr nach und kniete ebenfalls neben der entseelten Gefährtin nieder.

Als die Hard nach einer Stunde heimkehrte, fing sie laut an zu schreien. Dann lief sie wieder hinaus und heulte:

»Todt!... Todt!... Gestorben!«... sie wollte das ganze Dorf zum Zeugen ihres Schmerzes haben.

Doch kaum einige Nachbarsleute ließen sich blicken. Was ging's ihnen, den Armen und Elenden, denn an, daß eine Unglückliche weniger war? Gab es auf Erden nicht übrig genug andre?... Es wurden deren ja täglich mehr – dieses Samenkorn ging allemal auf.

Als sie diese Rolle spielte, dachte die Hard nur an ihr Interesse und bezweckte, sich den Bezug der erwarteten Summe zu sichern.

Jetzt wurde auch nothwendig, von Donegal den Vertrauensarzt der Gesellschaft zu holen. War er zur Behandlung des Kindes nicht gerufen worden, so sollte er wenigstens dessen Ableben bestätigen; das war eine nicht zu umgehende Formalität der Versicherung.

Die Hard machte sich also noch am nämlichen Tage auf und überließ die Todte der Obhut der beiden Kinder. Sie ging aus Rindok um zwei Uhr nachmittags fort, und da der Hin- und Rückweg zwölf (englische) Meilen betrug, konnte sie vor acht oder neun Uhr abends nicht zurück sein.

[132] Sissy und Findling blieben in der verschlossenen Hütte. Der Knabe hielt sich regungslos neben dem Kamine auf, er wagte gar nicht, sich zu rühren. Sissy wendete dem kleinen Mädchen mehr Sorgfalt zu, als dieser vielleicht je im Leben zu Theil geworden war. Sie wusch ihr das Gesicht, ordnete das Haar und zog ihr das zerrissene Hemd ab, daß sie durch ein weißes Tüchlein ersetzte, welches zum Trocknen dahing. Die kleine Todte sollte kein andres Leichenhemd erhalten, und als Grab nur das Loch, in das man sie eilig versenkte....

Als sie fertig war, streichelte Sissy der kleinen Leiche die Wangen. Findling wollte dasselbe thun... er konnte es nicht vor Entsetzen.

»Komm... komm! rief er Sissy.

– Wohin denn?

– Hinaus!... Komm!... Bitte, komm!«

Sissy weigerte sich. Sie wollte den todten Körper in der Hütte nicht allein lassen. Uebrigens war ja die Thür verschlossen.

»Komm... komm! wiederholte das Kind.

– Nein, nein, wir müssen jetzt hier bleiben!

– Sie ist ja ganz kalt... und ich auch... ich friere, ach, ich friere!... Komm, Sissy, komm mit! Sie könnte uns am Ende mitnehmen, da hinunter. wo sie ist!«

Das Kind war vom Schrecken gepackt. Der Knabe hatte das Gefühl, daß er auch sterben würde, wenn er nicht entwiche. Allmählich wurde es dunkler.

Sissy zündete einen Kerzenstumpf an, den sie in den Spalt eines Stückes Holz klemmte und stellte dieses neben das Todtenlager.

Findling fühlte sich noch mehr entsetzt, als der Lichtglanz die Gegenstände um ihn leicht erzittern zu machen schien. Er liebte ja Sissy, liebte sie, wie eine ältere Schwester. Was er an Liebkosungen erfahren, war von ihr gekommen. Er konnte aber nicht hier bleiben... er konnt' es nicht!

Sich die Hände aufscheuernd und die Nägel verletzend, gelang es ihm, die Erde vor der Thür aufzuwühlen, die Steinschicht wegzuschaffen, die deren Pfosten trugen, und ein Loch auszuweiten, durch das er sich zwängen konnte.

»Komm... komm! rief er zum letzten Male.

– Nein, ich will nicht! erklärte Sissy. Sie würde verlassen sein; ich will nicht!«

[133] Findling warf sich ihr an den Hals und herzte und küßte sie. Dann kroch er durch die Oeffnung, verschwand und ließ Sissy allein bei der Todten zurück.

Einige Tage nachher fiel das umherirrende Kind dem Puppenschausteller in die Hände, und der Leser weiß, was da aus ihm wurde.

12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Die Heimkehr.

Zur Zeit fühlte sich Findling glücklich und hielt es für unmöglich, das je noch mehr sein zu können. Er ging völlig in der Gegenwart auf, ohne an die Zukunft zu denken. Die Zukunft ist ja schließlich auch weiter nichts als eine Gegenwart, die sich von einem Tage zum andern erneut.

Manchmal tauchten wohl die Bilder der Vergangenheit in ihm auf. Da gedachte er des kleinen Mädchens, die mit ihm bei der garstigen Frau gewohnt hatte. Sissy mußte jetzt etwa elf Jahre zählen. Doch was aus ihr geworden oder ob sie gar gestorben war, das wußte er nicht. Jedenfalls hoffte er, sie einst noch wiederzusehen. Er war ihr ja so viel Dank für ihre Liebe schuldig, und bei seinem Bedürfnisse, sich an die, die ihn geliebt hatten, anzuschließen, sah er im Geiste in ihr nur eine Schwester.

Doch auch den guten Grip umfaßte er mit derselben Dankbarkeit. Seit dem Brande der Ragged-School von Galway waren jetzt sechs Monate verflossen, während der Findling so vielfach der Spielball des Zufalls gewesen war. Grip würde doch nicht etwa gestorben sein? O nein, so brave Herzen hören nicht auf zu schlagen. Leute wie Thornpipe und die Hard, diese könnten ohne Bedauern zu erregen von der Erde scheiden, leider aber verdirbt Unkraut so leicht nicht.

Natürlich hatte der Findling auf der Farm zuweilen von seinen ehemaligen Freunden gesprochen und hier in allen ein gewisses Interesse für jene geweckt.

[134] Martin Mac Carthy veranlaßte Nachforschungen über jene, die leider keinen weiteren Aufschluß über Sissy lieferten, als daß auch diese aus dem Dorfe Rindok verschwunden war.

Bezüglich Grips hatte man von Galway eine Antwort erhalten. Der arme Bursche hatte, nachdem seine Wunden kaum geheilt waren, aus Mangel an Beschäftigung die Stadt verlassen und irrte jetzt wahrscheinlich Arbeit suchend im Lande umher. Findling empfand es recht schmerzlich, so glücklich zu sein, während es Grip jedenfalls nicht war. Martin selbst nahm regen Antheil an Grip und hätte diesen so gern im Pachthofe als nützlichen Helfer mit aufgenommen, wenn er nur wußte, wo jener zu finden wäre. Sein Schicksal blieb zunächst aber unenthüllt, und vorläufig mußten sich die beiden früheren Insassen der Lumpenschule mit der Hoffnung auf ein zufälliges, späteres Wiedersehen trösten.

In Kerwan führte die Familie Mac Carthy ein regelmäßiges arbeitsvolles Leben. Die nächsten Pachtgüter lagen zwei bis drei Meilen von hier entfernt. Unter den Pächtern inmitten dieser dünn bevölkerten Gebiete des unteren Irlands kann von einer Nachbarschaft kaum die Rede sein. Tralee, der Hauptort der Grafschaft, lag auch ein Dutzend Meilen weit entfernt, und Martin und Murdock begaben sich nur dahin, wenn ihre Geschäfte an Jahrmarktstagen sie dazu nöthigten.

Die Farm gehört zur Kirche von dem fünf Meilen entfernten Silton, einem Dorfe mit etwa vierzig Häusern und kaum hundert rund um die Kirche angesiedelten Bewohnern. Des Sonntags begaben sich die Frauen zu Wagen, die Männer von der Farm zu Fuß nach der Frühmesse. Ihres Alters wegen vom dortigen Geistlichen vom Kirchenbesuch dispensiert, blieb die Großmutter, außer an den hohen Festen, zu Weihnachten, zu Ostern und zu Mariä Himmelfahrt, meist im Hause zurück.

In der Kirche von Silton erschien der Findling jetzt in höchst anständiger Tracht. Das war nicht mehr das Kind in Lumpen, das durch die Thür der Hauptkirche von Galway schlüpfend sich hinter den Pfeilern versteckte. Jetzt fürchtete der Knabe nicht mehr hinausgejagt zu werden, er zitterte nicht mehr vor dem strengen langen Schwarzrock, den weißen Lätzchen und dem langen Stabe – deren Vereinigung den Kirchendiener der Parochie bildete. Jetzt hatte er seinen Platz auf der Bank neben Martine und Kitty, er lauschte dem frommen Gesange und wohnte voll Andacht dem ganzen Gottesdienste bei. Das war ein Knabe, den man mit einigem Stolz sehen lassen konnte, wenn er so in seinem saubern, sorgsam gehaltenen Tweed aus gutem Stoffe einherging.


»Komm... Komm!« rief er zum letzten Male. (S. 133.)

Nach Schluß der Messe fuhren die Kirchenbesucher sogleich nach Kerwan zurück. In diesem Winter herrschte vielfach starkes Schneetreiben bei schneidendem Winde. Alle hatten davon geröthete Augenli [135] der und aufgesprungene Gesichter. Am Barte Martins und seiner Söhne hingen lange Eiskrystalle, was ihnen fast das Aussehen von Gipsfiguren verlieh.


Findling blickte ins Land hinaus. (S. 149)

Im großen Kamin prasselte inzwischen ein von der Großmutter unterhaltenes tüchtiges Wurzelholz- und Torffeuer. Hier wärmte sich die kleine Gesellschaft wieder aus und setzte sich dann an den Tisch, worauf [136] ein duftendes Stück Pökelfleisch mit Kohl dampfte, daneben eine Schüssel mit Kartoffeln in der Schale, und endlich eine Omelette – zu der die Eier natürlich nach der richtigen Nummernfolge gewählt waren. Verbot die Witterung einen Spaziergang, so vertrieb man sich den Tag mit Lesen und Plaudern, und Findling bereicherte seine Kenntnisse aus allem, was er hörte.

[137] Die Monate verstrichen. Der Februar war sehr kalt und der März sehr regnerisch. Schon nahte die Zeit zur Wiederaufnahme der Feldarbeiten. Der im ganzen nicht allzustrenge Winter schien nicht lange mehr anhalten zu sollen, so daß die Einsaat voraussichtlich unter günstigen Verhältnissen erfolgen konnte. Dann waren die Pächter wohl auch in der Lage, für Weihnachten den dann abzuführenden Pachtschilling bereit zu halten und nicht von den in vielen Gegenden so häufigen Austreibungen bedroht zu sein, wenn die Ernte fehlschlägt, Austreibungen, durch die zuweilen ganze Kirchspiele entvölkert werden. 1

Immerhin hing eine schwarze Wolke, wie man zu sagen pflegt, am Horizonte der Farm.

Vor zwei Jahren war der zweite Sohn, Pat, mit einem dem Hause Marcuart in Liverpool gehörigen Handelsschiffe, dem »Guardian«, ausgesegelt. Zwei Briefe waren von ihm, nach Durchkreuzung der Südsee, eingetroffen, der letzte vor neun oder zehn Monaten, seitdem fehlte es aber ganz an Nachricht von ihm. Selbstverständlich hatte Martin darum nach Liverpool geschrieben. Die erhaltene Antwort lautete aber nicht besonders beruhigend. Man hatte weder durch Zeitungen, noch durch die auswärtigen Correspondenten etwas über das Schicksal des Schiffes gehört, und die Herren Marcuart machten aus ihren Befürchtungen wegen des »Guardian« kein Hehl.

Von Pat war in Folge dessen auf der Farm vielfach die Rede, und Findling sah deutlich genug, welchen Kummer dieses Ausbleiben jeder Nachricht der ganzen Familie bereitete.

Da war wohl die Spannung kein Wunder, mit der man jeden Tag das Eintreffen der Briefpost erwartete. Der kleine Knabe lauerte sie auf der Straße ab, die diesen Theil der Grafschaft mit deren Hauptorte in Verbindung setzt. Sobald er den an seiner blutrothen Farbe leicht erkennbaren Wagen von weitem erblickte, lief er, was er laufen konnte, nicht wie die Straßenbuben, die ein paar Kupfermünzen nachstürzen, sondern nur um zu hören, ob nicht ein Brief an Martin Mac Carthy angekommen wäre.

Der Postdienst ist auch in den entlegensten Grafschaften Irlands ganz vorzüglich eingerichtet. Der Wagen hält auf dem Lande an allen Thüren an, um Briefe zu vertheilen oder anzunehmen. An Mauern und Grenzsteinen befinden sich [138] Kästen mit einer Rothgußplatte, selbst einfache Säcke, die an Baumzweigen hängen und die der Postconducteur im Vorüberkommen ausleert.

Leider traf kein Brief von der Hand Pats, auch keiner von der Firma Marcuart in der Farm ein. Seitdem der »Guardian« zuletzt in den Australischen Meeren gesehen wurde, war und blieb er vorläufig verschollen.

Die Großmutter war tiefbetrübt, denn gerade Pat hatte sie besonders ins Herz geschlossen. Auch jetzt sprach sie unausgesetzt von ihm, den sie bei ihrem hohen Alter nun nicht wiederzusehen fürchtete. Findling suchte sie immer zu beruhigen.

»Er wird schon wiederkommen, sagte er. Noch kenne ich ihn nicht, muß ihn aber doch kennen lernen, da er ja zur Familie gehört.

– Und er würde Dich ebenso lieb gewinnen, wie wir, antwortete sie.

– Es muß doch herrlich sein, Großmutter, Seemann zu sein! Wie schade nur, daß man da einander, und immer so lange, verlassen maß. Könnte denn nicht gleich eine ganze Familie zur See gehen?

– Nein, mein Kind, als Pat fortging, hat das mich tief geschmerzt! Wie glücklich sind die, die sich niemals zu trennen brauchen!... Unser Junge hätte auch auf der Farm bleiben können. An Arbeit würde es ihm nicht gefehlt haben, und wir verzehrten uns jetzt nicht vor Unruhe. Er hat es nicht gewollt... möge Gott ihn uns zurückführen!... Vergiß ja nicht, für ihn mitzubeten!

– Nein, Großmutter, das vergess' ich nicht, für ihn und für Sie alle!«

In den ersten Apriltagen begann die Arbeit außer dem Hause. Es war eine schwere Aufgabe, die noch frostharte Erde aufzupflügen, sie mit der Walze einzuebnen und oberflächlich mit der Egge wieder zu lockern. Hierzu mußten einige fremde Arbeiter gemiethet werden, da Martin und seine Söhne allein damit nicht hätten fertig werden können. Die Minuten sind kostbar, wenn es sich darum handelt, mit dem einsetzenden Frühling zum Säen bereit zu sein. Außerdem galt es noch Gemüse zu pflanzen und Kartoffeln zu stecken, wobei die Knollen mit den besten »Augen« ausgewählt wurden.«

Nun mußten ferner die Thiere aus den Ställen. Die Schweine ließ man einfach im Hofe oder auf der Straße herumlaufen. Die Kühe, die mit Ketten an Pflöcken auf der Weide festgelegt wurden, bedurften keiner großen Ueberwachung, außer daß sie des Morgens aus- und des Abends eingetrieben wurden. Das Melken derselben war Sache der Frauen. Dagegen mußten die Schafe gehütet und, da sie sich den Winter über nur von Häcksel, Kraut und Rüben [139] ernährt hatten, auf die Weide einmal hier-, einmal dorthin geführt werden. Der Findling erschien wie zum Schäfer dieser Heerde geschaffen.

Mac Carthy besaß, wie wir wissen, gegen hundert Schafe, und zwar von der schönen schottischen Rasse, mit langer, mehr grauer als weißer Wolle und schwarzen Mäulern und Füßen. Als Findling sie zum ersten Male nach der fast eine halbe Meile entfernten Weidestelle trieb, fühlte er sich ordentlich stolz über das neue Amt. Er empfand seine Verantwortlichkeit für die blökende Heerde, die unter seiner Leitung dahintrabte, während Birk, der Hund, etwaige Nachzügler oder Ausbrechende zusammentrieb, für die Widder, die die Spitze bildeten, und für die Lämmer, die sich um ihre Mütter drängten. Wenn sich nun ein Thier verirrt hätte!... Wenn gar Wölfe in der Nähe hausten! Doch nein, mit Birk und seinem Messer an der Seite fürchtete der junge Schäfer auch Wölfe nicht.

Früh am Morgen brach er auf, ein tüchtiges Stück Brod, ein hartes Ei und eine Schnitte Speck in seinem Sacke, um davon zu Mittag zu essen. Die Schafe zählte er beim Verlassen des Stalles ebenso wie bei der Rückkehr dahin. Dasselbe that er mit den Ziegen, auf die er ein Auge hatte und die die Hunde frei umherspringen ließen.

An den ersten Tagen war die Sonne kaum aufgegangen, als Findling schon hinter seiner Heerde herzog. Im Westen flimmerten noch einzelne Sterne. Er sah sie nach und nach verlöschen, als ob der Morgenwind sie ausgeblasen hätte. Dann schossen die Sonnenstrahlen durch die Landschaft und glitzerten in jedem Thautröpfchen auf den Steinen. Meist lenkten Martin und Murdock auf einem benachbarten Felde den Pflug, der eine gerade und schwärzliche Furche hinter sich zurückließ. Auf einem andern verstreute Sim mit gemessener Armbewegung den Samen, den die Egge dann mit dünner Erdschicht zudeckte.

Trotz seiner Jugend pflegte Findling immer mehr die praktische als die etwa wunderbare Seite aller Dinge zu beobachten. Er fragte sich nicht, wie ein einfaches Körnchen zu einem Halm mit Aehre auswachsen könnte, wohl aber, wie viel Körner die Korn-, Gersten oder Haferähre bei der Ernte liefern würde. Das wollte er zählen, wie er die Eier im Hühnerhof zählte, und das Ergebniß niederschreiben. Das lag in seiner Natur. Er hätte auch die Sterne eher gezählt als bewundert.

So freute er sich beim Aufgang der Sonne weniger über deren Licht als über die Wärme, die sie der Welt spenden würde. Man sagt, daß die Elephanten Indiens das Tagesgestirn begrüßen, wenn es am Horizonte aufsteigt, und [140] Findling ahmte ihnen nach, höchstens erstaunt, daß nicht auch die Schafe aus Dankbarkeit zu blöken begönnen. Schmilzt denn jenes nicht den Schnee, der die Erde bedeckt? Nein. die Schafe zeigten sich entschieden undankbar!

Meistens befand sich Findling während des größten Theiles des Tages auf seiner Weide allein. Zuweilen machten Murdock und Sim jedoch ein Weilchen Halt, nicht um ihn als Schäfer zu beobachten, denn auf den Knaben konnte man sich verlassen, sondern um einige freundliche Worte mit ihm zu wechseln.

»Nun, riefen sie da, wie macht sich's denn mit der Heerde? Ist das Gras hübsch dicht?

– Sehr dicht und fett, Herr Murdock.

– Und sind auch die Schafe artig? fragt einer wohl lächelnd.

– Sehr artig, Sim. Fragen Sie nur Birk, der hat mit ihnen nicht viel zu thun.«

Der nicht grade schön zu nennende, aber sehr intelligente und muthige Birk war schon ein treuer Gefährte Findlings geworden. Beide unterhielten sich wirklich miteinander. Wenn der Knabe, den Blick auf ihn geheftet, mit dem Thiere sprach, so schien Birk, dessen braune Nasenspitze dabei zitterte, die Worte förmlich aufzusaugen und er wedelte verständnißinnig mit dem Schwanze, den man fast hätte einen »tragbaren Zeigertelegraphen« nennen können. Es waren eben zwei ziemlich gleichalterige gute Freunde, die einander vollkommen verstanden.

Mit dem Mai fing es nun stärker an zu grünen. Die Futterkräuter, wie Esparsette, Rothklee und Luzerne bildeten bereits einen dichten Teppich. Die Getreidefelder zeigten dagegen nur noch recht kurze Halme, so daß sich Findling fast verführt fand, daran zu ziehen, um sie größer zu machen. Als Martin ihn eines Tags aufgesucht hatte, theilte er diesem seine berühmte Idee mit.

»Glaubst Du denn, mein Junge, antwortete der Farmer lächelnd, Deine Haare wüchsen schneller, wenn man daran zupfte?... Nein; das würde Dir nur weh thun, weiter nichts.

– So darf man das also nicht?

– Nein; niemals soll man jemand, und wäre das auch nur eine Pflanze, wehe thun. Laß nur den Sommer kommen, die Natur ihr Werk verrichten, dann werden die grünen Sprossen zu schönen Halmen geworden sein, die wir abmähen, um das Stroh und die Körner zu gewinnen.

– Glauben Sie, Herr Martin, daß die Ernte dieses Jahr gut sein wird?

[141] – Allen Anzeichen nach, ja. Der Winter ist nicht gar so streng gewesen, und seit dem Frühjahre haben wir mehr sonnige als regnerische Tage gehabt. Gott gebe, daß das noch drei Monate so fortgeht, dann liefert die Ernte reichlich die Abgaben und den Pachtzins.«

Immerhin gab es Feinde, die nicht zu vernachlässigen waren: die gefräßigen Vögel, die auf den Feldern Irlands umherschwärmen. Von den Schwalben, die während ihrer kurzen Anwesenheit hier blos Insecten verzehren, war ja nicht zu reden. Dagegen verursachten die frechen, nimmersatten Sperlinge und auch die Krähen dem Landmann hier sehr fühlbaren Schaden.

Die abscheulichen Vögel versetzten Findling förmlich in Wuth, und dabei schien es noch, als ob sie sich über ihn lustig machten. Wenn er seine Schafe nach der Weide trieb, flatterten sie in schwarzen Schaaren empor und flogen mit scharfem Geschrei, die Füße herabhängend, davon. Es waren Vögel von enormer Spannweite, deren große Flügel sie sehr schnell hinwegtrugen. Findling verfolgte sie hitzig und hetzte auch Birk auf sie, der dann bellte, bis ihm der Athem verging. Was war aber gegen die Räuber, denen man sich nicht nähern konnte, zu beginnen? Sie narren einen noch auf zehn Schritte Entfernung; dann tönt's »Krroa... krroa!« und die Wolke zerstäubt.

Am meisten ärgerte es Findling, daß die inmitten des Getreides aufgestellten Vogelscheuchen offenbar gar nichts nützten. Sim hatte ganz entsetzlich aussehende Männer mit ausgestreckten Armen fabriciert, deren zerrissene Bekleidung sich bei jedem Windhauch bewegte. Kinder hätten sich vielleicht davor gefürchtet... die Krähen?... Nicht im geringsten! Vielleicht konnte man eine noch mehr erschreckende und nicht so stumme Vorrichtung ersinnen; dieser Gedanke kam unserm kleinen Helden nach langer Ueberlegung. Wohl bewegt die Vogelscheuche bei genügendem Winde scheinbar die Arme, doch sie spricht, sie schreit nicht; hierin mußte sie vervollkommnet werden.

Ein vortrefflicher Gedanke, wie jeder zugeben wird, und um ihn auszuführen, hatte Sim am Kopfe der Gestalt nur eine Schnarre anzubringen, die vom Winde mit Geräusch gedreht wurde.

Wenn die Krähen darüber an den beiden ersten Tagen zwar nicht zu erschrecken, doch aber erstaunt zu sein schienen, so achteten sie am dritten Tage schon gar nicht mehr darauf, und Findling sah sie sich ruhig auf den Zappelmann setzen, dessen Schnarre mit ihrem Gekrächz nicht wetteifern konnte.

»Entschieden ist nicht alles vollkommen hienieden!« dachte der Knabe.

[142] Im übrigen ging auf der Farm alles den gewohnten Gang. Findling war so glücklich wie möglich. An den langen Winterabenden hatte er im Schreiben und Rechnen gute Fortschritte gemacht. Wenn er jetzt gegen Abend heimkehrte, brachte er zuerst seine Buchführung in Ordnung. Diese umfaßte neben den Eiern der Hühner auch die Küchlein im Stalle, die am Tage, wo sie ausgekrochen waren, aufgeschrieben und numeriert wurden. Dasselbe galt von den geworfenen Ferkeln und Kaninchen, die in Irland wie anderswo gliederreiche Familien bilden. Dem jungen Buchhalter machte das manche Arbeit. Man wußte ihm aber auch Dank dafür. Er bewies so viel Ordnungssinn, daß man ihn darin eher noch bestärkte, und jeden Abend übergab ihm Martin seinen Kieselstein, der in der Kruke aufbewahrt wurde. Diese Kiesel hatten für den Knaben ebenso viel Werth wie Schillinge. Geld ist ja überhaupt nur eine Sache des Uebereinkommens. Der Steintopf enthielt außerdem auch die goldne Guinee, die er für sein erstes Auftreten in Limerick erhalten und deren er, ohne selbst einen Grund zu wissen, auf der Farm noch gar nicht Erwähnung gethan hatte. Da er dafür hier, wo es ihm an nichts fehlte, keine Verwendung sah, schätzte er sie fast geringer als die kleinen Steine, die seinen Eifer und seine gute Aufführung bezeugten.

Da die Witterung immer günstig geblieben war, begann man schon in der letzten Juliwoche mit der Heuernte, die sehr reichlich ausfiel. Alle Insassen des Pachthofes hatten dabei zu thun. Murdock, Sim und den beiden Lohnarbeitern fiel es zu, gegen fünfzig Acres Gras abzumähen. Die Frauen halfen dann das Gras auszubreiten, um es zu trocknen, ehe es in »Moffles« (etwa »Feimen«) aufgestapelt wurde, von denen aus man es endlich nach den Scheuern schafft. In einem so regenreichen Lande ist natürlich jeder Tag kostbar, und man beeilt sich, von jedem guten Wetter Nutzen zu ziehen. Um Martine und Kitty unterstützen zu können, vernachlässigte Findling eine Woche lang sogar seine Heerde ein wenig.

So verfloß das Jahr, eines der glücklichsten, das Martin auf der Farm erlebt hatte. Höchstens beklemmte es ihn, von Pat keine Nachricht erhalten zu haben. Es sah fast aus, als bringe die Anwesenheit Findlings dem Hause Glück und Segen. Als der Abgabeneinsammler und der Pachtzinserheber sich einstellten, wurden sie bei Heller und Pfennig bezahlt. Auf den nächsten milden und feuchten Winter folgte ein zeitiger Frühling, der bei den Landleuten die gehegten Erwartungen erfüllte.

[143] Nun ging die Thätigkeit auf dem Felde wieder an. Findling verbrachte draußen mit Birk und seinen Schafen die gewohnten langen Tage. Er sah die Feldfrucht grünen, er lauschte dem ganz seinen Geräusch, das bei der Entwicklung der Halme vom Roggen und vom Hafer ausgeht; ihn belustigte der Wind, der die langbärtige Gerste zerzauste. Und weiter sprach man zu Hause auch von einer andern, ungeduldig erwarteten Ernte, worüber die Großmutter heimlich lächelte. Wirklich vergingen keine drei Monate, als die Familie Mac Carty's durch ein ihr von Kitty geschenktes Mitglied vermehrt wurde.

Während der Heuernte im August und mitten in der dringlichsten Arbeit bekam einer der Arbeiter das Fieber und konnte seine Arbeit nicht fortsetzen. An seiner Stelle galt es nun einen andern, noch feiernden Mäher zu schaffen, wenn sich ein solcher fand. Das mißlichste dabei war, daß Martin einen halben Tag opfern mußte, um nach Silton zu gehen. Deshalb nahm er es gern an, als Findling sich hierzu anbot.

Man konnte sich schon auf ihn verlassen, daß er einen erhaltenen Auftrag gewissenhaft ausführte. Fünf Meilen auf einer ihm von den sonntäglichen Kirchgängen her bekannten Straße zurückzulegen, war ihm ja ein kleines. Von der Farm frühzeitig aufbrechend, versprach er, noch vor Mittag zurück zu sein.

Findling schlug einen schnellen Schritt ein und trug in seiner Tasche einen Brief des Farmers an den Gasthalter in Silton, in einem kleinen Rucksack aber einige Mundvorräthe für den Weg.

Das Wetter war schön; von Osten her wehte ein erfrischender Wind, und so waren die ersten drei Meilen bald überwunden.

Auf dem Wege und im Innern der vereinzelten Häuser befand sich kein Mensch. Alle waren auf den Feldern beschäftigt. Auf Sehweite hinaus zeigte sich das Land mit Tausenden von Moffles bedeckt, die bald eingefahren werden sollten.

An einer Stelle trifft die Landstraße hier an ein dichtes Gehölz, um das sie etwa eine Meile weit herumführt. Um Zeit zu ersparen, hielt es Findling für angezeigt, den Wald gleich zu durchkreuzen. Er schritt hinein, nicht ganz frei von der angebornen Furcht der Kinder vor dem Walde, in dem sich oft Diebe aufhalten, dem Walde, in dem Wölfe hausen und in dem alle Schauergeschichten spielen, die man in der Dämmerung aufzutischen pflegt.


Findling sah sie, sich ruhig setzen. (S 142.)

Was den Wolf angeht, so betet Paddy gern zu allen Heiligen, diesen bei guter Gesundheit zu erhalten, und er nennt das Raubthier gar »seinen Gevatter«.

[144] [147]Findling hatte kaum hundert Schritte auf einem schmalen Pfade zurückgelegt, als er angesichts eines Mannes stehen blieb, der am Fuße eines Baumes lag.

War das ein Reisender, den hier die Kräfte verlassen hatten, oder nur ein Fußgänger, der vor der Fortsetzung seines Weges etwas ausruhte?

Findling betrachtete ihn, und da jener sich nicht bewegte, ging er vorwärts.

Die Arme gekreuzt und den Hut über die Augen gezogen, lag der Mann in tiefem Schlafe. Er schien jung zu sein, höchstens fünfundzwanzig Jahre alt. An seinen beschmutzten Stiefeln und der staubigen Kleidung sah man, daß er, jedenfalls von Tralee her, eine weite Strecke gewandert sein mochte.

Am meisten erregte es aber die Aufmerksamkeit Findlings, daß der Fremde ein Seemann sein mußte, das verrieth seine Tracht und ein großer getheerter Kleidersack. Auf diesem stand eine Adresse, die der Knabe beim Näherkommen lesen konnte.

»Pat, rief er überrascht, das ist Pat!«

Wirklich war es Pat, den man schon an der Aehnlichkeit mit seinen Brüdern erkennen konnte, Pat, von dem so lange jede Nachricht fehlte und dessen Heimkehr so sehnsüchtig erwartet wurde.

Schon wollte Findling ihn durch einen Anruf erwecken... er hielt inne. Er sagte sich, wenn Pat an der Farm erschien, ohne daß jemand darauf vorbereitet war, so würden seine Mutter und seine Großmutter wenigstens dadurch so erregt werden, daß es ihnen schaden könnte. Nein, besser war es, Martin zu benachrichtigen; dieser würde die Frauen dann vorsichtig auf das Eintreffen ihres Sohnes und Enkels vorbereiten. Der Auftrag an den Gasthalter von Silton konnte auch morgen ausgerichtet werden. Und übrigens war Pat, als Kind der Familie, ja auch eine gegebene Hilfskraft, die gewiß jede andre aufwog. Der Wanderer war wirklich ermüdet, denn er hatte Tralee, bis wohin die Eisenbahn führte, schon mitten in der Nacht verlassen. Wenn er sich aber hier erhob, würde er die Farm ganz gewiß schnell erreichen. Vorzüglich kam es Findling also darauf an, vor jenem dort einzutreffen.

Das Bündel wollte er ihn aber doch nicht tragen lassen, das konnte Findling wohl den eignen Schultern aufbürden, und mit um so mehr Vergnügen, als es ja der Reisesack eines Matrosen war, ein Sack, der vom weiten Meere herkam.

[147] So faßte er diesen am Knoten des Strickes, der ihn oben verschloß, warf ihn sich auf den Rücken und trabte in der Richtung nach der Farm ab.

Erst aus dem Walde, hatte er nur der Landstraße zu folgen, die sich von da eine halbe Meile in schnurgrader Linie hinzog.

Findling hatte aber kaum fünfhundert Schritte in dieser Richtung zurückgelegt, als er hinter sich lautes Rufen vernahm. Er wollte jedoch weder stehen bleiben, noch seinen Schritt verlangsamen, im Gegentheil sachte er einen Vorsprung zu gewinnen.

Der freilich, der hinter ihm rief, der lief auch.

Das war Pat.

Beim Erwachen hatte er seinen Sack nicht mehr gefunden. Erzürnt eilte er aus dem Walde und sah das Kind gerade noch bei einer Biegung des Weges.

»He! Dieb! Wirst Du still stehen?«...

Begreiflicher Weise hörte Findling hierauf nicht, sondern lief aus allen Kräften davon. Mit dem Sack auf dem Rücken konnte es freilich nicht fehlen, daß er von dem schnellfüßigen Seemanne eingeholt würde.

»Heda, Dieb Du!... Du entwischst mir nicht... Dir ist Deine Strafe gewiß!«

Da Findling bemerkte, daß Pat kaum noch zweihundert Schritt weit hinter ihm war, ließ er den Sack fallen und stürmte nun erst recht weiter.

Pat nahm seinen Sack auf und setzte die Verfolgung fort.

Kurz, gerade vor der Farm gelang es Pat noch, das Kind am Kragen zu packen.

Martin und seine Söhne waren auf dem Hofe mit dem Abladen von Futter beschäftigt. Da entfuhr ihnen ein Freudenschrei, den sie gar nicht zu unterdrücken suchten.

»Pat... mein Junge!

– Bruder... Bruder!«

Schon eilten auch Martine mit Kitty und kam selbst die Großmutter herzu, um Pat in die Arme zu schließen.

Mit freudestrahlenden Augen stand Findling dabei und wartete, ob ihm auch eine Begrüßung zutheil würde....

»Ah! Der Kleine, der mich bestohlen hatte!« rief dafür Pat.

[148] Mit einigen Worten war alles erklärt, und auf Pat zustürmend, kletterte Findling diesem an den Hals, als ob er den Mastkorb eines Schiffes hätte, erklimmen sollen.

Fußnoten

1 Seit 1870 können die Pächter übrigens nicht mehr von Haus und Hof verjagt werden, ohne eine entsprechende Entschädigung für vorgenommene Bodenmeliorationen zu erhalten.

13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Zweifache Taufe.

Das war ein Jubel bei den Mac Carthy's! Pat heimgekehrt, der junge Mann in der Farm von Kerwan, die ganze Familie vereinigt, die drei Brüder an einem Tische, die Großmutter mit ihrem Enkel, Martin und Martine mit allen ihren Kindern!

Das Jahr ließ sich gut an. Futter gab es in Menge und die Ernte versprach auch sehr gut zu werden. Dazu die Kartoffeln, über deren Knollen fast die Furchen anschwollen. Das war fertiges Brod, das nur gekocht zu werden brauchte, und dazu reichte ein wenig Gluth auf dem ärmlichsten Herde.

Zuerst richtete Martine an Pat die Frage:

»Bist Du nun für ein ganzes Jahr zu uns heimgekehrt, mein Kind?

– Nein, Mutter, nur für sechs Wochen. Ich kann meinen schönen Beruf nicht aufgeben. Nach sechs Wochen muß ich in Liverpool eintreffen, wo ich wieder an Bord des »Guardian« gehe....

– Schon in sechs Wochen! murmelte die Großmutter.

– Ja; diesmal aber als Hochbootsmann, und der Hochbootsmann auf einem großen Schiffe hat schon etwas zu bedeuten....

– Schön, Pat, sehr schön! fiel Murdock ein, der warm die Hand des Bruders drückte.

– Bis zum Tage der Abreise, fuhr der junge Seemann fort, sollen Euch indeß. wenn Ihr ein Paar gesunde Arme braucht, die meinigen zur Verfügung stehen.

– Das läßt sich hören,« antwortete Martin.

[149] Heute lernte Pat nun auch seine Schwägerin Kitty kennen, deren Hochzeit erst nach seiner letzten Einschiffung stattgefunden hatte. Er freute sich aufrichtig, in ihr eine so vortreffliche, zu seinem Bruder passende Frau zu finden, doch auch darauf, in der nächsten Zeit... Onkel zu werden, und er umarmte Kitty wie eine in seiner Abwesenheit ins Haus gekommene Schwester.

Findling war diesen Herzensergießungen gegenüber auch nicht unempfindlich geblieben, wenn er sich bisher auch etwas abseits hielt. Jetzt kam indeß an ihn die Reihe, denn er gehörte ja ebenfalls zur Familie. Pat hörte dabei des Knaben Lebens- und Leidensgeschichte, die ihn tief rührte. Von Stund' an wurden die beiden nun die besten Freunde.

»Und ich, wiederholte der junge Seemann lachend, ich konnte ihn für einen Dieb halten, als ich ihn mit meinem Kleidersack davongehen sah! Wahrlich, er lief Gefahr, aus Versehen ein paar Ohrfeigen wegzubekommen....

– Die hätten mir auch nicht weh gethan, versicherte Findling, denn ich hatte Ihnen ja nichts gestohlen.«

Dabei betrachtete er den kräftigen, breitschultrigen jungen Mann mit so entschlossenem Wesen, ungezwungenem Auftreten und mit von Sonne und Wind gebräuntem Gesicht. Ein Seemann erschien ihm als ein ganz besondres Wesen.... Deshalb begriff er recht gut, daß Pat der Günstling der Großmutter war, die ihn an der Hand hielt, wie um ihn nicht zu zeitig wieder fortgehen zu lassen.

Zunächst erzählte Pat nun seine Geschichte und erklärte, warum er so lange in der weiten Welt gewesen sei, ohne von sich Nachricht zu geben. Ja beinahe wäre er überhaupt nicht zurückgekehrt. Der »Guardian« war an einer der Inseln des Indischen Meeres gestrandet. Die Schiffbrüchigen fanden im Laufe von dreizehn Monaten keine andre Zuflucht, als dieses kleine, außerhalb der Seeverkehrswege gelegene Stückchen Land, wo sie von der übrigen Welt völlig abgeschlossen waren. Mit großer Mühe gelang es ihnen da endlich, den »Guardian« wieder flott zu machen, und neben dem Schiffe auch dessen Ladung zu retten. Pat hatte sich dabei durch seinen Eifer und seine Gewandtheit so vortheilhaft ausgezeichnet, daß die Firma Marcuart ihn auf Vorschlag seines Kapitäns für eine demnächstige Reise nach dem Stillen Ocean als Hochbootsmann anstellte. Alles hatte sich also zum besten gewendet.

Am folgenden Tag gingen alle Insassen von Kerwan an die Arbeit, und da zeigte es sich, durch welch vorzügliche Kraft der erkrankte Lohnarbeiter ersetzt war.

[150] Mit dem September kam schon die Erntezeit heran. Blieb der Ertrag an Weizen auch wie gewöhnlich recht mittelmäßig, so gab es doch desto mehr Roggen, Gerste und Hafer. Das Jahr 1878 gehörte entschieden zu den sehr fruchtbaren Jahren. Der Pachteinsammler hätte sich noch vor Weihnachten einstellen können, er wäre in blankem Golde bezahlt worden. Auch Mundvorräthe und Futter für den Winter gab es in Hülle und Fülle. Besondere Ersparnisse konnte Martin Mac Carthy freilich immer noch nicht zurücklegen. Er lebte von seiner Hände Arbeit, die ihm wohl die Gegenwart, nicht aber die Zukunft sicherte. Die Zukunft der irischen Pächter hängt ja immer von klimatischen Launen ab. Das lag Murdock immer im Sinne. Derartige sociale Verhältnisse, die nur mit der Abschaffung der Landlordwirthschaft und der Zurückgabe des Bodens an die Bebauer desselben gegen mäßige Abzahlung endigen konnten, steigerten seinen Haß nur weiter.

»Du mußt Vertrauen haben!« redete ihm Kitty zu.

Murdock sah sie an, ohne eine Antwort zu geben.

Am 9. dieses Monats trat das ungeduldig erwartete Ereigniß in der Farm von Kerwan ein: Kitty, die dabei kaum zum Liegen kam, schenkte einem Mädchen das Leben. Das war aber eine Freude! Das Baby wurde begrüßt, wie ein Engel, der ins Haus geflogen wäre. Großmutter und Martine rissen sich darum. Murdock lächelte, wenn er sein Kind in den Arm nahm. Seine beiden Brüder standen voll Bewunderung vor ihrem Nichtchen. Es war ja die erste Frucht am weiblichen Zweige des Familienstammbaumes, des Kitty-Murdock'schen Zweiges, in Erwartung, daß die beiden andern darin in gleicher Weise nachfolgen würden. Alle beglückwünschten und liebkosten die junge Mutter, für die sie sich in zärtlichster Sorge überboten. Wie reichlich flossen dabei die Thränen der Rührung! Es schien fast, als wäre das Haus vor der Geburt des kleinen Wesens noch ganz leer gewesen.

Der Findling hatte sich noch nie so ergriffen gefühlt wie bei dem ersten Kusse, den man ihm der Neugebornen zu geben gestattete.

Daß dieses frohe Ereigniß Veranlassung zu einem besondern Feste geben müsse, sobald erst Kitty daran theilnehmen konnte, daran zweifelte keiner. Das Programm dazu war übrigens sehr einfach. Nach Vollziehung der Taufe in der Kirche von Silton sollten sich der dortige Priester und einige Freunde Martins – ein halbes Dutzend Pächter aus der Nachbarschaft, die einen Weg von zwei bis drei Meilen nicht scheuten – in der Farm einfinden Hier würde sie ein reichliches, nahrhaftes Frühstück erwarten. Gewiß vereinigten sich die genannten alle gern einmal mit der achtungswerthen Pächterfamilie, deren größte Freude es war, daß auch Pat dem kleinen Feste noch beiwohnen konnte, da dessen Abreise erst in den letzten Tagen des Septembers bevorstand.


Auf diesem stand eine Adresse. (S. 147.)

[151]

Nun tauchte zunächst die Frage auf, wie das Kind genannt werden sollte.


Zunächst erzählte Pat nun seine Geschichte. (S. 150.)

Die Großmutter schlug den Namen »Jenny« vor, und hiermit war diese Schwierigkeit ebenso gehoben, wie die wegen einer Taufzeugin; denn ohne Zweifel war es der alten Frau eine herzliche Freude, selbst als solche einzutreten. [152] Wohl trennten Täufling und Pathin drei Generationen und ein kleines Mädchen hätte wohl eine jüngere Pathin gebrauchen können. Hier lag jedoch eine Gefühlssache vor, die alle andern Rücksichten beiseite setzen ließ; es war als wenn die bejahrte Frau sich selbst neuer Mutterschaft erfreute, und ihren Augen entquollen Thränen der Rührung, als ihr jener Antrag mit einiger Feierlichkeit gemacht wurde.

Aber der Pathe?... Das war schwieriger. Von einem Fremden konnte nicht die Rede sein, da ja noch zwei Brüder oder Onkels, Sim und Pat, im [153] Hause waren, die dieses Ehrenamt beanspruchen konnten. Die Wahl des einen mußte dem andern aber als Zurücksetzung erscheinen, wenn auch Pat, der ältere, hierin etwas im Vorsprunge war. Dieser befand sich als Seemann aber die meiste Zeit auf dem Meere, so daß er seinen Verpflichtungen als Pathe kaum nachkommen konnte. Das mußte er zu seinem Leidwesen zugeben, und so blieb denn nur Sim übrig.

Da sprach die Großmutter einen Gedanken aus, der zuerst allerdings überraschte. Jedenfalls stand es ihr aber zu, den Gevattersmann zu bestimmen, und ihre Wahl fiel auf Findling.

Obgleich eine Waise und von unbekannter Familie, wußten ja alle, daß er intelligent, arbeitsam und ihnen treu ergeben war, und alle liebten und achteten ihn auf der Farm. Und doch?... Findling?... Er zählte ja kaum siebeneinhalb Jahre, etwas wenig für einen Taufzeugen.

»Thut nichts, erklärte die Großmutter, was er an Jahren zu wenig hat, habe ich wieder zu viel; das hebt sich auf.«

In der That war der Knabe noch nicht acht, die Großmutter aber sechsundsiebzig Jahre alt. Das ergab für beide zusammen vierundachtzig Jahre, zweiundvierzig für jeden, rechnete die Großmutter aus.

»Und kraft meines Alters,«... setzte sie hinzu.

Da sich alle bestrebten, gegen sie zuvorkommend zu sein, fand ihr Vorschlag ohne Widerspruch Annahme. Die junge Mutter, die für Findling eine Art mütterliche Zuneigung hegte, stimmte ebenfalls zu. Nur Martin und Martine waren nicht ohne weiteres schlüssig, da über die Familienverhältnisse des auf dem Friedhofe in Limerick gefundenen Knaben gar keine Auskunft zu erhalten gewesen war.

Da machte Murdock den letzten Zweifeln ein rasches Ende. Er wies darauf hin, daß der Knabe bei seinen vortrefflichen Anlagen und seinem lobenswerthen Verhalten genug Sicherheit biete, daß er auch später seine Pflichten erfüllen werde, und diese Darstellung führte die endliche Entscheidung herbei.

»Willst Du denn? fragte er den Knaben.

– Ja, Herr Murdock,« erklärte Findling.

Er antwortete mit so bestimmtem Tone, daß es jedem auffiel. Unzweifelhaft war er sich klar über die Verantwortlichkeit, die er für die Zukunft seines Pathenkindes auf sich nahm.

[154] Am Morgen des 26. Septembers waren alle zu der heiligen Handlung bereit. Mit den Sonntagskleidern angethan, begaben sich die Frauen im Wagen, die Männer zu Fuß, und alle in gehobenster Stimmung nach der Pfarrkirche in Silton.

Kaum hatten sie diese aber betreten, als eine Schwierigkeit auftauchte, an die vorher niemand gedacht hatte, bis der Parochialgeistliche darauf hinwies.

Auf seine Frage, wer der Taufzeuge der Neugebornen sei, antwortete Murdock:

»Hier, Findling.

– Wie alt ist dieser?

– Siebenundeinhalb Jahr.

– Siebenundeinhalb?... Das ist zwar etwas jung, doch kein gesetzliches Hinderniß. Er hat doch wohl einen andern Namen als blos Findling?

– Wir kennen keinen andern, Herr Pfarrer, ließ die Großmutter sich vernehmen.

– Keinen andern?« versetzte der Geistliche.

Dann wendete er sich an den Knaben.

»Du mußt doch einen Taufnamen haben? fragte er.

– Ich habe aber keinen, Herr Pfarrer.

– O doch, mein Kind! Oder solltest Du zufällig überhaupt nicht getauft sein?«

Ob nun zufällig oder nicht, jedenfalls konnte Findling darüber keinerlei Aufschluß geben, da er sich an eine ihn betreffende Tauffeierlichkeit natürlich nicht erinnern konnte. Es erschien wirklich seltsam, daß die so religiöse und gewissenhafte Familie Mac Carthy nicht schon früher auf diese Frage gekommen war. In der That hatte aber niemand daran gedacht.

In der Meinung, nun unmöglich der Taufzeuge der kleinen Jenny werden zu können, stand Findling völlig verblüfft daneben.

»Nun, wenn es noch nicht geschehen ist, Herr Pfarrer, rief da Murdock, so kann er ja getauft werden.

– Doch, wenn er das schon wäre! bemerkte die Großmutter.

– O, so wird er einfach ein doppelter Christ, sagte Sim. Taufen Sie ihn nur vor der Kleinen....

– Nun ja, warum nicht? antwortete der Geistliche.

– Dann könnte er als Taufzeuge dienen?

[155] – Gewiß.

– Und es hindert nichts die Vornahme dieser zwei Taufen gleich nach einander? erkundigte sich Kitty.

– Das ich nicht wüßte, erklärte der Geistliche, vorausgesetzt, daß sich für Findling ein Taufzeuge und eine Zeugin findet.

– Dazu erbiete ich mich, sagte Martin.

– Und ich mich ebenfalls,« setzte Martine hinzu.

Wie glücklich fühlte sich der Knabe, auf diese Weise mit seinen Pflegeeltern noch enger verbunden zu werden.

»O, ich danke... ich danke allen...!« rief er wiederholt, während er der Großmutter, Kitty und Martine lebhaft die Hände drückte.

Da er nun einen Taufnamen erhalten mußte, entschied man sich für »Edit«, den Kalenderheiligen des betreffenden Tages.

Edit!... Recht so! Höchst wahrscheinlich blieb ihm aber doch der Name Findling auch ferner; hatten sich doch alle daran schon so sehr gewöhnt.

Der junge Kirchenzeuge wurde also zuerst getauft; nach dieser Ceremonie hielten die Großmutter und er das Kind über das Taufbecken und die Kleine wurde, entsprechend dem Wunsche ihrer Pathin, »Jenny« getauft.

Sofort verkündeten die Glocken dem Kirchspiele die Vollziehung der feierlichen Handlung, krachten vor der Kirche Kanonenschläge und regnete es Coppers auf die Straßenjugend der Ortschaft. Was hatte sich aber alles vor der Thüre des Gotteshauses versammelt! Es schien, als ob alle Armen der Grafschaft sich hier ein Stelldichein gegeben hätten.

Die Heimkehr nach der Farm erfolgte in fröhlichster Stimmung. Mit dem Geistlichen an der Spitze zogen die Festgäste, ein gutes Dutzend Nachbarn und Nachbarinnen, dahin. Alle nahmen an der im großen Zimmer aufgestellten Tafel Platz, für die die Gerichte von einer ausgezeichneten, eigens aus Tralee geholten Köchin bereitet waren.

Selbstverständlich waren die Speisen bei diesem denkwürdigen Festmahle alle den Vorräthen der Farm entnommen. Von außerhalb rührte gar nichts her, weder die Hammelkeulen mit schmackhaft gewürzter Sauce, noch die Hühnerbraten mit saftiger Beilage, weder die Schinken, noch die Kaninchenrostbraten, nicht einmal die Salme und Hechte, denn diese waren eigenhändig im Cashen gefangen worden.

[156] Findling hatte selbstverständlich alle die schönen suchen unter die Rubrik »Abgänge« eingetragen und so seine Buchführung auf dem Laufenden erhalten. Nun konnte er mit Gewissensruhe essen und trinken. Hier saßen auch Tischgäste, die mit gutem Beispiele vorangingen, Leute mit Magen, die weniger nach der Herkunft der Speisen, als nach deren Menge fragten. So blieb von dem Frühstück rein nichts übrig, weder von den drei warmen Gerichten, noch von der Nachspeise, obwohl der Plum-pudding aus Reis von gewaltiger Größe war und es für jede Person noch eine Johannisbrodtorte und eine Menge Sellerie gab.

Und dazu der Ingwerwein, der Stout, der Porter, das Sodawasser und der Usquebaugh (eine Art Whisky), der Brandy und der Gin, nebst dem Groh, hergestellt nach dem berühmten Recepte : »hot, strong and plenty« – »heiß, stark und reichlich« – genug, um die geübtesten Trinker der Provinz unter den Tisch zu bringen. Gegen Ende der drei Stunden währenden Mahlzeit glänzten denn auch die Augen wie Feuerbrände und glühten die Wangen wie Kohlen im Kamin. In der Familie Mac Carthy huldigte man der Nüchternheit. Kein Glied derselben besuchte die für die Katholiken bestehenden »Aether-Schänken«, noch viel weniger die »Alkohol-Schänken«, wo die Protestanten verkehrten. Doch bei einem Taufschmause konnte man sich wohl ein wenig gehen lassen, und dann war ja auch der Geistliche bei der Hand, um die Absolution zu ertheilen.

Martin beobachtete seine Gäste auch sorgsamst und fand dabei unerwartete Unterstützung durch seinen zweiten Sohn Pat, der sich sehr mäßig gehalten hatte, während Sim vielleicht »einen kleinen Spitz« davontrug.

Und als ein dicker Farmer aus der Nachbarschaft sich wunderte, daß ein Seemann ein so zaghafter Trinker sei, erwiderte der junge Mann:

»Das kommt daher, daß ich die Geschichte John Playne's kenne!

– Die Geschichte John Playne's?

– Die Geschichte oder die Ballade, wie Sie wollen.

– Wohlan denn, singen Sie uns die Ballade vor, Pat, sagte der Geistliche. der diese Ablenkung sehr gern sah.

– Ja, sie ist etwas trauriger Art und etwas sehr lang.

– Thut nichts, mein Sohn, wir haben Muße genug, sie bis zum Ende zu hören.«

Darauf hin begann Pat das Klagelied mit so machtvoller, ergreifender Stimme, daß Findling das ganze Meer aus seinem Munde tönend glaubte.

[157] Das Klagelied von John Playne.
I.

John Playne, glaubt mir's ruhig,
War grau am ganzen Haupt,
Doch trinken mußt' er immer
Bis ihn der Tod geraubt.
Zwei Stunden in der Schänke...
Braucht' es denn wohl noch mehr?
Da war sein Kopf gefüllt zwar,
Der Beutel aber leer.
Ha! Wenn es draußen fluthet
Winkt' ihm ja neuer Lohn,
Und den dann zu vertrinken,
Darauf freut er sich schon.
Das ist nun einmal Sitte
Der Fischer von Kromer,
Sie haben schwere Arbeit...
Nun flott, John Playne, auf's Meer!

»Nun, da ist er ja gleich aus der Schänke heraus, rief Sim.
– Das ist hart für einen erprobten Trinker! bemerkte der dicke Farmer.
– Er hat wohl schon genug getrunken, äußerte Martin.
– Schon zu viel!« meinte der Pfarrer.
Pat fuhr nun fort:
II.

John Playne's kleines Fahrzeug,
Sehr spitz gebaut am Bug,
Mit Klüverbaum und Fockmast,
Den Namen »Cavan« trug.
Doch John muß sich beeilen,
Daß er gelangt an Bord,
Schon sind die andern Fischer
Weit aus dem Hafen fort.
Das Meer ist grausam pünktlich,
Hält die Gezeiten ein:
Zwei Stunden noch, die Ebbe
Wird dann vorüber sein.
[158]
Drum wenn sich John nicht sputet,
Sofort hinaus zu gehn,
Und gar das Wetter umschlägt
Ist's um sein Boot geschehn.

»Er wird schon durch eigne Schuld noch Unglück haben, ließ sich die Großmutter vernehmen.
– Desto schlimmer für ihn!« versetzte der Pfarrer.
Pat fuhr weiter fort:
III.

Tief dunkel... droh'nder Himmel!
Schon schlägt der Wind zurück,
Laut braust es in den Lüften,
Und John mit Katzenblick
Schaut auf und lauscht verwundert...
Was drang da an sein Ohr?
Was stößt aus Felsenufer?
Er rafft sich schwer empor:
Da sieht sein Boot er schwanken,
Bedrängt vom Wogenring,
Ein Glück, daß es nicht splitternd
Dabei zugrunde ging.
John Playne flucht und wettert:
»Das halt' der Teufel aus!
Bei solchem Sturmeswüthen
Soll man aufs Meer hinaus!«
Doch klettert er ins Fahrzeug,
Ins rollende hinein,
Und zündet seine Pfeife
Mit Schwamm und Feuerstein.
Er stülpt sich den Südwester
Zum Schutze über, dann
Theerrock und Wasserstiefeln
Legt er arg schwankend an.
Mit Mühe richtet Playne
Den Mast im Boote auf
Und zieht das schwere Segel
Mit kräft'gem Ruck hinaus.
Dann zerrt er an der Drisse,
Das Klüversegel steigt,
Ob auch das kleine Fahrzeug,
Sich tief zur Seite neigt.
[159]
Er läßt das Sorrtau schießen;
Das Steuerruder faßt
Die nerv'ge Hand und spannt nun
Das Segel aus am Mast.
Doch als am Kruzifixe
Des Strand's vorbei er fliegt,
Macht er des Kreuzes Zeichen,
So toll sich's Boot auch wiegt.

Was hatte sich da aber alles versammelt. (S. 156.)

Ein Irländer darf es unter keinen Umständen vergessen, sich zu bekreuzigen, bemerkte Murdock ernst.

[160] – Selbst wenn er etwas getrunken hat, setzte Martin hinzu.

– Der Herr sei ihm gnädig!« schloß der Geistliche die Zwischenrede. Pat nahm das Klagelied wieder auf.


Das Steuerruder faßt... Die nerv'ge Hand... (S. 160.)

IV.

Die Bai mißt gut zwei Meilen
Bis hin zum Fischergrund;
Hier führt der Weg im Zickzack,
Dort fast im Bogen rund.
[161]
Und selbst am hellen Tage,
Hat, wer im Herzen zagt,
Noch keiner ohne Bangen
Die Fahrt hindurch gewagt.
John kennt des Wassers Tiefen,
Weiß, wo der Grund sich senkt,
Und sichern Aug's und Armes
Er ohne Zögern lenkt
Das Fahrzeug nach dem Vorberg
Mit altem Hafenlicht,
Wo nicht so toll sich's Wasser
Wie näh'r am Lande bricht.
John spannt das Segel weiter,
Daß voll der Wind es schwellt
Und klatschend vorn am Bulle
Der Wogen Berg zerspellt.
Doch schon ist er am Ende
Der Durchfahrt nach Nordost,
Wo Fluthwell' oder Ebbe
Nicht mehr so grimmig tost.
Er kennt die schwanken Zeichen
Des Wasserwegs, den Sand
Zur linken, wo manch Fahrzeug
Sich elend fetsgerannt.
Er knüpft die Schote fester
Am Eisenringe schwer...
John ist ein sich'rer Lootse...
Er schwimmt auf hohem Meer!

»Auf dem offnen Meere, dachte Findling. O, wie schön muß das sein!«
V.

Vor ihm die Wasserwüste,
Die Wüste schwarz und wild,
Wenn nicht ein fahles Leuchten
Erhellt das düstre Bild.
Am Himmel flieh'n die Wolken
Mit Sturmeseile hin,
Bald wird das schwere Wetter
Die Küste überzieh'n.
[162]
Da bricht's schon los, da pfeift es,
Du heult es in der Luft
Und reißt sie auf, die Wogen,
Wie eine droh'nde Gruft.

Pat unterbrach seinen Gesang. Diesmal wurde keine Bemerkung laut. Jeder lauschte gespannten Ohres, als ob das Unwetter des Liedes sich über der Farm von Kerwan entladen müßte und diese zum Fahrzeuge John Playne's geworden wäre.


VI.

Doch John kann nichts erschrecken,
Ihn macht kein Blitzstrahl blind,
Er will, wie oft schon früher,
Aufkreuzen in den Wind.
Weit bauschen sich die Segel;
Er stellt sie anders ein
Und steuert ohne Zagen
Scharf in den Sturm hinein.
Was kümmert's ihn, ob schäumend
Entgegenbraust das Meer?
Er will doch Trotz ihm bieten,
Ist auch die Arbeit schwer.
So wirft er aus die Kette
Mit langem Sacknetz dran
Und läßt es nach sich schleppen...
Bald ist das Werk gethan.
Mit Lust am Heck erhält sich
Ein Boot schon in der Fahrt
Und weicht nicht aus dem Curse,
Arbeitet's noch so hart.
Drum greift – mit schwerem Kopfe,
Nach hier und dort den Blick
Gewandt – John nach der Flasche,
Dem Trost im Mißgeschick.
Er führt sie an die Lippen
Und schlürft den scharfen Trank,
Bis auf der Bank am Ruder
Er stumpf zusammensank.
[163]
Da scheint das weite Meer ihm
Ein Teich zu sein voll Gin,
Er träumt, er schwämme wohlig
Allein darüber hin.

»Der Unbesonnene! rief Martin.

– Man sagt ja, es gäbe einen Gott für die Trunknen! bemerkte Sim. – Da muß dieser aber viel zu thun haben, warf Martin ein.

– Wir werden's ja sehen! erwiderte der Geistliche. Fahrt nur fort, Pat.«


VII.

Am nächsten Morgen leuchtet
Die Sonn' in voller Pracht.
Am Himmel leichte Wölkchen –
Nachzügler von der Nacht.
Wenn die Gefahr vorüber,
Wer denkt dann noch daran?
Schon tummeln sich die Fischer
Am Hafen Mann für Mann.
Und jedes Boot beeilt sich;
Jetzt zieh'n sie Bord an Bord,
Gleich fröhlicher Regatta,
Zum neuen Fange fort.

»Und John Playne? fragte Findling, sehr besorgt um den Trunknen, der, das Sacknetz nachschleppend, eingeschlafen war.

– Nur Geduld! mahnte ihn Martin.

– Ich habe auch Angst um ihn!« setzte die Großmutter hinzu.


VIII.

Du... was ist dort geschehen?
Das erste Fahrzeug weicht
And dem gewohnten Curse,
Wo's bald das Ziel erreicht.
Und seiner Fährte schließen
Die andern all' sich an;
Grundlos wich nicht der Führer
Aus der gewohnten Bahn.
Ging wohl ein Boot verloren,
Im tollen Sturm der Nacht?
Hat einem Fischersmanne
Er's nasse Bett gemacht?
[164]
Da seht!... Es treibt ein Fahrzeug
Gekentert auf dem Meer,
Den Kiel nach oben schwankt es
Und steuerlos umher.

»Gekentert! rief Findling entsetzt.
– Gekentert!« wiederholte die Großmutter.
IX.

Geschwind nun an die Arbeit!
Erst zieht das Sacknetz ein
Und legt es Masch' um Masche
Ins nächste Boot hinein.
Schon sieht man nerv'ge Hände
Am Tau des Netzes ziehn
Und in dem Boot es bergen...
Ein Leichnam hing darin.
Und diese düstre Seetrift,
Entrissen jetzt dem Meer,
Sie war bisher John Playne,
Der Fischer und Kromer.
X.

Nicht mehr von ihm gesteuert,
Kam quer sein Boot zum Wind;
Das große Segel drückt' es
Dann nieder wie ein Kind.
Gott sei der Seele gnädig
Des armen, trunknen Narrn!...
Hier fing sich ja der Fischer
In seinem eig'nen Garn.
O, welch ein graus'ger Anblick!
Als man herein ihn zog,
Trotz viel verschluckten Wassers,
Schien ex betrunken noch!

»Der Unglückliche! rief die mitleidige Martine.
– Wir werden für ihn beten!« erklärte die Großmutter.
[165] XI.

Nun frisch uns Werk, ihr Leute,
Wir schaffen ihn ans Land,
Dort mag ein Grab er finden,
Doch nicht zu nach am Strand.
Legt ihn dahin, wo nicht mehr
So viel er trinken kann,
Und stellt nur Glas und Flasche
Aus Grab als Warnung an....
So endete John Playne,
John Playne uns Kromer.
Doch schon setzt ein die Ebbe,
Ihr Fischer, rasch aufs Meer!

Die Stimme Pats klang wie eine Trompete, als er den letzten Vers des traurigen Liedes sang. Auf die Tischgäste hatte dieses einen so mächtigen Eindruck gemacht, daß sie sich – als Zugabe auf zehn tüchtige Gläser – begnügten, nur noch einen Schluck auf die Gesundheit eines jeden zu trinken. Dann trennte sich die Gesellschaft mit dem Vorsatze, es John Playne nie gleich zu thun... nicht einmal auf dem festen Lande.

14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Am Alter von kaum neun Jahren.

Als der große Festtag vorüber war, ging man auf der Farm wieder an die gewohnte Feldarbeit. Pat merkte gewiß nichts davon, daß er einen Urlaub zur Erholung angetreten hatte. Die Seeleute sind ja immer tüchtige Arbeiter, auch wenn sie nicht draußen schwimmen. Pat war gerade zur Erntezeit eingetroffen, und nach dem Getreide war jetzt noch das Gemüse einzufahren. Findling wich fast niemals von der Seite Pats, der jenem eine aufrichtige Freundschaft entgegenbrachte... die Freundschaft des Matrosen für den Schiffsjungen. Nach beendetem Tagewerke und wenn sich alle zum Abendbrode [166] versammelt hatten, war es für Findling die größte Freude, den jungen Seemann erzählen zu hören, wenn dieser über seine Reisen, über allerlei Ereignisse, über die Stürme, die der »Guardian« bestanden, und über so manche schnelle und herrliche Fahrt berichtete. Am meisten interessierte er sich aber für die reiche, der Firma Marcuart zugeführte Fracht, für die Schätze, die der Dreimaster nach Europa heimgebracht hatte. Die Handelsangelegenheiten ließen in seinem praktischen Geiste eine darauf abgestimmte Saite erklingen. Seiner Ansicht nach stand der Rheder weit höher als der Capitän.

-Also das nennt man wohl Handelsgeschäfte treiben, Pat? fragte er.

– Ja; man holt die Erzeugnisse aus den Ländern, wo Natur oder Menschenhand sie hervorbringt, und verkauft sie da, wo das nicht der Fall ist.

– Und theurer, als man sie eingekauft hatte?...

– Natürlich... man muß doch etwas erübrigen. Dann führt man wieder die Erzeugnisse der andern Länder aus, um sie in der weiten Welt abzusetzen.

– Auch wieder theurer, Pat?

– Allemal etwas theurer, wenn das zu ermöglichen ist.«

Derartige Fragen des Knaben mußte Pat nun immer beantworten. Leider und zur großen Betrübniß aller nahte jetzt die Zeit heran, wo er in Liverpool wieder eintreffen mußte.

Am 30. September nahm er Abschied und als er sich von allen, die er liebte, trennte, wußte ja keiner, wie lange man ihn nicht wiedersehen würde. Er versprach jedoch, oft zu schreiben. Alle drückten ihn herzlich in die Arme. Der Großmutter standen die Augen voll Thränen, sie fürchtete ja bei ihrem hohen Alter, daß sie ihn vielleicht nicht mehr vor dem Spinnrade am Kamin und in der Mitte ihrer Kinder wiederfinden werde, wenn sie auch jetzt, ebenso wie die ganze Familie, gesund und wohlauf war. Für den Winter, dessen Vorboten sich bereits einstellten, war nach diesem sehr fruchtbaren Jahre auch nichts zu fürchten. Zu seinem älteren Bruder wendete sich Pat mit den Worten:

»Sei doch nicht immer so sorgenvoll und nachsinnend, Murdock! Mit Muth und gutem Willen ist alles zu überwinden....

– Gewiß, Pat, wenn man nur etwas Glück hat. Dem Glücke aber kann keiner befehlen. Sieh, Bruder, immerfort einen Boden zu bearbeiten, der nicht Dir eigen ist und es nie sein wird, und überdies sich gar so sehr vom Ausfall der Ernte abhängig zu wissen... daran werden Muth und guter Wille zuschanden!«

[167] Pat hätte nicht gewußt, was er dagegen anführen sollte, doch als er dem älteren Bruder zum letzten Male die Hand reichte, flüsterte er ihm noch zu:

»Verliere nur das Vertrauen nicht!«

Der junge Seemann wurde bis nach Tralee zu Wagen befördert, wobei sein Vater, seine Brüder und Findling ihm das Geleit gaben und letzterer sich recht traurig von jenem verabschiedete. Dann entführte ihn der Bahnzug nach Dublin, von wo aus er sich mit einem Dampfer nach Liverpool begeben wollte.

In den folgenden Wochen gab es auf der Farm noch tüchtig zu thun. Zunächst mußte die eingeheimste Ernte ausgedroschen werden und dann hatte Martin die Märkte der Nachbarschaft zu besuchen, um seine Vorräthe, unter Zurückbehaltung des Samengetreides, zu verkaufen.

Diese Verkäufe interessierten den Knaben ungemein und deshalb nahm ihn der Farmer auch dazu mit. Gierig nach Gewinn war Findling aber keineswegs, nur sein Instinct wies ihn immer und immer wieder auf den Handel hin. Im übrigen begnügte er sich mit dem Kieselstein, den ihm Martin nach Verabredung jeden Abend einhändigte, und er freute sich, seine Schätze wachsen zu sehen. Der irischen Rasse ist übrigens die Sucht nach Gewinn im allgemeinen angeboren. Die Bewohner des Grünen Erin verdienen einmal gerne Geld, wenn das in ehrlicher Weise möglich ist. Und wenn der Farmer etwa auf dem Markte in Tralee ein gutes Geschäft gemacht hatte, freute sich Findling ebenso herzlich darüber, als wenn das ihn selbst angegangen wäre.

October, November und December verliefen recht gut. Die Arbeiten waren längst beendigt, als sich der Einholer des Pachtzinses am Abende vor Weihnachten in der Farm von Kerwan einstellte. Das Geld für ihn lag bereit; doch als dieses erst gegen eine regelrechte Quittung ausgetauscht war, blieb auf der Farm fast keines mehr übrig. Um es nicht mit anzusehen, wie dieses mit saurem Schweiße gewonnene Geld aus dem Hause ging, hatte sich Murdock sofort zurückgezogen, als der Einholer nur sichtbar wurde. Immer hatte er die Unsicherheit der Zukunft vor den Augen. Zum Glück war für den Winter gesorgt und die Vorräthe gestatteten auch, die Arbeiten im Frühlinge ohne weitere Auslagen wieder aufzunehmen.


Man sah Findling ein Feld besäen. (S. 170.)

Mit dem neuen Jahr trat sehr strenge Kälte ein, die jeden ans Haus fesselte, wo es an Arbeit übrigens nicht fehlte. Mindestens war doch für die Pflege und die Ernährung der Thiere zu sorgen. Findling war vor allem [168] der Hühnerhof anvertraut, und auf ihn konnte man sich ja verlassen. Hühner und Küchlein wurden ebenso sorgsam gepflegt, wie über sie Buch geführt. Inzwischen vergaß der Knabe auch nicht, daß er ein Pathenkind hatte, und wie freute er sich allemal, Jenny in die Arme zu nehmen, sie lächeln zu machen, indem er die Kleine anlachte, und sie in der Wiege einzuschläfern, wenn ihre Mutter beschäftigt war.

Ein Pathe ist fast so viel wie ein Vater, und er betrachtete das zarte Kind als seine Tochter. Für sie entwarf er hochfliegende Pläne. Sie sollte keinen [169] andern Lehrer haben als ihn. Er wollte ihr erst reden, dann schreiben und endlich haushalten lehren.

Findling hatte von dem gelegentlichen Unterrichte Martins und seiner Söhne, vor allem Murdocks, viel profitiert. Jetzt war er weiter vorgeschritten als bis zu dem Punkte, wohin Grip ihn gebracht hatte... der arme Grip, der seine Gedanken unausgesetzt beschäftigte....

Der Frühling setzte nach recht hartem Winter nicht allzuspät ein. In Begleitung seines Freundes Birk gab sich der junge Schäfer wieder der gewohnten Beschäftigung hin.

Unter seiner Leitung zogen Schafe und Ziegen wieder auf die Weideplätze in einmeiligem Umkreis von der Farm. Immer schmerzte es ihn, sich an den andern Feldarbeiten, die freilich mehr Kräfte erforderten als er besaß, noch nicht betheiligen zu können. Zuweilen klagte er darüber gegen die Großmutter, und diese antwortete dann tröstend:

»Geduld... das wird auch noch kommen....

– Doch könnt' ich inzwischen nicht wenigstens ein Feld besäen?

– Würdest Du das so gern versuchen?

– O gewiß, Großmutter! Wenn ich Murdock oder Sim den Arm wiegend und regelmäßig fortschreitend die Samenkörner auf die Erde streuen sah, da trieb mich's immer, es ihnen nachzuthun. Es ist eine so schöne Arbeit und so interessant zu denken, daß aus diesen Körnern Halme, lange, lange Halme hervorgehen. Wie kann das nur zustandekommen?...

– Ich weiß es nicht, mein Kind; doch Gott weiß es ja, das muß uns genügen.«

Infolge dieses Gespräches sah man Findling wenige Tage darauf ein wohlvorgerichtetes Feld recht geschickt mit Hafer besäen, was ihm manchen Lobspruch Martin Mac Carthy's einbrachte.

Als dann die zarten Keime hervorsproßten, war er vom frühesten Morgen an zur Stelle, seine zukünftige Ernte gegen die diebischen Krähen zu vertheidigen, indem er diese mit Steinwürfen verjagte. Es sei auch nicht unerwähnt gelassen, daß er am Tage der Geburt Jennys mitten im Gutshofe eine kleine Tanne gepflanzt hatte, in der Hoffnung, beide, Bäumchen und Säugling, fröhlich aufwachsen zu sehen. Auch diese noch zarte Pflanze mußte er sorgsam gegen die Vögel schützen. Jedenfalls sollten Findling und die schädlichen Thiere nie gute Freunde werden.

[170] Im Sommer 1880 gab es auf den Fluren Westirlands überall recht harte Arbeit. Die Witterungsverhältnisse erwiesen sich für den Ertrag des Bodens höchst ungünstig. In den meisten Grafschaften blieb die Ernte hinter der des Vorjahrs weit zurück. Eine Hungersnoth war aber vollkommen ausgeschlossen, denn wenigstens versprachen die Kartoffelfelder einen reichen, wenn auch etwas verspäteten Ertrag, und damit mußten sich die Leute wohl zufrieden geben, denn Korn, Weizen, Gerste und Hafer erntete man kaum zur Deckung des Bedarfs im eignen Lande. Das schnellte zwar die Getreidepreise in die Höhe, die Pächter zogen davon aber keinen Vortheil, da sie nichts zu verkaufen hatten und kaum den Samen für das nächste Jahr übrig behielten. Selbst die, die früher einen Sparpfennig zurücklegen konnten, sahen diesen für die Staatsabgaben allein hinschwinden, und dann blieb wieder nichts übrig, um den schwerlastenden Pachtzins zu decken.

Die nationale Bewegung erhielt hierdurch fast überall einen neuen Anstoß, wie das stets der Fall war und ist, wenn sich eine Wolke des Unglücks über das irische Land senkte. An vielen Orten erhob man schwere Klage und lebten die Hetzereien der agrarischen Liga wieder auf. Gegen die Besitzer des Bodens wurden maßlose Drohungen laut, ob diese nun Fremde waren oder nicht, denn bekanntlich werden in Irland die englischen und schottischen Landlords als Fremdlinge betrachtet.

Im Juni dieses Jahres riefen die schon Hungernden in Westpoint: »Laßt Euch nicht von Euern Farmen vertreiben!« und die durch das Land gehende Parole lautete: »Den Grund und Boden für die Bauern!«

In den Gebieten von Donegal, Sligo und Galway kam es zu wirklichen Unruhen. Auch Kerry blieb davon nicht frei. Voller Angst sahen die Großmutter. Martine und Kitty Murdock mit Einbruch der Nacht gar zu oft die Farm verlassen, wo er dann erst, abgespannt von den Strapazen des Wegs, am frühen Morgen wieder erschien. Düstrer und verbitterter als vorher kam er von den in den Hauptorten veranstalteten Meetings zurück, wo man den hellen Aufruhr predigte, eine Erhebung gegen die Landlords und den allgemeinen Boycott empfahl, der die Besitzer zwingen würde, ihr Land brach liegen zu lassen.

Am meisten steigerte die Furcht der Familie wegen Murdocks der Umstand, daß der zu den strengsten Maßregeln entschlossene Lordlieutenant der Insel die Nationalisten durch seine Polizeiorgane aufs schärfste überwachen ließ.

[171] Stimmten Martin und Sim auch mit den Anschauungen Murdocks überein, so äußerten sie doch kein Wort, wenn dieser nach längerem Ausbleiben heimkehrte. Die Frauen dagegen flehten ihn an, vorsichtig zu sein und sich in Thaten und Worten in Acht zu nehmen. Sie versuchten ihm das Versprechen abzunöthigen, daß er sich einem Aufstand für Home rule, der doch nur Unheil bringen könne, nie anschließen werde.

Das reizte Murdock, der seinem Ingrimm nun laut Luft machte. Er sprach und gesticulierte, als ob er sich in einer Volksversammlung befände.

»Nichts als Elend, nach einem Leben voller Arbeit nichts als Elend!« wiederholte er.

Und während Martine und Kitty davor zitterten, daß er gehört werden könnte, wenn draußen gerade ein Polizist umherschlich, senkten die danebensitzenden Martin und Sim nur schweigend den Kopf auf die Brust.

Findling war tief ergriffen Zeuge dieser peinlichen Auftritte. Erschien es ihm dabei zuweilen doch, als sei er nach so vielen früheren Prüfungen auch in der Farm von Kerwan noch nicht ans Ende seiner Leiden gekommen und als sollte ihm die Zukunft noch schlimmere bringen.

Er zählte jetzt achteinhalb Jahre. Für sein Alter recht kräftig und den gewöhnlichen Kinderkrankheiten glücklich entgangen, hatten weder Trübsal und Leiden, noch schlechte Behandlung und mangelnde Pflege seinen Organismus zu erschüttern vermocht. Findling war »bis zum Maximum der Widerstandsfähigkeit geprüft worden« und zeigte eine erstaunliche physische und moralische Festigkeit. Das erkannte man an den gut entwickelten Schultern, der schon recht breiten Brust und seinen zwar schlanken, doch nervigen und muskulösen Gliedern. Sein Haar färbte sich dunkler und er trug es schlicht, statt der Locken, die ihm Miß Anna Walston hatte brennen lassen. Seine tiefblauen, glänzenden Augen verriethen eine außerordentliche Lebhaftigkeit, der leichtgeschlossene Mund und das etwas kräftige Kinn die Energie und Entschiedenheit seines Charakters. Alles das hatte die Aufmerksamkeit der Farmerfamilie wachgerufen. Diese ernsten und nachdenklichen Landleute Irlands sind meist recht gute Beobachter. Auch den Bewohnern der Farm von Kerwan hatte es nicht entgehen können, wie dieser Knabe sich durch seinen Sinn für Ordnung und durch regen Fleiß auszeichnete und daß er sich bestimmt emporarbeiten würde, wenn er nur Gelegenheit fand, seine natürlichen Anlagen zu bethätigen.

[172] Die Zeit der Heu- und Getreideernte war durch die Witterung weit weniger begünstigt, als im vorigen Jahre. Der Minderertrag an Körnerfrüchten erwies sich so bedeutend, wie man gefürchtet hatte, so daß heuer keine fremden Arbeitskräfte hinzugezogen zu werden brauchten. Dagegen war die Kartoffelernte gut und damit die Ernährung während der schlechten Jahreszeit gesichert. Woher freilich das Geld kommen sollte, um Pacht und Abgaben zu bezahlen, das wußte niemand.

Der Winter trat frühzeitig ein, schon im September gab es den ersten Frost, dem bald ergiebiger Schneefall folgte. Die Thiere mußten eher als sonst in den Ställen untergebracht werden, denn die weiße Decke war so tief und fest, daß weder Schafe noch Ziegen ein Hälmchen darunter hätten erlangen können. Das ließ einen Futtermangel für den Winter befürchten. Die Klugen, oder mindestens die, denen es an Mitteln nicht ganz fehlte – und zu diesen gehörte Martin Mac Carthy – ergänzten ihre Vorräthe durch Zukauf. Bei der Seltenheit der Waare mußten sie freilich höhere Preise anlegen, und es wäre vielleicht besser gewesen, den Bestand an Vieh zu vermindern, das bei einer langen Ueberwinterung nur schwierig zu erhalten war.

Der Frost, der den Boden bis auf einige Fuß Tiefe zum gefrieren bringt, ist ja überall sehr beschwerlich, vorzüglich aber bei leichter, kieselreicher Decke, wie in Irland, die auch die wenige Düngung, die man darauf bringt, sehr mangelhaft zurückhält. Dauert ein strenger Winter dann aber gar noch lange an, so dringt der Frost ungemein tief in die Erde und die Pflugschar ist nicht im Stande, den steinharten Humus zu lockern. Kann dann die Saat nicht zeitig genug bestellt werden, so droht das schlimmste Ungemach! Leider vermag der Mensch die klimatischen Verhältnisse nicht zu beeinflussen. Er kann nur mit gekreuzten Armen zusehen, wie seine Vorräthe sich immer weiter erschöpfen.

Gegen Ende des Novembers verschlimmerte sich die Sache noch. Auf Schneestürme folgte sehr strenge Kälte. Häufig sank die Temperatur auf neunzehn Centigrade unter Null herab.

Die von erhärtetem Schneepanzer bedeckte Farm glich mehr den im Polargebiete verstreuten grönländischen Hütten. Die dicke Schneelage hielt wenigstens die Kaminwärme im Innern etwas zurück; wenn man sich aber hinausbegab in die zum Glück jetzt stille Atmosphäre, deren Molecüle zu Eiskörnchen geworden zu sein schienen, da mußte man einigermaßen vorsichtig sein. Zu dieser Zeit mußten Martin Mac Carthy und Murdock, um den in wenigen [173] Wochen fälligen Pachtzins zu beschaffen, nun doch einen Theil ihres Viehbestandes, darunter eine Anzahl Schafe, veräußern. Sie durften auch gar nicht zögern, um das Geld noch von den Händlern in Tralee zu erhalten.

Es war jetzt der 15. December. Da der Wagen nur sehr beschwerlich hätte fortkommen können, beschlossen der Pächter und sein Sohn, den Weg nach der Stadt zu Fuß zurückzulegen. Vierundzwanzig englische Meilen (zu 1609 Meter) bei zwanzig Grad Kälte zu überwinden, das war natürlich keine so leichte Aufgabe. Voraussichtlich würden sie zwei oder drei Tage abwesend sein.

Nicht ohne Unruhe sah man sie mit dem Frührothe die Farm verlassen. Obwohl die Luft noch trocken war, drohten doch schwere, im Westen lagernde Dünste mit einem baldigen Witterungsumschlag.

Martin und Murdock waren am 15. aufgebrochen, vor dem 17. konnte man sie nicht zurückerwarten.

Bis zum Abend änderte sich das Wetter nicht merkbar, höchstens sank der Thermometer noch um weitere zwei Grad. Des Nachmittags erhob sich etwas Wind, und das gab einen neuen Grund zu Befürchtungen, denn im Thale des Cashen wüthen die Stürme gar heftig, wenn sie sich vom Meere aus darin fangen.

In der Nacht vom 16. zum 17. brach wirklich ein schwerer Sturm mit heftigem Schneegestöber aus. Zehn Schritte von der Farm hätte man diese in ihrem weißen Mantel gar nicht mehr erkannt. Furchtbar krachten die Eisschollen, die sich auf dem Flusse stießen. Jedenfalls waren Martin und Murdock zu dieser Stunde aus Tralee schon wieder aufgebrochen, sicherlich aber waren sie auch am 18. von da noch nicht heimgekehrt.

In der Nacht heulte und tobte es draußen ohne Unterlaß, zur großen Beunruhigung aller Zurückgebliebenen. Sie konnten ja fürchten, daß die Wanderer sich im tollen Schneetreiben verirrt hätten. Vielleicht waren sie gar nur wenige Meilen von der Farm erschöpft zusammengebrochen und liefen Gefahr, vor Hunger und Kälte umzukommen....

Am nächsten Tage klärte sich der Himmel ein wenig auf und der Sturm flaute ab. Infolge einer Drehung des Windes nach Norden verhärtete sich der Schnee fast augenblicklich. Sim erklärte sich bereit, dem Vater und dem Bruder in Begleitung Birks entgegenzugehen, und die übrigen stimmten ihm zu unter der Bedingung, daß auch Martine und Kitty sich ihm anschließen dürften.

[174] Zu seinem Leidwesen mußte also Findling bei der Großmutter und dem Baby zu Hause bleiben.

Die andern sollten den Erwarteten auch nur bis auf zwei, höchstens drei Meilen entgegengehen, dann aber nach Hause zurückkehren, selbst wenn es Sim für angezeigt hielt, noch eine Strecke weiter vorzudringen.

Eine Viertelstunde später waren die Großmutter und Findling schon allein. Jenny schlief in einem Zimmer neben der großen Stube, dem Murdocks und Kittys. Ein Korb, der nach irischer Art an zwei an der Decke befestigten Stricken hing, diente dem Kind als Wiege.

Der Lehnstuhl der Großmutter stand vor dem Kamine, in dem Findling mit Torf und Holz ein tüchtiges Feuer unterhielt. Von Zeit zu Zeit sah er nach, ob sein »Töchterchen« nicht erwacht wäre, da ihn jede Bewegung der Kleinen beunruhigte, immer bereit, ihr etwas Milch zu reichen oder sie auch wieder in Schlaf zu wiegen.

Voller Unruhe lauschte die Großmutter auf jedes Geräusch von draußen, auf das Knistern des Schnees, der sich verhärtend auf dem Strohdach zusammenzog, und auf die seufzerähnlichen Laute aus den Brettern, die da und dort durch die Kälte sprangen.

»Du hörst nichts, Findling? fragte sie.

– Nein, Großmutter!«

Und nachdem er die Scheiben stellenweise von den glitzernden Eisblumen befreit hatte, suchte der Knabe einen Blick nach dem weiß überdeckten Hofe zu werfen.

Gegen halb ein Uhr stieß das kleine Mädchen einen leichten Schrei aus. Findling eilte zu ihr hin. Da sie aber die Augen nicht geöffnet hatte, begnügte er sich damit, sie aufs neue einzuwiegen.

Schon wollte er die bejahrte Frau, die er nicht gern allein ließ, wieder aufsuchen, als draußen ein merkwürdiges Geräusch entstand. Es klang wie ein Scharren und Kratzen, das von dem an das Zimmer Murdocks grenzenden Stalle herzukommen schien. Da die Zwischenwand aber aus Mauerwerk bestand, schenkte er diesem Geräusch keine weitere Aufmerksamkeit. Jedenfalls rührte es von einigen Ratten her, die draußen unter den Strohschütten umherliefen. Da auch das Fenster des Raumes geschlossen war, schien ja nichts zu fürchten zu sein.

Findling ließ die Thür zwischen beiden Räumen offen stehen und ging zur Großmutter zurück.

[175] »Nun, wie steht's mit Jenny? fragte diese.

– Sie ist wieder eingeschlummert.

– So bleib' also bei mir, mein Kind.

– Ja, Großmutter!«

Vor dem wärmenden Kamin sitzend, sprachen nun beide von Martin und Murdock und von den andern, die diesen entgegengegangen waren.

Wenn diese nur nicht Unglück gehabt hatten, was ja bei so heftigem Schneegestöber nicht gar so selten vorkommt. Doch... die kräftigen, entschlossenen Männer würden sich schon zu helfen wissen, und wenn sie heimkamen, erwartete sie ein prasselndes Feuer und ein dampfender Grok, die Glieder wieder zu erwärmen.

Schon seit zwei Stunden waren Martine und die andern fortgegangen, doch bis jetzt deutete nichts auf ihre baldige Zurückkunft.

»Meinen Sie nicht, Großmutter, begann da Findling, daß ich einmal hinaus und bis zur Landstraße hin gehen sollte, um zu sehen, ob sie kommen?

– Nein, nein, das Haus darf nicht allein bleiben, und das ist es, wenn nur ich noch darin bin.«

Beide setzten also ihr Gespräch fort, bald aber nickte – was zuweilen vorkam – die bejahrte Frau vor zunehmender Abspannung ein.

Nach seiner Gewohnheit schob ihr Findling sanft ein Kissen unter den Kopf und schlich lautlos zum Fenster, um durch eine etwas vom Eis befreite Scheibe hinauszublicken.

Alles draußen war blendend weiß, alles still wie auf einem Friedhofe.

Da die Großmutter schlummerte und Jenny im Nebenzimmer gut gebettet lag, glaubte der Knabe jetzt einmal bis zur Landstraße laufen zu können, um nach den Ausbleibenden zu sehen.

So schlüpfte er denn geräuschlos hinaus und schloß die Thür hinter sich vorsichtig wieder. Bald bis über die Knie in den Schnee versinkend, erreichte er das Thor der Farm.

Auf der gleichmäßig weißen Landstraße war niemand mehr zu erblicken und kein Laut von Westen her zu vernehmen. Wären Martine, Kitty und Sim in der Nähe gewesen, so hätte sich gelegentlich gewiß ein Gebell Birks hören lassen.

Findling ging bis zur Mitte der Landstraße hin.

Da erweckte ein erneutes Scharren seine Aufmerksamkeit, das aber nicht von der Straße, sondern vom Pachthofe her tönte und von einem halberstickten Geheul begleitet schien.


Die Thiere mußten eher eingetrieben werden. (S. 173.)

[176] [179]Findling lauschte, ohne sich zu rühren, doch mit stark klopfendem Herzen. Entschlossen wendete er sich dann nach den Ställen zu und schlich aus Vorsicht möglichst geräuschlos um deren Ecke.

Noch immer hörte er das Scharren von innen, hinter dem Winkel, in dem Murdocks und Kittys Zimmer mit dem einen Stalle zusammenstieß.

In der Vorahnung eines Unglücks drückte sich Findling längs der Mauer hin.

Kaum gelangte er um die Ecke, als ihm ein Aufschrei entfuhr.

Hier bemerkte er in der Wand, deren Mörtel durch die Länge der Zeit mürbe geworden sein mochte, ein ziemlich großes Loch, das nach dem Zimmer führte, worin Jenny schlief.

Wer konnte hier durchgebrochen haben?... Ein Mensch?... Ein Thier?...

Ohne Zögern stürmte Findling auf die Mauerlücke zu und versuchte hier einzudringen.

In demselben Augenblicke aber entwich ein großes Thier daraus und warf entfliehend den Knaben zur Erde.

Es war das ein Wolf... einer der starken Wölfe mit spitzer Schnauze, die in langen Wintern haufenweise in Irland umherschweifen.

Nachdem dieser die Wand durchbrochen hatte und in das Zimmer gelangt war, hatte er Jennys Wiege gepackt, deren Aufhängestricke dabei rissen, und entfloh jetzt, indem er diese auf dem Schnee mit fortschleppte.

Das kleine Mädchen weinte jämmerlich.

Sein Messer fassend, stürmte Findling, während er laut um Hilfe rief, dem gefährlichen Räuber nach. Daran, daß der Wolf sich auf ihn stürzen, daß er dabei das Leben aufs Spiel setzen könnte, dachte er mit keiner Silbe. Er sah nur das Kind, wie es von dem mächtigen Thiere entführt wurde.

Der Wolf entfloh mit großen Sprüngen, da ihn die leichte Wiege mit dem Kinde das Fortkommen nicht besonders erschwerte. Findling mußte wohl hundert Schritte weit laufen, ehe er ihn einholte.

Der Wolf hielt an, ließ die Wiege los und wendete sich gegen seinen Verfolger.

Dieser erwartete ihn festen Fußes und ausgestreckten Armes, und als das Thier ihm an den Hals springen wollte, bohrte er ihm das Messer tief in die Seite. Trotzdem biß ihn der Wolf noch so heftig in den Arm, daß er halb bewußtlos vor Schmerz im Schnee zusammenbrach.

[179] Zum Glück ließ sich, ehe ihm die Sinne völlig schwanden, ein lautes Bellen vernehmen.

Das kam von Birk, der sich jetzt auf den Wolf stürzte und diesen zur Flucht nöthigte.

Gleich darauf erschienen Martin Mac Carthy und Murdock, die in der Entfernung von über zwei Meilen mit Sim, Martine und Kitty zusammengetroffen waren.

Die kleine Jenny war gerettet und ihre Mutter trug sie in den Armen zurück nach dem Hause.

Findling, dessen Wunde Murdock vorläufig etwas geschlossen hatte, wurde nach der Farm zurückgeführt und im Zimmer der Großmutter in sein Bett gebracht.

Sobald er wieder ganz bei Sinnen war, fragte er ängstlich:

»Was ist mit Jenny geworden?

– Sie ist hier, antwortete Kitty, hier... und lebend... das danken wir Dir, Du braves Kind!

– Ach, ich möchte sie so gern umarmen....«

Und als er die Kleine unter seinem Kusse hatte lächeln sehen, da fielen ihm vor Mattigkeit die Augen zu.

15. Capitel
Fünfzehntes Capitel.
Ein schlechtes Jahr.

Die Verletzung Findlings erwies sich nicht als gefährlich, obwohl er dadurch viel Blut verloren hatte. Wären die drei andern aber nur eine Minute später gekommen, so hätten sie nur eine Leiche gefunden und würde Kitty ihr Kind nie wiedergesehen haben.

Natürlich wurde Findling in den wenigen Tagen bis zu seiner Wiederherstellung aufs sorgfältigste gepflegt. Mehr als je empfand es da der arme Knabe, daß er, eine Waise von unbekannter Herkunft, jetzt eine Familie hatte.

[180] Wie dankbar nahm er alle Liebe und Güte hin, zumal wenn er an die vielen glücklichen Tage dachte, die er in der Farm schon verlebt hatte. Um deren Zahl zu wissen, brauchte er ja nur die Kieselsteine zu zählen, wovon ihm Martin jeden Abend einen gegeben hatte, doch mit ganz besondrer Freude sah er den Stein in seiner Kruke verschwinden, den er am Abend nach dem Vorkommnisse mit dem Wolf empfing.

Mit dem Neujahr setzte der Winter nochmals in alter Strenge ein und es machten sich jetzt gewisse Vorsichtsmaßregeln nöthig. Aus der Umgebung der Farm wurde das Erscheinen starker Banden von Wölfen gemeldet, deren Zähnen die morschen Wände des Hauses kaum widerstanden hätten. Martin und seine Söhne mußten wiederholt auf die hungernden Bestien Feuer geben. So war es in der ganzen Grafschaft, wo das Land in den langen Nächten von erschreckendem Geheul widerhallte.

Dieses Jahr brachte einen jener schlimmen Winter, die über das nördliche Europa die eisigschneidenden Winde des Polarbeckens zu entfesseln scheinen. Immer blieb eine nördliche Luftströmung vorherrschend, und diese führt ja bekanntlich die schlimmste Kälte mit sich. Leider drohten diese Verhältnisse sich lange auszudehnen, wie die algide Periode bei von Fieber verzehrten Kranken. Und wenn die Kranke die Erde ist, die sich verzieht, wie die Lippen eines Sterbenden, die unter dem Einfluß der Kälte zu Stein verhärtet, dann möchte man glauben, daß ihre Fruchtbarkeit für immer erlöschen müsse, wie es für jene todten Weltkörper gilt, die schon so zahlreich durch den Himmelsraum irren.

Die Befürchtungen des Farmers und seiner Familie waren bei der ungewöhnlichen Härte des Winters also gewiß gerechtfertigt. Durch den Verkauf eines Theils seiner Schafe hatte Martin indeß das Geld für Abgaben und Pachtzins herbeischaffen können, und als sich der Middleman zu Weihnachten einstellte, erhielt er unverkürzt, was ihm zukam. Das verwunderte den Mann ein wenig, denn in den meisten Farmen blieb er unbefriedigt und hatte den gerichtlichen Weg zur Austreibung der Pächter einschlagen müssen. Martin Mac Carthy wußte freilich auch nicht, wie er im nächsten Jahre seinen Verpflichtungen werde nachkommen können, wenn es ihm an dem nöthigen Saatgetreide fehlte.

Hierzu kam auch noch weiteres Unglück. Infolge der bis auf dreißig Grad unter Null herabsinkenden Kälte gingen in den Ställen vier Pferde und fünf Kühe ein, da es unmöglich gewesen war, die in verfallenem Zustande befindlichen Gebäude, welche dem Anpralle des Sturmes nicht mehr gewachsen waren, genügend[181] dicht geschlossen zu halten. Auch der Hühnerhof erlitt trotz aller Bemühungen, die man auf ihn verwandte, empfindliche Verluste. Jeden Tag wuchs die Deficitseite in Findlings Notizbuche. Am bedrohlichsten aber erschien es, daß auch das Wohnhaus der Zerstörung durch die Witterung anheimfallen könnte. Martin, Murdock und Sim blieben deshalb auch unausgesetzt thätig, dasselbe auszubessern und widerstandsfähiger zu machen.

Manchmal kamen ganze Tage, an denen kein Mensch einen Fuß ins Freie setzen konnte. Die Wege, auf denen mannshoher Schnee lag, waren völlig ungangbar. Die am Geburtstage Jennys mitten im Hofe gepflanzte Tanne streckte nur noch den vom Rauchfrost weißen Kopf hervor. Um zu den Ställen zu gelangen, mußte ein Gang ausgeschaufelt und dieser täglich zweimal gereinigt werden. Ebenso gelang die Beförderung des Futters von einem Hofgebäude zum andern nur mit größter Mühe.

Ganz unfaßbar schien es, daß die Kälte trotz des fort und fort herabfallenden Schnees nicht nachließ. Freilich rieselte der Schnee nicht in leichten sternförmigen Flocken nieder, sondern stürmte wie ein Platzregen aus kleinen Eiskrystallen einher, die sich in den tollen Luftwirbeln jagten. Hierdurch wurden alle Bäume und Sträucher mit perennierenden Blättern der letzteren vollständig beraubt.

Zwischen den Ufern des Cashen bildete sich allmählich ein Eisschutz von enormem Umfang. Fast glich dieser einem wirklichen Eisberge und legte die Befürchtung weiterer Unfälle bei eintretendem schnellen Thauwetter nahe. Wälzte dann der Fluß seine Wassermassen bis an die Farm heran, so hätten Martin und seine Söhne gewiß nicht mehr gewußt, wie sie die Baulichkeiten derselben schützen sollten.

Für jetzt lagen ihnen jedoch andre Sorgen, die für die Pflege und Ernährung des Viehbestandes, näher. Von der Geißel des Orkans wurden die Strohdächer der Stallungen zerrissen, und diese mußten zunächst ausgebessert werden. Was von den Schafen, den Kühen und Pferden noch übrig war, blieb mehrere Tage der außerordentlichen Kälte ausgesetzt, und mehrere von den Thieren kamen noch vor Frost um. So mußten denn die Dächer trotz des schneidenden Sturmwindes wohl oder übel wiederhergestellt werden, und es machte sich dazu nöthig, den vordern Theil der nach der Straße zu gelegenen Stallungen ganz abzudecken, um mit dem gewonnenen Langstroh andre Lücken zu verschließen.

Das Wohnhaus der Familie Mac Carthy blieb auch nicht verschont. Eines Nachts stürzte die Mansarde ein, und Sim, der sie bewohnte, mußte nach dem [182] großen Zimmer im Erdgeschoß übersiedeln. Da nun aber auch von diesem die Decke bedroht war, weil sich der Schnee immer mehr darüber anhäufte, mußte diese mit rohen Pfählen gestützt werden.

Auch weiterhin verlor der Winter nichts an seiner Strenge. Der Februar blieb noch ebenso kalt, wie der Januar, und die Mitteltemperatur hielt sich auf zwanzig Grad unter Null. Die Insassen der Farm glichen mehr Schiffbrüchigen im Polarmeere, die das Ende des Winters nicht abzusehen vermögen. Leider drohte hier das endliche Thauwetter mit neuen Katastrophen, wenn der Cashen weit aus seinen Ufern trat.

Zum Glück war auf der Farm kein Nahrungsmangel zu fürchten; an Fleisch und Zuspeisen fehlte es nicht; dazu lieferten die nur durch den Frost umgekommenen und jetzt leicht zu conservierenden Thiere einen reichlichen weiteren Vorrath.

Wurde der Hühnerstall decimiert, so ertrugen die Schweine die niedrige Temperatur ganz gut, und schon durch sie allein wäre die Ernährung der Pächterfamilie auf sehr lange Zeit gesichert gewesen. Was das Heizmaterial anging, brauchten sie nur die vom Sturme abgebrochenen Zweige aus dem Schnee aufzulesen, um an Torf zu sparen, der allmählich zur Neige ging.

Kräftig und gesund, von langer Zeit her abgehärtet, erwiesen sich jedoch der Vater und dessen Söhne dem rauhen Klima völlig gewachsen und auch der Findling zeigte eine erstaunliche Widerstandsfähigkeit. Bisher hatten sich auch die Frauen, Martine und Kitty, ohne sich der allgemeinen Arbeit zu entziehen, recht wohl befunden. Die kleine Jenny, immer im dicht verschlossenen Zimmer gehalten, wuchs wie eine Pflanze im Warmhause auf. Dagegen schien die Großmutter, trotz aller ihr gewidmeten Pflege, ernstlicher angegriffen zu sein. Ihre körperlichen Leiden wurden von der heimlichen Angst, die Zukunft der Ihrigen bedroht zu sehen. natürlich noch verschlimmert. Das war mehr als sie aushalten konnte und bereitete der ganzen Familie recht schmerzliche Unruhe.

Im April wurde die Temperatur wieder normaler und stieg endlich über den Gefrierpunkt. Der Erdboden brauchte aber noch die ganze Wärme des Mai, um seiner Eiskruste ledig zu werden, und zur Einsaat war es also schon spät, sehr spät. Die Futterkräuter konnten vielleicht noch gedeihen, die Getreidearten aber schwerlich reif werden.


Indem er die Wiege mit fortschleppte. (S. 179.)

So dachte man schon daran, das Saatkorn nicht unnütz zu verwenden und sich lieber des Anbaues von Gemüse und Knollenfrüchten zu befleißigen, deren Ernte im October zu erwarten war, – [183] vorzüglich der Kartoffeln, durch die das Land wenigstens vor den Schrecken einer Hungersnoth bewahrt blieb.

Nach der Schneeschmelze zeigte sich der Erdboden leider fünf bis sechs Fuß tief fest gefroren. Das war keine zerreibliche Erde mehr, sondern ein Humus von Granit, in dem keine Pflugschar eine Furche aufreißen konnte.


Findling erwartete den Wolf festen Fußes. (S. 179.)

Der Anfang der Feldarbeiten mußte bis zu den letzten Tagen des Mai hinausgeschoben werden. Die Erde schien alle Wärme verloren zu haben so [184] langsam thaute die Schneedecke hinweg, und in den mehr bergigen Theilen der Grafschaft dauerte das gar bis in den Juni hinein.

Der Beschluß, sich auf den Anbau von Kartoffeln zu beschränken und auf Getreide ganz zu verzichten, wurde ganz allgemein gefaßt. Was auf der Farm von Kerwan geschah, wiederholte sich in allen andern Farmen des Gebietes von Rockingham. Dieselbe Maßnahme beschränkte sich nicht allein auf die Grafschaft Kerry, sondern erstreckte sich auch über die Westirlands in Munster, wie in Connaught und Ulster. Nur die Provinz Leinster war eher frei von Schnee [185] und hier konnte die Feldbestellung noch mit einiger Aussicht auf Erfolg vorgenommen werden.

Die Folge war also, daß die schwergeprüften Pächter sich tüchtig anstrengen mußten, um die Felder für den Anbau von andern Früchten und Gemüsen in Stand zu setzen. In der Farm von Kerwan unterzogen sich Martin und seine Söhne dieser Arbeit, die für sie um so beschwerlicher war, weil es ihnen an Zugthieren fehlte. Nur ein einziges Gespann, von einem Pferde und dem Esel gebildet, stand ihnen zur Verfügung.

Mit unausgesetztem Fleiße gelang es ihnen jedoch bei je zwölfstündiger Arbeit nach und nach einige dreißig Acres zu bepflanzen, freilich mit der Befürchtung, daß ein vorzeitiger Winter sie auch um die Frucht dieser Mühen bringen könnte.

Da ereignete sich noch ein allen Gegenden Irlands gemeinsames Unglück. Gegen Ende des Juni brannte die Sonne so heiß, daß der noch auf den Bergen lagernde Schnee sehr schnell niederschmolz. Am schlimmsten hatte, ihrer vielverzweigten Wasserläufe wegen, hiervon die Provinz Munster zu leiden. In der Grafschaft Kerry steigerte sich das bis zur wirklichen Katastrophe. Die vielen Flüsse schwollen mächtig an und verursachten ausgedehnte Ueberschwemmungen. Viele Häuser fielen der Fluth zum Opfer. Ueberrascht von der plötzlich eintretenden Wassersnoth warteten die Bewohner derselben vergeblich auf Hilfe. Fast alles Vieh kam um, und gleichzeitig wurde die so mühsam vorbereitete Ernte vollständig vernichtet.

In der Grafschaft Kerry verschwand ein Theil der Domäne Rockingham unter den Fluthen des Cashen.

Vierzehn Tage lang blieb die Umgebung der Farm auf einen Umkreis von zwei bis drei Meilen in einen See verwandelt – in einen See mit wilden Strömungen, die entwurzelte Bäume, Trümmer von Hütten, abgehobene Dächer und auch die Cadaver der Thiere, deren die Bauern sehr viele verloren, in brodelndem Strudel mit sich fortrissen.

Die Ueberschwemmung erstreckte sich bis zu den Scheuern und Stallungen der Farm, die davon fast gänzlich zerstört wurden. Trotz unmenschlicher Anstrengung gelang es, außer bezüglich einiger Schweine, nicht, die noch vorhandenen Thiere zu retten. Wurde das Wohnhaus auch von der Fluth nicht weggetragen, so reichte sie doch bis zum Niveau des Erdgeschosses heran, und auch dieses war in der schlimmsten Nacht recht schwer bedroht.

[186] Den Todesstoß aber erhielt das Land weithin durch die Vernichtung der erhofften Kartoffelernte, denn die Fluthen hatten auch die Setzkartoffeln herausgespült.

Noch niemals hatte die Familie Mac Carthy auf ihrem Pachtgute eine solche Kette von Mißgeschick erlitten, niemals hatte sich dem irischen Farmer der Ausblick in die Zukunft so schwer verdüstert. Jetzt war seine Lage thatsächlich unhaltbar und die Existenz der unglücklichen Leute ernstlichst bedroht. Martin wußte wahrlich nicht, was er antworten sollte, wenn ihm die Staatsabgaben und die Pachtzinsen abgefordert würden.

Die Lasten eines solchen Pächters sind in der That gar so schwer. Wenn der Steuereinnehmer und der Pachtcassierer sich einstellen, wandert stets der allergrößte Theil seines Baarvermögens in deren Tasche. Haben die Latifundienbesitzer auch dreihunderttausend Pfund Sterling an Grundrente und sechshunderttausend Pfund Armenabgabe zu leisten, so sind die Bauern doch noch mehr bedrückt durch persönliche Lasten, d. h. durch die Abgaben für Straßen und Brücken, für Polizei und Justiz, für die Gefängnisse und öffentlichen Arbeiten... was zusammen die ungeheure Summe von einer Million Pfund Sterling (20 Millionen Mark) ausmacht, und zwar allein für das arme Irland.

Ist die Ernte gut ausgefallen, hat das Jahr einige Ersparnisse ermöglicht, kurz, sind die Verhältnisse günstig gewesen, so wird es dem Pächter schon schwer genug, den Anforderungen des Staates und der Gemeinde zu entsprechen, während er ja überdies noch den Pachtschilling aufzubringen hat. Was beginnt er aber, wenn sein Land nur dürftigen Ertrag lieferte, wenn Winterfrost und Ueberschwemmungen die Felder verwüsteten und dann die Gespenster des Hungers und der drohenden Vertreibung aus seinem Gütchen am Horizonte aufsteigen? Alles das hindert ja den Einnehmer nicht, zur gewöhnlichen Zeit vorzusprechen, und nach seinem Besuche... sind die letzten Sparpfennige verschwunden. So stand es jetzt Martin Mac Carthy bevor.

Frohe festliche Stunden, wie sie Findling in der ersten Zeit seines Aufenthaltes hier kennen gelernt hatte, gab es jetzt nicht mehr. Aus Mangel an Arbeit rasteten alle, und so saß die ganze Familie in den langen Sommertagen verzweifelt bei der Großmutter, die zusehends schwächer und schwächer wurde.

Die traurigen Unglücksfälle hatten die meisten Bezirke der Grafschaft gleichmäßig betroffen. Von Eintritt des Winters 1881 an hörte man schon überall von einem allgemeinen Boycott sprechen, einer Einstellung aller nothwendigen [187] Feldarbeiten, um eine Weiterverpachtung und jeden sofortigen Anbau des Ackerlandes zu hintertreiben – eine Maßregel, die den Pächter ebenso wie den Grundeigenthümer ruiniert. Durch solche unüberlegte Mittel wird sich Irland niemals den Fesseln der Feudalherrschaft entziehen, nie eine allmähliche Ueberlassung des Bodens in das wirkliche Eigenthum der Kleinpächter erwirken und wird es nie die verderblichen Gepflogenheiten des Landlordismus beseitigen können.

Die Erregung verdoppelte sich indeß in den von so vielem Unglück betroffenen Kirchspielen. Vor allen zeichnete sich Kerry aus durch den Widerhall aus seinen Meetings und durch die Kühnheit der Verfechter der Autonomie, die es unter Entfaltung der Fahne der Landliga durchzogen. Im Vorjahre schon war Parnell in drei Wahlbezirken gewählt worden.

Zum Schrecken seiner Gattin und seiner Mutter stürzte sich Murdock ohne alle Rücksicht in den Strudel dieser Bewegung. Frost und Hunger trotzend, eilte er von Ort zu Ort, um Einigkeit in der Pachtzinsverweigerung zu erzielen und eine Weiterverpachtung der Felder nach etwaiger Vertreibung der jetzigen Pächter unmöglich zu machen. Martin und Sim hätten vergeblich versucht, ihn zurückzuhalten. Im Grunde stimmten sie ihm ja völlig bei, da sie sahen, daß alle ihre Mühe und Arbeit nun doch zu... nichts anderem geführt hatte, als daß man sie in der nächsten Zeit aus der so lange von ihrer Familie bewirthschafteten Farm von Kerwan verjagen würde.

Die Regierung aber hatte, in Voraussicht von Unruhen nach einem so verderblichen Jahre, bereits ihre Maßregeln getroffen. Schon schwärmten Abtheilungen der »mounted constabulary« (berittene Polizei) durch das Land, mit der Anweisung, die Gerichtsdiener und Häscher mit bewaffneter Hand zu unterstützen. Ebenso hatten sie, wenn nöthig, die Volksversammlungen mit Gewalt zu sprengen und die übrigens schon bekannten fanatischen Agitatoren zu verhaften. Wenn Murdock zu diesen augenblicklich vielleicht noch nicht gehörte, so mußte das gewiß sehr bald der Fall sein. Uebrigens vermögen die Irländer ja gegen ein System, das sich auf dreißigtausend alle Zeit fertige Gewehre stützt, doch nichts auszurichten.

Nun vergegenwärtige man sich die quälende Angst der Familie Mac Carthy! Sobald von der Straße Schritte ertönten, wurden Martine und Kitty todtenbleich. Die Großmutter richtete langsam den Kopf auf und ließ ihn kraftlos wieder niedersinken. Immer fürchteten die Frauen, es könnten Polizisten eindringen, um Murdock und vielleicht auch dessen Vater und Bruder in Hast zu nehmen.

[188] Wiederholt hatte Martine ihren ältesten Sohn angefleht, sich den den hervortretenden Mitgliedern der Landliga drohenden Maßregeln nicht auszusetzen. Erst waren in den Städten Verhaftungen vorgenommen worden, und auf dem Lande mußten solche bald folgen. Murdock hätte sich dann kaum verbergen können.

An die Aufsuchung einer Zufluchtsstätte in den Felsenhöhlen der Küste oder im Dickicht des Waldes war im Winter gar nicht zu denken. Murdock wollte sich von Frau und Kind auch nicht trennen, und wenn er auch in den weniger überwachten Grafschaften des Nordens hätte etwas mehr Sicherheit finden können, so fehlte es ihm doch an Mitteln, Kitty dahin mitzunehmen und für deren Unterhalt zu sorgen. Die Casse der Nationalisten war, trotz ihres Bestandes von zwei Millionen Pfund, nicht in der Lage, die Erhebung gegen den Landlordismus siegreich durchzuführen.

Murdock blieb also in der Farm, doch stets bereit zur Flucht, wenn die Constabler hier etwa zu einer Haussuchung einträfen. Findling und Birk blieben in der Umgebung auf der Wacht. Niemand hätte sich bis auf eine halbe Meile nähern können, ohne bemerkt und gemeldet zu werden.

Weit mehr beunruhigte Murdock übrigens das nächste Erscheinen des Pachtcassierers, der die zu Weihnachten fällige Bodenrente einzuholen käme.

Bisher war Martin Mac Carthy immer im Stande gewesen, seinen Verpflichtungen aus dem laufenden Ertrage der Farm und im Nothfall aus früheren Ueberschüssen nachzukommen. Nur ein- oder zweimal hatte er, wenn auch mit Mühe, eine kurze Gestundung erbeten und erlangt, um die volle Summe herbeizuschaffen. Heute wußte er leider nicht, woher das Geld kommen oder was er verkaufen sollte, da ja nichts mehr vorhanden war, weder von den Hausthieren, die er zum Theil verloren hatte, noch von seinen Ersparnissen, die schon von den Staatsabgaben aufgezehrt waren.

Der Eigenthümer der Domäne von Rockingham war – wie schon erwähnt – ein englischer Lord und noch niemals nach Irland gekommen. Beseelten ihn auch die besten Absichten bezüglich seiner Pächter, so kannte er diese doch nicht und konnte ebenso wenig für sie im Einzelfalle eintreten, wie diese sich an ihn selbst wenden. Der Middleman, der die Ausbeute der großen Besitzung auf eigne Rechnung übernommen hatte, wohnte in Dublin. Auch er kam mit den Pächtern nur selten in Berührung und überließ es einem Unterbeamten, die Grundrenten zur gewohnten Zeit einzuziehen.

[189] Dieser Mann, der sich jährlich beim Pächter Mac Carthy einfand, hieß Harbert. Rauh und hart, zu sehr gewöhnt an den Anblick des Elends, um davon noch ergriffen zu werden, war er mehr ein Art Gerichtsbote, ein Häscher, den kein Bitten und Flehen zu erweichen vermochte. Bei seinen Besuchen in den Farmen der Grafschaft hatte er schon genügend bewiesen, wessen er fähig war – hatte ohne Gnade so manche unglückliche Familie in die Winterkälte hinausgetrieben, selbst ohne Gewährung einer Frist zur Beschaffung eines andern Unterkommens. Mit bestimmten Vorschriften hinausgeschickt, schien es, als ob der Mann sich ein Vergnügen daraus machte, diese in aller Härte auszuführen. Die Grüne Insel ist ja das Land, aus dem der traurige Ausspruch herstammt: »Man verletzt das Gesetz nicht, wenn man einen Irländer tödtet!«

In Kerwan herrschte jetzt die schlimmste Unruhe. Der Besuch Harbert's konnte nicht mehr lange ausbleiben. Die letzte Decemberwoche benützte er gewöhnlich, die Domäne von Rockingham zu bereisen.

Am Morgen des 29. December kam Findling, der jenen zuerst bemerkt hatte, athemlos nach dem Hause gelaufen, um die Familie in der großen Stube von dem Eintreffen des gefürchteten Mannes zu benachrichtigen.

Alle – der Vater, die Mutter, die Söhne, die Urgroßmutter und ihre Urenkelin, die Kitty auf den Knien hielt – waren hier beisammen.

Der Beamte stieß das Gitterthor auf, schritt sicher und fest – mit dem Tritte des Herrn – durch den Hof, öffnete die Thür des Zimmers und setzte sich, sogar ohne den Hut abzunehmen, ohne einen Guten Tag, wie einer, der sich hier weit mehr zu Hause fühlte als die Insassen der Wohnung, auf einen Stuhl vor dem Tische, zog einige Papiere aus einem Lederportefeuille und sagte ohne Vorrede.

»Für das verflossne Jahr hab' ich hundert Pfund zu bekommen, Mac Carthy. Das stimmt doch wohl?...

– Gewiß, Herr Harbert, antwortete der Farmer mit leise zitternder Stimme. Es macht hundert Pfund. Ich werde Sie aber um einen kleinen Aufschub bitten müssen... den Sie mir ja schon früher einige Mal bewilligt hatten....

– Einen Aufschub... immer Aufschub? unterbrach ihn Harbert. Was soll das heißen? Diesen Refrain hör' ich nun schon in allen Farmen. Kann denn Herr Eldon seine Verpflichtungen gegen den Lord Rockingham mit lauter Aufschüben ausgleichen?

[190] – Das Jahr ist für alle sehr schlecht gewesen, Herr Harbert, und Sie dürfen glauben, daß auch unsre Farm davon betroffen wurde....

– Das geht mich nichts an, Mac Carthy. Ich kann Ihnen keinen Aufschub bewilligen!«

In eine finstre Ecke gedrückt, mit gekreuzten Armen und weit geöffneten Augen war Findling Zeuge dieses Auftritts.

»Ich bitte Sie, Herr Harbert, haben Sie Mitleid mit den Armen!... Es handelt sich ja nur darum, uns etwas Zeit zu gönnen. Der halbe Winter ist schon vorbei, und er ist auch nicht zu streng gewesen. Im nächsten Erntejahre werden wir uns erholen...

– Wollen Sie jetzt bezahlen oder nicht, Mac Carthy?

– Wir möchten's ja gern. Herr Harbert... so hören Sie doch... ich versichere Ihnen auf mein Ehrenwort, daß es uns unmöglich ist...

– Unmöglich! rief der herzlose Beamte So verschaffen Sie sich Geld durch den Verkauf....

– Das haben wir gethan, doch was uns davon verblieb, wurde durch die Ueberschwemmung im Frühjahr vernichtet. Für das Mobiliar im Hause bekämen wir ja keine hundert Schillinge!

– So? Und jetzt, wo sie nicht einmal imstande sind, die Feldarbeiten wieder aufzunehmen, rief der Beamte, jetzt denken Sie durch die nächste Ernte alles wieder einzubringen? Halten Sie mich denn für einen Narren, Mac Carthy?

– Nein, gewiß nicht, Herr Harbert, da sei Gott vor! Doch aus Mitleid, rauben Sie uns nicht die allerletzte Hoffnung!«

Bewegungslos und stumm unterdrückten Murdock und sein Bruder nur mühsam die innere Empörung, als sie ihren Vater sich vor diesem Menschen so bücken und beugen sahen.


Nur ein einziges Gespann von einem Pferde und einem Esel. (S. 186.)

Eben hatte sich die Großmutter in ihrem Lehnstuhle halb aufgerichtet und begann mit ernster Stimme:

»Herr Harbert, ich bin siebenundsiebzig Jahre alt und lebe seit siebenundsiebzig Jahren auf diesem Pachthofe, den mein Vater vor meinem eignen Manne und vor meinem Sohne bewirthschaftete. Bis zum heutigen Tage haben wir unsern Pachtzins noch stets auf Heller und Pfennig gezahlt, und jetzt, wo wir Sie zum ersten Male um einen Aufschub bis zur nächsten Ernte ersuchen, kann ich nimmermehr glauben, daß der Lord Rockingham uns von hier zu vertreiben beabsichtige....

[191] – Um den Lord Rockingham handelt es sich hier auch gar nicht! fiel Harbert barsch ein. Der Lord Rockingham kennt Sie ja nicht im geringsten. Der Herr John Eldon aber kennt Sie... er hat mir bestimmte Befehle ertheilt, und wenn Sie mich nicht bezahlen, verlassen Sie einfach die Farm von Kerwan....

– Kerwan verlassen! schrie Martine, bleich wie eine Todte, auf.

– Binnen acht Tagen!

– Und wo werden wir ein Obdach finden?

– Wo es Ihnen paßt!«

[192] Findling hatte schon manche traurige Dinge mit angesehen, hatte selbst schon viel des Schweren erduldet, und doch schien es ihm, als überträfe das, was hier vorging, alle seine schlimmsten Erfahrungen. Ohne von Thränen und Klagen begleitet zu sein, war der Auftritt doch um so ergreifender.


Abtheilungen der »mounted constabulary«. (S. 188.)

Inzwischen hatte sich Harbert erhoben und fragte, ehe er die Papiere wieder einsteckte:

»Zum letzten Male also: wollen Sie bezahlen?

– Und womit denn?«

[193] Murdock war es, der diese Gegenfrage mit lauter Stimme aufwarf.

»Jawohl... womit denn?« wiederholte er, langsam an den Beamten herantretend.

Harbert kannte Murdock schon lange: er wußte auch, daß dieser einer der eifrigsten Vorkämpfer der Liga gegen den Landlordismus war, und ohne Zweifel kam ihm hierbei der Gedanke, daß sich jetzt eine gute Gelegenheit biete, das Land von ihm zu befreien. In der Meinung, es nicht nöthig zu haben, gegen ihn Schonung walten zu lassen, antwortete er ironisch und mit verächtlichem Achselzucken:

»Womit bezahlen, fragen Sie?... Nun freilich, nicht damit, daß man nach allen Meetings läuft, sich den Empörern anschließt, nicht damit, daß man die Bodeneigenthümer boycoitiert... Nur durch Arbeit...

– Durch Arbeit! fiel Murdock ihm ins Wort, indem er dem Manne seine schwieligen Hände entgegenstreckte. Hier, diese Hände haben wohl nicht gearbeitet? Glauben Sie etwa, mein Vater, meine Mutter, meine Brüder hätten seit so vielen Jahren hier auf dem Hofe nur die Arme zusammengeschlagen?... Herr Harbert, sprechen Sie nicht solche Worte, denn ich bin nicht imstande, dergleichen anzuhören....«

Murdock begleitete seine Rede mit einer Bewegung, vor der der Beamte zurückwich. Jener aber machte jetzt dem ganzen Ingrimm Luft, den sociale Ungerechtigkeit in seinem Herzen aufgespeichert hatte, und er that dies mit der Eindringlichkeit des Ausdruckes, die der irischen Sprache so eigen ist, der Sprache, von der es heißt: »Wenn Du Dein Leben vertheidigst, so thu' es in irischer Zunge!« – Und sein Leben galt es ja, wie das Leben der Seinigen, als er sich zu so schrecklichen Drohungen hinreißen ließ.

Als er sich das Herz erleichtert hatte, setzte er sich an der Seite nieder.

Sim fühlte die Wuth in sich aufflammen, wie das Feuer unter dem Roste.

Martin Mac Carthy stand mit gesenktem Kopfe da und wagte nicht, das peinliche Schweigen zu brechen, das auf Murdocks zornige Worte gefolgt war.

Harbert dagegen sah alle wie vorher mit verächtlichem Hochmuth an.

Da erhob sich Martine und wandte sich an den Beamten.

»Herr Harbert, begann sie, lassen Sie auch mich die Bitte wagen, uns einen Aufschub zu verwilligen... das wird es ermöglichen, Sie zu bezahlen... nur wenige Monate... und bei fleißigster Arbeit... sollten wir auch selbst dabei [194] zu Grunde gehen!... Ich flehe Sie an... ich bitte Sie auf den Knien... haben Sie Erbarmen!«

Die unglückliche Frau sank in die Knie vor dem herzlosen Manne, der sie schon durch seine freche Haltung verletzte.

»Genug, Mutter!... Zuviel... zuviel schon der Erniedrigung! rief Murdock, der Martine zum Aufstehen zwang. Mit Bitten und Flehen antwortet man solchem Elenden nicht!

– Nein, versetzte Harbert, ich sehe auch nicht ein, wozu die vielen Worte nützen sollen. Geld... das Geld augenblicklich her, oder Ihr seid vor Ablauf von acht Tagen alle von Haus und Hof verjagt....

– Vor Ablauf von acht Tagen, mag sein! rief Murdock. Jetzt kommen Sie aber erst an die Reihe, jetzt werf' ich Sie zur Thür des Hauses hinaus, in dem wir noch Herr sind....«

Damit drang er auf den Beamten ein, faßte ihn, hob ihn auf und schleuderte ihn auf den Hof hinaus.

»Was hast Du gethan, mein Sohn, was hast Du angerichtet? sagte Martine, während alle übrigen die Köpfe hängen ließen.

– Nur das, was jeder Irländer thun sollte, antwortete Murdock, die Lords von Irland verjagen, wie ich diesen Agenten aus unsrer Farm verjagt habe!«

16. Capitel
Sechzehntes Capitel.
Die Austreibung.

So gestaltete sich die Lage der Familie Mac Carthy zu Anfang des Jahres 1882. Findling hatte sein zehntes Lebensjahr vollendet. Ein kurzes Leben, wenn man nur die verflossene Zeit veranschlagt, ein langes, wenn man auch die Schicksale des Knaben berücksichtigt. Er zählte bis jetzt nur drei glückliche Jahre – die Jahre, die er seit seinem Eintreffen in der Farm von Kerwan verbracht hatte.

[195] Jetzt stürmte das Unglück, wie er es einst getragen, auch über die herein, die er in der Welt am innigsten liebte, über diese Familie, die so ganz zur seinigen geworden war. Das Unheil sollte alle Bande, die Brüder, Mutter, Kinder verknüpften, mit roher Hand zerreißen. Alle würden gezwungen sein, von einander zu scheiden, sich zu zerstreuen, vielleicht Irland zu verlassen, da die Heimatinsel ihnen auch den bescheidensten Unterhalt nicht zu bieten vermochte. Im Laufe der letzten Jahre waren bereits dreiundeinehalbe Million Pächter von ihrem Hofe vertrieben worden, und was so viele getroffen hatte, sollte das dem Pachter von Kerwan erspart bleiben?

Gott erbarme sich des armen Landes! Der Hunger wüthet hier wie eine Volksseuche, wie ein grausamer Krieg Dieselben Geißeln, dieselben Folgen.

Noch ist der Winter von 1740–1741 in frischer Erinnerung, wo so viele der Entbehrung zum Opfer fielen, und ebenso das noch schrecklichere Jahr 1847, »das schwarze Jahr«, das die Zahl der Landesbewohner um fast fünfmalhunderttausend verminderte.

Wenn die Ernten fehlschlagen, werden hier ganze Dörfer entvölkert. Man kann durch die offen gebliebene Thür der Farmen eintreten: keine Seele ist mehr darin. Die Pächter sind ohne Gnade vertrieben. worden, der Landbau ist im Herzen getroffen. Wenn nur Weizen, Roggen, Hafer und Gerste mißriethen, so konnten die Leute zur Noth ein besseres Jahr abwarten. Hat aber ein allzu strenger und andauernder Winter die Kartoffel getödtet, dann bleibt dem Bewohner des flachen Landes nichts andres übrig, als in die Stadt zu flüchten und hier das »work-house« aufzusuchen, wenn er's nicht vorzieht, früheren Auswandrern zu folgen. In diesem Jahre mußten sich eine Menge Ackerbauer dazu entschließen. Viele waren mit sich schon einig. In Folge ähnlicher Calamitäten hat sich die Bevölkerung einzelner Grafschaften sehr beträchtlich vermindert. In früherer Zeit hat Irland wahrscheinlich gegen zwölf Millionen Seelen beherbergt, jetzt leben allein in den Vereinigten Staaten von Amerika sechs bis sieben Millionen Ansiedler irischer Abkunft

Zur Auswandrung schien ja auch die Familie Mac Carthy verurtheilt zu sein. Weder die Wühlereien der Landliga, noch die Meetings, denen Murdock beiwohnte, konnten an diesem Sachverhalt etwas ändern. Die Hilfsquellen des »poor-board« (Armenamtes) erwiesen sich gegenüber so vielen Bedürftigen als unzureichend. Die von der Vereinigung der »home-rulers« genährte Casse mußte bald geleert sein. Einer Erhebung gegen die Großgrundbesitzer, den Plünderungen, [196] die eine solche jedenfalls im Gefolge haben würde. war der Lordlieutenant entschlossen, mit Gewalt entgegenzutreten. Das erkannte man schon an dem Auftauchen zahlreicher Polizeiagenten in den verdächtigen – oder ebenso richtig: in den am schlimmsten betroffenen – Grafschaften des Landes.

Gewiß wäre für Murdock die größte Vorsicht angezeigt gewesen, er aber spottete der Gefahr. Glühend vor Wuth, bethört von Verzweiflung verlor er gänzlich die Herrschaft über sich, stieß die furchtbarsten Drohungen aus und hetzte die Bauern zum Aufstande. Durch sein Beispiel angesteckt, compromittierten sich sein Vater und sein Bruder kaum weniger. Nichts vermochte sie mehr zu zügeln.

Findling, der immer das Erscheinen eines Polizeiaufgebotes fürchtete, hielt treulich Wache in der Umgebung der Farm.

Inzwischen lebte man hier von den letzten Hilfsmitteln. Um etwas Geld zu beschaffen, waren einige Möbelstücke verkauft worden. Und jetzt sollte der Winter noch mehrere Monate andauern! Doch woher die Nahrung genommen werden sollte für die Periode bis zum Wiedereintritt der bessern Jahreszeit, das wußte niemand.

Zu dieser Unruhe wegen der Gegenwart und der Zukunft kam nun noch der Kummer, den der Zustand der Großmutter verursachte. Die arme bejahrte Frau wurde von Tag zu Tag hinfälliger. Von den schweren Schicksalsschlägen getroffen, konnte ihr Leben nicht mehr lange währen. Findling blieb meist in ihrer Nähe. Er verließ das Zimmer gar nicht mehr und wich nicht von ihrem Lager. Sie liebte es, daß er bei ihr war und daß er die jetzt zweieinhalbjährige Jenny in den Armen hielt, die sie mit ihrem kindlichen Lächeln erfreute. Zuweilen nahm sie das Kind auch selbst und herzte die Kleine. Doch dabei kam ihr auch der schmerzliche Gedanke, was später aus diesem zarten Mägdlein werden solle, und dann fragte sie Findling wohl:

»Du hast sie doch recht lieb. nicht wahr?

– Ja, gewiß, Großmutter.

– Und wirst sie niemals verlassen?

– Niemals... niemals!

– Gott gebe, daß sie einst glücklicher werde, als wir es gewesen sind! Sie ist Dein Töchterchen, vergiß das nicht!... Du wirst schon ein großer junger Mann sein, wo sie noch immer nur ein kleines Mädchen ist. Ein Pathe ist dasselbe wie ein Vater. Wenn sie ihre Eltern einmal verlieren sollte...

[197] – Ach nein, Großmutter, bitte, lassen Sie solche Gedanken! Das Unglück kann ja nicht ewig fortdauern... wenn nur erst einige Monate überstanden sind... dann werden Sie auch wieder gesund, wir sehen Sie, wie früher, im bequemen Lehnstuhle, und Jenny spielt zu ihren Füßen....«

Doch während Findling so sprach, fühlte er einen Stich im Herzen und warme Thränen in den Augen, denn er wußte, daß die Großmutter krank, sehr krank war. Dennoch fand er die Kraft, sich – wenigstens in ihrer Nähe – zu bemeistern. Wenn er weinte, so that er das draußen, wo ihn keiner sehen konnte. Und dann fürchtete er immer, den bösen Harbert mit den Gerichtsdienern ankommen zu sehen, die die Familie von ihrem einzigen Obdach verjagen sollten.

In der ersten Januarwoche verschlimmerte sich der Zustand der alten Frau beträchtlich. Wiederholt bekam sie Ohnmachtsanfälle, von denen einer so lange anhielt, daß man glauben konnte, ihr Ende sei gekommen.

Am 6. war ein Arzt aus Tralee erschienen, einer der barmherzigen Samariter, die ihre Unterstützung auch den Armen nicht versagen, obwohl sie davon keinen klingenden Nutzen haben. Der Betreffende machte gerade, wie früher üblich, einen Ritt durch die verödeten Landstriche, und Findling, der ihn von einer Begegnung im Hauptorte der Grafschaft her kannte, hatte ihn um einen Besuch in der Farm gebeten. Hier constatierte der menschenfreundliche Arzt, daß die Entbehrungen, im Verein mit dem Alter und dem Herzeleid, das an der Kranken nagte, mit einer nicht mehr fernen Katastrophe drohten.

Diese Sachlage konnte er vor der Familie unmöglich verschleiern. Nicht Monate mehr, nicht einmal noch Wochen hatte die Großmutter zu leben; ihr Hingang stand voraussichtlich schon in einigen Tagen bevor. Noch bewahrte sie alle geistigen Fähigkeiten und würde sie auch bis ans Ende behalten. In dieser einfachen Bäuerin wohnte eine so energische Lebenskraft, eine solche Widerstandsfähigkeit gegen die endliche Auflösung, daß ihr leider ein recht harter Todeskampf drohte. Endlich würde die Schwäche sie übermannen, die Athmung aussetzen und das Herz aufhören zu schlagen....

Vor dem Verlassen der Farm verordnete der Arzt noch eine Tinctur, die der Großmutter wenigstens die letzten Augenblicke erleichtern sollte. Dann ging er fort und ließ die Verzweiflung zurück in dem Hause, wohin das Mitleid ihn geführt hatte.

Nach Tralee zu gehen, den Trank bereiten zu lassen und nach der Farm zu bringen, das hätte wohl binnen vierundzwanzig Stunden erledigt sein können; [198] wie aber sollte man die Arznei bezahlen?... Nachdem alles Geld mit Abführung der staatlichen Abgaben erschöpft war, lebte die Familie nur von Feldfrüchten der Farm, ohne etwas dazu zu kaufen. Im Kasten befand sich kein Schilling mehr. Von Möbeln oder Kleidungsstücken ließ sich auch nichts mehr zu Geld machen. Es war das Elend im schlimmsten Maße.

Da kam Findling eine Erinnerung. Noch besaß er die Guinee, die ihm Miß Anna Walston im Limericker Theater gegeben hatte. Ein reiner Scherz der Künstlerin, hatte er doch seine Rolle als Sib sehr ernst genommen, und ihm däuchte dies Geld in Ehren verdient. So hatte er die betreffende Guinee sorglich in seiner Casse, das heißt, in der Kruke, die seine Kieselsteine enthielt, aufgehoben. Leider konnte er zur Zeit nicht mehr darauf rechnen, daß diese sich jemals in Peace oder Schillinge verwandeln würden.

Niemand in der Farm wußte, daß Findling dieses Geldstück besaß, und da kam ihm der Gedanke, es zur Beschaffung des der Großmutter verordneten Trankes zu verwenden. Das versprach ihm Linderung ihrer Leiden, vielleicht eine Verlängerung des Lebens und – wer weiß? – ihr Zustand konnte sich wohl gar dauernd bessern. Findling wollte noch immer hoffen, wenn er im Herzen auch verzweifelte.

Entlehleden, sein Vorhaben auszuführen, beschloß er, nichts davon verlauten zu lassen. Das Geld gehörte ja ihm, er konnte darüber nach Belieben verfügen. Jedenfalls war keine Zeit zu verlieren. Um ungesehen zu bleiben, wollte er in der Nacht aufbrechen. Ein Dutzend Meilen bis Tralee hin und ebenso viele zurück, das ist für ein Kind zwar ein weiter Tagesmarsch, doch er dachte daran nicht im mindesten.

Es war ungewiß, ob seine Abwesenheit während eines Tages so besonders auffiel, da er sich die ganze Zeit, wo er nicht bei der Großmutter saß, draußen aufhielt, die Umgebungen und die Landstraße auf zwei bis drei Meilen hin überwachte und immer gespannt wartete, ob nicht der Beamte des Middleman mit den Gerichtsdienern auftauchte, um die Familie auf die Straße zu werfen, oder ein Constabler mit Gehilfen käme, um Murdock zu verhaften.

Am nächsten Tage, den 7. Januar, verließ Findling sein Zimmer um zwei Uhr früh, nachdem er noch die Großmutter, die sein Kuß nicht erweckte, umarmt hatte. Dann schlüpfte er aus dem großen Zimmer, drückte die Thür hinter sich geräuschlos zu und streichelte Birk, der ihn ansprang, als wollte er sagen: »Was? Mich nimmst Du nicht mit?« Nein, er wollte den Hund auf der Farm lassen.

[199] Während seiner Abwesenheit konnte das treue Thier jede verdächtige Annäherung vereiteln. Nach Ueberschreitung des Hofes und Oeffnung des Thores sah er sich allein auf dem Wege nach Tralee.


»Diese Hände haben wohl nicht gearbeitet?« (S. 194.)

Noch war es pechfinster. In den ersten Tagen des Januar, noch nicht drei Wochen nach der Wintersonnenwende, geht die Sonne in diesen Breiten zwischen dem 52. und 53. Grade erst sehr spät am südöstlichen Horizonte auf. Um sieben Uhr des Morgens färben sich die Bergspitzen kaum mit den schwachen Tinten des jungen Tages. Findling hatte also die Hälfte des Weges im Dunkeln [200] [203]zurückzulegen, doch das erschreckte ihn nicht. Die Witterung war sehr klar, die Kälte lebhaft, obwohl ein Thermometer nur etwa zwölf Grad unter Null gezeigt hätte. Am Firmament glänzten Tausende von Sternen. Die ganz weiße Landstraße zog sich über Sehweite hinaus wie vom Schneereflex erleuchtet hin und die Tritte gaben einen trocknen Widerhall.

Um zwei Uhr des Morgens aufgebrochen, hoffte Findling vor Einbruch der Nacht zurück zu sein. Seiner Berechnung nach mußte er früh um acht Uhr in Tralee eintreffen. Zwölf Meilen in sechs Stunden zu überwinden, das war keine besondre Aufgabe für einen Knaben, der, jede Anstrengung gewöhnt, ein Paar gesunde kräftige Beine besaß. In Tralee gedachte er zwei Stunden auszuruhen, inzwischen in einem Wirthshause etwas Brod mit Käse und eine Pinte Bier zu verzehren, was ihm zwei bis drei Pence kosten konnte. Dann wollte er sich, wenn er die Arznei erhalten hatte, auf den Rückweg machen, um im Laufe des Nachmittags die Farm wieder zu erreichen.

Dieses wohldurchdachte Programm sollte streng eingehalten werden, wenn nichts Unerwartetes dazwischen trat. Der Weg war gut und das Wetter einer schnellen Gangart günstig. Er war froh, daß die Kälte wenigstens eine Beruhigung der Atmosphäre herbeigeführt hatte.


Dieser »Widder« zertrümmert alles. (S. 207.)

Bei dem vorher so heftigen Westwinde und gegen das ihm dann entgegenpeitschende Schneegestöber hätte Findling kaum vorwärts kommen können. Heute aber begünstigten ihn die Verhältnisse, wofür er der Vorsehung aufrichtig dankte.

Immerhin war der Weg, vorzüglich wegen einer Begegnung mit Wölfen, nicht ganz ohne Gefahr. Trotz des nicht besonders strengen Winters hörte man das heulende Gebell dieser Thiere in allen Wäldern der Grafschaft. Findling hatte gar wohl daran gedacht, und heftiger schlug ihm das Herz, als er sich so allein sah im weiten Lande und auf diesem scheinbar endlosen Wege, neben dem die überreiften Skelette der Bäume emporstarrten.

Schnellen Schrittes und ohne jemals auszuruhen hatte der Knabe die ersten sechs Meilen seines Weges binnen zwei Stunden zurückgelegt.

Es war jetzt um vier Uhr morgens. Im Westen noch tiefdunkel, schimmerte im Osten doch schon ein schwacher, fahler Lichtschein herauf, vor dem die Sterne etwas verblichen. Freilich dauerte es immer noch über vier Stunden, ehe die Sonne selbst am Horizonte aufstieg.

Findling mußte jetzt einmal zehn Minuten Halt machen. Er setzte sich auf eine knorrige Baumwurzel und verzehrte eine mitgenommene geröstete Kartoffel[203] mit dem frischen Appetit der Jugend. Mit dieser zweifelhaften Stärkung wollte er bis Tralee aushalten. Um viereinviertel Uhr brach er wieder auf.

Den Weg von Kerwan nach dem Hauptorte der Grafschaft konnte er ja nicht verfehlen, da er diesen oft genug im Wagen zurückgelegt hatte, wenn ihn Martin Mac Carthy an Markttagen mitnahm. Das war damals freilich die gute Zeit, die Zeit beglückender Zufriedenheit, die jetzt schon so fern zu liegen schien.

Die Landstraße war und blieb völlig öde. Kein Wanderer – um den sich Findling auch nicht besonders gekümmert hätte – zeigte sich, und kein Wagen rollte auf Tralee zu. Auf einem solchen hätte man ihm einen Platz gewiß nicht verweigert, und damit wäre ihm ja viele Anstrengung erspart geblieben. So konnte er nur auf seine kleinen, doch wenigstens kräftigen Beine rechnen.

Endlich hatte er noch vier Meilen, wenn auch nicht so schnell wie die sechs ersten, hinter sich gebracht, und nun trennten ihn nur noch zwei von seinem Ziele.

Es war jetzt halb acht Uhr geworden. Die letzten Sterne erloschen am westlichen Horizonte. Das trübe Morgengrauen jener hohen Breiten erhellte schwach den weiten Himmelsraum, so lange die Sonne den Gürtel von Dünsten in den niedrigeren Schichten nicht durchbrach. Immerhin bot sich jetzt schon eine weitumfassende Aussicht.

Da erschien an einer höheren Stelle der Straße eine Gruppe von Männern, die von Tralee herkamen.

Der erste Gedanke Findlings war es da, sich zu verstecken, obwohl ihm, einem Kinde, doch wohl niemand etwas zu Leide gethan hätte. Doch ohne sich das zu überlegen, sprang er schnell hinter einen überschneiten Busch, von wo aus er sehen konnte, wer die entgegenkommenden Männer wären.

Bald erkannte auch der Knabe in jenen etwa ein Dutzend Polizeiagenten in Begleitung eines Constablers. Seitdem das Land hier strenger überwacht wurde, war es gar nicht selten, solchen Abtheilungen zu begegnen, die, auf Befehl des Lordlieutenants organisiert, bald hier, bald dort auftauchten.

Der Anblick dieser Hüter der Ordnung konnte Findling also nicht besonders auffallen, fast wäre ihm aber ein Aufschrei entfahren, als er darunter den Pachtcassierer Harbert erkannte, der von zwei bis drei Executivbeamten begleitet war, die überall die Vertreibung der Pächter ausführten.

Wie krampfte sich ihm da das Herz zusammen bei der Vorstellung, daß sich Harbert mit diesen Leuten nach der Farm begeben könnte, und daß die Polizisten ihn begleiteten, um vielleicht Murdock zu verhaften!

[204] Findling konnte diesen Gedanken nicht ertragen. Gleich nach dem Verschwinden der Gruppe sprang er wieder auf die Landstraße hinaus und lief, was er nur laufen konnte, so daß er gegen achteinhalb Uhr die ersten Häuser von Tralee erreichte.

Hier begab er sich zuerst nach einer Apotheke und wartete gleich auf die Anfertigung der verordneten Arznei. Zur Bezahlung derselben gab er das Goldstück – sein ganzes Vermögen – hin. Der Apotheker wechselte die Guinee, und da der verschriebene Trank sehr theuer war, erhielt der Knabe nur etwa fünfzehn Schillinge zurück.

Abhandeln ließ sich von dem Preise doch wohl nichts und Findling dachte auch gar nicht daran, da es sich hier um das Wohl und Wehe der Großmutter handelte, dagegen wollte er an der Ausgabe für sein Frühstück zu sparen suchen. Statt des Käses und des Biers begnügte er sich mit einem tüchtigen Stück Brod, das er gierig aufzehrte, und mit einem Stück Eis, das er im Munde zergehen ließ Kurz nach zehn Uhr verließ er Tralee wieder und machte sich auf den Heimweg nach Kerwan.

Unter andern Verhältnissen hätte sich zu dieser Tageszeit ringsum weit mehr Leben gezeigt. Auf den Straßen polterten dann gewöhnlich Karren oder Jaunting-cars dahin, die Personen oder Waaren aller Art nach den verschiedenen Ortschaften des Bezirks beförderten, und überall hätte sich rege Thätigkeit entfaltet. Die Unglücksfälle des vergangnen Jahres hatten jedoch, mit ihrem Gefolge von Hunger und Elend, die Provinz fast entvölkert. Gar viele Bauern hatten sich schweren Herzens entschlossen, das Land zu verlassen, das sie nicht zu ernähren vermochte. Schon zu gewöhnlichen Zeiten schätzt man die Zahl der Irländer, die alljährlich nach der Neuen Welt, nach Australien oder Südafrika auswandern, auf etwa hunderttausend, um sich ein Fleckchen Erde zu suchen, das sie wenigstens vor dem Hungertode bewahrt. Diese starke Auswanderung wird noch durch Gesellschaften begünstigt, welche die Emigranten für zwei Pfund Sterling (vierzig Mark) bis zu den Gestaden Südamerikas befördern.

Im laufenden Jahre hatten nun aber noch weit mehr Landleute die Bezirke des westlichen Irlands verlassen und es schien, als ob die sonst so verkehrsreichen Landstraßen jetzt nur in eine Wüste oder, was noch schlimmer ist, in ein verlassenes Land ausliefen.

Findling wanderte immer raschen Schrittes dahin. Er wollte keine Ermüdung fühlen und entwickelte eine ganz außergewöhnliche Energie. Natürlich war es [205] ihm unmöglich gewesen, die Polizistenabtheilung einzuholen, da diese gegen ihn einen Vorsprung von zwei bis drei Stunden hatte. Die im Schnee sichtbaren Fußspuren der Männer wiesen jedoch darauf hin, daß der Constabler mit seinen Leuten und Harbert mit seinen Gehilfen den nach der Farm führenden Weg einhielten, ein Grund mehr für den Knaben, sich zu beeilen, obwohl ihn die Füße von dem anstrengenden Marsche schmerzten. Er versagte sich selbst eine Rast von wenigen Minuten, wie er sich diese auf dem Hinweg gegönnt hatte. Um zwei Uhr nachmittags befand er sich nur noch zwei Meilen von Kerwan. Eine halbe Stunde später zeigte sich der Pachthof inmitten der weiten Ebene, wo alles in ununterbrochenem Weiß zusammenfloß.

Findling erstaunte einigermaßen, keine Rauchsäule aufsteigen zu sehen, da es dem Kamin im großen Zimmer an Brennmaterial doch nicht fehlen konnte.

Ueberdies schien sich von der Farm der Eindruck von merkwürdiger Oede und Verlassenheit zu verbreiten.

Findling beschleunigte seine Schritte. Er nahm alle seine Kräfte zusammen und fing an zu laufen. Wiederholt hinfallend und schnell aufspringend kam er vor dem den Pachthof abschließenden Thore an....

Welch ein Anblick! Das Thor war zertrümmert. Im Hofe zeigten sich sehr viele Fußspuren in allen Richtungen. Von den Baulichkeiten, den Ställen und Scheunen ragten nur noch die vier Wände, aber ohne Dach, empor. Die Strohbedeckung war heruntergerissen. Eine Thür, einen Fensterrahmen gab es nicht mehr. Offenbar hatte man alles unbewohnbar gemacht, um die Familie zu hindern, sich hier noch ein Obdach zu suchen. Das war eine traurige Ruine von Menschenhand!

Findling blieb wie vom Donner gerührt stehen. Scheu und Schrecken durchbebten ihn. Er wagte nicht, durch das Thor zu schreiten, sich dem Hause zu nähern....

Und doch entschloß er sich endlich dazu. Wenn der Farmer oder eines der Seinigen noch hier war, so mußte er's doch wissen....

Findling wankte bis an den Hauseingang. Er rief laut....

Keine Stimme antwortete ihm.

Da sank er auf der Schwelle nieder und fing an zu weinen. –

In seiner Abwesenheit hatte sich folgendes zugetragen.

Die traurigen Austreibungen, infolge deren nicht nur einzelne Farmen, sondern oft auch ganze Dörfer von ihren Bewohnern verlassen werden, sind in [206] den Grafschaften Irlands gar nichts seltenes. Die armen Leute, von der Stätte verjagt, wo sie geboren wurden und auch noch zu sterben erwarteten, könnten aber zurückkehren, die Thüren der Häuser sprengen und in diesen wieder ein Obdach suchen, das sie anderswo nicht fanden.

Nun, das Mittel, sie daran zu hindern, ist höchst einfach. Die Häuser werden eben ganz unbewohnbar gemacht. Man richtet dazu einen »battering-ram« (eine Art Mauerbrecher) auf, dieser besteht aus einem Balken, der an einer Kette pendelt, welche an drei langen aufrechten und oben verbundenen Pfählen hängt. Dieser »Widder« zertrümmert alles. Das betreffende Haus wird seines Daches beraubt, der Schornstein umgestoßen und der Herd zerstört. Man zerschmettert damit die Thüren und drückt die Fensterrahmen ein. Nichts als die nackten Wände bleiben übrig.... Steht dann die Ruine dem Sturmwind offen, ergießt sich der Regen hinein und sackt sich der Schnee darin, dann können der Landlord und seine Untergebenen sicher sein, daß sich niemand mehr hier aufhalten kann.

Ist es bei den so häufigen Executionen dieser Art, die an den rohesten Vandalismus streifen, wohl ein Wunder, daß sich ein so glühender Haß im Herzen der irländischen Bauern angesammelt hat? Hier in Kerwan war die Austreibung gar von noch traurigeren Nebenumständen begleitet gewesen.

An dem unmenschlichen Werke hatten auch Haß und Rache ein gutes Theil gehabt. Harbert, der Murdock seine Beleidigungen heimzahlen wollte, hatte sich nicht begnügt, mit den Helfershelfern im Namen des Middleman vorzugehen, sondern ihn auch, da er den jungen Farmer schon schwarz angeschrieben wußte, noch denunciert, und die Polizisten hatten Befehl erhalten, sich der Person desselben zu versichern.

Zuerst wurden Martin, seine Frau und seine Kinder aus dem Hause getrieben, während die Schergen das Innere der Wohnung demolierten. Nicht einmal die alte Großmutter wurde verschont. Aus ihrem Bett gerissen und auf den Hof geschleppt, hatte sie sich noch einmal zu erheben vermocht, um in ihren Mördern die Mörder Irlands zu verfluchen... dann war sie todt zusammengebrochen.

In diesem Augenblicke hatte sich Murdock, der noch hätte entfliehen können, auf die Elenden gestürzt. Sinnlos vor Zorn schwang er eine Axt. Sein Vater und sein Bruder hatten wie er ihre Familie vertheidigen wollen.... Vergeblich! Die Beamten und Constabler waren in der Uebermacht und der Sieg blieb dem Gesetze, wenn man dieses Wort noch für ein Attentat auf alles, was gerecht und menschlich ist, gebrauchen darf.

[207] Eine gewaltthätige Auflehnung gegen die Organe der Polizei lag hiermit so auf der Hand, daß außer Murdock auch Martin und Sim in Hast genommen wurden. Und obgleich seit 1870 keine Austreibung ohne einen Schadenersatz an die bisherigen Pächter stattfinden darf, hatten sie durch ihren Widerstand diese Wohlthat obendrein verwirkt.

Auf der Farm konnte der bejahrten Großmutter doch kein christliches Begräbniß zu Theil werden. Man mußte sie nach einem Kirchhof überführen. So betteten ihre beiden Enkel sie also auf eine Tragbahre und trugen sie fort, während Martin, Martine und Kitty mit ihrem Kinde auf dem Arme ihnen inmitten der Constabler folgten.

Der Leichenzug schlug den Weg nach Limerick ein, und ein ergreifenderes Bild, als dieser Trauerzug einer ganzen verhafteten Familie, die die Leiche einer armen, hochbejahrten Frau begleitete, konnte es wohl nicht geben.

Findling, der sein Entsetzen endlich überwunden hatte, lief durch die verwüsteten Räume des Hauses, wo die Trümmer der Möbel umherlagen; immer rief er laut... keiner, keiner antwortete ihm!...

Jetzt dachte er auch an seinen Schatz, an die Kieselsteine, die ihm die Zahl der seit seinem Verweilen in Kerwan verflossenen Tage angeben mußten. Er suchte die Kruke, worin er sie verwahrt hatte, und fand diese unzerbrochen in einem Winkel. Ach, diese Kiesel! Auf der Schwelle sitzend, begann Findling sie zu zählen: es waren deren fünfzehnhundertvierzig.

Das entsprach vier Jahren und achtzig Tagen – vom 20. October 1877 bis zum 7. Januar 1882 – die er auf der Farm verlebt hatte.

Jetzt mußte er die Stätte verlassen und wollte versuchen, die Familie, die ja zur seinigen geworden war, wieder aufzufinden.

Vor dem Aufbruche machte Findling noch ein Packet aus seiner Wäsche, die er in einer halbzerbrochenen Schublade gefunden hatte. In der Mitte des Hofes aber brach er ein Loch neben der am Tage der Geburt des kleinen Mädchens gepflanzten Tanne aus dem harten Boden und verscharrte darin das Gefäß, das seine Kieselsteine barg.

Dann warf er noch einen letzten wehmüthigen Blick auf das zerstörte Haus und wanderte nach der Landstraße zurück, die schon das Dunkel der Dämmerung beschattete.


Ende des ersten Theiles. [208]

2. Theil

1. Capitel
Erstes Capitel.
Ihre Herrlichkeiten.

Ohne sein gewohntes vornehmes Auftreten zu verleugnen, nahm Lord Piborne verschiedene, auf seinem Tische liegende Papiere auf, ordnete die da [209] und dort verstreuten Zeitungsblätter, durchsuchte die Taschen seines goldgelben Plüschschlafrocks, durchwühlte auch die eines stahlgrauen Ueberziehers, der über der Lehne eines Armstuhles hing, und wendete sich dann zurück, während ein kaum bemerkbares Runzeln der Augenbrauen an seiner Stirn sichtbar wurde.

In dieser hocharistokratischen Weise und ohne sonstige Veränderung der Gesichtszüge pflegte Seine Herrlichkeit stets auch dem lebhaftesten Unbehagen Ausdruck zu geben.

Eine leichte Neigung des Oberkörpers deutete darauf hin, daß er sich sogar einmal bücken wollte, um einen Blick unter den von einer großen, schwer befranzten Decke verhüllten Tisch zu werfen. Davon kam er jedoch zurück und »geruhte« auf den Knopf einer Klingel zur Seite des Kamins zu drücken.

Fast augenblicklich erschien John, der Kammerdiener, auf der Thürschwelle des Gemaches und blieb hier regungslos stehen.

»Sieh nach, ob mein Portefeuille hier unter den Tisch gefallen ist,« sagte Lord Piborne.

John bückte sich nieder, hob die faltenreiche Decke etwas in die Höhe und richtete sich mit leeren Händen wieder auf.

Das Portefeuille Seiner Herrlichkeit fand sich an dem bezeichneten Platze nicht.

Ein zweites leichtes Stirnrunzeln des Lord Piborne.

»Wo ist Lady Piborne? fragte er.

– In ihren Gemächern, antwortete der Kammerdiener.

– Und der Graf Ashton?

– Er lustwandelt im Parke.

– Melde Ihrer Herrlichkeit der Lady Piborne meine Empfehlung und sage ihr, ich wünsche die Ehre zu haben, sie baldmöglichst zu sprechen.«

John machte steif auf der Stelle Kehrt – ein stilgerechter Lakei hat sich im Dienste nicht zu verneigen – und verließ streng abgemessenen Schrittes das Cabinet, um die Befehle seines Herrn auszuführen.

Seine Herrlichkeit Lord Piborne zählt fünfzig Jahre – fünfzig Jahre, die seiner mehrere hundert Jahre alten und von keinem Verstoß gegen die Ehre des Adels, von keiner Mißheirat befleckten Familie hinzuzurechnen waren. Ein hervorragendes Mitglied des englischen Oberhauses, bedauert er in gutem Glauben das Aufhören vieler alten Privilegien der Feudalzeit, die schöne Zeit der Lehen, Renten, der Allodialgüter und Domänen, der Macht persönlichen Gerichtsstandes, [210] deren sich seine Ahnen erfreuten, und der tiefen Ehrerbietung, die diesen jeder Lehensmann ohne Zögern entgegen brachte. Alles, was nicht von einer, der seinigen ebenbürtigen Herkunft ist, was sich eines so alten Stammbaumes nicht rühmen kann, steht für ihn auf der Stufe des Bauers, des Bürgers, wenn nicht gar des Leibeignen oder Sclaven. Er ist Marquis, sein Sohn folglich Graf. Baronetts, Ritter und andre niedre Adelige haben seiner Auffassung nach kaum das Recht, in den Vorzimmern der wirklich vornehmen Welt zu erscheinen. Groß, hager, das Gesicht glatt rasiert, die Augen wie erloschen, so sehr sind sie gewöhnt, Mißachtung auszudrücken, im Sprechen karg und trocken, repräsentiert Lord Piborne den Typus jener hochmüthigen Edelleute, die sich in den Hüllen bestaubter Pergamente vergraben und die – glücklicher Weise – selbst in dem aristokratischen Königreiche Großbritannien und Irland jetzt auf den Aussterbeetat gesetzt scheinen.

Hierzu ist nachzutragen, daß der Marquis englischer Abstammung ist und daß er keine Mesalliance einging, als er die Marquise, die schottischer Herkunft ist, zum Altare führte. Ihre Herrlichkeiten waren ganz für einander geschaffen, beide fest entschlossen, niemals von ihrem hohen Sitze herabzusteigen, und wahrscheinlich auserlesen, eine noch höher steigende Nachkommenschaft zu hinterlassen. Sie bildeten sich ohne Zweifel ein, daß Gott dereinst erst Handschuhe anlegen würde, um sie in seinem Paradiese nach Gebühr zu empfangen.

Die Thür öffnete sich, und als hätte es sich um den Eintritt einer hohen Dame in einen Empfangssalon gehandelt, meldete der Kammerdiener:

»Ihre Herrlichkeit Lady Piborne.«

Die Marquise – eine reife Vierzigerin – groß, hager, eckig, die Haare von breitem Stirnband gehalten, die Lippen dünn, die Nase aristokratisch adlerartig, die Taille schlank und die Schultern abstehend – war gewiß niemals schön gewesen; was aber die Vornehmheit der Haltung und des Benehmens, die Uebereinstimmung in Traditionen und Privilegien anging, hätte Lord Piborne gewiß keine bessere Gemahlin finden können.

John rollte einen wappengeschmückten Lehnstuhl heran, worauf die Marquise sich niederließ, und zog sich lautlos zurück.

Der vornehme Gemahl richtete das Wort an die Dame.

»Sie werden verzeihen, Marquise, daß ich Sie ersuchen lassen mußte, Ihre Gemächer zu verlassen, um mir die Gunst einer Besprechung in meinem Cabinet zu gewähren.«

[211] Es braucht nicht Wunder zu nehmen, daß Ihre Herrlichkeiten, selbst in privater Unterhaltung, so schwulstige Phrasen drechselten. Das gehört hier einmal zum guten Ton. Und übrigens waren beide noch in der »Puder- und Perrückenschule« der früheren Gentry aufgewachsen. Nie hätten sie sich zu der Vertraulichkeit des landläufigen Geplauders herabgelassen, das Dickens im Scherze »Perrucobalivernage« genannt hat.

»Ich stehe zu Ihrem Befehl, Marquis, erwiderte Lady Piborne. Welche Frage hätten Sie an mich zu richten?

– Ich möchte, Marquise, Sie ersuchen, mir mit Ihrem Gedächtniß zu Hilfe zu kommen.

– Ich höre.

– Sind wir nicht gestern gegen drei Uhr nachmittags hier vom Schlosse weg nach Newmarket und zu unserm Attorney, Herrn Laird, gefahren?«

Der Attorney ist der bevollmächtigte Rechtsanwalt, der seinen Auftraggeber bei den Civilgerichten des Vereinigten Königreiches vertritt.

»Gewiß... gestern... Nachmittag, antwortete Lady Piborne.

– Erinnere ich mich recht, so hat Graf Ashton, unser Sohn, uns im Wagen begleitet?

– Ganz recht, Marquis, er nahm einen Platz auf dem Vordersitze ein.

– Die beiden Lakeien standen doch hinter uns auf dem Wagen?

– Ja wohl, wie das ihre Pflicht ist.

– Gut denn, antwortete Lord Piborne, der seine Uebereinstimmung durch eine leichte Kopfbewegung zu erkennen gab, dann, Marquise, erinnern Sie sich wohl auch, daß ich ein Portefeuille bei mir führte, das die Papiere betreffs des Rechtsstreites enthielt, der uns mit dem Kirchspiele bevorsteht?

– Jenes ungerechten Processes, den man die Kühnheit, die Unverschämtheit hat, uns aufzunöthigen! setzte Lady Piborne mit bezeichnender Geberde hinzu.

– Dieses Portefeuille, fuhr Lord Piborne fort, enthielt nicht allein sehr wichtige Documente, sondern auch eine Summe von hundert Pfund in Banknoten, die für unsern Sachwalter bestimmt war.

– Sie erinnern sich an alles ganz genau, Marquis.

– Sie wissen auch, Marquise, wie alles zugegangen ist. Wir sind in Newmarket angekommen, ohne die Kalesche verlassen zu haben. Laird hat uns an der Schwelle seines Hauses empfangen. Ich zeigte ihm sofort die Schriftstücke und erbot mich, das Geld bei ihm zu deponieren. Er hat darauf geantwortet, [212] daß er für jetzt weder des einen noch des andern bedürfe, unter dem Hinzufügen, daß er selbst nach dem Schlosse kommen werde, wenn es Zeit sei, gegen die Anmaßungen des Kirchspiels aufzutreten.

– Gegen die schmählichen Anmaßungen, die früher als Attentate auf die grundherrlichen Rechte betrachtet und bestraft worden waren...«

Hiermit sprach die Marquise nur eine Auffassung aus, der der Marquis in ihrem Beisein oft ganz gleichlautenden Ausdruck gegeben hatte.

»Daraus ergiebt sich, nahm Seine Lerrlichkeit wieder das Wort, daß ich mein Portefeuille behalten habe, daß wir bald wieder in den Wagen gestiegen sind und das Schloß gegen sieben Uhr, als es bereits zu dunkeln anfing, erreicht haben.«

Der Abend war finster gewesen, denn der Vorgang fiel noch in die letzte Aprilwoche.

»Jenes Portefeuille, berichtete der Marquis weiter, das ich bestimmt in die rechte Brusttasche meines Pelzes gesteckt habe, kann ich nun nicht mehr finden.

– Vielleicht haben Sie es bei der Heimkehr auf den Tisch Ihres Cabinets gelegt?

– Das vermuthete ich auch, Marquise, habe aber vergeblich unter meinen Papieren danach gesucht.

– Seit gestern ist doch niemand hierher gekommen?

– Doch... John... mein Kammerdiener... dem kann ich aber vertrauen...

– Es ist immer klug, die Leute im Verdacht zu haben, erwiderte Lady Piborne.

– Uebrigens wär' es möglich, fuhr der Marquis fort, daß mein Portefeuille hinter ein Kissen in der Kalesche geglitten wäre.

– Das müßte einer der Lakeien entdeckt haben, und wenn er die hundert Pfund Sterling nicht für eine gute Prise ansah...

– Ach, die hundert Pfund, unterbrach sie Lord Piborne, von denen will ich nicht viel reden; doch die Familienpapiere, die unsre Rechte gegenüber dem Kirchspiel nachweisen...

– Gegenüber dem Kirchspiel, pah!« sagte Lady Piborne.

Man hörte es, daß das Herrenhaus ans ihrem Munde sprach und daß sie die Insassen des Kirchspiels als untergeordnete Vasallen ansah, deren Ansprüche ebenso bedauernswerth, wie respectwidrig waren.

[213] »Wenn wir nun, aller Gerechtigkeit zum Hohne, fuhr sie fort, diesen Proceß verlieren sollten...

– Und wir verlieren ihn ganz sicher, erklärte Lord Piborne, wenn wir jene wichtigen Acten nicht vorzulegen im Stande sind...

– So würde das Kirchspiel in Besitz der hundert Acres Wald kommen, die an den Park grenzen und seit den Plantagenets zur Domäne der Piborne's gehört haben?

– Ja, Marquise.

– Das wäre abscheulich!

– Abscheulich, wie alles, was den Feudalbesitz in Irland antastet, jene Ansprüche der Home-rulers, die Ueberlassung des Grund und Bodens als Eigenthum des Bauern, die ganze Erhebung gegen den Landlordismus!... O, wir leben in einer seltsamen Zeit! Wenn der Lordlieutenant nicht bald Ordnung schafft, indem er die Rädelsführer der Landliga aufknüpfen läßt, weiß ich nicht... oder weiß ich vielmehr nur zu gut, wie das enden wird....«

Da öffnete sich die Thür des Cabinets, auf deren Schwelle ein junger Mann erschien.

»Ah, Sie sind es, Graf Ashton?« unterbrach sich Lord Piborne.

Der Marquis und die Marquise hätten es niemals versäumt, ihrem Sohne diesen Titel zu geben, der alle von seiner Geburt ihm auferlegten Pflichten hätte zu vernachlässigen gefürchtet, wenn er darauf nicht antwortete:

– Ich wünsche Ihnen guten Tag, Mylord, mein Vater!«

Dann trat er auf Milady, seine Mutter, zu, der er würdevoll die Hand küßte.

Der junge Gentleman von vierzehn Jahren hatte ein regelmäßiges, doch recht ausdrucksloses Gesicht, dessen Züge gewiß auch später an Lebhaftigkeit und Intelligenz nicht gewannen. Er war ja der natürliche Abkomme eines Marquis und einer Marquise, die sich, gut zwei Jahrhunderte hinter ihrer Zeit zurückgeblieben, jedem Fortschritte des modernen Lebens abhold erwiesen – zwei Typen aus der Periode der Cromwell, waschechte, unbelehrbare Tories alten Schlages. Der Instinct der Rasse bewirkte schon, daß dieser Knabe sich etiquettengerecht verhielt, daß er Graf blieb vom Scheitel bis zu den Zehen, obwohl ihn die Marquise sehr verwöhnt hatte und die Dienerschaft des Schlosses »abgerichtet« war, sich allen seinen Launen zu fügen. So besaß er keine, der für dieses Alter charakteristischen Eigenschaften, weder die ungebundene Beweglichkeit [214] des Körpers, noch die Wärme des Herzens oder den Enthusiasmus der Jugend.

Es war so ein junger Herr, der in allen, die ihm nahe kamen, nur tief unter ihm Stehende sah, dem das Mitgefühl für die Armuth abging, der zwar in allen Zweigen des Sports – dem Reiten, Jagen, Wettrennen, dem Croquett und Lawn-Tennis – schon recht bewandert, sonst aber erschreckend unwissend war, trotz des halben Dutzends von Hauslehrern, die sich vergeblich mit ihm abgemüht hatten.

Die Zahl solcher jungen Gentlemen von hoher Geburt, die trotz ihrer Distinguirtheit später als klägliche Schwachköpfe durchs Leben wandern, zeigt zwar entschieden Neigung zur Abnahme. Noch giebt es deren aber genug, und der Graf Ashton Piborne gehörte unzweifelhaft zu dieser Sorte.

Er hörte jetzt von dem Verluste des Portefeuilles und erinnerte sich, daß Mylord, sein Vater, dasselbe in der Hand gehabt hatte, als er aus dem Hause des Sachwalters zurückkam, und daß er es bei der Abfahrt von Newmarket nicht in die Tasche gesteckt, sondern hinter sich auf den Wagensitz gelegt habe.

»Sind Sie Ihrer Sache sicher, Graf Ashton? fragte die Marquise.

– Ja, Milady, und ich glaube nicht, daß das Portefeuille habe aus dem Wagen fallen können.

– Dann hätte es sich also, meinte Lord Piborne, noch darin befinden müssen, als wir am Schlosse wieder eintrafen.

– Und man kommt zu dem Schlusse, daß es einer der Diener unterschlagen hat,« setzte Lady Piborne hinzu.

Dieser Ansicht war natürlich auch Graf Ashton. Er hatte gar kein Vertrauen zu solchen »Kerlen«, die immer spionieren, wenn sie nicht gar stehlen – und beides meist zusammen thun – die man das Recht haben sollte, wie einst die Leibeigenen Großbritanniens, nach Belieben auszupeitschen. Woher er etwas von »Leibeignen in Großbritannien« gehört hatte, das mochte der Himmel wissen. Er beklagte nur, daß der Marquis und die Marquise ihm keinen eignen Kammerdiener oder wenigstens einen Groom zugetheilt hatten, der würde schon die Hand des Herren zu fühlen bekommen haben u. s. w.

Das hieß rein herausgesprochen, und um eine solche Sprache zu führen, mußte man das blaue Blut der Piborne's in den Adern haben.


John hob die faltenreiche Decke auf. (S. 210.)

Die Verhandlung lief also darauf hinaus, daß das Portefeuille gestohlen, und zwar von einem der Diener gestohlen sein werde, daß darüber eine [215] Untersuchung angestellt und jeder, auf dem der geringste Verdacht haften bleibe, sofort der Polizei überwiesen werden müsse, da dem Lord Piborne das Recht der hohen und niedern Gerichtsbarkeit abging.


»Verzeihen Eure Herrlichkeit.« (S 218)

Der Graf Ashton drückte also auf den Knopf der Klingel, und wenige Augenblicke später erschien der Schloßverwalter vor ihren Herrlichkeiten.

Dieser Herr Scarlett, der Intendant des Lord Piborne, war der richtige Scheinheilige, eine schmeichlerische, katzenbuckelnde Persönlichkeit, der immer den grundehrlichen Mann spielte und von der Dienerschaft des Hauses bestens [216] gehaßt wurde, da er seine Untergebenen zwar ohne Aufbrausen und Anmaßung, doch im Grunde schlecht behandelte.

Vor dem Marquis, der Marquise und dem Grafen Ashton erschien er die Unterwürfigkeit selbst, wie der niedrigste Kirchendiener vor dem ersten Geistlichen seiner Parochie.

Jetzt erzählte man ihm den Vorfall. Das Portefeuille war ohne Zweifel auf ein Sitzpolster im Wagen gelegt worden, wo es sich doch hätte wiederfinden müssen.

[217] Das war auch die Meinung Scarlett's, schon weil es die des Lord und der Lady Piborne war. Bei der Rückkehr des Wagens hatte er, der sich in respectvoller Entfernung von dessen Thür hielt, bei der Dunkelheit natürlich nicht sehen können, ob das Portefeuille an der vom Marquis bezeichneten Stelle lag.

Wenn Scarlett auch der Gedanke kam, die Brieftasche hätte auf die Landstraße hinaus gefallen sein können, so hütete er sich doch, das auszusprechen, da auf den Lord Piborne damit der Vorwurf der Unachtsamkeit gefallen wäre; er begnügte sich vielmehr mit der Bemerkung, daß das Portefeuille selbstverständlich hochwichtige Schriftstücke enthalten haben werde, und zwar schon deshalb, weil es die Ehre hatte, einer so vornehmen, wichtigen Persönlichkeit, wie dem Schloßherrn, zu gehören.

»Es liegt auf der Hand, versicherte dieser, daß hier eine Fundunterschlagung stattgefunden hat....

– Sagen wir gleich: ein Diebstahl, wenn Eure Herrlichkeit gestatten.

– Jawohl, ein Diebstahl, Herr Scarlett, und zwar einer, bei dem es sich nicht allein um eine nicht unbeträchtliche Geldsumme, sondern auch um Schriftstücke handelt, die alte Rechte unsrer Familie gegenüber dem Kirchspiele nachweisen.«

Wer die Physiognomie des Verwalters nicht gesehen hat, bei dem Gedanken, daß das Kirchspiel sich unterfange, überhaupt ein Recht gegen das vornehme Haus der Piborne's geltend zu machen – eine Unverschämtheit, die zur Zeit, wo Familienprivilegien noch geachtet wurden, ganz unmöglich gewesen wäre – nein, wer die Indignation des Herrn Scarlett nicht beobachtet hat, das Zittern seiner halb zum Himmel erhobnen Hände und seine auf die Erde gesenkten Blicke, der vermag sich gar keine Vorstellung zu machen, bis zu welchem Grade so ein Mucker seine heuchlerischen Grimassen zu vervollkommnen vermag.

»Doch wenn ein Diebstahl ausgeführt worden ist... sagte er endlich.

– Wie... nur wenner ausgeführt worden wäre? fiel die Marquise näselnden Tones ein.

– Verzeihen Ihre Herrlichkeit, beeilte sich der Verwalter hinzuzusetzen, ich wollte sagen, da ein solcher vorliegt, so kann er ja nur...

– Durch einen unsrer Leute begangen worden sein! fiel ihm Graf Ashton ins Wort und fuchtelte dazu, ganz nach Feudalherrenart, mit der in der Hand gehaltenen Reitgerte.

[218] – Herr Scarlett, nahm Lord Piborne wieder das Wort, wird untersuchen, den oder die Schuldigen zu entdecken und mittelst Affidavits 1 die Intervention des Gerichtes herbeizuführen, da es einem nicht einmal mehr auf eignem Grund und Boden gestattet ist, selbst Gerechtigkeit zu üben.

– Und wenn meine Ermittelungen zu keinem Ziele führen, fragte der Verwalter, was gedenken Eure Herrlichkeit dann zu thun?

– Dann wird die gesammte Dienerschaft verabschiedet, Herr Scarlett; hören Sie? Alle Leute!«

Nach dieser Entscheidung zog sich der Verwalter zurück, worauf auch die Marquise wieder ihre Gemächer aufsuchte und der Graf Ashton sich zu seinen Hunden im Park zurückbegab.

Scarlett mußte sich sofort mit der ihm übertragnen Aufgabe befassen, obgleich er nicht zweifelte, daß das Portefeuille während der Fahrt von Newmarket nach dem Schlosse aus dem Wagen gefallen sein werde. Da seine Herrschaft aber einmal die Constatierung eines Diebstahls verlangte, so wollte er das thun... daß er einen Dieb entdeckte, so wollte er einen solchen ermitteln, und hätte er auch einen beliebigen Diener durch Auslosung bestimmen sollen.

Nun mußten Lakeien, Kammerdiener und Kammerfrauen, der Küchenchef, die Kutscher und die Stallburschen vor dem gestrengen Schloßverwalter erscheinen. Natürlich betheuerten alle ihre Unschuld, und obwohl Scarlett sich über die Angelegenheit schon seine Ansicht gebildet hatte, ersparte er den Leuten doch nicht die verletzendsten Vorwürfe und drohte, sie der Polizei auszuliefern, wenn das Portefeuille nicht wieder zum Vorschein käme. Es war ja nicht allein eine Summe von hundert Pfund Sterling entwendet worden, sondern der oder die Diebe hatten auch Documente unterschlagen, die die Rechte des Lord Piborne in einem schwebenden Processe nachwiesen. Wie leicht konnte es ja einem der Leute einfallen, seinen Herrn zu Gunsten des Kirchspiels benachtheiligen zu wollen! Vielleicht wurde dieser gar bezahlt. Nun, wenn es gelang, die Hand auf den Uebelthäter zu legen, so durfte dieser auf eine Spazierfahrt nach den Strafanstalten der Insel Norfolk rechnen, denn Lord Piborne war mächtig genug, und einen so großen Herrn zu bestehlen galt etwa ebenso viel, als sich am Besitzthum eines Mitglieds des Königshauses zu vergreifen.

[219] Scarlett stellte das allen, die er wegen der Sache ausfragte, eindringlich vor. Leider wollte sich keiner zu dem Geständniß, der Urheber des Verbrechens zu sein, herbeilassen, und nach Beendigung der hochnothpeinlichen Befragung beeilte sich der Schloßverwalter, dem Lord von der Erfolglosigkeit seiner Bemühungen Kenntniß zu geben.

»Die Leute stecken unter einer Decke, erklärte der Marquis, und wer weiß, ob sie den Raub nicht unter sich getheilt haben.

– Ich glaube, daß Eure Herrlichkeit damit Recht haben, erwiderte Scarlett. Auf alle an die Dienerschaft gerichteten Fragen erhielt ich auch ganz gleichlautende Antworten, ein hinlänglicher Beweis, daß die Leute sich untereinander verstehen.

– Haben Sie auch ihre Stuben, ihre Schränke und Koffer durchsucht, Scarlett?

– Noch nicht. Eure Herrlichkeit werden einsehen, daß ich das mit Erfolg nur in Gegenwart eines Polizeibeamten vornehmen kann.

– Das ist richtig, bestätigte Lord Piborne. Schicken Sie jemand nach Kanturk... oder besser, verfügen Sie sich selbst dahin. Natürlich darf keiner vor Beendigung der Untersuchung das Schloß verlassen.

– Die Befehle Eurer Herrlichkeit werden ausgeführt werden.

– Der Polizeibeamte soll nicht versäumen, einige Leute mitzubringen, Scarlett...

– Ich werde ihm den Wunsch Eurer Herrlichkeit kund thun und er wird nicht verfehlen, diesem nachzukommen.

– Sie werden auch meinen Sachwalter, Herrn Laird in Newmarket, benachrichtigen, daß ich mit ihm über diesen Vorfall sprechen muß und ihn schleunigst hier zu sehen wünsche.

– Noch heute soll er die Mittheilung erhalten....

– Wann brechen Sie auf?

– Sofort, ich denke, noch vor dem Abend zurück zu sein.

– Gut.«

Das Erzählte spielte sich am Morgen des 29. April ab.

Ohne jemand zu sagen, was er in Kanturk vorhabe, ließ sich Scarlett eines der besten Pferde aus dem Stalle satteln und wollte schon aufsitzen, als am Wirthschaftsthore, nahe dem Wächterhause, eine Glocke ertönte.

[220] Ein Flügel des Thores öffnete sich, und davor stand ein Kind von etwa zehn Jahren.

Es war Findling.

Fußnoten

1 Eine unter dem Eide gleichwerthiger Bekräftigung bei Gericht niederzulegende Urkunde meist über die Thatsachen eines Vorfalles, der gerichtlich verfolgt werden soll.

2. Capitel
Zweites Capitel.
Im Laufe von vier Monaten.

In der Provinz Munster liegt die Grafschaft Cork, die mit denen von Limerick und Kerry zusammenstößt. Sie erfüllt deren südlichen Theil zwischen der Bai von Bantry und Yougal-Haven. Ihre Hauptstadt ist Cork, und der wichtigste Hafenplatz der von Queenstown, an der gleichnamigen Bucht und einer der belebtesten Häfen von ganz Irland.

Die Grafschaft durchschneiden verschiedene Eisenbahnlinien; die eine erstreckt sich über Mallow und Killarney bis nach Tralee. Oberhalb derselben, an dem Theile der Linie, die etwa längs des Blackwaterflusses verläuft, und sechs Kilometer südlich von Newmarket, liegt der Flecken Kanturk, zwei Meilen von diesem aber das Schloß Trelingar.

Dieser prächtige Großgrundbesitz gehört der alten Familie der Piborne's. Er umfaßt eine geschlossene Fläche von hunderttausend Acres (40.000 Hektaren) besten Bodens mit fünf- bis sechshundert Farmen, deren Ausbeutung dem Landlord die höchsten Einkünfte in der ganzen Umgegend sichert. Der Marquis von Piborne ist also schon hierdurch sehr reich, ohne von den andern Einnahmen zu reden, die ihm die Besitzthümer der Marquise in Schottland zuführen. Ueberhaupt wird sein Vermögen als eines der größten im ganzen Lande angesehen.

Wenn der Lord Rockingham sein Grundeigenthum in der Grafschaft Kerry niemals besucht hatte, so konnte man dem Lord Piborne dagegen des verhaßten »Absentismus« nicht beschuldigen. Nach vier- bis fünfmonatigem Aufenthalt in Edinburg oder London, bewohnte er vom April bis zum November stets sein Trelingar-castle.

[221] Ein Grundbesitz von so großer Ausdehnung bedingt selbstverständlich auch sehr viele Pächter. Die ackerbauende Bevölkerung, die auf den Ländereien des Marquis lebte, hätte ein recht ansehnliches Dorf bilden können. Waren die Bauern von Trelingar-castle auch nicht von einem John Eldon für Rechnung des Herzogs von Rockingham bedrückt, und wurden sie nicht von einem Harbert für Rechnung eines John Eldon ausgesaugt, so darf man daraus noch nicht schließen, daß sie sich einer besseren Behandlung erfreuten. Hier gab man sich nur den Anschein größerer Milde. Der Verwalter hielt streng auf die pünktliche Abführung der Pachtzinsen und vertrieb die Pächter auch aus ihren Gehöften; er that das aber auf seine Art, er drückte ihnen sein Mitleid aus, beklagte sie, bekümmerte sich bei dem Gedanken, was ohne Obdach und Lebensunterhalt aus ihnen werden sollte, versicherte auch, daß solche Austreibungen seinem Herrn das Herz brächen... verjagt wurden die armen Leute aber doch, und höchst wahrscheinlich empfanden sie es als keinen besondern Trost, daß Seine Herrlichkeit darum trauerte.

Das zur Zeit der Stuarts erbaute Schloß war gegen dreihundert Jahre alt, es reichte also nicht bis zur Epoche der Plantagenets zurück, worauf die Piborne's so stolz waren.

Der gegenwärtige Besitzer hatte das Aeußere des Bauwerks neu herstellen lassen, um ihm mehr das Aussehen eines Feudalsitzes zu verleihen. Da waren Zinnen angebracht, Spitzthürmchen und Wachthäuschen errichtet und über einen Graben eine Zugbrücke, die nie aufgezogen, und ein Fallgatter, das nie herabgelassen wurde.

Das Innere enthielt sehr geräumige Gemächer mit mehr Comfort, als ihn die Zeiten Eduards IV. oder Johanns ohne Land zu bieten pflegten. Diese verborgene Stilwidrigkeit entsprach freilich den Bedürfnissen der verwöhnten Schloßbewohner.

An den Seiten des Schlosses erhoben sich die Communs (Dienerwohnungen) und Nebengebäude, Ställe, Wagenschuppen und Wirthschaftsräume. Davor lag ein weiter Ehrenhof mit prächtigen Buchen, nach außen zu abgeschlossen von zwei Pavillons neben einem verzierten Gitterthore, von denen der eine dem Portier als Wohnung diente.

Am Thore dieses Pavillons hatte unser junger Held grade die Glocke gezogen, als es sich öffnete, um den Verwalter Scarlett hinausreiten zu lassen.

[222] Ungefähr vier Monate waren seit dem unvergeßlichen Tage verstrichen, wo das Adoptivkind der Familie Mac Carthy die Farm von Kerwan verlassen hatte. Wenige Zeilen werden hinreichen, zu berichten, wie es ihm in diesem Zeitraum ergangen war.

Als Findling gegen fünf Uhr abends von dem zerstörten Hause wegging, wurde es schon langsam finster. Da er Martin und den Seinigen auf der Straße von Tralee nicht begegnet war, kam ihm zunächst der Gedanke, sich nach Limerick zu begeben, wohin die Gefangenen von den Polizisten ohne Zweifel abgeführt worden waren. Ihm erschien es als heilige Pflicht, die Familie Mac Carthy wieder aufzusuchen und auf jeden Fall deren Loos zu theilen. Ja, wenn er schon groß gewesen wäre, um mit seiner Hände Arbeit etwas zu verdienen! Gewiß würde er sich gerührt und keine Mühe gescheut haben... doch was konnte er, der erst Zehnjährige erhoffen? Später. wenn er einmal einen guten Gehalt bezog, sollte dieser für seine Adoptiveltern verwendet werden, und noch später, wenn er sein Glück gemacht hätte – und daran zweifelte er gar uicht – wollte er jenen alles bieten und das Wohlwollen mit Zinsen heimzahlen, das ihm in der Farm von Kerwan entgegengebracht worden war.

Jetzt, auf dieser verlassenen Straße freilich, inmitten einer vom schlimmsten Elend heimgesuchten Gegend, die von denen verlassen war, welche sie nicht zu ernähren vermochte, und verloren in der kalten Finsterniß fühlte sich Findling vereinsamter als je zuvor. In seinem Alter ist es ja selten, daß Kinder nicht durch irgend ein Band gehalten werden, das sie entweder mit einer Familie verknüpft oder an eine öffentliche Anstalt fesselt, die sie aufnimmt und erzieht. Der Knabe aber war ja nichts anders als ein abgerissenes und auf die Landstraße verwehtes Blatt, das vom Winde hin und her getrieben wird, bis es zu Staub zerfällt. Niemand, niemand gab es, der sich seiner mitleidig angenommen hätte. Wenn er die Mac Carthy's nicht wiederfand, wußte er vorläufig nicht, was aus ihm werden sollte, oder doch fehlte ihm auch jeder Anhalt, wo er jene suchen, ja nur nach ihrem Verbleib fragen könnte. Waren sie nicht verhaftet worden, so hatten sie sich wohl gar, wie so viele ihrer Landsleute, entschlossen, nach der Neuen Welt auszuwandern, und dann...

Der Knabe wollte also, quer durch das schneebedeckte Land, nach Limerick wandern. Die Lufttemperatur wäre jetzt kaum zu ertragen gewesen, wenn etwa ein scharfer Wind geweht hätte. Die Atmosphäre war aber still und jeder Laut von weither hörbar. So legte er, ohne einer lebenden Seele zu begegnen, zwei [223] Meilen ganz aufs Geradewohl zurück, denn er hatte sich noch nie in diesen von den ersten Ausläufern der Berge berührten Theil der Grafschaft gewagt Vor ihm verliehen die dichten Tannenwälder dem Horizont einen noch dunkleren Rahmen.

Von seiner Wanderung nach Tralee und zurück bereits stark angegriffen, fühlte Findling jetzt, daß ihn die Kräfte verließen. Die Beine zitterten ihm und die Füße knickten ihm in den Gelenken. Dennoch wollte er auf keinen Fall Halt machen, und so gelang es ihm mit Mühe, sich noch eine halbe Meile weit fortzuschleppen. Nach dieser letzten Anstrengung aber sank er an einem Abhange mit großen Bäumen zusammen, deren Zweige sich unter der Last des Rauhfrostes beugten.

Hier kreuzten sich zwei Landstraßen, so daß Findling, wenn er sich wieder zu erheben im Stande gewesen wäre, nicht gewußt hätte, welcher davon er folgen sollte. Auf dem Schnee ausgestreckt und mit erstarrten Gliedern, konnte er, als schon seine Augen sich schließen wollten und er das Bewußtsein für seine Lage halb verlor, nur noch einmal rufen:

»Zu Hilfe!... Zu Hilfe!«

Fast gleichzeitig erschallte ein entferntes Gebell in der trocknen kalten Nachtluft. Dann kam es näher und an der nächsten Straßenbiegung tauchte ein Hund auf, der mit gesenkter Nase, hängendem Schwanze und mit Augen, die wie solche von Katzen erglänzten, den Boden beschnüffelnd einhertrabte.

Mit wenigen Sprüngen stand das Thier neben dem Kinde... doch nicht um diesem ein Leid zuzufügen, sondern um es zu erwärmen, indem sich der Hund an dessen Seite ausstreckte.

Findling bekam sofort seine Besinnung wieder. Er schlug die Augen auf und fühlte, daß eine warme, liebkosende Zunge ihm die Hand leckte.

»Birk!« murmelte er.

Birk war es, sein einziger Freund, sein treuer Begleiter in der Farm von Kerwan.

Wie gab der Knabe ihm seine Liebkosungen zurück, während er sich die Hände zwischen seinen Pfoten wärmte. Das flößte ihm neuen Muth ein. Er sagte sich, daß er auf der Erde doch nicht allein sei. Jetzt wollten beide die Aufsuchung der Familie Mac Carthy vornehmen. Ohne Zweifel hatte Birk diese nach der Austreibung begleitet, und zurückgekehrt war er jedenfalls nur, weil ihn die Häscher und die Polizisten wohl mit Steinwürfen und Stockschlägen verjagt hatten. So war es in der That gewesen,« und Birk, der herzlos verscheucht wurde, hatte nach der Farm zu zurücktrotten müssen. Jetzt würde er ja auch die Spur der Polizisten wiederfinden und Findling konnte sich wohl auf den Instinct des Thieres verlassen, von diesem zur Familie Mac Carthy geleitet zu werden.


»Some light.« (S. 231.)

[224] [227]Er begann also mit Birk zu plaudern, wie er das in den langen Stunden auf der Weide bei Kerwan zu thun pflegte. Birk antwortete ihm in seiner Weise durch ein kurzes Bellen, das Findling leicht genug verstand.

»Nun vorwärts, mein getreuer Birk, vorwärts!«

Sofort lenkte das Thier nach der einen Straße ein, wo es seinem jungen Herrn vorauslief.

Nun traf es sich aber, daß Birk, eingedenk der erlittenen Mißhandlung, den Weg nach Limerick nicht einschlug. Er folgte vielmehr dem, der an der Grenze der Grafschaft Kerry hin und nach Newmarket in der Grafschaft Cork führt. Unbewußt entfernte sich Findling damit von der Familie Mac Carthy weiter, und als der Tag graute, machte er, erschöpft und von Hunger geplagt, Rast, um sich in einem Gasthause, ein Dutzend Meilen südöstlich von der Farm, zu stärken und zu erquicken..

Außer seinem Wäschepacket besaß Findling, wie sich der Leser erinnern wird, noch den Rest der bei dem Apotheker in Tralee gewechselten Guinee... die große Summe von ganzen fünfzehn Schillingen. Damit kommt man freilich nicht weit, wenn zwei zu ernähren sind, selbst wenn man sich auf das nothwendigste beschränkt und täglich nur einige Peace ausgiebt. Das beobachtete der Knabe auch, und nach vierundzwanzigstündigem Aufenthalt in dem Gasthofe, wo ihm ein Heuboden als Schlafraum und Kartoffeln als Speise dienten, machte er sich mit Birk wieder auf den Weg.

Auf seine Fragen nach den Mac Carthy's hatte der Gastwirth erklärt, daß ihm keine Familie dieses Namens bekannt sei. Austreibungen waren in diesem schlimmen Winter auch so häufig vorgekommen, daß sich die öffentliche Aufmerksamkeit diesen traurigen Ereignissen gar nicht mehr zuwandte.

Findling marschierte immer hinter Birk in der Richtung nach Newmarket weiter.

Wie er fünf lange Wochen, bis zum Eintreffen in diesem Flecken verbrachte, kann man sich wohl vorstellen. Niemals streckte er die Hand aus! Sein natürlicher Stolz und das Gefühl eigner Würde waren auch bei diesen neuen [227] Prüfungen nicht erlahmt. Manche »weichherzigen Leute, die das hilflose Kind dauerte, hatten ihm wohl ein größeres Stück Brod oder Speck u. dgl. gegeben, wenn er sich in den Gasthäusern versorgte und mit einem Penny bezahlte, was eigentlich das doppelte kostete – doch das ist immer noch nicht gebettelt. Dabei theilte er alles mit Birk, indem die beiden in Scheunen schliefen, sich ins Heu verkrochen und Hunger und Durst zusammen litten, um von der Guinee so wenig als möglich auszugeben....

Zuweilen blühte ihm auch das Glück, denn wiederholt erhielt Findling eine kleine Beschäftigung. Vierzehn Tage verweilte erz. B. in einer Farm in Vertretung des abwesenden Schäfers. Wohl erhielt er keinen Lohn, fand dabei aber doch für sich und Birk Obdach und Nahrung. Nach vollendeter Arbeit zog er weiter. Einige Aufträge, die er zwischen einem Dorfe und dem andern ausrichtete, brachten ihm auch ein paar Schillinge ein. Zum Unglück fand er nur keine dauernde Beschäftigung, denn es war die schlechte Jahreszeit, wo leider so viele rüstigere Arme feiern müssen, und grade in diesem Winter war das Elend schlimmer als sonst.

Findling hatte übrigens noch keineswegs darauf verzichtet, mit der Familie Mac Carthy wieder zusammenzutreffen, obwohl seine Erkundigungen nach ihr immer erfolglos blieben und er bei seinem Weiterwandern auf gut Glück nicht einmal wußte, ob er sich seinen Freunden näherte oder nicht. Nur die eine Hoffnung verließ ihn nicht, daß er in einer Stadt, in einer wirklichen Stadt, die gewünschte Auskunft erhalten werde.

Dabei drückte ihn die Sorge, daß er, in seinem Alter so ganz allein auf der Landstraße gefunden, vielleicht als Vagabund verhaftet und noch einmal in die Ragged-School oder in ein Arbeitshaus eingeliefert werden könnte. Lieber wollte er alles Ungemach weiterer Irrfahrten ertragen, als in eines dieser verhaßten Asyle zurückkehren, wobei er sich ja auch von dem anhänglichen Birk hätte trennen müssen.

»Nicht wahr, Birk, sagte er, den mächtigen Kopf des Hundes auf seine Knie legend, wir könnten doch keiner ohne den andern leben?«

Gewiß antwortete der Hund in seiner Weise, daß das unmöglich sei.

Von Birk wendeten sich seine Gedanken dann seinem früheren Kameraden von Galway zu und er fragte sich, ob Grip jetzt wohl auch obdachlos sei wie er. Ja, wenn sie einander begegnet wären, hätten sie zu zweien sich sicherlich eher fortzuhelfen vermocht... sogar zu dreien; er gedachte damit der guten [228] Sissy, von der er seit seiner Flucht aus der Hütte der Hard gar nichts gehört hatte. Jetzt mußte sie – mit vierzehn bis fünfzehn Jahren – doch schon ein großes Mädchen sein. In diesem Alter ist man hier schon in Stellung, im Dorf oder in der Stadt, und verdient sein Brod zwar sauer, verdient es aber doch. Wenn er erst so alt wäre, würde er nicht darum verlegen sein, eine Stelle zu finden. Jedenfalls würde ihn Sissy nicht vergessen haben. Alle Erinnerungen aus seiner ersten Kindheit tauchten mit überraschender Schärfe in ihm auf: die schlechte Behandlung durch das böse Weib, die Grausamkeiten Thornpipe's, des Puppenschaustellers.... Da fühlte er sich jetzt frei, wenn auch allein, doch weit glücklicher, als zu jenen traurigen Zeiten!

Immer weiter auf der Landstraße hinziehend, verflossen die Tage ohne besondre Veränderung seiner Lage. Zum Glück war der Februar dieses Jahres nicht so hart, und die Armen brauchten von keiner übermäßigen Kälte zu leiden. Der entschwindende Winter ließ die Hoffnung aufkommen, daß der Beginn der Arbeiten und der Frühlingseinsaat nicht verzögert werden würde. Fingen dann die Feldarbeiten zeitig an, so wurden auch Schafe und Kühe wieder auf die Weide getrieben und Findling durfte hoffen, in einer Farm Beschäftigung zu finden.

Fünf bis sechs Wochen lang mußte er freilich noch hinbringen, und von den gelegentlich erworbenen wenigen Schillingen, so wie von der Guinee – dem ganzen Vermögen des Knaben – waren gegen Mitte März nur noch ein halbes Dutzend Peace übrig. Dabei hatte er an der täglichen Nahrung – und er aß nicht einmal alle Tage – so viel wie möglich gespart, jedenfalls sich nie ordentlich satt gegessen. So war er abgemagert, sein Gesicht erbleicht und der Körper von der Anstrengung erschöpft.

Birk, dessen Fell sich über den hervortretenden Seiten faltete, schien auch nicht in besserer Verfassung zu sein. Auf die in Dörfern gewöhnlich kargen Abfälle hingewiesen, mußte Findling vielleicht bald auch diese mit dem Thiere theilen.

Dennoch schützte ihn sein Charakter davor, ganz zu verzweifeln. Er bewahrte sich stets die Energie, wenigstens nicht zu betteln. Was sollte er aber beginnen, wenn sein letzter Penny für das letzte Stück Brod dahingegangen war?

Kurz, Findling besaß nur noch sechs bis sieben Pence, als er mit Birk am 13. März in Newmarket anlangte.

[229] Seit zweieinhalb Monaten hatten beide die Straßen der Grafschaft durchstreift, ohne irgendwo eine dauerndere Ruhe zu finden.

Newmarket, etwa zwanzig Meilen von Kerwan gelegen, ist weder groß noch volkreich. Es bildet einen jener Flecken, aus denen die irländische Gleichgiltigkeit niemals eine Stadt schaffen wird und die eher rückwärts als vorwärts gehen.

Vielleicht war es bedauerlich, daß der Zufall Findling nicht in der Richtung nach Tralee zurückgeführt hatte; das Meer übte ja von jeher auf den Knaben einen mächtigen Reiz aus – das Meer, die unerschöpfliche Nährmutter aller, die den Muth haben, darauf und davon zu leben. Wenn es an Arbeit in Stadt und Land gebricht, feiert man doch niemals auf dem Ocean, den Tausende von Schiffen unausgesetzt durchkreuzen. Der Seemann hat weit weniger die Verarmung zu fürchten, als der Landbauer und der Arbeiter. Das bewies ja schon ein Vergleich der Verhältnisse Pats, des zweiten Sohnes Martin Mac Carthy's, mit denen der aus der Farm von Kerwan vertriebenen Familie. Und wenn Findling sich auch noch mehr von der Handelsthätigkeit als von der Seefahrerei angezogen fühlte, sagte er sich doch, daß er schon das Alter habe, wo er als Schiffsjunge an Bord eines Seglers gehen könnte.

Deshalb sagte er sich auch, daß er über Newmarket hinaus wandern und sich in der Richtung nach Cork zu der Küste zuwenden wollte. In Cork, einem Platze mit sehr lebhaftem Seeverkehr, gedachte er Unterkommen auf einem Schiffe zu suchen. Inzwischen mußte er jedoch leben, mußte die zur Fortsetzung seiner Reise nöthigen wenigen Schillinge erwerben; doch fünf Wochen nach seinem Eintreffen in Newmarket befand er sich mit Birk noch immer dort.

Wie erwähnt, fürchtete er sich vor allem, als Landstreicher verhaftet und in irgend eine Wohlthätigkeitsanstalt gesteckt zu werden. Zum Glück war seine Kleidung noch in recht gutem Zustande, so daß er kaum wie ein kleiner Armer aussah. Sein geringer Vorrath an Wäsche genügte ihm; auch die Schuhe hatten die Strapazen des langen Weges ausgehalten. Wegen seiner äußern Erscheinung brauchte er also nicht zu erröthen, wenn er sich irgendwo zeigte, und der öffentlichen Armenpflege hoffte er auch nicht zur Last zu fallen.

So erwarb er sich seinen Lebensunterhalt in Newmarket durch allerlei, Kindern zugängliche Beschäftigungen; er übernahm Botschaften für den oder jenen, beförderte leichtere Packete und verkaufte schachtelweise Streichhölzchen, die er für eine, eines Tags verdiente halbe Krone einkaufte und Dank seinem [230] frühentwickelten Instinct für den Handel mit leidlichem Nutzen absetzte. Seine ernsten Züge machten ihn interessant, und gern kauften ihm Spaziergänger von seiner Waare ab, wenn er mit heller Stimme rief:


»Some light, sir... some light!« 1


Alles in allem hatten Birk und er in diesem kleinen Orte weniger zu leiden, als vorher beim Wandern durch die Grafschaft. Es schien sogar, als sollte Findling, der sich durch Intelligenz einige Hilfsquellen eröffnet hatte, dauernd in Newmarket bleiben, als er in den letzten Tagen des April, am 29., plötzlich den Weg nach Cork einschlug.

Natürlich begleitete Birk den Knaben, der genau gezählt drei Schillinge und sechs Pence in der Tasche hatte.

Wer ihn seit dem Vortage beobachtet hätte, dem hätte eine gewisse Veränderung in seinem Gesicht nicht entgehen können. Von seltsamer Angst erfaßt, blickte er scheu um sich, als fürchte er, daß jemand ihm auflauere. Sein Schritt war schnell, und es fehlte nicht viel, so wäre er gelaufen, was ihn die Beine tragen konnten.

Es schlug die neunte Morgenstunde, als er an den letzten Häusern von Newmarket vorüberkam. Die Sonne glänzte hell am Himmel. Mit dem Ende des April fängt auf dem Grünen Erin der Frühling an. Schon regte es sich da und dort auf den Feldern. Der Knabe war jedoch so von seinen Gedanken eingenommen, daß weder der Pflug, der den Erdboden aufbrach, noch die Säemänner, die die Körner in geschicktem Wurfe ausbreiteten, oder die auf den Weiden grasenden Thiere in ihm eine Erinnerung an Kerwan erweckten. Er ging immer gerade aus. Birk an seiner Seite warf ihm einen fragenden Blick zu, und diesmal war es nicht der Hund, der seinen Herrn führte.

Sechs bis sieben Meilen zwischen Newmarket und Kanturk wurden in zwei Stunden zurückgelegt. Findling durchwanderte mehrere Ortschaften, ohne sich Zeit zum Ausruhen zu gönnen, da er unterwegs ein Stück Brod verzehrte, von dem der treue Birk die Hälfte abbekam, und als er stehen blieb, da schlug die Uhr auf dem Wartthurm von Trelingar-castle gerade die Mittagsstunde.

Fußnoten

1 »Licht, mein Herr... Licht!« (d. h. nämlich: Feuer).

3. Capitel
Drittes Capitel.
In Trelinger-castle.

Als das Thor neben dem Pavillon sich aufthat, wollte der Verwalter Scarlett eben den Ehrenhof verlassen, um sich, entsprechend dem Befehle des Schloßherrn, nach Kanturk zu begeben. Die Hunde des Grafen Ashton, die Birk der ihnen offenbar nicht gefiel, wittern mochten, singen wüthend an zu bellen.

Da Findling fürchtete, daß sich hier eine Katzbalgerei entwickeln könnte, bei der Birk doch eine zu große Uebermacht gegen sich gehabt hätte, gab er diesem ein Zeichen, sich zu entfernen, und das gehorsame Thier verschwand hinter einem Busche, wo es nicht bemerkt werden konnte.

Als Scarlett den auf das Thor zuschreitenden Knaben bemerkte, rief er ihn heran.

»Was willst Du hier?« fragte er mit barscher Stimme.

Wenn der Verwalter sich nämlich kriechend unterwürfig gegen alle Vornehmen zeigte, so verleugnete er doch gegen niedriger Stehende, und vorzüglich gegen Kinder, niemals seine brutale Natur.

Seine Aufgeblasenheit konnte unsern jungen Helden freilich nicht schrecken. Er hatte noch weit härtere Anreden bei der Hard, von Thornpipe und in der Lumpenschule hinnehmen müssen. Wie es sich schickte, entblößte er den Kopf, als er auf Scarlett zuging, den er übrigens gleich nicht für Seine Herrlichkeit den Lord Piborne, den Schloßherrn von Trelingar, ansah.

»Wirst Du wohl sagen, was Du hier willst? herrschte ihn Scarlett noch einmal an. Bettelst Du um eine Gabe, dann mach' daß Du fortkommst. Kleine Herumtreiber wie Du erhalten hier nichts, nicht einmal einen Copper!«

Das waren recht unnütze Worte, vor denen Findling zu gar keiner Antwort kommen konnte, zumal er sich immer vor dem etwas unruhigen Pferde des Verwalters in Acht nehmen mußte. Gleichzeitig tobten die Hunde knurrend und bellend im Hofe umher. Das machte einen Lärm, der jede Verständigung erschwerte.

Scarlett mußte auch noch lauter sprechen, als er hinzufügte:

[232] »Wenn Du jetzt nicht Deiner Wege gehst und ich Dich noch einmal in der Nähe des Schlosses erwische, dann führ' ich Dich an den Ohren nach Kanturk, wo im Arbeitshause für einen solchen Burschen schon noch Platz ist!«

Findling ließ sich weder durch solche Drohungen, noch durch den Ton, in dem sie ausgestoßen wurden, einschüchtern. Als es aber einmal ruhiger war, antwortete er:

»Ich verlange kein Almosen und habe nie darum gebettelt!


»Was willst Du hier?« (S. 232.)

– Und Du würdest auch keines annehmen, he? erwiderte Scarlett ironisch.

[233] – Nein... von niemand.

– Was willst Du denn sonst hier?

– Ich wünsche den Lord Piborne zu sprechen.

– Seine Herrlichkeit selbst?

– Ja, Seine Herrlichkeit persönlich.

– Und Du bildest Dir ein, daß er Dich vorlassen wird?...

– Gewiß, denn es handelt sich um eine für den Lord Piborne sehr wichtige Sache.

– Eine sehr wichtige Sache?...

– Ja wohl, mein Herr.

– Und was beträfe denn diese?

– Das möchte ich dem Lord Piborne nur allein mittheilen.

– Dann hinaus!... Der Marquis ist nicht im Schlosse.

– O, so werde ich warten.

– Doch wenigstens nicht hier auf der Stelle.

– Gut, so komm' ich noch einmal wieder.«

Jeder andre als der häßliche Scarlett wäre von der auffallenden Zähigkeit, von den so bestimmten Antworten dieses Kindes betroffen gewesen. Jeder hätte sich gesagt, daß den Kleinen gewiß ein ganz besondrer Grund nach dem Schlosse getrieben habe, und hätte ihn aufmerksam angehört. Der Verwalter kam dadurch jedoch nur noch mehr »in die Wolle« und knurrte:

»So ohne Umstände spricht man nicht mit Seiner Herrlichkeit Lord Piborne. Ich bin der Intendant des Schlosses. Wer hier etwas will, hat sich an mich zu wenden, und Du weigerst Dich sogar zu sagen, was Dich herführte....

– Das kann ich niemand als dem Lord Piborne sagen, und ich bitte Sie, mich ihm zu melden!

– Dich Galgenstrick? versetzte Scarlett, die Reitgerte schwingend, jetzt packe Dich zum Teufel oder die Hunde sollen Dir in die Beine fahren!... Nimm Dich in Acht!«

Die polternde Stimme des Verwalters reizte die Hunde zu neuem Gekläff.

Findling fürchtete immer nur, daß Birk aus dem Gebüsch vorbrechen und ihm zu Hilfe kommen könnte, was der Sachlage eine noch üblere Wendung gegeben hätte.

Auf das immer tollere Bellen der Hunde hin erschien jetzt Graf Ashton auf dem Hofe und kam auf das Gitterthor zu.

[234] »Was giebt's denn hier? fragte er.

– O, einen Jungen, der betteln will....

– Ich bin kein Bettler! wiederholte Findling.

– Aber ein frecher kleiner Landstreicher...

– Pack' Dich fort, Schlingel, oder ich stehe nicht mehr für meine Hunde ein!« rief der Graf Ashton.

Die Thiere. die der junge Piborne jetzt noch zu bändigen versuchte, wurden in der That immer wüthender und bedrohlicher.

Da zeigte sich auf der Freitreppe vor dem Mittelportale des Schlosses der Lord Piborne selbst in all seiner Majestät, und als er sah, daß Scarlett noch immer nicht nach Kanturk weggeritten war, stieg er gemessenen Schrittes die Stufen hinab, ging steif über den Ehrenhof und erkundigte sich nach der Ursache der Verzögerung und des jetzigen Lärmens.

»Wollen Eure Herrlichkeit entschuldigen, stammelte der Verwalter, es ist der Bursche hier, ein Bettelbube....

– Ich erkläre Ihnen nun zum dritten Male, daß ich kein Bettler bin, fiel ihm Findling ins Wort.

– Was will dieser Knabe also? fragte der Marquis.

– Er will nur mit Euer Herrlichkeit sprechen.«

Lord Piborne trat einen Schritt zurück, nahm eine möglichst vornehme Haltung an und richtete sich dabei in seiner ganzen Länge auf.

»Was haben Sie mir zu sagen?« fragte er.

Er duzte ihn nicht, obwohl er noch ein Kind vor sich hatte. Als Ausfluß höchster Vornehmthuerei redete der Marquis überhaupt niemand mit »Du« an, weder die Marquise, noch den Grafen Ashton – wahrscheinlich vor fünfzig Jahren nicht einmal seine eigene Amme.

»Sprechen Sie! setzte er hinzu.

– Der Herr Marquis hatte sich gestern nach Newmarket begeben, nicht wahr?...

– Ja.

– Gestern Nachmittag?...

– Ja wohl.«

Scarlett wußte nicht, wie ihm geschah. Hier fragte der Gassenjunge, und Seine Herrlichkeit geruhte zu antworten!

»Herr Marquis, fuhr das Kind fort, haben Sie da nicht ein Portefeuille verloren?

[235] – Ganz recht; und dieses Portefeuille...

– Hab' ich auf der Landstraße nach Newmarket gefunden und komme, es Ihnen abzuliefern.«

Damit hielt er dem Lord Piborne das Portefeuille hin, dessen Verschwinden so viele Unruhe verursacht, so vielfachen Verdacht erweckt und in Trelingarcastle so viele Unschuldige compromittiert hatte. Die Schuld daran lag also, mochte sich seine Eigenliebe dadurch auch schwer verletzt fühlen, an Seiner Herrlichkeit selbst, jede Anklage gegen die Dienerschaft wurde zwecklos und es erschien jetzt – zu seinem lebhaften Bedauern – unnöthig, daß der Verwalter von Kanturk polizeiliche Hilfe herholte.

Lord Piborne ergriff das Portefeuille, das im Innern seinen Namen und seine Adresse trug, und überzeugte sich, daß es die Schriftstücke und die Banknote noch enthielt.

»Sie also haben dieses Portefeuille gefunden? fragte er Findling.

– Gewiß, Herr Marquis.

– Und haben es natürlich geöffnet?

– Das mußt' ich wohl, um zu erfahren, wem es gehörte.

– Sie haben darin eine Banknote gefunden... deren Werth war Ihnen aber wohl unbekannt?

– Das nicht; es war eine Banknote von hundert Pfund, erklärte Findling ohne Zögern.

– Hundert Pfund... das ist so viel wie?...

– Zweitausend Schillinge.

– Ah, das wissen Sie also, und trotzdem fiel es Ihnen nicht ein, sich das Geld anzueignen?

– Ich bin kein Dieb, Herr Marquis, erwiderte Findling stolz, so wenig wie ein Bettler!«

Lord Piborne hatte das Portefeuille wieder geschlossen, die Banknote daraus aber in seine Tasche gesteckt. Der Knabe verneigte sich grüßend und that schon einige Schritte rückwärts, als Seine Herrlichkeit ihn – doch ohne ein Zeichen, daß die ehrliche Handlungsweise seine Anerkennung fand – noch einmal ansprach.

»Welche Belohnung verlangen Sie für die Wiederbeschaffung dieses Portefeuilles?

– Ah, was da... ein paar Schillinge... meinte Graf Ashton.

[236] – Oder einige Pence, das ist für den Jungen übrig genug!« beeilte sich Scarlett hinzuzufügen.

Findling empörte es, daß man hier mit ihm handelte, wo er doch gar nichts verlangt hatte, und er erklärte deshalb:

»Mir kommen dafür weder Pence noch Schillinge zu.«

Dabei wandte er sich nach der Landstraße.

»Warten Sie, rief Lord Piborne. Wie alt sind Sie?

– Bald zehnundeinhalb Jahre.

– Und Ihr Vater... Ihre Mutter?...

– Ich habe keinen Vater und keine Mutter.

– Ihre sonstigen Angehörigen?

– Ich habe auch keine solchen.

– Woher kommen Sie überhaupt?

– Von der Farm von Kerwan, wo ich vier Jahre gewesen bin und die ich vor vier Monaten verlassen mußte.

– Weshalb denn?

– Weil der Farmer, der mich aufgenommen hatte, von den Gerichten vertrieben wurde.

– Kerwan... Kerwan... murmelte Lord Piborne. Ich glaube, das gehört ja zu dem Grundbesitze von Rockingham?

– Eure Herrlichkeit täuschen sich nicht, sagte der Verwalter.

– Und was denken Sie nun zu beginnen? wendete sich der Marquis wieder an Findling.

– Nun, ich kehre nach Newmarket zurück, wo ich mir bis jetzt mein Brod verdiente.

– Wollen Sie hier im Schlosse bleiben, so können Sie wohl in einer oder der andern Weise Beschäftigung finden.«

Das war gewiß ein verlockendes Angebot. Vom Herzen war es dem hochmüthigen, gefühllosen Lord Piborne aber keineswegs eingegeben, und von einem Lächeln oder einer Freundlichkeit war es auch nicht begleitet.

Findling empfand das ganz gut, und statt schnell zu antworten, begann er erst zu überlegen. Was er bisher vom Schlosse Trelingar gesehen hatte, gab ihm zu denken.

Er fühlte sich nicht angezogen von Seiner Herrlichkeit und von dessen Sohne Ashton, der recht spöttische, widerwärtige Züge besaß, und noch viel [237] weniger von dem Verwalter Scarlett, dessen brutaler Empfang ihn empört hatte. Dabei gedachte er auch noch Birks. Wenn man ihm Aufnahme bot, so würde man Birk diese doch verweigern, und zu einer Trennung von seinem Genossen in guten und bösen Tagen könnte er sich doch niemals entschließen.

Immerhin mußte der Knabe, dessen Lebensunterhalt bis heute doch keineswegs gesichert war, dieses Anerbieten als einen Wink der Vorsehung betrachten. Die Vernunft rieth ihm, darauf einzugehen, da er es vielleicht zu bereuen gehabt hätte, wenn er nach Newmarket zurückkehrte. Nur der Hund bildete ein Hinderniß, doch davon zu reden, würde es ja eine Gelegenheit geben. Vielleicht nahm man ihn, und wäre es nur als Wachthund, schließlich dennoch mit auf. Von einer Stellung im Schlosse mußte er ja Vortheil haben, und bei der nöthigen Sparsamkeit...

»Na... bist Du mit Dir im Reinen? brummte der Verwalter, der ihn lieber hätte zum Teufel gehen sehen.

– Was werd' ich verdienen? fragte Findling, den sein praktischer Sinn nie verließ, ohne alle Schüchternheit.

– Zwei Pfund Sterling monatlich,« erklärte Lord Piborne.

Zwei Pfund im Monat!... Das erschien ihm ungeheuer viel, und in der That konnte ein Kind seines Alters so viel ja kaum erwarten.

»Ich danke Eurer Herrlichkeit, sagte er. Ich nehme das Anerbieten an und werde mich bemühen, Sie nach Kräften zufriedenzustellen.«

Mit Zustimmung der Marquise noch desselben Tages unter die Schloßbediensteten aufgenommen, sah sich Findling eine Woche später schon zu der verantwortungsreichen Stellung eines Grooms des Erben der Piborne's erhoben.

Den armen Birk hatte sein Herr während der sieben Tage noch nicht am Hofe – natürlich des Schlosses – vorgestellt, denn er fürchtete für ihn einen ungnädigen Empfang.

Der Graf Ashton besaß nämlich drei Hunde, die er fast so sehr wie sich selbst liebte. In ihrer Gesellschaft zu leben, entsprach seinem Geschmacke und genügte seiner Intelligenz. Es waren Racethiere, deren Stammbaum – wenigstens – bis zur normännischen Eroberung zurückreichte, drei schöne, aber sehr bissige schottische Pointer (Wachtelhunde). Kam ein andrer Hund am Gitterthore vorbei, so mußte er sich schnell davon machen, um nicht von den wüthenden Thieren zerfleischt zu werden, die der Piqueur (Rüdenmeister) zu solchen Großthaten aufzuhetzen liebte. Birk begnügte sich auch, in der Nähe der Wirthschaftsgebäude [238] umherzustreifen und wartete ruhig, bis der neue Groom des Abends kam und ihm etwas Futter zusteckte, das der Findling sich an der eignen Nahrung absparte. Die Folge davon war, daß beide magrer wurden. Ei was, es würden ja auch wieder bessere Tage kommen, wo sie sich auf Vorrath mästen konnten.

Jetzt begann für den Findling, dessen traurige Geschichte wir erzählen, ein Leben, das sich von dem bisher geführten wesentlich unterschied. Ohne von den bei der Hard und in der Ragged-School verbrachten Jahren zu sprechen, zeigte seine Lage. nur im Vergleich zu der in der Farm von Kerwan. doch eine große Veränderung.

Bei der Familie Mac Carthy zählte er zum Hause, unbelastet von dem Joch der Knechtschaft. Hier im Schlosse galt er für nichts. Der Marquis betrachtete ihn als Almosenbecken, in das er monatlich zwei Pfund Sterling legte, die Marquise als ein kleines Vorzimmerhündchen, und der Graf sah ihn für ein Spielzeug an, das man ihm, sogar ohne die Ermahnung, es nicht zu zerbrechen, geschenkt hatte. Scarlett endlich hatte sich gelobt, ihm durch fortwährende Chicanen seine Abneigung fühlen zu lassen, und dazu fehlte es nicht an Gelegenheit. Selbst die Diener betrachteten das heimatlose Kind, das Lord Piborne in das Schloß Trelingar aufgenommen hatte, für tief unter ihnen stehend. Leute von gutem Herkommen haben einmal ihre Einbildung, ihren Stolz einer lange eingenommenen Stellung, und es paßt ihnen nicht, mit solchen Gestalten von der Landstraße her in einen Topf geworfen zu werden. Bei den gemeinschaftlichen Mahlzeiten ließen sie das Findling auch fühlen, wo es nur anging. Dieser ließ darum keine Klage laut werden; er antwortete nicht und that gewissenhaft seine Pflicht, wenn er auch nach Ausführung der letzten Befehle seines Herren mit großer Erleichterung nach seinem besondern Kämmerchen hinausging.

Inmitten so vielen Uebelwollens fand er doch eine Frau, die sich seiner annahm. Es war das nur eine Wäscherin, namens Kat, die, jetzt im Alter von fünfzig Jahren, von jeher auf der Piborne'schen Domäne gelebt hatte und hier voraussichtlich ihr Leben beschloß, wenn sie der Verwalter Scarlett nicht fortjagte – was er übrigens schon versucht hatte, da sie ihm etwas verhaßt war.


Wie er sich an das Wagenverdeck klammerte. (S. 242.)

Ein Vetter des Marquis, Sir Edward Kinney, offenbar ein sehr geistreicher Herr, behauptete, daß die Kat schon zur Zeit Wilhelms des Eroberers am Waschzuber gestanden habe. Die Frau ließ sich jedoch durch nichts beirren. Sie [239] besaß ein vortreffliches Herz, und Findling schätzte sich glücklich, bei ihr Trost für manches Ungemach zu finden.


Er begab sich zu dem Perronbuchhändler. (S. 245.)

Ost plauderten beide, wenn der Graf Ashton einmal allein vom Hause weg war. Und wenn der Groom von dem Verwalter oder einem andern Diener angelassen worden war, dann ermahnte die Kat den Knaben:

»Nur Geduld, mein Sohn! Kümmere Dich nicht um ihre Redereien. Der beste unter ihnen ist nicht gar viel werth, ich wüßte wenigstens keinen, der das Portefeuille zurückgegeben hätte!«

[240] Vielleicht hatte die Wäscherin damit Recht, denn die gewissenlosen Leute erklärten Findling wegen seiner Ehrlichkeit nur für einen Einfaltspinsel.

Der Groom war dem Grafen Ashton also gewissermaßen als Spielzeug geschenkt worden, und wie ein launenhaftes, eigenwilliges Kind amüsierte sich der junge Graf auch mit ihm. Meist ertheilte er ihm ganz sinnlose Befehle und widerrief diese dann ohne Grund. Zehnmal in der Stunde klingelte er ihn herbei, um das oder jenes in Ordnung oder in Unordnung zu bringen. Er hieß ihn die große oder die kleine Livrée anlegen, mit hunderten von Knöpfen, wie die [241] Knospen an einem Rosenstock im Frühsommer. Ihn so zwanzig Schritte hinter sich her marschieren zu lassen, wobei die Hände auf der Naht der Beinkleider liegen mußten, und nicht nur in den Straßen der Ortschaft, sondern auch in den Alleen des Parks, das war für den eitlen Grafen das allergrößte Vergnügen. Findling unterwarf sich allen Launen, er gehorchte, wie eine Maschine ihrem Führer. Man hätte ihn nur sehen sollen, wie er mit fest gekreuzten Armen vor dem Pferde seines Herrn wartete, bis dieser in den Sattel stieg, oder wie er hinter dem in tollem Galopp hinsausenden Cabriolet sich an das zusammengeschlagene Wagenverdeck klammerte, wenn sein Herr damit über Stock und Stein jagte, oder gelegentlich einen Menschen umriß, wofür das Gefährt des Grafen Ashton in Kanturk schon bekannt war.

Abgesehen davon, daß er sich allen Thor- und Tollheiten seines Herrn zu fügen hatte, war Findling nicht eigentlich unglücklich. Das ging voraussichtlich so lange, wie jenem das neue Spielzeug gefiel. Bei dem unberechenbaren jungen Gentleman war freilich jede Ueberraschung möglich. Kinder bekommen ihr Spielzeug schließlich zum Ueberdruß und werfen es weg, wenn sie's nicht gar zerbrechen. Findling war freilich fest entschlossen, dergleichen von sich abzuwenden.

Seine Stellung im Trelingar-castle betrachtete er nur als Nothnagel und lebte der Hoffnung, daß sich ihm schon noch eine bessere bieten werde. Sein kindlicher Ehrgeiz strebte höher hinauf, als nach den Obliegenheiten eines Grooms. Die Verneinung seines eignen Ich gegenüber diesem Erben der Piborne's, dem er sich überlegen fühlte, erniedrigte ihn. Ja... überlegen, obwohl der Graf Ashton noch immer Unterricht in Latein, Geschichte u. s. w. genoß und seine Lehrer sich redlich bemühten, ihm wenigstens einige Kenntnisse einzutrichtern. Sein Latein blieb aber doch Hundelatein« (die englische Bezeichnung für unser »Küchenlatein«) und seine Geschichtskunde beschränkte sich auf das, was er im »goldenen Buche« der Pferdegeschlechter gelesen hatte.

Kannte Findling nun auch diese schönen Dinge nicht, so verstand er es doch mit zehn Jahren, zu denken, zu überlegen. Er schätzte jenen Sohn der Familie nach seinem richtigen Werthe und erröthete manchmal über die Dienste, die er ihm leisten mußte. Wie bedauernd erinnerte er sich dann der stärkenden, heilsamen Beschäftigung auf der Farm, seines Lebens inmitten der Mac Carthy's, von denen er noch immer keine Kunde erhalten hatte. Die Wäscherin im Schlosse war und blieb das einzige Wesen, dem er sich anschließen konnte.

[242] Uebrigens bot sich bald Gelegenheit, die Freundschaft der guten Frau zu erproben.

Hier sei noch angeführt, daß der Proceß mit dem Kirchspiele von Kanturk zu Gunsten der Familie Piborne ausgefallen war, doch nur, weil diese die von Findling abgelieferten Documente dabei in die Wagschale zu werfen vermochte. Was der Knabe gethan, war jetzt freilich vergessen, warum also hätte ihm dafür ein besondrer Dank gebührt?

Mai, Juni und Juli waren vorüber. Birk hatte, so gut es anging, sein Futter erhalten. Das Thier schien zu verstehen, daß es sich vorsichtig verhalten mußte, um in der Umgebung des Schloßparks unentdeckt zu bleiben. Findling hatte schon dreimal seine zwei Pfund Sterling eingeheimst, die in seiner Agende auf der Einnahmeseite gebucht standen, während die Ausgabenseite noch leer geblieben war.

Im Laufe dieser drei Monate hatten Lord und Lady Piborne nichts anderes zu thun, als Besuche zu empfangen und zu erwidern, und allerlei Höflichkeiten mit den Schloßbesitzern der Nachbarschaft auszutauschen. Hierbei drehte sich die Unterhaltung natürlich meist um die Lage der irischen Landlords. Da fielen recht grimmige Worte über die Ansprüche der Pächter und der Landliga, über den dreiundsiebzigjährigen Gladstone und über Parnell, den man an den höchsten Galgen wünschte. So verlief ein Theil des Sommers. Dann pflegten Lord und Lady Piborne nebst ihrem Sohne gewöhnlich eine mehrwöchige Reise, meist nach den schottischen Besitzthümern der Marquise, zu unternehmen. Dieses Jahr sollte sich der Ausflug nach einer andern Seite lenken, die von der großen Welt bevorzugt und von den Trelingarer Herrschaften noch nicht besucht worden war. Es handelte sich nämlich um die herrliche Gegend der Seen von Killarney, wohin am 3. August aufgebrochen werden sollte.

Findlings Hoffnung, infolge dessen eine Zeit lang dienstfrei zu werden, ging nicht in Erfüllung. Da Lady Piborne ihre Kammerfrau Marion und der Marquis seinen Leibdiener John mitnahm, mußte der Graf Ashton doch auch seinen Groom bei sich haben.

Dieser kam dadurch in nicht geringe Verlegenheit wegen Birks, da er nicht wußte, wer inzwischen für den Hund sorgen sollte.

Findling beschloß deshalb, Kat ins Vertrauen zu ziehen, die es gern übernahm, den Liebling des Knaben zu pflegen, ohne daß jemand davon etwas erführe.

[243] »Beruhige Dich, mein Sohn, erklärte die gute Frau. Ich liebe Deinen Hund schon ebenso wie Dich, und er wird in Deiner Abwesenheit keine Noth leiden!«

Findling umarmte die freundliche Kat für diese Zusage, und nachdem er sie am Abend vor der Abreise noch mit Birk bekannt gemacht hatte, nahm er von dem treuen Thiere Abschied.

4. Capitel
Viertes Capitel.
Die Seen von Killarney.

Die Abfahrt erfolgte, wie »höchsten Orts« bestimmt war, am Morgen des 3. August. Kammerdiener und Kammerfrau der Herrschaft bestiegen den Omnibus des Schlosses, der das Reisegepäck nach dem drei Meilen entfernten Bahnhof beförderte.

Findling begleitete sie, um speciell die Effecten seines jungen Herrn zu überwachen. Marion und John ließen auch das Kind »von niemand« sich dabei helfen, so gut es anging.

Der Groom machte seine Sache ganz vortrefflich, und das Gepäck des Grafen Ashton wurde unter seiner Aufsicht sorgsamst für den erwarteten Bahnzug zurechtgestellt.

Gegen Mittag traf – von der Straße längs des Flusses Allo – die Equipage vom Schlosse ein, der nun Lord und Lady Piborne entstiegen. Da mehrere Personen aus der Vorhalle des Bahnhofs traten, um die hohen Reisenden – natürlich aus respectvoller Entfernung – zu sehen, konnte der Graf Ashton die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, mit seinem Groom eine Vorstellung zu geben. Er rief ihn nur »Boy« (Junge), wie er dies gewöhnt war, und als dieser an den Wagen herantrat, bekam er einen ganzen Packen Reisedecken an die Brust geworfen, so daß er von dem Stoße fast hinfiel, was die Umstehenden weidlich zu belustigen schien.

[244] Der Marquis und die Marquise begaben sich nach dem für sie reservierten Coupé eines Waggons erster Classe. John und Marion richteten sich in zweiter Wagenclasse ein, forderten aber den Groom nicht auf, bei ihnen Platz zu nehmen. Dieser mußte vielmehr ein andres leerstehendes Coupé besteigen, was er gerade für den Anfang der Reise nicht im mindesten bedauerte.

Der Zug setzte sich sofort in Bewegung. Es sah aus, als habe er nur auf die hochvornehme Schloßherrschaft von Trelingar gewartet.

Schon einmal war Findling, damals in den Armen der Miß Anna Walston, mit der Eisenbahn gefahren, doch dessen entsann er sich kaum, da er ja meist geschlafen hatte. Die aneinander gekuppelten, schnell dahinrollenden Wagen waren ihn ja bei Galway und bei Limerick bekannt geworden. Heute sollte nun sein heißer Wunsch in Erfüllung gehen, selbst von einer Locomotive, diesem keuchenden, dampfenden Rosse aus Stahl und Kupfer, durchs Land gezogen zu werden.

Findling blickte durch das Fenster hinaus, dessen Scheibe herabgelassen war. Obwohl der Zug sich nur mit mäßiger Schnelligkeit bewegte, erschien diese ihm doch ganz außerordentlich, wenn er Häuser und Bäume scheinbar nach rückwärts eilend vorüberfliegen sah, wenn die Telegraphenstangen an ihm vorbeihuschten, auf deren Drähten die Depeschen noch ungleich schneller dahinblitzten, oder wenn ein andrer Zug an ihm vorübersauste, den er nur als eine verschwommene, polternde Masse erkannte. Das waren für seine Vorstellung ebenso viele neue Eindrücke, die sich unauslöschlich in ihm festsetzten.

Einige Meilen weit folgte der Zug durch schöne Gegenden dem linken Ufer des Blackwaterflusses. Gegen zwei Uhr machte er, nach kurzem Verweilen an mehreren Zwischenstationen, im Bahnhofe von Millstreet für fünfundzwanzig Minuten Halt.

Die vornehme Familie blieb im Waggon, nachdem Marion zur Bedienung ihrer Herrin gerufen wurde; auch John hielt sich vor der Coupéthür zu Befehl seines Herrn. Der Knabe erhielt von dem Grafen Ashton Auftrag, ihm eine unterhaltende Lectüre für zwei bis drei Stunden zu besorgen. Er begab sich also zu dem Perronbuchhändler, wo er, durch die großen Vorräthe von Büchern und Zeitschriften in Verlegenheit gebracht, schließlich eine Wahl mehr nach eignem Geschmack, als nach dem des jungen Piborne traf. Dieser empfing ihn auch höchst ungnädig, als er ihm den »Touristenführer nach den Seen von Killarney« einhändigte. Als ob es dem Erben von Trelingar-castle einfallen könnte, ein Reisehandbuch zu studieren! Als ob diesem die Gegend, die er [245] besuchte, überhaupt etwas anginge! Er begab sich dahin, weil man ihn dahin führte. So mußte der Groom noch ein Witzblatt mit Carricaturen und fadem Texte herbeischaffen, das dem Geschmack des jungen Grafen mehr zusagte.

Die Abfahrt von Millstreet erfolgte um zweieinhalb Uhr. Findling hatte sich wieder ans offne Fenster gesetzt. Der Zug rollte jetzt durch eine abwechslungsreiche, bergige Gegend hin. Das Wetter war schön, die Sonne nicht zu dicht verhüllt. Lord Piborne konnte sich beglückwünschen, für diesen Ausflug eine mehr trockene Periode getroffen zu haben, wo der Sonnenschirm der Marquise mehr Dienste leistete, als ihr Waterproof. Immerhin enthielt die Atmosphäre jene leichten Dünste, die den Berggipfeln, deren scharfe Linien sie abstumpfen, erhöhten Reiz verleihen. Findling konnte im Süden von der Bahnlinie die hohen Pics dieses Theiles der Grafschaft, den Caherbarnagh und den Paß erkennen, die bis zweitausend Fuß aufsteigen. Gerade in der Umgebung von Killarney treten die geologischen Umwälzungen in Irland am mächtigsten zu Tage.

Der Zug überschritt bald die Grenze zwischen den Grafschaften Cork und Kerry. Mit dem von seinem Herren verachteten Reiseführer in der Hand, verfolgte Findling voller Interesse die Gelände neben der Bahnlinie. Hier erweckte schon der Name Kerry seine lebhaftesten Erinnerungen. Zwanzig Meilen weiter nördlich waren ihm die schönsten Jahre der Kindheit verflossen, dort in der jetzt leer stehenden Farm von Kerwan, woraus der mitleidlose Middleman die Familie Mac Carthy vertrieben hatte. Da wandte er die Augen von der Landschaft ab. Er blickte tief in sein Inneres, und der schmerzliche Eindruck davon hielt noch an, als der Zug im Bahnhofe von Killarney eintraf.

Für diesen kleinen Ort ist es ein von manchen Städten Europas empfundener Vorzug, am Ufer eines schönen Binnensees zu liegen, und Killarney verdankt sein glückliches Gedeihen ohne Zweifel der Kette von Wasserflächen, die sich von seinem Fuße aus hinzieht. Wegen seines Palastes, worin der katholische Bischof der Grafschaft residiert, wegen seiner Kathedrale oder wegen der hier befindlichen Irrenanstalt, auch wegen seines Franciscanerklosters oder seines Armenhauses strömen die Touristen in der schönen Jahreszeit hier wahrlich nicht zusammen. Nur seinen Seen verdankt es das Städtchen, der Sammelpunkt vieler Lustreisenden zu sein. Verlöre es seine herrliche Umgebung, so hätte Killarney sozusagen ausgelebt, was sehr zu bedauern wäre, vorzüglich für die Familie der Kenmare's, da dieses Städtchen einen Theil ihres neunzigtausend [246] Hektar großen Besitzthums bildet. An Hôtels hier und an dem eine Viertel stunde entfernten Ufer des Lough-Leane fehlt es nicht.

Lord Piborne hatte eines der bestempfohlenen ausgewählt; unglücklicher Weise war aber dieses Hôtel gerade jetzt »boycoitiert«. Dieses neue irländische Wort stammt von dem Namen eines Capitäns Boycott her, der zur Einbringung seiner Ernte polizeiliche Hilfe herbeigerufen hatte, da die Arbeiter sich weigerten, auf seinen Feldern thätig zu sein. Das betreffende Hôtel stand also in Acht und Bann, weil sein Besitzer die gerichtliche Austreibung einiger seiner Pächter veranlaßt hatte. Jetzt gab es hier deshalb weder Kellner noch Köche, und kein Lieferant hätte gewagt, etwas dahin zu verkaufen.

Der Marquis und die Marquise Piborne mußten sich wohl oder übel nach einem andern Hôtel begeben und ihre Abfahrt nach den Seen auf den nächsten Tag verschieben.

Nach Besorgung des Reisegepäcks seines Herrn erhielt der Groom Befehl, sich den ganzen Abend zu dessen Verfügung zu halten. So konnte dieser also das Vorzimmer nicht verlassen, während der junge Piborne inmitten der im Salon lesenden, plaudernden und spielenden Touristen den großen Herrn spielte.

Am folgenden Tage wartete ein Wagen vor dem Thore des Hôtels. Es war das ein großer, bequemer Landauer, zum Niederschlagen des ganzen Verdecks eingerichtet und hinten mit einem schwebenden Sitze für John und Marion. Der Groom hatte auf dem Bocke neben dem Kutscher Platz zu nehmen. In den Koffern führte man außer Kleidungsstücken und Wäsche auch einen tüchtigen Vorrath an Speisen und Getränken mit, um gegen alle Zwischenfälle, wie Verzögerungen der Fahrt und Unzulänglichkeit der Gasthöfe, gerüstet zu sein, denn die regelmäßigen Mahlzeiten der vornehmen Familie durften auf keinen Fall in Frage gestellt sein. Ihre Herrlichkeiten verzichteten indeß beim Aufbruch aus Killarney auf die Benützung des Wagens.

Mit dem praktischen Verstande, dessen sich Lord Piborne – sogar in den Sitzungen des Oberhauses – zu rühmen pflegte, hatte er die Vergnügungsreise in zwei Abtheilungen zerlegt. Der erste Theil umfaßte den Besuch der Seen selbst, der zu Wasser abgemacht werden, und der zweite den der Grafschaft bis zur Küste, der zu Lande erfolgen sollte. Der Landauer hatte die vornehmen Touristen also erst während des letzten Theils der Reise aufzunehmen. Trotzdem fuhr er an diesem Morgen ab, um jene bei Brandonscottage, am Ende der Seen von Killarney, deren Ostufer er umfuhr, zu erwarten. Da der Lord Piborne in seiner Weisheit die Fahrt über die Seen auf drei Tage bemessen hatte, durften Kammerdiener, Zofe und Groom ihrer Herrschaft natürlich so lange Zeit nicht fern bleiben. Der Findling wenigstens freute sich auch herzlich, über diese glänzenden Wasserspiegel fahren zu sollen.


Findling mußte bei ihm bleiben. (S. 252.)

Das Meer war das freilich nicht, das unendliche Meer, das sich von einem Continente zum andern ausspannt... nur einige beschränkte Seen, die keine Handelsstraße bilden und nur von Touristenbooten durchschnitten werden. Doch auch das genügte schon un [247] serm Findling. Gestern hatte er zum zweitenmale in einem Bahnzuge gesessen, heute sollte er zum ersten Male in einem Boote fahren.


Die Passagiere wurden tüchtig geschüttelt. (S. 255.)

Während John, Marion und der Groom sich zu Fuß nach dem eine Meile entfernten Nordende der Seenreihe begaben, führte den Marquis, die Marquise und deren Sohn eine leichte Kalesche nach derselben Stel [248] le. An der Ecke eines Platzes erblickte Findling im Vorübergehen auch die Kathedrale, zu deren Besuch er keine Zeit gefunden hatte. Auf den Straßen waren nur wenige Leute, und unter diesen mehr Spaziergänger als Geschäftsleute. In Killarney [249] beschränkt sich der regere Verkehr auf die wenigen Monate, während der aus dem Vereinigten Königreiche jährlich gegen zehn- bis zwölftausend Touristen hier eintreffen. Dann scheint die eingeborne Bevölkerung nur noch aus Kutschern und Bootsleuten zu bestehen, die sich um die Kundschaft streiten, welche ihre Dienste gehörig bezahlen muß.

Am Landeplatz erwartete ihre Herrlichkeiten ein Boot mit fünf Mann, vieren für die Ruder und einem für das Steuer. Polstersitze und ein abnehmbares Zeltdach gegen den Sonnenbrand oder gegen anhaltenden Regen sicherten den Fahrgästen die nöthige Behaglichkeit. Lord und Lady Piborne nahmen auf den weichen Bänken Platz, der Graf Ashton neben ihnen, die Diener und der Groom setzten sich im Vordertheile des Fahrzeugs nieder. Nun wurde das Tau losgeworfen, die Ruder tauchten gleichmäßig ins Wasser und das Boot entfernte sich vom Ufer.

Die Seen von Killarney bedecken eine Fläche von einundzwanzig Quadratkilometern. Es sind ihrer drei: der Obere See, der aus der Umgebung die Flüsse Grenshorn und Doogary aufnimmt; der Muckroß-oder Toresee, in den sich nach einem Verlaufe längs des schmalen Lough-Range-Canals die Gewässer des Owengariffe ergießen, und der Untere See, der Lough-Leane, der durch die Lawne und einige kleinere Wasseradern am Meeresufer in die Bai von Dingle ausmündet. Die Strömung in den Seen verläuft von Süden nach Norden, so daß der Untere See also der nördlichste ist.

Das Gesammtbild der drei Wasserbecken ähnelt etwa einem gewaltigen Schwimmvogel, einem Pelikan oder dergleichen, dessen Füße der Lough-Range, dessen Beine der Obere See und dessen Rumpf der Muckroß und der Lough-Leane darstellten.

Da die Einschiffung am Nordufer des Lough-Leane stattgefunden hatte, ging die Fahrt stromaufwärts, erst durch den unteren, dann durch den Muckroß-See und hierauf mittelst des Lough-Range-Canals nach dem Oberen See. Nach dem Programm des Lord Piborne sollte jedem Seebecken ein Tag gewidmet werden.

Im Süden und Westen dieser Gegend erheben sich die höchsten Bergzüge des Grünen Erin bis zu der prächtigen, in die Küste der Grafschaft Cork eingeschnittenen Bai von Bantry. Hier befindet sich auch der kleine Fischerhafen, in dem Hoche mit seinen vierzehntausend Mann aus Land stieg, als die Republik Frankreich diese 1796 ihren irischen Brüdern zu Hilfe geschickt hatte.

[250] Lough-Leane, der größte der drei Seen, mißt fünf Meilen in der Länge und drei Meilen in der größten Breite. Sein von der Bergkette des Carn-Tual beherrschtes Ostufer ist mit dunkelgrünen Waldmassen eingerahmt, die zum größten Theil zur Domäne von Muckroß gehören. Er enthält zahlreiche Inseln, wie Brown, Lamb, Heron, Mouse u. a., unter denen die Insel Roß die größte und Innishallen die schönste ist.

Nach letzterer steuerte das Boot zuerst bei herrlichem Wetter und in diesen Gegenden recht seltenem klaren Sonnenscheine. Eine leichte Brise kräuselte die Oberfläche des Wassers. Findling berauschte sich an dem erquickenden Lufthauche, während er die reizenden Bilder, die an ihm vorüberzogen, bewunderte. Er hütete sich aber, seinen Empfindungen lauten Ausdruck zu geben, denn man hätte ihm doch Stillschweigen geboten.

Lord und Lady Piborne wären gewiß auch gar zu verwundert gewesen, daß ein Wesen ohne Geburt und Erziehung für diese Naturschönheiten, die doch nur für das Vergnügen aristokratischer Augen geschaffen waren, hätte empfänglich sein können. Uebrigens unternahmen Ihre Herrlichkeiten diesen Ausflug, wie wir wissen, ja nur, weil es für Leute ihres Ranges zum guten Ton gehörte, ihn ausgeführt zu haben, während in ihrem Gedächtniß wahrscheinlich kein dauernder Eindruck davon zurückblieb. Dem Grafen Ashton war die ganze Sache völlig gleichgiltig. Er hatte einige Angelschnuren mitgenommen und wollte Fische fangen, während seine erhabenen Eltern pflichtgemäß die Landsitze und Ruinen der Umgebung aufsuchen würden.

Das schmerzte vorzüglich Findling. Als Innishallen erreicht war, stiegen der Marquis und die Marquise aus, auf den an ihren Sohn gerichteten Vorschlag aber, sie zu begleiten, antwortete der liebenswürdige junge Mann nur:

»Ich danke; ich will während Ihres Spaziergangs lieber angeln!

– Und doch, erwiderte Lord Piborne, befinden sich hier die Reste einer berühmten Abtei, und mein Freund, Lord Kenmare, dem diese Insel gehört, würde es mir wohl übel deuten...

– Wenn es der Graf aber vorzieht... warf die Marquise nachlässig ein.

– Gewiß ziehe ich es vor, erklärte der Graf Ashton, und mein Groom wird mir die Angelhaken mit Köder versorgen.«

Der Marquis und die Marquise brachen also, mit John und Marion als Gefolge, auf, und so kam es, daß Findling, der ja den Launen des jungen Piborne nachgeben mußte, zu seinem großen Leidwesen nichts von den archäologischen [251] Merkwürdigkeiten von Innishallen kennen lernte. Der Marquis und die Marquise brachten davon übrigens auch keine dauernde Erinnerung mit heim. Wie konnten auf ihren indifferenten, blasierten Geist die Schönheiten dieses Klosters Eindruck machen, dessen Gründung bis ins 6. Jahrhundert zurückreicht, die Anordnung der vier dasselbe bildenden Gebäude, die romanische Kapelle mit ihren herrlichen Steinarbeiten am Bogengewölbe, das Ganze verloren in üppigem Grün, inmitten dichter Gruppen von Stechginster, Taxusbäumen, Eschen und Erdbeerbäumen, deren vorzüglichste Arten dieser Insel – der »Insel der Heiligen«, wie Fräulein de Bouret so treffend das Juwel von Killarney genannt hat – anzugehören scheinen?

Hatte der Graf Ashton es auch abgeschlagen, Ihre Herrlichkeiten während der Stunde, die sie der Besichtigung von Innishallen widmeten, zu begleiten, so darf man nicht glauben, daß er deshalb seine Zeit verloren hätte. Freilich war ihm eine schöne Forelle durch eigne Schuld wiederholt entschlüpft, und sein Mißvergnügen darüber machte sich in ebenso unverdienten, wie maßlosen Vorwürfen gegen seinen Groom Luft. Einige Aale, die an seinem Haken zappelten, galten ihm in der That mehr als jene erbärmlichen Ruinen, um die er sich keinen Pfifferling kümmerte.

Das erschien ihm als eine so würdige Ausfüllung seiner Muße, daß er nicht einmal die Insel Roß mit durchstreifen wollte, wo das Boot eine Stunde später anlegte. Auch hier vertändelte er die Zeit mit der Angelschnur, und Findling mußte bei ihm bleiben, während Lord und Lady Piborne mit majestätischer Gleichgiltigkeit im Schatten der Wälder des Lord Kenmare lustwandelten.

Die vierundzwanzig Hektar große Insel gehört nämlich zu dem Besitzthum des Genannten, der sie am Ostufer des Sees durch eine gute Straße mit seinem Schlosse, einer alten Feudalveste aus dem 14. Jahrhundert, in bequeme Verbindung gesetzt hat. Dem Marquis und der Marquise fiel es allerdings auf, daß sowohl die Insel Roß als auch der Schloßpark jedermann offen stehen, dem es beliebt, das grüne, mit Minzen und Goldwurz zwischen Gruppen herrlicher Azaleen und Rhododendrons geschmückte Gelände zu durchstreifen.

Nach zweistündigem, durch wiederholte Ruhepausen unterbrochenem Besuche kehrten Ihre Herrlichkeiten wieder nach dem kleinen Bootshafen zurück. Der Graf Ashton war gerade dabei, seinen Groom tüchtig abzukanzeln, und der Marquis nebst der Marquise fand das ganz in Ordnung, ohne zu wissen, was dazu Veranlassung gegeben hätte. Das war aber nichts andres, als daß die [252] Fische sich gehütet hatten, an die Angelhaken des jungen Edelmannes anzubeißen, worüber dieser unwillig wurde und es auch bis zum Abend blieb.

Die Gesellschaft bestieg wieder das Boot. Jetzt steuerte dieses mehr nach der Mitte des Sees, um dann am Westufer noch die murmelnde Cascade von O'Sullivan zu besuchen, ehe man in die Mündung des Lough-Range einfuhr. Nahe derselben liegt die Dinish-Cottage, wo Lord Piborne zu übernachten beabsichtigte.

Mit trauerndem Herzen über die erlittene Ungerechtigkeit hatte Findling seinen Platz im Vordertheile wieder eingenommen. Bald aber vergaß er seinen Kummer und ließ seine Phantasie unter das schlummernde Wasser schweifen. Im Reiseführer hatte er eine wunderbare Sage über die Seen von Killarney gelesen. Hier lag danach vor Zeiten ein glückliches Thal, das durch ein Schutzwehr gegen Ueberfluthung aus der Umgebung abgeschlossen wurde. Eines Tags hatte das mit dessen Bedienung betraute junge Mädchen aus Unbedachtsamkeit die Schützen dieses Wehres gezogen und sofort stürzte das Wasser in gurgelndem Strome hindurch. Dörfer und Menschen sammt ihrem Vorsteher, dem »Thanist«, gingen dabei zu Grunde. Seitdem sollen jene unten im See fortleben, von woher ein scharfes Ohr sie unter den Fluthen des Lough-Leane ihre Festtage im Reiche der Aale und Forellen feiern hören kann.

Es war um vier Uhr, als Ihre Herrlichkeiten bei der Dinish-Cottage, nahe der Mündung des Lough-Range und am rechten Ufer der sogenannten Bai von Glenoo, aus Land gingen. Hier fanden sie ziemlich bequeme Unterkunft. Als Findling jedoch um neun Uhr entlassen wurde, erhielt er die bestimmte Anweisung, auf sein Zimmer zu gehen, so daß er also auch jetzt nicht einige Stunden der Freiheit genießen konnte.

Der nächste Tag galt dem Besuche des Muckroßsees. Dieser zweieinhalb Meilen lange und kaum halb so breite See von regelnläßiger Gestalt bildet eigentlich nur einen großen Teich inmitten eines von den Eigenthümern nicht mehr bewohnten Besitzthums, dessen prächtiger Wald dadurch, daß er in den Naturzustand zurückverfiel, mehr gewonnen als verloren hat.

Diesmal ließ sich der Graf Ashton herbei, seine hohen Eltern zu begleiten. Auch der Groom, der Flinte und Jagdtasche trug, mußte sich anschließen. Früher hausten hier im Walde zahlreiche Wildschweine. Jetzt trifft man statt derselben noch auf rothes Damwild, das im Vereinigten Königreich sonst dem Aussterben nahe zu sein scheint.

[253] Der Graf Ashton hätte gewiß eine cygenetische Heldenthat vollbracht, wenn ihm eines der sehr scheuen Thiere vors Rohr gekommen wäre. Daraus wurde aber nichts, obwohl zwei der Ruderer als Treiber und Findling als – Jagdhund dienten. Dieser bekam auch den malerischen Wasserfall von Tore nicht zu sehen, ebenso wie eine alte Franciscanerabtei mit Kirche und Kloster aus dem 13. Jahrhundert, von deren Aufsuchung den vornehmen Reisenden besser abgerathen worden wäre.

In diesem Kloster befindet sich noch ein ungeheurer Eibenbaum, dessen Stamm fünfzehn Fuß Umfang hat. Einem plötzlichen Einfalle nachgebend, vielleicht um ein Andenken an ihren Besuch der Abtei von Muckroß mitzunehmen, wollte die Marquise ein Blatt von dem uralten Baume abreißen. Schon hatte sie die Hand danach ausgestreckt, als ein Anruf des Führers sie aufhielt.

»Hüten sich Ihre Herrlichkeit...

– Sich hüten?... Warum? fragte Lord Piborne.

– Gewiß, Mylord! Hätte die Frau Marquise ein solches Blatt abgepflückt...

– Nun, ist das etwa vom Besitzer von Muckroß verboten? unterbrach ihn der Lord hochfahrenden Tones.

– Das nicht, Herr Marquis, antwortete der Führer, doch wer hier ein Blatt abpflückt, stirbt noch in demselben Jahre...

– Auch eine Marquise?

– Gewiß, auch eine Marquise!«

Lady Piborne wurde hierdurch so betroffen, daß sie sich fast unwohl fühlte. Noch einen Augenblick und sie hätte das Blatt abgerissen gehabt. An jene alten Sagen glaubt man auf der Smaragdnen Insel wie ans Evangelium, und überhaupt zeichnet sich Paddy in der Stadt und auf dem Lande durch einen fast lächerlichen Aberglauben aus.

Lady Piborne kam, eingedenk der. Gefahr, die ihr so nahe gedroht hatte, ganz verstört nach Dinish-Cottage zurück. Lord Piborne mußte, obwohl es erst um zwei Uhr war, aus Rücksicht auf sie den Besuch des Oberen Sees bis zum nächsten Tage verschieben.

Der junge Ashton war höchst verstimmt darüber, ohne Jagdbeute zurückgekehrt zu sein. War er von der Anstrengung erschöpft, wie viel mehr mußte es sein kleiner Groom sein, dem er keine Minute Rast gegönnt hatte. Findlings Stolz verbot es ihm aber, eine Klage laut werden zu lassen.

[254] Am nächsten Tage nahmen Ihre Herrlichkeiten gleich nach dem Frühstück wieder im Boote Platz. Die Ruderer mußten »fest anziehen«, wie Pat Mac Carthy gesagt haben würde, um gegen die Strömung im Lough-Range aufzukommen. Die Enge der Mündung erzeugt hier heftige Wirbel und die Passagiere wurden davon tüchtig geschüttelt. War das auch ein Vergnügen für unsern jungen Helden, so theilten es Lord und Lady Piborne doch keineswegs. Der Marquis wollte im Hinblick auf die Angst seiner Gemahlin schon wieder umkehren lassen, und auch der Graf Ashton befand sich in ganz traurigem Zustande. Einige Ruderschläge genügten jedoch. das Boot durch die schlimmsten Stellen zu treiben, und danach schwamm es wieder in verhältnißmäßig ruhigem Wasser zwischen den mit Seelilien geschmückten Ufern. Anderthalb Meilen von hier erhob sich ein achtzehnhundert Fuß hoher Berg, Eagle's-Nest genannt von den Adlern, die ihn zahlreich umschwärmen.

Die Ruderer machten ihre vornehmen Gäste aufmerksam, daß dieser Berg, wenn sie geruhen wollten, ihn anzurufen, ihnen antworten würde. Alle Touristen bewundern das in der That überraschende Echo. Der Marquis und die Marquise erachteten es aber jedenfalls unter ihrer Würde, dieses Echo, »das ihnen nicht vorgestellt war«, zu wecken. Der Graf Ashton dagegen konnte die Gelegenheit nicht vorüberlassen, einige recht läppische Worte laut auszurufen, zuletzt auch die Frage, wer er sei.

»Ein Einfaltspinsel!« antwortete Eagle's-Nest durch den Mund eines Spaziergängers, der hinter dichtem Wachholdergebüsch auf halber Bergeshöhe verborgen war.

Wie von der Tarantel gestochen, erklärten Ihre Herrlichkeiten, daß dieses unverschämte Echo bestraft worden wäre, wenn jetzt die Schloßherren die höhere und niedere Gerichtsbarkeit noch selbst ausgeübt hätten. Die Ruderer trieben das Boot möglichst schnell von der Stelle, und gegen vier Uhr wurde der Obere See erreicht.


Der Durchbruch von Dunloe. (S. 259.)

Dessen Aussehen gleicht im allgemeinen dem des Muckroßsees, doch zeigt er eine unregelmäßigere Gestalt, was ihm erhöhten Reiz verleiht. Im Süden erheben sich die steilen Abhänge der Cromaglans, im Norden die Grate des Tomie und des Purpurberges, der mit lebhaft rothem Strauchwerk bedeckt ist. Das südliche Ufer trägt einen dichten Kranz der herrlichen Baumarten, die das Thal von Killarney beschatten. So bezaubernd der Anblick dieses Sees auch war, schenkten Ihre Herrlichkeiten ihm doch nur eine sehr geringe Beachtung, und [255] außer Findling hatte wohl niemand einen besondern Genuß von diesem Ausfluge. Lord Piborne ließ wenigstens sofort nach der Mündung des Geanhmeen zusteuern, um nach Brandons-Cottage zu gelangen, wo vor dem Besuche des Ufergeländes ordentlich Rast gehalten werden sollte.

Nach so ungewohnten Anstrengungen bedurften Ihre Herrlichkeiten natürlich der Ruhe. Für sie war diese Spazierfahrt auf den Seen gleich einer Reise über das Weltmeer gewesen. Die beiden Diener mußten mit dem Groom im Hôtel bleiben, und wenn letzterer nicht zwanzig sich widersprechende Befehle [256] [259]erhielt, kam das nur daher, daß der Graf Ashton beim neunzehnten fest eingeschlafen war.

Am nächsten Tage mußte frühzeitig aufgestanden werden, denn es galt jetzt, eine ziemlich lange Wegstrecke zurückzulegen. Die Marquise ließ sich sehr bitten. Marion fand sie ziemlich blaß und angegriffen, so daß man unschlüssig wurde, ob man die Fahrt fortsetzen oder unmittelbar nach Trelingar-castle zurückkehren sollte. Lady Piborne stimmte für das letztere; Lord Piborne aber erinnerte daran, daß ihre intimsten Freunde, der Herzog von Francastar und die Herzogin von Wersgalber, ihren Ausflug bis nach Valentia ausgedehnt hätten, und daraufhin wurde beschlossen, es diesen nachzuthun – zur großen Freude Findlings, der vor allem fürchtete, nach dem Schlosse heimkehren zu müssen, ohne das Meer gesehen zu haben.


Ein Fährdampfer unterhielt den Verkehr. (S. 261.)

Um neun Uhr des Morgens stand der Landauer bereit. Der Marquis und die Marquise nahmen den hinteren Sitz, der Graf Ashton den vorderen ein. John und Marion saßen nebeneinander hinter dem Wagen und der Groom auf dem Bocke neben dem Kutscher. Der Landauer, der ja im Nothfalle leicht zu schließen war, blieb vorläufig offen. Endlich brachen die vornehmen Reisenden auf. nachdem sich das Personal der Brandons-Cottage ehrerbietig von ihnen verabschiedet hatte.

Eine Viertelmeile weit folgten die beiden muthigen Pferde dem linken Ufer des Doogary, einem der Zuflüsse des Oberen Sees, dann bogen sie nach den oft steilen Wegen der Kette der Gillyenddy-Reeks ein, wo der Wagen nur im Schritt vorwärts kam. Jede Straßenbiegung entrollte hier ein neues Bild. Findling war aber wohl der einzige, der es bewunderte. Hier befand man sich im bergigsten Theile der Grafschaft Kerry und damit von ganz Irland. Neun Meilen im Südosten, jenseits der Gillyenddy-Reeks, tauchte die in den Wolken halb verlorne Spitze des Carrantuohill empor. Unten an den Bergen lagen zerstreute Moränen, ein Chaos erratischer Blöcke, die das langsame, aber unausgesetzte Fortschreiten der Gletscher hier abgelagert hatte.

Gegen Mittag gelangte der Landauer, den Tomie und den Purpurberg zur Rechten lassend, nach einer schmalen, in die Gillyenddy-Reeks eingeschnittenen Rampe. Dieser Durchbruch von Dunloe ist weit und breit berühmt, und der kraftvolle Roland hat die Pyrenäenkette wohl kaum mit einem mächtigeren Hiebe gespalten. Da und dort glitzern kleine Seen in der wilden Landschaft, und Findling hätte, so wenig das Ihre Herrlichkeiten interessierte, hier manche [259] Sage erzählen können, denn er befleißigte sich stets, vor dem Aufbruch seinen Reiseführer zu studieren. Es hätte ihm aber doch keiner zugehört.

Jenseits dieses Durchbruchs rollte der Landauer schneller die Abhänge nach Nordwesten hinunter. Binnen drei Stunden erreichte er das Ufer der Lawne, deren Bett das überschüssige Wasser der Seen von Killarney nach der Bai Dingle abführt. Diesem Flusse folgte man vier Meilen weit, und es war sechs Uhr geworden, als die Reisenden, ermüdet von einer Fahrt über neun Meilen, in dem kleinen Flecken Kilgobinet Halt machten.

Im dortigen Gasthaus, wo man die mangelnde Bequemlichkeit durch unterwürfige Höflichkeit vergessen zu machen suchte, verbrachte man eine ungestörte Nacht. Zur großen Beunruhigung Findlings entstand aber am nächsten Morgen wieder eine Verhandlung darüber, ob der Wagen nach rechts abschwenken und unmittelbar nach Killarney zurückkehren, oder sich nach links wenden sollte, um nach Valentia zu gelangen. Da der Hôtelwirth aber versicherte, daß vor zwei bis drei Monaten der Fürst und die Fürstin von Kardigan denselben Weg genommen hätten, gab der Lord Piborne der Lady Piborne zu verstehen, daß sie doch nicht wohl anders könnten, als dem Beispiele dieser hochedeln Vorgänger zu folgen.

Die Abfahrt von Kilgobinet erfolgte um neun Uhr Morgens. Heute war regnerisches Wetter, so daß der Landauer geschlossen werden mußte. Die Herrschaften meinten sogar, der Groom neben dem Kutscher werde den stürmischen Wind kaum aushalten können. Bah! Der hatte schon ganz anderm Wetter getrotzt!

Der Knabe verlor also keines von den schönen Landschaftsbildern und bewunderte ebenso die nebelumfangenen Bergzüge des Ostens, wie die tiefen Abhänge des Westens, die zur Küste hinabfallen. In seiner Seele sproßte die Empfindung für Naturschönheiten immer mehr auf, und immer schärfer prägten sich diese seinem Gedächtniß ein.

Am Nachmittage zeigten sich, je weiter die vom Carrantuohill überragten Berge im Osten verschwanden, die Iveraghberge am entgegengesetzten Horizonte. Weiter hinaus sollte, dem Reisehandbuche nach, eine bequeme Straße nach dem kleinen Hafen von Cahersiveen hinabführen.

Gegen Abend erreichten Ihre Herrlichkeiten nach einer Fahrt von zehn Meilen die Ortschaft Carramore. Entsprechend dem hier sehr lebhaften Touristenverkehr giebt es daselbst auch zahlreiche, gut ausgestattete Hôtels, [260] so daß die im Landauer mitgeführten Vorräthe nicht angegriffen zu werden brauchten.

Am folgenden Tage ging es bei Regenwetter weiter. Am Himmel jagten, bei steifem Winde vom Meere her, die Wolken schnell dahin. Nur von Zeit zu Zeit stahl sich ein Sonnenstrahl dazwischen hindurch. In vollen Zügen athmete Findling aber die mit den salzigen Dünsten des Meeres beladne Luft ein.

Kurz vor Mittag lenkte der Wagen nach einer scharfen Straßenbiegung gerade nach Westen hin ein. Nachdem er nicht ohne einige tüchtige Stöße einen Engpaß der Iveraghkette passiert hatte, rollte er, von dem Schleifzeug im Laufe gemäßigt, allein nach der Ausmündung der Valentia hinab, und gegen fünf Uhr hielt er am Ziele der Reise vor einem Hôtel in Cahersiveen.

»Wie viel mögen Ihre Herrlichkeiten wohl unterwegs von allen Schönheiten der Natur gesehen haben?« fragte sich Findling mit einem gewissen Bedauern für die Gleichgiltigkeit der vornehmen Herrschaft.

Er wußte ja noch nicht, daß so viele von den »Oberen Zehntausend« nur reisen, um sagen zu können, daß sie gereist seien.

Der Flecken Cahersiveen liegt am linken Ufer der Valentia, die sich hier zu einem Nothhafen erweitert, der den Namen Valentia-Harbour erhalten hat. Vor ihm erhebt sich die gleichnamige Insel mit ihrem Brag-Head, als einem der am weitesten nach Westen hinausragenden Punkte Irlands. Was den Flecken selbst betrifft, so wird kein Ire vergessen, daß er der Geburtsort O'Connell's ist.

Am folgenden Tage mußten Ihre Herrlichkeiten, die nun darauf bestanden, ihr Reiseprogramm bis zur letzten Nummer zu erledigen, dem Besuche der Insel Valentia noch einige Stunden widmen. Das Verlangen, Möven zu schießen, hatte den Grafen Ashton erfaßt, und deshalb bekam Findling zu seinem größten Vergnügen Befehl, ihn zu begleiten.

Ein Fährdampfer unterhielt den Verkehr zwischen Cahersiveen und der eine Meile vor der Mündung aufragenden Insel. Lord Piborne, Lady Piborne und ihr Gefolge schifften sich nach dem Frühstück ein und das Ferry-Boat setzte sie in dem kleinen Hafen ab, wo die Fischerboote bei plötzlichen Stürmen Schutz finden.

Sehr wild und rauh von außen, entbehrt diese Insel doch nicht gewisser mineralischer Schätze, denn es finden sich auf ihr mehrere ergiebige Schieferbrüche. In einem Dorfe kann man verschiedene Häuser sehen, deren Mauern und Dach [261] aus je einem einzigen großen Stück Schiefer bestehen. In diesem Dorfe ist auch für Unterkommen für Touristen gesorgt, obwohl kaum einer, trotz des vortrefflichen Gasthofs, davon Gebrauch macht. Wozu auch? Wenn sie, wie es auch Ihre Herrlichkeiten thaten, das alte verfallene Fort, das Cromwell einst erbaute, besucht und den Leuchtthurm, den Wegweiser für die Seeschiffe, bestiegen, und wenn sie die Skellings, das sind zwei hohe Bergkuppen in der Entfernung von fünfzehn Meilen, bewundert haben, deren Feuer die Nähe dieser gefährlichen Küstenstrecke weit hinaus anzeigt, dann bietet Valentia nichts besondres mehr. Es ist nur eine jener Inseln, die man an der Westküste Irlands zu Hunderten findet.

Immerhin genießt Valentia eine dreifache specielle Berühmtheit.

Es diente als Ausgangspunkt der Triangulierung, mittelst der ein Bogenstück der Erde gemessen wurde, das quer durch Europa bis zum Uralgebirge reicht.

Es ist thatsächlich die am weitesten nach Westen vorgeschobene meteorologische Station, an der die Sturmwellen von Amerika her zuerst anprallen.

Endlich besitzt es ein isoliert stehendes Gebäude, wohin Lord und Lady Piborne sich führen ließen. Hier beginnt das erste Transatlantische Kabel, das zwischen der Alten und der Neuen Welt ausgespannt wurde. Im Jahre 1858 ließ es Kapitän Anderson von dem einst berühmten Riesendampfer, dem »Great- Eastern«, abrollen, während es 1866 zuerst fungierte – damals allein, bis später vier weitere Kupferfäden Amerika und Europa verbanden.

Hier traf das erste zwischen einem Continent und dem andern gewechselte Telegramm ein, das vom Präsidenten der Vereinigten Staaten, Buchanan, abgesendet, als Text die Worte hatte:

»Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.«

Armes Irland! Du hast es nicht unterlassen, dem Höchsten die Ehre zu geben, doch werden die Menschen Dir jemals den socialen Frieden sichern, indem sie Dir die Unabhängigkeit zurückgeben?

[262]
5. Capitel
Fünftes Capitel.
Schäferhund und Jagdhund.

Von Cahersiveen am Morgen des 11. August abgefahren, machte der Landauer, der der an den ersten Verzweigungen der Iveraghberge verlaufenden Küstenstraße folgte, nach kurzer Rast in Kells, einem Flecken an der Dingle-Bai, am Abend und für die Nacht in Killorglin Halt. Den ganzen Tag über hatte das windige, regnerische Wetter angehalten; am nächsten Tage aber wurde es geradezu abscheulich. Nur Schloßen und Sturm, unter denen Ihre Herrlichkeiten die dreißig Meilen zwischen Valentia und Killarney zurücklegen mußten, wo sie in einer ebenso abscheulichen Stimmung eintrafen, um hier die letzte Nacht auf der Reise zuzubringen.

Am folgenden Tage bestieg die Gesellschaft die Eisenbahn und kam gegen drei Uhr, nach zehntägiger Abwesenheit, wieder in Schloß Trelingar an.

Der Marquis und die Marquise hatten den traditionellen Ausflug nach den Seen von Killarney und durch die Berggegend von Kerry... überstanden.

»Und das wär' es werth gewesen, so viele Beschwerden auf sich zu nehmen! sagte die Marquise.

– Und so entsetzliche Langweile!« setzte der Marquis hinzu.

Findling freilich brachte eine Menge schöner Erinnerungen mit heim.

Seine erste Sorge war es, sich bei der Kat nach Birk zu erkundigen.

Der Hund befand sich wohl. Kat hatte ihn nicht vergessen. Jeden Abend war er nach der Stelle gekommen, wo ihn die Wäscherin nach besten Kräften fütterte.

Noch am nämlichen Abend und ehe er auf sein Stübchen ging, begab sich Findling nach der Außenseite der Wirthschaftsgebäude, wo Birk ihn erwartete. Die Freude des Wiedersehens und die gegenseitigen Liebkosungen dabei kann man sich wohl denken. Birk erschien zwar etwas abgemagert, denn ganz satt mochte er nicht jeden Abend geworden sein, es war damit aber nicht zu schlimm bestellt und noch zeigten seine intelligenten Augen den früheren Glanz. Sein Herr versprach ihm, wenn irgend möglich, jeden Abend zu kommen, und sagte dem Thiere gute Nacht. Birk verstand, daß er sich fügen mußte und machte keine weiteren Ansprüche. Uebrigens galt es, klug zu sein. Die Anwesenheit Birks in der Nähe von Trelingar-castle war mindestens gespürt worden, denn die Hunde hier hatten wiederholt verdächtig angeschlagen. Im Schlosse begann nun das frühere Leben wieder – das Vegetieren, wie es den Insassen von hoher Geburt so vorzüglich zusagte.


Der Groom, am Kopfe des Thieres stehend. (S. 268.)

Der Aufenthalt hier sollte bis zur letzten Septemberwoche dauern, bis zu dem Zeitpunkte, wo die Piborne's ihr Winterquartier in Edinburg zu beziehen pflegten, von wo sie [263] [265]nur zur Zeit der Parlamentssitzungen nach London übersiedelten. Inzwischen puppten sich der Marquis und die Marquise in langweiliger Vornehmheit völlig ein. Nur die Besuche in der Nachbar schaft begannen wieder mit tödtlicher Regelmäßigkeit. Dabei konnte man von dem Ausfluge nach Killarney sprechen. Lord und Lady Piborne mischten da ihre Reiseeindrücke zu denen einiger Freunde, die jene Fahrt bereits gemacht hatten. Sie mußten sich übrigens beeilen, denn schon verblichen der Marquise alle Erinnerungen, ja sie konnte sich schon nicht mehr des Namens der Insel entsinnen, von der das »elektrische Tau« abging, [265] an dem Europa zog, um Amerika anzuklingeln, so wie sie nach John oder Marion klingelte.

Dieses einsilbige Leben wurde Findling allgemach höchst peinlich. Er sah sich immer der schlimmen Behandlung durch Scarlett ausgesetzt, der ihn als Sündenbock betrachtete. Andrerseits ließen ihm die Grillen des Grafen Ashton keine Stunde Muße. Jeden Augenblick war ein Befehl auszuführen, ein Gang zu machen, und dann kam wieder Gegenbefehl, so daß der junge Groom niemals zur Besinnung kam. Er fühlte gleichsam an Händen und Füßen einen tyrannischen Faden, der ihn unaufhörlich in Bewegung setzte. Im Vorzimmer wie in den Dienerstuben lachten die Leute, ihn so gerufen, weggeschickt und doch eigentlich zum Narren gehalten zu sehen, was ihn tief genug kränkte.


Findling eilte auf das Kind zu. (S. 269.)

Des Abends, wenn er endlich nach seinem Stübchen gekommen war, begann er dann über die Lage nachzugrübeln, in die ihn das Elend gedrängt hatte. Immer der Groom des Grafen Ashton zu bleiben, das führte ja zu nichts. Er war zu etwas besserem geschaffen. Nur ein Diener, gleichsam eine Maschine zum Gehorchen zu sein, verletzte seinen Sinn für Unabhängigkeit und den Ehrgeiz, der in ihm wohnte. Auf der Farm... ja, da stand er mit den übrigen Bewohnern wenigstens auf gleicher Stufe und man sah ihn als Kind des Hauses an. Wohin waren jetzt die Zärtlichkeiten der Großmutter, die Liebkosungen Martines und Kittys, wohin die Aufmunterungen durch Martin und dessen Söhne? Wahrlich, höher schätzte er die damaligen Kieselsteine, die er in der nun unter Ruinen begrabenen Kruke sammelte, als die Guineen, womit diese Piborne's monatlich seine Sclaverei bezahlten. In Kerwan unterrichtete er sich, arbeitete er und lernte, dereinst auf eignen Füßen stehen zu können Hier – nichts als diese widerwärtige, keinerlei Aussichten bietende Beschäftigung, die Unterwerfung gegenüber einem verzogenen, eitlen und unwissenden halben Kinde! Er war fast stets mit Ordnen beschäftigt, doch nicht etwa mit dem von nützlichen Büchern – denn davon gab es hier kein einziges – sondern mit dem Wiederordnen dessen, was der junge Graf nachlässig umhergeworfen hatte.

Weiter trieb ihn das Cabriolet des jungen Edelmannes fast zur Verzweiflung. Findling konnte das leichte Gefährt nur mit hellem Schrecken ansehen. Auf die Gefahr hin, in einen Graben gestürzt zu werden, schien es dem Grafen Ashton ein besonderes Vergnügen, die schlechtesten Wege auszuwählen, wie um seinen, sich an die Riemen des Verdecks klammernden Groom nur um so schlimmer durchgeschüttelt zu sehen. Gestattete es die Witterung, mit dem Tilbury[266] oder dem Dog-cart – das waren die andern Wagen des jungen Piborne – auszufahren, so konnte der Groom wenigstens sichrer sitzen. Leider öffnen sich über der Smaragdnen-Insel die Schleusen des Himmels aber gar zu oft, und nicht selten gar zu unerwartet.

Selten verging ein Tag ohne die Qual mit dem Cabriolet. Einmal wollte er zur Parade nach Kanturk, und dann wieder wurden lange Spazierfahrten in der Umgebung von Trelingar-castle unternommen. Längs der Wege liefen und purzelten dann, mit nackten, von den Kieseln verletzten Füßen ganze Haufen zerlumpter Buben nebenher und riefen athmenlos: »Coppers!... Ein paar Coppers!« Findling gab es einen Stich ins Herz. Er kannte ja das Elend aus eigner Erfahrung und bemitleidete die Jungen. Der Graf Ashton wies sie dagegen barsch ab und bedrohte sie mit der Peitsche, wenn sie näher herankamen.

Gern hätte der Knabe den Gassenbuben einige Kupfermünzen zugeworfen, er wagte es aber nicht aus Furcht vor seinem Herrn.

Einmal trat die Versuchung jedoch gar zu stark an ihn heran. Ein hübsches, blondlockiges Kind von etwa vier Jahren schaute ihn mit den großen blauen Augen an und bat um einen Copper. – Die fast werthlose Münze flog der Kleinen zu, die sie mit einem Jubelschrei aufhob....

Der Graf wurde dadurch aufmerksam. Er ertappte seinen Groom auf frischer That bei einem Acte der Barmherzigkeit.

»Wer hat Dir das erlaubt, Boy? fragte er ihn streng.

– Herr Graf... das kleine Mädchen... es macht einem ja so viel Vergnügen... nur einen Copper...

– Ah, so wie man ihn Dir zuwarf, nicht wahr, als Du noch im Lande herumstrichst....

– Nein... niemals! rief Findling, den es immer empörte, wenn jemand von ihm sagte oder andeutete, daß er früher gebettelt habe.

– Warum gabst Du dem Kinde ein Almosen?

– Es sah mich so bittend an... ich sah es auch an...

– Und ich verbiete Dir, Kinder, die sich auf der Straße herumtreiben, anzusehen. Merk' Dir das!«

Findling mußte wohl gehorchen, so weh es ihm auch that.

Sah er sich also darauf beschränkt, das Mitleid, das er für arme Kinder fühlte, in sich zu verschließen, ohne die kleine Gabe eines Coppers wagen zu [267] dürfen, so kam doch einmal die Gelegenheit, wo er die Bewegung seines Innern nicht mehr bemeistern konnte.

Es war am 3. September. Der Graf Ashton hatte zu seiner Fahrt nach Kanturk den Dog-cart bestellt. Findling begleitete ihn wie gewöhnlich, Rücken an Rücken mit dem Herrn sitzend, der ihm befahl, sich mit gekreuzten Armen ganz bewegungslos zu halten.

Der Wagen erreichte die Ortschaft ohne Zwischenfall. Hier lobten die Müßiggänger auf den Straßen die stolze Haltung des schäumenden Rosses, während der junge Piborne die besten Läden des Ortes besuchte. Sein Groom hielt einstweilen, am Kopfe des Thieres stehend, das muthige Pferd, das er zum Jubel der Gassenjungen, die den kleinen, reichaufgeputzten Diener beneideten, kaum zu bändigen vermochte.

Gegen drei Uhr und nachdem er sich überall umgesehen, schlug Graf Ashton den Weg nach Trelingar-castle wieder ein, fuhr aber recht langsam dahin. Auf der Straße schwärmte die gewöhnliche Rotte kleiner Bettler umher. Ermuthigt durch die langsame Bewegung des Dog-cart, wollten sie sich näher an diesen heran drängen; das Schwirren der Peitsche hielt sie jedoch in gemessener Entfernung und sie blieben endlich zurück.

Nur ein einziger hielt weiter aus. Es war das ein geweckter Knabe von sieben Jahren, dem die irische Fröhlichkeit aus dem Gesicht lachte. Trotz der gemäßigten Gangart des Pferdes mußte er rennen, um sich an der Seite des Wagens zu halten. Schon waren seine kleinen Füße an den Steinen des Wegs wund geworden; trotzdem trabte er, ohne Furcht vor der Peitsche, weiter mit. Dabei hielt er einen Heidelbeerzweig in der Hand, den er gegen ein Almosen anbot.

Ein Unglück fürchtend, bemühte sich Findling – freilich vergebens – ihn durch Zeichen abzuweisen. Das Kind folgte dem Dog-cart dennoch weiter.

Natürlich hatte auch Graf Ashton diesem schon wiederholt zugerufen, sich wegzuscheeren. Ohne das zu beachten, hielt sich der kleine Bursche, auf die Gefahr hin, zermalmt zu werden, immer dicht bei den Rädern.

Es hätte nur einer Andeutung bedurft, um das Pferd in Trab zu setzen. Das fiel dem jungen Piborne indeß gar nicht ein. Er wollte einmal langsam fahren, und so blieb es dabei. Belästigt von der Gegenwart des Kindes, schlug er schließlich mit der Peitsche nach ihm.

[268] Die pfeifende Schnur schlang sich dabei um den Hals des Kleinen, der halb erwürgt einige Schritte weit geschleppt wurde und endlich loskommend zur Erde fiel.

Findling sprang vom Dog-cart herab und eilte auf das Kind zu. Dieses hatte einen rothen Streifen um den Hals und weinte vor Schmerz laut auf. Dem jungen Knaben schwoll der Zorn und er hatte große Lust, über den Grafen Ashton herzufallen, wobei dieser, wenn auch älter als sein Groom, gewiß den Kürzeren gezogen hätte.

»Hierher, Boy! rief er, indem er das Pferd parierte.

– Aber das arme Kind?...

– Hierher, sag' ich Dir! wiederholte der junge Piborne, die Peitsche schwingend, komm sofort, oder es geht Dir nicht besser als dem da!«

Zu seinem Glücke ließ er es bei der Drohung bewenden, denn es läßt sich nicht sagen, was sonst geschehen wäre. Jedenfalls gelang es Findling, sich zu beherrschen, und nachdem er dem Jungen einige Pence in die Tasche gesteckt hatte, eilte er nach dem Dog-cart zurück.

»Wenn Du Dir noch einmal erlaubst, ohne Befehl abzuspringen, fuhr ihn der Graf Ashton an, dann bekommst Du eine tüchtige Tracht Prügel und wirst auf der Stelle davongejagt!«

Findling antwortete nicht, obgleich ein Blitz in seinen Augen aufflammte. Dann entfernte sich der Dog-cart schnell und ließ das Kind auf der Straße zurück, das sich beim Klimpern der erhaltenen Geldstücke schon etwas getröstet zu haben schien.

Von diesem Tage ab machte der boshafte Graf Ashton seinem Groom das Leben womöglich noch schwerer; er chicanierte und erniedrigte ihn auf jede Weise. Was er früher körperlich gelitten hatte, das litt er jetzt geistig, ja er fühlte sich vielleicht nicht weniger unglücklich, als früher in der Hütte der Hard oder unter der Fuchtel Thornpipe's. Ost kam ihm der Gedanke, Trelingarcastle zu verlassen. Doch wohin sollte er sich wenden? Die Familie Mac Carthy aufsuchen, dazu fehlte ihm jeder Fingerzeig, und diese hätte jetzt ja auch nichts für ihn thun können. Jeden falls stand sein Entschluß aber fest, im Dienste des Erben der Piborne's nicht zu bleiben.

Nun kam etwas hinzu, was ihn ernstlich beunruhigte.

Mit Ende des Septembers pflegten der Marquis, die Marquise und deren Sohn das Besitzthum von Trelingar zu verlassen. Mußte er ihnen nach England [269] oder Schottland folgen, so schwand ihm jede Hoffnung, die Familie Mac Carthy wieder aufzufinden.

Außerdem lag ihm auch Birk am Herzen, den er auf keinen Fall verlassen wollte.

»Ich werde ihn behalten, versicherte eines Tages die freundliche Kat, ich werde schon für ihn sorgen.

– Ach ja, Sie haben ein gutes Herz, antwortete Findling, Ihnen könnte ich ihn anvertrauen, und wenn ich bezahle, was sein Futter kostet...

– Warum nicht gar! fiel ihm Kat ins Wort, so war es nicht gemeint!... Ich habe das arme Thier einmal gern...

– Und doch, er darf Ihnen nicht zur Last fallen. Wenn ich aber von hier mit weggehe, sehe ich ihn den ganzen Winter, ja vielleicht niemals wieder...

– Warum, mein Kind?... Wenn Du zurückkommst...

– Zurückkommen, Kat?... Bin ich denn so sicher, nach dem Schlosse zurückzukehren, wenn ich einmal daraus weg bin? Da unten... wohin sie gehen... da können sie mich ja fortschicken, oder... oder ich laufe vielleicht selbst davon...

– Was sagst Du da?

– Jawohl, ich gehe der Straße nach, wohin es Gott gefällt... wie ich es früher gethan habe.

– Armes Kind!... Armer Junge! seufzte die gute Frau.

– Ich frage mich auch, Kat, ob es nicht das beste wäre, sofort zu brechen... das Schloß mit Birk zu verlassen... mir irgendwo bei einem Farmer, nicht zu weit von hier und nahe der Küste, Arbeit zu suchen...

– Du bist ja noch nicht elf Jahre alt!

– Nein, Kat, noch nicht!... O, wenn ich zwölf oder dreizehn wäre... dann wär' ich groß... hätte ein Paar starke Arme und fände wohl Beschäftigung. Wie langsam schleichen die Jahre doch hin, wenn man unglücklich ist...

– Und wie lange dauern sie!« hätte die gute Kat antworten können.

Da ereignete sich ein Zufall, der dieser Ungewißheit ein plötzliches Ende machte.

Am 15. September war es, wo Lord und Lady Piborne also nur noch vierzehn Tage in Trelingar-castle verweilen sollten, und hier begann man bereits mit dem Einpacken. Im Gedanken an den Vorschlag der Kat bezüglich Birks, [270] mußte sich Findling fragen, ob Scarlett wohl auch den Winter über auf dem Schlosse bleiben würde. Ja, er blieb hier als oberster Verwalter des Besitzthums. Der in der nächsten Umgebung umherschweifende Hund konnte von ihm gar nicht unbemerkt bleiben, und niemals würde er der Wäscherin gestatten, jenen bei sich zu behalten. Die Kat mußte Birk sein Futter also heimlich zustellen, wie sie es schon einmal kurze Zeit gethan hatte. Erfuhr Scarlett aber gar, daß der Hund dem jungen Groom gehörte, dann hätte er sich gewiß beeilt, das dem Grafen Ashton zu hinterbringen, und dieser wieder hätte kein größeres Vergnügen haben können, als dem Thiere, wenn es ihm in den Weg kam, eine Kugel zwischen die Rippen zu jagen.

Am genannten Tage trollte Birk, entgegen seiner Gewohnheit, schon des Nachmittags in der Nähe der Wirthschaftsgebäude einher. Der Zufall – der unglückliche Zufall wollte es, daß einer der Hunde des Grafen Ashton, ein bissiger Wachtelhund, auf der Landstraße umherlief.

Sobald sie sich witterten, gaben die beiden Thiere durch dumpfes Knurren ihrer gegenseitigen feindlichen Stimmung Ausdruck. Schon ihrer Rasse wegen hätten sie sich schwerlich vertragen. Der Lords-Hund konnte für den Bauern-Hund nur tiefe Verachtung hegen, seine bissige Natur veranlaßte ihn aber zum Angriffe vorzugehen. Sobald er den ruhig am Waldessaume stehenden Birk erblickte, lief er, die Zähne fletschend, auf diesen zu.

Birk ließ ihn auf halbe Leibeslänge herankommen und behielt ihn scharf im Auge, um nicht überrascht zu werden, während er sich mit eingezogenem Schwanze selbst sprungfertig hielt.

Plötzlich, nach kurzem, wüthendem Gebell, stürzte sich der Wachtelhund auf Birk und biß ihn in die Seite. Was nun kommen mußte, kam. Mit einem Satze war Birk dem Feinde an der Kehle, die er ihm aufriß.

Das ging nicht ohne ein schreckliches Geheul ab. Die beiden andern, noch im Hofe befindlichen Hunde, schlugen ebenfalls an. Das machte Aufsehen, und sogleich kam der Graf Ashton mit dem Verwalter herzugelaufen.

Kaum aus dem Gitterthore, bemerkte er den Wachtelhund, der unter den Zähnen Birks röchelte.

Da!chrie er laut auf, wagte aber, aus Angst, dasselbe Los zu theilen, nicht, seinem Hunde zu Hilfe zu kommen. Sobald Birk den jungen [271] Mann bemerkte, machte er dem Wachtelhunde mit noch einem Bisse vollends den Garaus und ging dann, ohne sich zu beeilen, in den Wald hinter das Unterholz zurück.

Jetzt trat der junge Piborne mit Scarlett näher heran, und als sie auf dem Kampfplatze waren, fanden sie nur noch einen Cadaver.

»Scarlett!... Scarlett! rief der junge Graf. Mein Hund ist erwürgt!... Er hat ihn erwürgt... jene Bestie!... Wo ist er denn?... Kommen Sie... den finden wir wieder. Ich werde ihn tödten!«

Der Verwalter spürte sehr wenig Lust, die Verfolgung des Wachtelhundmörders aufzunehmen. Er hatte übrigens keine Mühe, den jungen Piborne etwa zurückzuhalten, denn dieser fürchtete sich ebenso vor einem Wiederauftauchen des schrecklichen Birk.

»Seien Sie vorsichtig, Herr Graf, sagte er, bringen Sie sich dieser wilden Bestie gegenüber nicht in Gefahr!... Die Jäger werden ihn schon gelegentlich abthun....

– Ja, wem gehört er denn eigentlich?

– Niemand!... Das ist einer der herrenlosen Hunde, wie sie die Landstraßen unsicher machen.

– Dann wird er uns entwischen....

– Das ist kaum anzunehmen, denn schon seit Wochen schleicht er in der Nähe des Schlosses umher.

– Seit mehreren Wochen, Scarlett?... Und mir hat das keiner gemeldet? Keiner hat uns von der Bestie befreit? Von diesem Thiere, das mir meinen besten Wachtelhund getödtet hat!«

Der so selbstsüchtige, fühllose junge Mann hegte doch für seine Hunde eine Zuneigung, die ihm kein Mensch hätte einflößen können. Der Wachtelhund war sein besondrer Liebling und steter Begleiter auf der Jagd gewesen – jedenfalls zu dem Lose bestimmt, einmal durch einen ungeschickten Schuß seines Herrn getödtet zu werden – und der Zahn Birks hatte ja sein Schicksal nur beschleunigt.

Wie dem auch sei, jedenfalls schlich der Graf Ashton, trostlos, aber wüthend und auf furchtbare Rache sinnend, nach dem Hofe zurück, wo er Befehl gab, daß der Körper des Wachtelhundes hereingeholt würde.


Der Wachtelhund stürzte sich auf Birk. (S. 271.)

Zum Glück war Findling nicht Zeuge dieser Scene gewesen. Vielleicht hätte er dabei das Geheimniß seiner Zusammengehörigkeit mit dem Mörder verrathen,[272] vielleicht wäre Birk auch auf ihn zugesprungen und hätte damit dasselbe gethan. Der Knabe hörte jedoch bald genug von dem Vorfalle. Ganz Trelingarcastle hallte wider von den Klagen des unglücklichen Grafen Ashton. Der Marquis und die Marquise bemühten sich vergeblich, den einstigen Erben ihrer Besitzthümer zu beruhigen. Der wollte aber auf nichts hören. Ehe das Opfer nicht gerächt war, gab es für ihn keinen Trost. Auch das auf Anordnung des Lords veranstaltete »ehrenvolle« Begräbniß des Hundes vermochte seinen Schmerz nicht zu lindern, und als jener nach einer Ecke des Parkes getragen und dort die [273] letzte Scholle Erde auf seine sterblichen Ueberreste hinabgerollt war, zog sich der Graf Ashton traurig und stumm nach seinem Zimmer zurück, das er den ganzen Abend nicht wieder verlassen sollte.

Die Unruhe, die unsern Findling quälte, kann man sich recht wohl leicht vorstellen. Vor dem Niederlegen hatte er noch eine geheime Unterredung mit der Kat, die sich wegen Birks nicht weniger geängstigt zeigte.

»Wir müssen auf der Hut sein, mein Junge, sagte die Frau, und vorzüglich nicht an den Tag kommen lassen, daß der Hund Dir gehört, das fiele auf Dich zurück... und ich weiß nicht, was daraus werden könnte.«

Findling dachte eigentlich kaum, daß er für den Tod des Wachtelhundes verantwortlich gemacht werden könnte, sondern nur daran, daß es für ihn nun sehr schwierig, wenn nicht unmöglich würde, für Birk zu sorgen. Da der Hund sich den jetzt überwachten Wirthschaftsgebäuden ungestraft nicht mehr nähern konnte, würde auch die Kat ihn des Abends schwerlich finden und heimlich Futter bringen können.

Der Knabe verbrachte eine schlechte Nacht – eine schlaflose Nacht, während er sich weit mehr um Birk als um sich selbst absorgte. Er überlegte auch, ob es für ihn nicht gerathen sei, den Dienst bei dem Grafen Ashton gleich morgen aufzugeben, und entschied sich nach Erwägung des Für und Wider, nun auszuführen, was ihn schon seit Wochen bewegte.

Erst gegen drei Uhr früh schlief er ein. Bei hellem Tag wieder erwachend, sprang er aus dem Bett, verwundert, heute von der Klingel seines Herrn nicht wie gewöhnlich gerufen worden zu sein.

Bei dem Entschlusse von der Nacht her sollte es jedenfalls bleiben. Am nämlichen Tage wollte er fortgehen unter der Angabe, daß er sich zu dem Dienste als Groom untauglich fühle. Niemand hatte ein Recht, ihn zurückzuhalten, und wenn er wegen seines Verlangens gescholten werden sollte, so fand er sich damit schon im Voraus ab. In der Erwartung, Knall und Fall weggejagt zu werden, zog er die Kleidung von der Farm her an, die zwar etwas abgenutzt, aber reinlich war, da er sie immer sorgfältig aufbewahrt hatte, und steckte die Börse mit seinem seit drei Monaten gesparten Lohn zu sich. Wenn er dann dem Lord Piborne seine Absicht, das Schloß zu verlassen, in höflichster Form mitgetheilt hätte, wollte er diesen auch noch um seinen halbmonatlichen Gehalt – bis zum 15. September – bitten, und endlich versuchen, der Kat Lebewohl zu sagen, ohne sie bloßzustellen. Hatte er dann Birk in der Nachbarschaft [274] aufgefunden, so würden beide – gleichmäßig befriedigt, von Trelingar-castle wegzukommen – auf und davon gehen.

Erst gegen neun Uhr kam Findling nach dein Hofe hinunter, wo er mit Verwunderung hörte, daß der Graf schon seit Sonnenaufgang ausgegangen sei. Sonst brauchte dieser stets seinen Groom, um ihm beim Ankleiden behilflich zu sein, was niemals ohne Nörgeleien und grobe Vorwürfe abging.

Zu dieser Verwunderung kam aber bald noch eine sehr gerechtfertigte Beunruhigung, als er bemerkte, daß weder Bill, der Piqueur, noch die Hunde da waren.

Kat stand eben an der Thür des Waschhauses und winkte ihn zu sich heran.

»Der Graf ist mit Bill und den beiden Hunden aufgebrochen, flüsterte sie ihm zu, sie wollen auf Birk Jagd machen.«

Vor Erregung und Ingrimm konnte Findling zuerst gar nicht antworten.

»Nimm Dich in Acht, mein Junge, setzte die Wäscherin hinzu. Der Verwalter beobachtet uns; es darf nicht sein....

– Es darf nicht sein, daß Birk getödtet wird, rief er endlich, da hab' ich auch ein Wort mit dreinzureden....

– Was sagst Du da, Groom, und was machst Du überhaupt hier?« fragte Scarlett, der einige Brocken des Gesprächs aufgefangen hatte.

Der Groom wollte sich in keine Verhandlung mit dem Schloßverwalter einlassen und erwiderte darauf ruhig:

»Ich wünsche nur mit dem Herrn Grafen zu sprechen.

– Das kannst Du, wenn er zurückkommt, erwiderte Scarlett, wenn er dem verwünschten Köter draußen eins aufs Fell gebrannt hat....

– Das wird er nicht thun, fiel Findling ein, der sich zwingen mußte, ruhig zu bleiben.

– Wirklich?...

– Nein, Herr Scarlett; und wenn er ihn aufjagt, sag' ich Ihnen, daß er das Thier nicht tödten wird.

– Und warum nicht?...

– Weil ich ihn daran hindern werde!

– Du?...

– Ich, Herr Scarlett! Jener Hund gehört mir und ich lasse ihn nicht tödten!«

[275] Während der Verwalter von dieser Erklärung noch ganz verblüfft dastand, stürmte Findling schon aus dem Hof und hatte bald den Saum des Waldes erreicht.

Hier zwängte er sich wohl eine halbe Stunde lang durch das Buschwerk, wobei er zuweilen innehielt, um zu hören, ob ihn ein Geräusch auf die Spur des Grafen Ashton führen könnte. Der Wald war todtenstill, und ein Gebell hätte von sehr weit her vernehmlich sein müssen. Nichts wies aber darauf hin, daß Birk von den Wachtelhunden des jungen Piborne etwa wie ein Fuchs gehetzt würde; ebensowenig konnte er sich klar werden, welche Richtung er wohl einzuschlagen hätte.

Das war eine Ungewißheit zum verzweifeln! Möglicherweise befand sich Birk, wenn die Hunde ihn verfolgten, schon sehr fern von hier. Wiederholt rief er dessen Namen in der Hoffnung, daß das treue Thier seine Stimme hören würde. Er fragte gar nicht, was er thun würde, um den Grafen Ashton und dessen Rüdenmeister an der Tödtung Birks zu verhindern, wenn ihnen dieser zum Schusse kam – er wußte nur, daß er ihn vertheidigen würde, und daß ihm die Kraft nicht fehlen würde, das zu thun.

So auf gut Glück weiter gehend, hatte sich Findling schon gegen zwei Meilen vom Schlosse entfernt, als er aus der Entfernung von einigen Hundert Schritten und hinter einer Gruppe großer Bäume, die neben einem Teiche aufragte, lautes Bellen hörte.

Findling blieb stehen: er hatte die Stimme der Wachtelhunde erkannt.

Ohne Zweifel war Birk jetzt aufgestöbert worden und vielleicht schon mit den vom Piqueur aufgehetzten Hunden in Kampf gerathen.

Bald ließen sich auch deutlich folgende Worte vernehmen:

»Achtung, Herr Graf!... Wir haben ihn!

– Ja, Bill... hierher... hierher!...

– Nun drauf, packt ihn!« rief Bill den Hunden zu.

Findling eilte nach der Stelle zu, woher der Lärm erschallte. Kaum hatte er zwanzig Schritte gemacht, als ein Knall die Luft erschütterte.

»Gefehlt!... Gefehlt! rief der Graf Ashton. Nun, Bill, schieße Du, nimm ihn gut aufs Korn!«

Ein zweiter Flintenschuß krachte und so in der Nähe, daß Findling den Blitz davon durch die Blätter aufleuchten sah.

»Der saß!« rief Bill, während die Wachtelhunde wüthend bellten.

[276] Als hätte die Kugel des Piqueurs ihn selbst getroffen, fühlte Findling seine Knie schwanken, und er wäre vielleicht zusammengesunken, als noch etwa sechs Schritte vor ihm ein Geräusch entstand und durch das Gebüsch ein Hund mit triefendem Fell und schäumendem Maule hervorbrach.

Das war Birk mit einer Wunde in der Seite, der sich nach dem Schusse des Rüdenmeisters in den Teich gestürzt hatte.

Birk erkannte seinen Herrn, der ihm die Schnauze zuhielt, um jeden Klagelaut zu ersticken, und ihn nach einem noch dichteren Gebüsche zog, da er fürchtete, daß die Wachtelhunde ihm nachkämen.

Doch nein. Erschöpft von der Hetzjagd und von einigen Bissen, die Birk ihnen zum Andenken mitgegeben hatte, folgten die Hunde jetzt Bill nach. Die Fährte des Grooms und Birks entging ihnen, obwohl sie so nahe an deren Versteck vorüberkamen, daß Findling deutlich hören konnte, was der Graf Ashton zu dem Piqueur sagte.

»Du bist überzeugt, ihn getödtet zu haben, Bill?

– Gewiß, Herr Graf... durch eine Kugel in den Kopf, als er ins Wasser sprang. Das wurde ja an der Stelle ganz roth, und jetzt liegt er tief unten, bis er wieder herauskommt....

– Ich hätte ihn gern lebend gehabt!« rief der junge Piborne.

Freilich, das wäre so nach dem rohen Geschmacke des Erben von Trelingar gewesen und hätte seinen Rachedurst befriedigt, wenn er selbst Birk hätte abthun oder von seinen Hunden zerfleischen lassen können, die ja an Grausamkeit ihrem Herrn nicht nachstanden.

6. Capitel
Sechstes Capitel.
Zwei zusammen achtzehn Jahre alt.

Findling athmete auf, wie vielleicht noch nie in seinem Leben... tief, erleichtert, als er den Grafen Ashton, den Piqueur und die Hunde verschwinden sah, und, fügen wir hinzu, Birk wohl auch, als Findling die Hände von seiner Schnauze losließ, indem er sagte:

[277] »Belle jetzt nicht... belle nicht, Birk!«

Und Birk bellte nicht.

Ein Glück war es, daß Findling an diesem Morgen, einmal entschlossen fortzugehen, seine alten suchen angezogen, sein Bündelchen geschnürt und die Börse eingesteckt hatte. Das ersparte ihm die Unannehmlichkeit, ins Schloß zurückzukehren, wo der Graf Ashton nun gewiß erfahren hatte, wem der Mörder des Wachtelhundes gehörte, und das hätte für den Groom natürlich eine schreckliche Scene heraufbeschworen. Mit seinem Fernbleiben verlor er freilich den Lohn für einen halben Monat, den er hatte beanspruchen wollen, doch ertrug er lieber diesen Verlust. Jetzt einmal aus dem Trelingar-castle heraus, fern von dem jungen Piborne und dem Verwalter Scarlett, dafür aber in Gesellschaft seines Hundes, dachte er nur daran, sich schnellstens aufzumachen.

Sein kleines Vermögen belief sich genau auf vier Pfund siebzehn Schillinge und sechs Peace – die größte Summe, die er je sein eigen genannt hatte. Er überschätzte diese jedoch keineswegs, denn er gehörte nicht zu den Kindern, die sich mit so wohlgefüllter Tasche schon für reich gehalten hätten; nein, er wußte, daß seine Ersparnisse schnell genug zu Ende gehen würden, wenn er sich nicht streng einschränkte, bis er Gelegenheit fände, sich irgendwo – natürlich mit Birk – ein Unterkommen zu sichern.

Die Verwundung des braven Thieres war zum Glück nicht schwer – eine einfache Hautverletzung, die voraussichtlich bald heilte. Als er auf Birk zielte, hatte sich der Piqueur als ebenso ungeschickt wie sein Herr bewiesen.

Die beiden Freunde wanderten nach Erreichung der Landstraße jenseits des Waldes schnellen Schrittes dahin, Birk vor Freude umherspringend, Findling etwas besorgt wegen der Zukunft.

Dieser ging jetzt aber keineswegs sozusagen ins Blaue hinein. Erst war ihm der Gedanke gekommen, sich nach Newmarket oder nach Kanturk zu begeben, welche beide Ortschaften er, die eine von seinem längeren Aufenthalte daselbst, die andere daher, daß er den jungen Piborne oft genug dahin begleitet hatte, genau kannte. Damit hätte er sich jedoch Begegnungen ausgesetzt, die besser vermieden wurden. So wußte er also recht gut, was er that, als er eine südliche Richtung einschlug. Einerseits entfernte er sich damit von Trelingar-castle nach einer Gegend zu, wo ihn keiner suchen würde, und andrerseits näherte er sich dem Hauptorte der Grafschaft Cork an der verkehrsreichen Bai gleichen Namens. Von da gingen die Schiffe aus... Handelsschiffe... große, wirkliche [278] Seeschiffe... nach allen Punkten der Erde, und nicht nur Küstenfahrer und Fischerbarken, wie in Westport oder Galway. Sein unwiderstehliches Interesse für alles, was mit dem Handel zusammenhing, übte auch jetzt auf ihn den gewohnten Reiz.

Sein Hauptziel, Cork, zu erreichen, erforderte freilich einige Zeit. Findling hatte an besseres zu denken, als sein Geld für Wagen oder Eisenbahn wegzugeben, denn es war ja nicht ausgeschlossen, daß er unterwegs, wie früher zwischen Limerick und Newmarket, einige Schillinge verdienen konnte. Dreißig Meilen sind für ein Kind von elf Jahren schon eine tüchtige Strecke, wozu er, etwaigen Aufenthalt in Farmen eingerechnet, wohl acht Tage gebrauchen würde.

Das Wetter war schön, für die Jahreszeit etwas kalt, und kein Schmutz oder Staub auf den Straßen, also lauter günstige Verhältnisse für eine Fußreise. Mit dem Filzhute auf dem Kopfe, Weste, Jacke und Beinkleider aus warmem Tuche, mit guten Schuhen mit Lederriemen, sein Packet unter dem Arme, sein Messer – das Geschenk von der Großmutter – in der Tasche und in der Hand einen Stock, den er sich an einer Hecke abgeschnitten hatte, machte Findling nicht den Eindruck eines Armen. Er mußte sich vielmehr vor unangenehmen Begegnungen hüten. Doch es genügte wahrscheinlich, daß Birk seine Zähne zeigte, um verdächtiges Gelichter von ihm fernzuhalten.

Am ersten Tage legte er, bei zweistündiger Rast, fünf Meilen zurück und hatte dabei einen halben Schilling ausgegeben. Für zwei, ein Kind und einen Hund, war das ja nicht viel und dafür gab es nur knappe Portionen von Speck und Kartoffeln. Deshalb dachte Findling aber keineswegs mit Bedauern an die Küche in Trelingar-castle zurück. Am Abend schlief er etwas jenseits des Fleckens Baunteer mit Erlaubniß des Farmers in einer Scheune und wanderte, nach einem frugalen Frühstück, das ihm wenige Pence kostete, am nächsten Tage rüstig weiter.

Das Wetter hielt sich noch ziemlich im gleichen, doch der Weg, der mehr aufwärts führte, wurde schon mühsamer. Dieser Theil der Grafschaft Cork hat eine sehr wechselnde Oberfläche. Die von Kanturk nach dem Hauptorte führende Straße durchschneidet das verwickelte Gelände der Boggeraghberge mit steilen Pfaden und vielfachen Windungen. Findling brauchte nur dem Wege nachzugehen, so konnte er sich nicht verirren. Uebrigens besaß er ein Orientierungsvermögen wie ein Chinese oder ein Fuchs, und außerdem begegnete er wiederholt von den Feldern und Wiesen kommenden Landleuten oder auch Wagen, die von[279] dem einen Dorfe nach dem andern fuhren. Wenn nöthig, hätte er sich also stets nach der einzuschlagenden Richtung erkundigen können, er zog es aber vor, nicht erst die Aufmerksamkeit andrer zu erwecken.


Findling hielt ihm die Schnauze zu. (S. 277.)

Nach einem halben Dutzend schnellen Schrittes zurückgelegter Meilen kam er nach Derry-Gounva, einem kleinen Orte, wo die Landstraße die Bergmasse der Boggeraghs schneidet. Hier fragte ihn in einer Schänke ein Fremder, der eben zu Abend essen wollte, woher er käme, wohin er ginge und wann er wieder aufbrechen wolle. Offenbar befriedigt durch die Antworten des [280] Knaben, bot er diesem an, seine Mahlzeit mit ihm zu theilen, und zwar mit solcher Herzlichkeit, daß Findling es ohne Zögern annahm. Er stärkte sich dabei ordentlich und Birk wurde von dem freundlichen Amphytrio auch nicht vergessen. Es war schade, daß der Fremde nicht in Cork zu thun hatte, denn er hätte dem Knaben gewiß einen Platz in seinem Wagen angeboten; er begab sich aber nach dem Norden der Grafschaft.

Nach ruhig verbrachter Nacht verließ Findling Derry-Gounva mit Tagesanbruch wieder und betrat nun die Engpässe der Boggeraghs.

[281] Dieser Tag wurde anstrengend. Ein steifer Wind heulte durch die bewaldeten Bergeshänge. Zwar aus Südwest kommend, strich er durch die Windungen der Pässe doch je nach deren Richtung hin. Findling hatte ihn immer gerade ins Gesicht, ohne, wie ein Schiff, in der Lage zu sein, dagegen aufzukreuzen. Zuweilen mußte er sich gar an Büschen neben dem Wege festhalten, um über eine scharfe Ecke wegzukommen – kurz, hier ging es unter großer Anstrengung langsam vorwärts. Jetzt hätte ihm ein Wagen, ein Jaunting-car, gute Dienste geleistet; leider traf er keinen solchen an. Diese Gegend der Boggeraghs hat wenig Verkehr. Nach den Dörfern im Lande kann man gelangen, ohne sich in diese Irrgänge zu wagen. Auch Fußgänger sah Findling kaum, und diese hielten dann die entgegengesetzte Richtung ein.


Findling brauchte sich nur zu bücken. (S. 284.)

Der Knabe nebst seinem Hunde mußte sich wiederholt einmal niederlegen, um auszuruhen. Im Laufe des Nachmittags überschritt er, etwas schneller gehend, den höchsten Punkt des Bergrückens, hatte im ganzen aber doch nur vier bis fünf Meilen hinter sich gebracht. Das war ein anstrengender Wandertag. Jetzt, nach Ueberwindung des schlimmsten, hoffte er binnen zwei Stunden die Ostseite des Gebirgsrückens zu erreichen.

Es wäre vielleicht unklug gewesen, nach Sonnenuntergang weiter zu marschieren. Auf diesen hohen Abhängen wird es schnell Nacht und schon von sechs Uhr ab herrscht daselbst tiefe Dunkelheit. So war es wohl besser, auf der Stelle Halt zu machen, da sich keine Farm und kein Gasthaus zeigte. Es war hier sehr öde, eine Art Einschnitt der Landstraße, und Findling fühlte sich nicht besonders sicher. Zum Glück hatte er in Birk einen scharfen und treuen Wächter, auf den er sich wohl verlassen konnte.

In dieser Nacht diente ihm als Obdach nur eine enge Aushöhlung in der Felsenwand des Abhanges, die ein Vorhang von Mauerkraut fast abschloß. Da schlüpfte er hinein und streckte sich auf dem weichen, trocknen Erdboden aus. Birk legte sich zu seinen Füßen nieder, und beide schlummerten unter der Obhut Gottes ein.

Am folgenden Tag ging es frühzeitig wieder vorwärts. Das Wetter war unsicher, feucht und kalt geworden. Noch eine Strecke von fünfzehn Meilen, und Cork mußte am Horizonte auftauchen. Um acht Uhr waren die Engpässe der Boggeraghs überwunden und nun fiel der Weg merkbarer. Die beiden gingen schnell, sie hatten aber Hunger. Der Vorrathsbeutel wurde allmählich leer. Birk trottete herüber und hinüber auf der Straße und suchte mit der Nase [282] an der Erde nach Nahrung. Dann kam er zu seinem Herrn zurück, den er ansah, als wollte er sagen:

»Nun, giebt's denn heute gar nichts?

– Bald, warte nur noch ein wenig,« antwortete Findling.

Gegen zehn Uhr machten beide in einem Weiler, Zehn-Meilen-Haus genannt, Halt.

Hier wurde der Geldbeutel des jungen Wandrers in dem bescheidenen Gasthofe um einen Schilling erleichtert, wofür er das gewöhnliche irische Essen erhielt, nämlich Kartoffeln, Speck und ein großes Stück von dem rothen »Cheddarkäse«. Birk bekam ein gutes Futter, sogar mit etwas Fleischbrühe dran. Nachher ruhten beide ein wenig aus und machten sich dann mit frischen Kräften auf den Weg. Die Gegend war noch immer hügelig, doch da und dort angebaut, und die Bauern fuhren die in diesem Klima sich verspätigende Gersten- und Roggenernte ein.

Findling befand sich also nicht allein auf der Straße; er bot den vorüberkommenden Landleuten einen Guten Morgen. und diese erwiderten treuherzig seinen Gruß. Kinder waren kaum zu sehen – wenigstens nicht solche, die um einen Copper bettelnd jedem Wagen nachliefen. Freilich kamen auch nur selten Touristen in diese Gegend, das Geschäft wäre also nicht lohnend gewesen, obwohl es Findling nicht übers Herz gebracht hätte, einem armen Kinde das erbetene Almosen zu verweigern.

Um drei Uhr nachmittags erreichten sie den Punkt, von wo aus die Landstraße sieben bis acht Meilen weit neben einem Flusse oder größeren Bache hin verläuft. Es war das die Dripsey, ein Zufluß der Lee, die sich in einer der südwestlichsten Baien verliert.

Wollte er die Nacht nicht wieder unter freiem Himmel zubringen, so mußte Findling noch bis zu dem, von Cork nur noch drei bis vier Meilen entfernten Flecken Woodside zu gelangen suchen. Das war von hier noch eine große Strecke, die er jedoch noch zurücklegen zu können glaubte.

»Also vorwärts, sagte er für sich, tüchtig ausschreitend. Da unten werd' ich ja Zeit haben, um ausruhen zu können.«

Zeit... ja, daran würde es ihm wohl nicht fehlen, wenn nur sein Geld ausreichte. Doch darum beunruhigte er sich nicht. Er besaß ja vier Pfund in gutem Gelde, ohne die Pence, die noch darüber waren. Mit einem solchen Schatze konnte er ja wochenlang wandern.

[283] Der Himmel ist bedeckt; der Wind hat sich gelegt. Wenn es anfinge zu regnen, ohne daß man ein andres Obdach hat als vielleicht einen Heuhaufen, so ist das kein besondres Vergnügen, wenn man in einem der Gasthöfe von Woodside ein trocknes Fleckchen finden kann.

Findling und Birk beeilten sich nach Kräften und waren etwas vor sechs Uhr abends nur noch drei Meilen von ihrem heutigen Ziele entfernt, als Birk ganz auffällig zu knurren anfing.

Findling blieb stehen und sah nach der Straße hinaus, bemerkte aber nicht das geringste.

»Was hast Du denn, Birk?«

Birk bellte jetzt schwach und lief dann rechts nach dem Flusse zu, dessen Ufer nur gegen zwanzig Schritte entfernt war.

»Er hat wahrscheinlich Durst, dachte Findling, und ich möchte in der That auch einmal trinken.«

Damit wandte auch er sich der Dripsey zu, als der Hund, laut anschlagend, eben in das Wasser sprang.

Höchst erstaunt sprang der Knabe mit einigen Sätzen an das Ufer und wollte seinen Hund rufen....

Da gewahrte er den Körper eines Kindes, der von der Strömung hinweggeführt wurde. Der Hund hatte ihn an den Kleidern oder vielmehr an seinen Lumpen gepackt. Die Dripsey ist aber voller Wirbel und deshalb ein recht gefährliches Wasser. Birk bemühte sich, ans Ufer zurückzuschwimmen, was ihm nur schwer gelingen zu sollen schien, da das Kind sich krampfhaft an dem Thiere festhielt.

Findling konnte schwimmen; Grip hatte es ihm ja seiner Zeit gelehrt. Jetzt warf er ohne Zögern die Jacke ab, doch da erreichte Birk mit einer letzten Anstrengung das Ufer.

Findling brauchte sich nur zu bücken und das Kind an der Kleidung zu fassen, um es in Sicherheit zu bringen, während der Hund sich freudig bellend schüttelte.

Das Kind war ein Knabe von höchstens sechs bis sieben Jahren. Die Augen hatte er geschlossen, der Kopf hing schlaff herab und das Bewußtsein hatte er verloren....

Wie erstaunte Findling aber, als er dem Kleinen die herabhängenden nassen Haare aus dem Gesicht gestrichen hatte....

[284] Das war ja der hübsche Bursche, den der Graf Ashton vor kaum zwei Wochen so rücksichtslos mit der Peitsche geschlagen hatte, und wobei Findling für seine mitleidige Intervention von dem jungen Piborne so heftig ausgescholten wurde.

Seit vierzehn Tagen irrte das arme Kind plan- und ziellos auf der Landstraße umher. Im Laufe des Nachmittags mochte er an die Dripsey gekommen sein... hatte wohl seinen Durst löschen wollen, war dabei ausgeglitten und vom Strome fortgerissen worden, und jetzt wäre er jedenfalls, wenn Birk ihn nicht in letzter Minute rettete, in einem Wasserwirbel versunken.

Nun galt es, den Knaben wieder zu sich zu bringen, was Findling so gut wie möglich versuchte.

Das arme, bedauernswerthe Wesen! Sein schmales Gesicht, der hagere, fleischlose Körper, alles verrieth, was es gelitten haben mochte: Anstrengung, Kälte und Hunger! Der Leib des Kleinen war eingesunken, wie ein leerer Sack. Wie sollte er ihn nun wieder zum Bewußtsein bringen? Jedenfalls mußte er zuerst von dem verschluckten Wasser befreit werden, dann wollte Findling ihm Mund auf Mund Luft einblasen. – Wirklich that das Kind nach kurzer Zeit wieder einen ersten schwachen Athemzug, dann schlug es die Augen auf und über seine Lippen kamen die klagenden Worte:

»Ich habe Hunger... ach. ich habe solchen Hunger!«

I am hungry! Das ist der Ausruf des Irländers, den er während seines ganzen Lebens und noch, wenn ihm die Augen schon brechen, vernehmen läßt.

Findling besaß noch einigen Mundvorrath. Aus Brod und Speck machte er zwei bis drei Bissen und schob sie dem Knäblein in den Mund, der sie gierig verschlang. Er mußte ihn mäßigen, sonst wäre er erstickt. Die Speise glitt in ihn hinein, wie die Luft in eine vorher luftleere Flasche.

Mühsam richtete er sich auf. Sein Blick haftete auf Findling, er schien sich unklar, dann rief er ihn erkennend:

»Du?... Du? murmelte er.

– Ja... Du erinnerst Dich also....

– Ach ja... auf der Straße... ich weiß nicht wann....

– Ich... weiß es... mein Junge....

– O, verlasse mich nicht!

– Nein, nein; ich begleite Dich. Wohin wolltest Du gehen?

– Weiß nicht... der Straße nach....

[285] – Wo wohnst Du denn?

– Wohnen?... Nirgends....

– Wie bist Du denn in den Fluß gefallen?... Hast wohl trinken wollen?

– Nein.

– So bist Du nur ausgeglitten?

– Nein. Ich bin... mit Willen hineingefallen!

– Absichtlich?

– Ja... ja... jetzt thu' ich's aber nicht wieder, wenn Du bei mir bleibst....

– Beruhige Dich. ich bleibe bei Dir!«

Findling traten die Thränen in die Augen. Mit sieben Jahren der entsetzliche Gedanke, sterben zu wollen!... Die Verzweiflung trieb dieses Kind in den Tod, die Verzweiflung, die aus der Entblößung von allem, aus dem Verlassensein, aus dem Hunger emporwuchert!

Das Kind hatte die Augen wieder geschlossen. Findling hielt es für angezeigt, jetzt mit weiteren Fragen zurückzuhalten. Dazu war später Zeit. Die Geschichte des Kleinen kannte er ja schon, es war doch die aller dieser armen Geschöpfe... war seine eigne.... Ihm freilich war, Dank seiner ungewöhnlichen Energie, nie der Gedanke gekommen, seinem Elend auf diese Weise ein Ende zu machen.

Jetzt galt es eine Entscheidung. Das Kind war nicht imstande, noch mehrere Meilen bis Woodside zu gehen, und Findling hätte es nicht bis dahin tragen können. Außerdem brach die Nacht schon an, und da schien es das nöthigste, einen Schutz zu finden. In der Nähe war kein Gasthaus zu sehen, auf der Dripsey neben der Straße zeigte sich kein Boot. Zur Linken stand dichter Wald. Hier mußten sie also wohl die Nacht am Fuße eines Baumes hinbringen, auf einer Streu von Blättern und, wenn nöthig, neben einem Feuer aus dürrem Holze. Mit Sonnenaufgang und wenn das Kind wieder mehr bei Kräften war, konnten sie Woodside oder Cork unschwer erreichen. Für heute Abend war genug zu essen da und es blieb auch noch ein wenig zum Frühstück für morgen übrig.

Findling nahm den vor Müdigkeit eingeschlafenen Knaben in die Arme. Birk hinter sich ging er quer über die Straße und zwanzig Schritte in den Wald hinein, wo es unter den hundertjährigen Buchen, deren es in Irland unzählige giebt, schon sehr dunkel war.

[286] Wie freute er sich da, einen geneigt stehenden und vom Alter ausgehöhlten Stamm zu entdecken! Das war eine Art Wiege oder richtiger ein Nest, in das er seinen kleinen Vogel niederlegen konnte. Die Höhlung war unten mit gleich Sägespänen weichem Staub bedeckt, und wenn er noch einen Arm voll dürrer Blätter darüber breitete, war das schönste Bett fertig. Beide konnten darin Platz und ein warmes Lager finden, so daß das Kind sogar im Schlafe fühlen würde, daß es nicht mehr allein sei.

Bald darauf war der Knabe in dieser Aushöhlung untergebracht. Die Augen öffnete er vorläufig nicht wieder. doch athmete er sanft und fiel schnell in tiefen Schlaf.

Findling trocknete nun die Kleidungsstücke, die sein Schützling – der Schützling des Knaben von elf Jahren! – morgen wieder anziehen sollte. Nachdem er mit trocknem Holz ein Feuer angezündet hatte, rang er die Lumpen aus und hing sie dann in der Nähe der Gluth an einem niedrigen Buchenaste auf.

Jetzt war es Zeit, ans Essen zu denken. Der Hund bekam auch seinen Antheil an Brod und Kartoffeln – zwar nicht viel, doch er beklagte sich deshalb nicht. Sein junger Herr streckte sich nun in dem hohlen Buchenstamme aus und schlief, den Arm um den Knaben gelegt und vom treuen Birk bewacht, auch endlich ein.

Am nächsten Tage, dem 18. September, erwachte das Kind zuerst, höchst verwundert, in einem so guten Bette zu liegen. Birk kläffte es schweifwedelnd an... er hatte sich doch auch um die Rettung des Kleinen verdient gemacht.

Findling schlug sofort die Augen auf, und der Knabe warf sich ihm um den Hals.

»Wie heißest Du? fragte er.

– Findling. Und Du?...

– Bob.

– Nun so komm, Bob, zieh' Dich an.«

Bob ließ sich das nicht zweimal sagen. Er erinnerte sich kaum daran, gestern ins Wasser gegangen zu sein. Jetzt hatte er ja eine Familie, einen Vater, der ihn nicht verlassen würde, wenigstens einen großen Bruder, der ihn einmal auf der Straße nach Trelingar-castle mit einer Handvoll Coppers erfreut hatte. Er ließ sich mit der seinem Alter eignen Vertrauensseligkeit gehen, mit jener natürlichen Vertraulichkeit, die man bei irischen Kindern gewöhnlich [287] antrifft. Andrerseits erschien es Findling, daß das Zusammentreffen mit Bob ihm nun Pflichten, gleichsam Vaterpflichten, auferlegt habe.

Und wie glücklich war Bob, ein weißes Hemd unter seinen trocknen suchen zu fühlen! Wie machte er die Augen – doch auch den Mund – weit auf vor einer Schnitte Brod, einem Stück Käse und einer warmen Kartoffel, die in der Asche des Feuers geröstet worden war! Dieses Frühstück zu zweien war vielleicht das beste, das er seit seiner Geburt genossen hatte.

Seit seiner Geburt?... Seinen Vater hatte er zwar nicht, wohl aber – glücklicher als Findling – seine Mutter gekannt, die vor zwei bis drei Jahren, genauer wußte Bob es nicht, aus Mangel und Entbehrung gestorben war. Nachher hatte man ihn in der Armenanstalt einer nicht zu großen Stadt, auf deren Namen er sich nicht besann, untergebracht. Später war jene Anstalt wegen fehlender Geldmittel geschlossen worden, und Bob sah sich, er wußte nicht warum, auf die Straße geworfen, ebenso wie die andern Kinder, die meist auch keine Eltern hatten. Von da an lebte er auf der Landstraße, schlief wo er ging und stand, und aß, wenn... er konnte, bis zu dem Tage, wo ihm nach achtundvierzigstündigem Fasten der Gedanke kam, in den Tod zu gehen.

Das war seine Geschichte, die er erzählte, während er die große Kartoffel verzehrte, und diese Geschichte klang ja nicht neu für einen früheren Pflegling der Hard, der darauf bei Thornpipe »zur Kurbel« erniedrigt und schließlich als »Zögling« in die Ragged-School gesteckt worden war.

Mitten im Plaudern veränderten sich plötzlich die Gesichtszüge Bobs, seine sonst so lebhaften Augen erloschen und er wurde ganz bleich.

»Was fehlt Dir? fragte Findling theilnehmend.

»Du läßt mich nicht wieder allein, nicht wahr?« murmelte er.

Das war seine schlimmste Befürchtung.

»Nein... Bob..

– Und... wohin führst Du mich denn?

– Ja... dahin, wohin ich selbst gehe!«

Das Wohin verlangte Bob nicht weiter zu wissen, ihm war's ja genug, daß Findling ihn mitnahm.

»Doch Deine Mama... Dein Papa?...

– Ich habe keine....

– O, rief Bob, da werd' ich Dich desto mehr lieb haben dürfen.

[288] [291]– Ich Dich auch, mein Junge; wir wollen schon versuchen, zusammen durchzukommen.

– Ei, Du sollst einmal sehen, sagte Bob, wie ich den Wagen nachlaufe, und was ich da an Coppers bekomme, das geb' ich Dir.«

Der Knabe hatte bisher nichts andres zu thun gewußt.


Der Markt für Lebensmittel in Cork. (S. 294.)

»Nein, Bob; den Wagen muß man nicht nachlaufen.

– Warum denn nicht?

– Weil es nicht recht ist, zu betteln.

– Ach!... stieß Bob nachdenklich werdend hervor.

– Sag' mir, hast Du ein Paar gute Beine?

– Ja, aber groß sind sie nicht.

– Nun, wir haben heute einen tüchtigen Marsch vor uns, wenn wir die Nacht schon in Cork schlafen wollen.

– In Cork?...

– Ja freilich... das ist eine schöne Stadt da unten... mit Schiffen...

– Schiffen... ja ich weiß.

– Und am Meere gelegen. Hast Du das Meer schon gesehen?

– Nein, noch nicht.

– Das wirst Du auch zu sehen bekommen... o, das ist groß!... Nun vorwärts!«

Beide brachen auf und Birk trabte lustig vor ihnen her.

Zwei Meilen weiter hin verläßt die Straße das Ufer der Dripsey und begleitet dafür das der Lee, die in der Bai von Cork ausmündet. Hier erschienen einige Wagen mit Touristen, die sich nach den Berggegenden der Grafschaft begaben.

Aus alter Gewohnheit sprang Bob diesen nach und rief: »Copper... Copper!«

Findling holte ihn zurück.

»Ich habe Dir gesagt, Du sollst das unterlassen, sagte er.

– Warum denn?

– Weil es unrecht ist, um Almosen zu betteln.

– Auch wenn man's thut, um etwas zu essen zu haben?«

Findling antwortete nicht und Bob fühlte sich sehr beunruhigt wegen seines Frühstücks, bis er in einem Gasthause der Landstraße am Tische saß. Hier thaten sich für sechs Pence drei – der große Bruder, der kleine Bruder und der Hund – gütlich.

[291] Bob konnte kaum seinen Augen trauen: Findling besaß ja einen Geldbeutel mit Schillingen darin, und von diesen blieb noch übrig, als die Rechnung des Wirthes bezahlt war.

»Woher hast Du denn das schöne Geld?

– Das hab' ich verdient, Bob, durch ehrliche Arbeit....

– Durch Arbeit?... O, ich möchte wohl auch arbeiten, ich weiß aber nicht, wie ich's anfangen soll.

– Das werd' ich Dir lehren, Bob.

– Gleich jetzt?

– Nein; erst wenn wir da unten sind.«

Wollten sie am Abend in Cork eintreffen, so war keine Minute zu verlieren. Findling und Bob machten sich also wieder auf den Weg und gingen so schnell, daß sie zwischen vier und fünf Uhr in Woodside waren. Hier kehrten sie nicht wieder ein, da es gerathener schien, nun gleich bis zu der nur noch drei Meilen entfernten Hafenstadt zu wandern.

»Du bist doch nicht zu müde, mein Junge? fragte Findling.

– Ach nein... es geht... es geht an,« versicherte das Kind.

Nachdem sie sich noch einmal durch etwas Nahrung gestärkt hatten, setzten beide ihre Wanderung fort.

Um sechs Uhr erreichten sie eine der Vorstädte Corks. Hier fanden sie bei einem Gastwirth Nachtlager und schliefen einer im Arme des andern hoffnungsfreudig ein.

7. Capitel
Siebentes Capitel.
Sieben Monate in Cork.

Sollte Findling nun in Cork, der Hauptstadt der Provinz Munster, sein Glücksstern aufgehen? Die dritte Stelle in Irland einnehmend, zeichnet sich diese Stadt durch ihren Handel, ihre Industrie, doch auch durch wissenschaftliches [292] Streben aus. Doch was konnte alles das einem Knaben von elf Jahren im Beginn seiner selbstständigen Laufbahn nützen? Er war ja vielleicht nur hierher gekommen, um die Zahl der Elenden, von denen es in den Seestädten des Vereinigten Königreichs wimmelt, noch weiter zu vermehren.

Findling hatte nach Cork gewollt, er war jetzt da, freilich unter wenig günstigen Verhältnissen zur Durchführung seiner Zukunftspläne. Einst, als er noch auf dem Strande bei Galway umherschweifte, und später, als Pat Mac Carthy von seinen Reisen erzählte, da begeisterte er sich für das einträgliche Handelswesen. Waaren im Auslande zu kaufen und sie daheim theurer wieder abzusetzen... welch schöner Traum! Seit dem Weggange von Trelingar-castle hatte er aber tiefer nachdenken gelernt. Um aus dem Kinde vom Armenhaus in Donegal einen Befehlshaber eines schönen, tüchtigen Schiffes zu machen, das die Weltmeere durchkreuzte, mußte er von unten beginnen, als Schiffsjunge, als Leichtmatrose, als Vollmatrose und als Bootsmann dienen, dann erst konnte er hoffen, Officier und Kapitän für lange Fahrt zu werden. Jetzt aber, wo er für Bob und Birk zu sorgen hatte, war an so etwas nicht zu denken. Was hätte auch aus beiden werden sollen, wenn er sie verließ? Da er – mit Hilfe Birks – Bob das Leben gerettet hatte, fühlte er sich verpflichtet, es ihm zu erhalten.

Am folgenden Tage einigte sich Findling mit dem Wirthe über den Miethzins für eine Dachkammer mit einfacher Strohmatratze, der übrigens nicht hoch war, nämlich zwei Pence, an jedem Morgen zu zahlen. Ihre Mahlzeiten wollten sie einnehmen, wo sich das gerade machen ließ. So gingen die beiden Knaben mit dem Hunde aus, als die Sonne eben die Morgennebel zerstreute.

»Und die Schiffe?... fragte Bob.

– Welche Schiffe?

– Die von denen Du mir gesprochen hast.

– Warte nur, bis wir an den Fluß kommen.«

Nun trollten sie durch eine ausgedehnte Vorstadt von etwas ärmlichem Aussehen dahin, um die Schiffe zu suchen. Bei einem Bäcker unterwegs wurde ein Stück Brod erkauft. Wegen Birks brauchten sie sich nicht zu beunriihigen – der fand schon sein Futter in den Abraumhaufen auf den Straßen.

Am Quai der Lee, die Cork mit zwei Armen um faßt, lagen wohl einige Barken, doch keine Schiffe – wenigstens nicht solche, die den Canal Saint-Georges oder das irische Meer und gar den Atlantischen Ocean hätten überschreiten können.

[293] Der eigentliche Hafen liegt auch weiter stromabwärts bei Queenstown, dem alten Cowes, und dahin kann man mit mittelst rascher Dampffähre bequem und billig gelangen.

Bob an der Hand führend, betrat Findling nun die eigentliche Stadt.

Auf der Hauptinsel des Flusses erbaut, verbinden sie mehrere Brücken mit dem Festlande. Andre, weiter oben oder unten gelegene Inseln sind in Spaziergänge und Gärten verwandelt, die das herrlichste Grün und erquickenden Schatten bieten. Da und dort erheben sich einzelne Denkmäler, daneben eine stillose Kathedrale mit sehr altem Thurme, die Kirchen Sainte-Marie und Saint-Patrick. An Kirchen fehlt es in Irland überhaupt nicht, auch nicht an Armen- und Krankenanstalten und Workhouses. Im Lande Erins giebt es recht viele fromme Leute, doch auch ebenso viele Arme. Der Gedanke, etwa in eine solche Armenanstalt zurückkehren zu müssen, erfüllte Findling mit Abscheu und Schrecken. Ja, da hätte er das Queenscollege, ein prächtiges Gebäude, weit vorgezogen. Um da Aufnahme zu finden, wird freilich etwas mehr verlangt, als lesen, schreiben und rechnen zu können.

Die Straßen der Stadt waren ziemlich belebt... belebt von Leuten, die schon frühzeitig ihre Arbeit beginnen; jetzt öffneten sich die Läden oder die Thüren der Häuser, aus denen die Dienstmädchen, den Besen in der Hand oder einen Korb am Arme, heraustraten, jetzt knarrten viele Wagen und zeigten sich viele Hausierer mit ihren zur Schau gelegten Kleinwaaren, und es summte auf den Märkten, wo die Lebensmittel für eine Bevölkerung von hunderttausend Seelen – Queenstown eingerechnet – feilgeboten werden. Auf dem Wege durch das Handels- und Industrieviertel sah man Fabriken für Leder, Papier und Tuche, Brennereien und Brauereien u. s. w., vom wirklichen Hafen- und Seeleben aber noch nichts.

Nach einem angenehmen Spaziergange ließen sich Findling und Bob auf der Steinbank an der Ecke eines großen Gebäudes nieder. Hier »roch« es schon mehr nach Welthandel, denn hier lagerten Salzfleisch, scharfe Gewürze, Colonialwaaren aller Art, und auch Butter, wofür Cork ein Hauptmarkt nicht nur für das Vereinigte Königreich, sondern fast für ganz Europa ist. Findling sog den ihm fremden Duft mit größtem Wohlbehagen ein.

Das betreffende Gebäude erhob sich an der Vereinigung der beiden Arme der Lee, die von hier aus vereinigt nach der Bai hinabströmen. Jenes war das Zollamt mit seinem unaufhörlichen Menschenverkehr. Von diesem Zusammenflusse [294] aus spannt sich keine Brücke mehr über den Strom, und so findet die Schiffahrt keinerlei Hindernisse zwischen Queenstown und Cork.

Ebenso wie er vorher nach den Schiffen gefragt hatte, rief Bob jetzt:

»Nun, aber das Meer?«...

Ja, das Meer, das ihm sein großer Bruder versprochen hatte....

»Das Meer ist weiter draußen, Bob; dahin werden wir schon auch noch kommen.«

Dazu brauchten sie nur eins der Fährboote zu besteigen, die den Verkehr in der Bai vermitteln; das ersparte ihnen Zeit und Mühe. Das Fahrgeld für zwei Personen betrug nur wenige Pence. Das konnten sie sich am ersten Tage wohl erlauben, zumal da Birk ganz frei mitfuhr.

Wie freute sich Findling, auf der Lee in dem schnellen Dampfboote hinabzugleiten. Er gedachte dabei der vornehmen Familie der Piborne's und ihres Besuchs auf der Insel Valentia, hinter der das weite, weite Meer sich ausdehnte. Während der Fahrt kamen Schiffe von jeder Größe vorüber. An den Ufern lagen große Speicher, Badeanstalten und Schiffswerfte, die die auf dem Vorderdeck des Fährschiffes sitzenden Knaben mit Interesse betrachteten.

Schließlich gelangten sie nach Queenstown, einem schönen, acht bis nenn Meilen langen, und von Ost nach West gegen sechs Meilen breiten Hafen.

»Ist das nun das Meer? fragte Bob.

– Nein, kaum ein Stückchen davon, erwiderte Findling.

– Da ist es also wohl noch größer?

– Gewiß. Man kann kein Ende desselben sehen.«

Da das Fährboot aber nur bis Queeastown ging, kam Bob das, wonach er sich so sehr sehnte, jetzt nicht vor Augen.

Schiffe jeder Größe gab es hier zu Hunderten, solche der langen Fahrt ebenso wie Küstenfahrzeuge. Das erklärte sich damit, daß Queenstown nicht nur ein Ankerplatz, sondern auch ein Provianthafen ist. Die großen transatlantischen Dampfer der englischen oder amerikanischen Linien, die von den Vereinigten Staaten kommen, liefern hier die Postbeutel für England ab, die dadurch einen halben Tag früher eintreffen. Dann steuern die Dampfer weiter nach London, Liverpool, Cardiff, Newcastle, Glasgow, Milford und nach andern Häfen des Vereinigten Königreichs, kurz, es herrscht hier ein Schiffsverkehr, der sich auf zwölfhunderttausend Tonnen beläuft.

[295] Bob verlangte nach Schiffen.... Niemals jedoch hätte er geahnt, daß es deren so viele gebe – Findling übrigens auch nicht – die einen verankert oder von Tauen gehalten, die andern ein- oder ausfahrend, die einen von überseeischen Ländern herkommend, die andern nach weit entfernten Ländern aussegelnd, die hier in vollem Schmuck ihrer sich vor der Brise aufblähenden Segel, und die dort wieder, das Wasser der Bai von Cork mit ihren mächtigen Schrauben aufwirbelnd.


Birk mit einem Zeitungsblatte zwischen den Zähnen. (S. 299.)

Und während Bob mit fast verdutzten Augen das rege Leben auf der Bai betrachtete, grübelte Findling über die Handelsthätigkeit, die sich vor seinen [296] Blicken entrollte, über die reichen Ladungen im Raume jener Schiffe, die Baumwollen- und Wollenballen, die Weintonnen, die Gefäße mit Alkohol, über die Säcke mit Zucker, die Kisten mit Kaffee, und er sagte sich, daß alles das gekauft und verkauft werde... daß das ein richtiges Abbild der Handelsthätigkeit darstelle.

Auf dem Quai von Queenstown zu lange zu verweilen, hier, wo so vieles Elend neben so großen Reichthümern sichtbar ist, hätte ihnen auch nichts nützen können. Mit Schrecken sahen sie da und dort große Haufen von [297] »Mudlarks«, kleinen, armen Kindern und alten elenden Frauen, die den von der Ebbe freigelegten Schlamm durchwateten, und an den Straßenecken andre Unglückliche, die sich mit den Hunden um einige Abfälle stritten.

So bestiegen beide wieder das Fährboot und kehrten nach Cork zurück. Die Spazierfahrt war unterhaltend und belehrend gewesen, hatte aber viel gekostet. Vom nächsten Tage ab galt es nun daran zu denken, etwas mehr zu verdienen als auszugeben, wenn die kostbaren Guineen nicht zusammenschmelzen sollten, wie ein Stück Eis in der warmen Hand.


Sie fühlten das Verlangen, deren Deck zu betreten. (S. 302.)

Wir wollen nicht auf alle Einzelheiten des Lebens Findlings und seines Freundes Bob während der sechs Monate nach seinem Eintreffen in Cork eingehen. Der lange und rauhe Winter wäre für an Hunger und Kälte weniger gewöhnte Kinder gewiß verderblich gewesen. Jetzt machte die Noth aus diesem Knaben von elf Jahren schon einen Mann. Einstmals, bei der Hard, lebte er von nichts, und wenn er heute von wenig lebte, so lebte er doch, und Bob noch mit ihm. Mehr als einmal hatten sie freilich des Abends nur ein Ei zu theilen, das sie mit einem Stück Brod verzehrten, dennoch sprachen sie nie um ein Almosen an. Bob hatte eingesehen, daß das Betteln eine Schande war. Beide besorgten sie kleine Aufträge, holten Wagen von den Halteplätzen und trugen, manchmal ziemlich schweres, Reisegepäck, das die Fremden ihnen beim Verlassen des Bahnhofs übergaben.

Findling verstand von dem Reste seines Lohnes von Trelingar-castle möglichst viel zu erhalten. Nur in den ersten Tagen des Aufenthaltes in Cork hatte er einen Theil davon opfern müssen. Bob brauchte ja Kleider und Schuhe und freute sich unbändig, als er einen ganz neuen Anzug für dreizehn Schillinge auf dem Leibe hatte. Er konnte ja aber auch nicht in Lumpen und barfuß nebenher gehen, wenn sein großer Bruder anständig gekleidet erschien. Nach dieser einmaligen Ausgabe galt es aber, von dem zu leben, was tagsüber verdient wurde. Zuweilen, wenn ihnen der Magen ein wenig knurrte, beneideten sie wohl Birk, der sein Futter auf der Straße fand.

»Ich möchte fast auch ein Hund sein! meinte Bob.

– Nun, verwöhnt bist Du offenbar nicht!« antwortete Findling.

Mit dem Miethzins im Gasthaus blieben sie nie im Rückstand. Der Eigenthümer, der sich für die beiden Kinder interessierte, bedachte sie von Zeit zu Zeit einmal mit einer guten warmen Suppe, und die konnten sie ja wohl ohne Erröthen annehmen.

[298] Wenn Findling darauf hielt, die beiden Pfund, die ihm nach den ersten Einkäufen noch verblieben, zu bewahren, so geschah das, weil er auf die Gelegenheit wartete, dieses Capital »ins Geschäft zu stecken«, wie er sagte. Bob riß die Augen weit auf, als er ihn so sprechen hörte, und Findling erklärte ihm dann, das bestehe darin. irgendwo Dinge einzukaufen und sie um höheren Preis wieder zu verkaufen.

»Dinge, die man essen kann? fragte Bob.

– Die man essen kann oder nicht, das hängt vom Zufall ab.

– Ich würde lieber suchen kaufen, die eßbar sind.

– Warum denn, Bob?

– Nun, wenn man sie einmal nicht verkauft, kann man sie wenigstens selbst verzehren.

– Ei, Bob, Du hast ja schon rechtes Verständniß für den Handel! Es kommt indeß darauf an, gut auszuwählen, was man einkauft, dann wird man das wohl immer mit Nutzen wieder los.«

Hieran dachte unser Held unablässig, und er machte auch einige schüchterne Versuche, die nicht fehlschlugen. Wenn es mit Papier, Bleistiften und Streichhölzchen auch – wegen starker Concurrenz – nicht recht gehen wollte, so hatte er doch bessern Erfolg mit dem Verkauf von Zeitungen, mit denen er sich in der Nähe des Bahnhofs aufstellte. Bob und er sahen so interessant, und vorzüglich so grundehrlich aus, sie boten ihre Waare so geschickt und höflich an, daß nur selten Jemand sich enthalten konnte, ihnen die neuesten Journale, die Coursbücher der Eisenbahnen, oder Fahrpläne und kleine billige Reisebücher abzunehmen. Findling und Bob besaßen jeder einen Kasten, in dem die Zeitungen und Bücher so lagen, daß man die Titel und auch etwaige Illustrationen gut sehen konnte. und auch an Kleingeld, um wiederzugeben, fehlte es niemals. Natürlich verließ Birk seinen Herrn auch hier nie; er mochte sich als Geschäftstheilhaber oder wenigstens als Gehilfe desselben betrachten. Zuweilen lief er mit einem Zeitungsblatt in den Zähnen auf Vorübergehende zu und bot es diesen mit bezeichnenden Sprüngen an. Bald sah man ihn gar mit einem Korbe auf dem Rücken, worin die Preßerzeugnisse schon geordnet lagen und den ein Wachstuchdach gegen gelegentlichen Regen schützte.

Das war ein Gedanke Findlings gewesen, und gewiß kein so übler. Die Käufer mußten ja angelockt werden, wenn sie Birk so ernsthaft, so durchdrungen von der Wichtigkeit seines Dienstes sahen. Da war's freilich mit tollen Sprüngen [299] und mit Spielen mit Hunden aus der Nachbarschaft zu Ende. Wenn solche sich dem gescheuten Thiere näherten, da empfing er sie nur mit dumpfem Knurren, und der vierbeinige Colporteur zeigte den Vorwitzigen die Zähne. In der Umgebung des Bahnhofs sprach man schon überall von dem Hunde der kleinen Händler. Ja man handelte wohl unmittelbar mit ihm. Die Käufer entnahmen dem Korbe das gewünschte Zeitungsexemplar und steckten den Preis dafür in eine Sparbüchse, die an Birks Halse hing.

Ermuthigt durch diesen Erfolg, dachte Findling daran, »sein Geschäft« auszudehnen. Dem Handel mit Büchern und Journalen fügte er noch Streichhölzer, Tabak, billige Cigarren und ähnliches hinzu. In Folge davon trug Birk allmählich einen ganzen Kramladen auf den Schultern. An manchem Tage vereinnahmte er sogar mehr als seine Herren, die deshalb nicht eifersüchtig wurden – im Gegentheil, Birk wurde vielmehr mit einem guten Futter und mit herzlicher Liebkosung belohnt. Die drei Genossen vertrugen sich vortrefflich, und es wäre ein Glück, wenn alle Familien so einig wären, wie hier der Hund und die beiden Kinder!

Findling hatte an Bob bald gute Anlagen und Wissensdrang bemerkt. Der siebenundeinhalbjährige Knabe, von vielleicht minder praktischem Geiste als sein größerer Bruder, war dafür lustiger und ließ seiner natürlichen Fröhlichkeit gern freien Lauf. Da er weder lesen, schreiben noch rechnen konnte, unterließ es Findling selbstverständlich nicht, ihn bald darin zu unterrichten. Er mußte doch wenigstens die Titel der Blätter angeben und lesen können, die man von ihm verlangte. Die Sache gefiel ihm und er machte schnell Fortschritte. Nach den großen Buchstaben der Titel erlernte er die kleinen im Texte der Blätter. Dann ging's aus Schreiben und Rechnen, was ihm etwas mehr Schwierigkeiten machte. Dennoch überwand er diese schnell. Schon sah er sich als Gehilfe einer Buchhandlung, der den Verkaufsladen Findlings besorgte, welcher in der schönsten Straße von Cork eine weit leuchtende Firma mit »Bookseller« darauf hatte. Er verstand jetzt schon einen guten Verdienst zu machen, und in seiner Tasche befanden sich mehrere wohlverdiente Pence, auch weigerte er sich nicht, ein kleines Almosen zu geben, wenn Kinder bettelnd die Hand ausstreckten. Er erinnerte sich ja zu gut der Zeit, wo er auf der Landstraße hinter den Wagen hergelaufen war.

Seiner angebornen Neigung entsprechend, hatte Findling natürlich jeden Tag Buch und Rechnung geführt, und so und so viel für die Wohnung, für [300] Essen und Trinken, für Wäsche und für Heizung und Licht ausgeworfen. Jeden Morgen schrieb er in sein Notizbuch die zum Einkauf von Waaren bestimmte Summe ein und stellte eine Bilanz mit den Ausgaben und Ein nahmen auf. Er verstand bereits recht vortheilhaft ebenso einzukaufen, wie zu verkaufen. In Folge dessen hatte er mit Ende des Jahres 1882 schon ein Dutzend Pfund in der Casse – wenn er eine Casse besessen hätte. Dafür hatte ein wohlwollender Händler, bei dem er gewöhnlich ziemlich viel entnahm, ihm seinen Geldschrank zur Verfügung gestellt, und in diesen wurde jede Woche der erzielte Ueberschuß eingelegt, für den er sogar schon einige Zinsen erhielt.

Angesichts dieser durch seine Sparsamkeit und Intelligenz erzielten Erfolge regte sich in dem Knaben bald der gewiß nicht unberechtigte Ehrgeiz, seine Geschäfte zu vergrößern. Das wäre ihm, auch wenn er dauernd in Cork blieb, mit der Zeit wohl gelungen. Er sagte sich jedoch, nicht ohne Grund, daß eine bedeutendere Stadt, z. B. Dublin, die Hauptstadt Irlands, dafür günstigere Aussicht bieten müsse. In Cork laufen ja die Schiffe nur vorübergehend an und der Waarenumsatz ist verhältnißmäßig beschränkt... während Dublin... Dublin lag nur gar so weit von hier!... Doch das war ja zu überwinden. Wenn auch die Möglichkeit vorlag, daß der Knabe dabei den Sperling aus der Hand für die Taube auf dem Dache hingab, wenn er seine Träume für verwirklicht ansah, so kann man es einem halben Kinde doch schwerlich verwehren, zu träumen.

Der Winter war nicht streng, weder in den letzten Monaten des Jahres 1882, noch in den ersten des nachfolgenden Jahres. Findling und Bob brauchten jetzt ja auch nicht mehr unter Leiden und Entbehrungen vom Morgen bis zum Abend auf den Straßen umherzulaufen. Immerhin ist es beschwerlich, mitten im scharfen Winde auf Plätzen und an Straßenecken längere Zeit auszuhalten. Sie waren das indeß von früher Jugend an gewöhnt, und wenn es ihnen auch zuweilen hart ankam, so wurden sie wenigstens nicht krank, obgleich sie sich in keiner Weise schonten. Bei jeder Witterung standen sie Tag für Tag mit dem Morgenrothe auf, kauften dann ihre Vorräthe ein, um diese schleunigst wieder abzusetzen, wozu sich auf dem Perron des Bahnhofs bei Ankunft und Abgang der Züge die beste Gelegenheit bot, und wanderten dann durch verschiedene Stadttheile, während Birk seinen Schaukasten ohne Murren auf dem Rücken trug. Nur des Sonntags, wenn im Vereinigten Königreich alle Städte, Flecken und Dörfer feiern, gönnten sie sich einige Ruhe, besserten die Kleidung aus, [301] räumten zu Hause auf und stellten ihre Dachkammer so sauber wie möglich her, wonach der eine seine Buchführung in Ordnung brachte und der andre sich im Lesen, Schreiben und Rechnen übte. Am Nachmittage gingen sie dann in Begleitung Birks bis hinunter nach Queenstown – zwei wackre kleine Bürger, die nach einer Woche fleißiger Arbeit zur Erholung lustwandelten.

Eines Tages gestatteten sie sich, in einem Boote um die Bai zu fahren, und hier erblickte Bob zum ersten Male das grenzenlose Meer.

»Und weiter draußen, fragte er, wenn man auf dem Wasser immer, immer weiter fährt, was findet man denn da?

– Ein großes Land, Bob.

– Größer als unsres?...

– Tausendmal so groß, Bob, und die großen Schiffe, die Du siehst, brauchen zur Reise dahin wenigstens acht volle Tage!

– Giebt's denn in jenem Lande auch Zeitungen?

– Zeitungen, Bob?... O, zu hunderten... Zeitungen, die das Stück sogar mit sechs Pence verkauft werden.

– Das weißt Du bestimmt?

– Ganz bestimmt... ich weiß auch, daß man Monate brauchen würde, um sie alle durchzulesen!«

Bob betrachtete mit Bewunderung den erstaunlichen Findling, der im Stande war, so etwas zu versichern. Bezüglich der gewaltigen Schiffe, der mächtigen Dampfer, die gewöhnlich in Queenstown vor Anker gingen, fühlte er das lebhafteste Verlangen, einmal deren Deck zu betreten und auf den Masten herumzuklettern, während Findling es sicherlich vorgezogen hätte, den Laderaum und die Fracht in Augenschein zu nehmen.

Bisher hatten aber beide nicht gewagt, an Bord eines solchen zu gehen ohne Erlaubniß des Kapitäns – einer Persönlichkeit, von der sie sich die übertriebensten Vorstellungen machten. Ihn zu fragen, dazu fehlte ihnen der Muth. Der Kapitän ist auf dem Schiffe ja »der Nächste nach Gott«, wie es Findling gehört und es Bob wieder gesagt hatte.

So blieb der Wunsch der beiden Knaben noch immer unbefriedigt. Hoffentlich sollte er noch einmal in Erfüllung gehen, gleich den andern Wünschen, die in ihnen erwachten.

[302]
8. Capitel
Achtes Capitel.
Der erste Heizer.

So vollendete sich das Jahr 1882, das in den Activen und Passiven Findlings mit so vielen glücklichen und unglücklichen Conten, mit der Vertreibung und dem Verschwinden der Familie Mac Carthy, von der er nie wieder etwas gehört hatte, mit den drei auf Trelingar-castle zugebrachten Monaten, seinem Zusammentreffen mit Bob, der Niederlassung in Cork und mit dem Gedeihen seines kleinen Handels, verzeichnet stand.

Während der ersten Monate des neuen Jahres erlahmte der Verkehr zwar noch nicht, er schien aber seinen Höhepunkt überschritten zu haben. Da Findling einsah, daß er unter solchen Umständen nicht weiter vorwärts kommen könne, trug er sich stets mit dem Gedanken, nun eine einträglichere Operation – nicht in Cork, sondern in einer bedeutenderen Stadt Irlands zu wagen. Immer lag ihm dafür Dublin im Sinn, und er hoffte, es werde sich schon eine Gelegenheit bieten, sein Vorhaben auszuführen.

Januar, Februar und März verstrichen. Die beiden Knaben sparten, wo sie konnten, jeden Penny. Ihr kleines Vermögen nahm einmal auch plötzlich mehr zu, als ihnen ein besondres »Geschäft« mit recht gutem Nutzen zufiel. Es handelte sich dabei um eine politische Flugschrift bezüglich der Wahl Parnell's, zu deren Vertrieb in den Straßen von Cork und von Queenstown Findling das ausschließliche Recht erhielt. Wer die Broschüre kaufen wollte, mußte sich also an ihn, allein an ihn wenden, und Birk trag einen hübschen Posten davon auf dem Rücken. Die Sache hatte überraschenden Erfolg, und beim Abschluß der Rechnung zu Anfang des April befanden sich in der Cassa dreißig Pfund, achtzehn Schillinge und sechs Pence. So reich waren die Knaben noch niemals gewesen.

Jetzt entstanden lange Verhandlungen über die Frage der Ermiethung eines kleinen Ladens in der Nähe des Bahnhofs. Es wäre ja so hübsch gewesen, ein eignes Heim zu haben. Gerade Bob, dem schon nichts mehr unerreichbar schien, drängte mehr und mehr dazu. Da wäre nun ein Zeitungs- [303] und Bücherladen entstanden mit einem Chef von elf und einem Gehilfen von acht Jahren – Ladeninhabern, die nun schon hätten Steuern entrichten müssen. Voraussichtlich hätten die Kinder, die bereits das öffentliche Interesse erregt hatten, auch gute Geschäfte gemacht. Findling dachte jedoch auch noch an das und jenes andre und erwog es nach allen Richtungen. Vor allem beschäftigte ihn der Gedanke der Uebersiedlung nach Dublin, wohin es ihn wie eine Ahnung zog. Dennoch zögerte er und fügte sich Bobs Einwürfen, als sich etwas ereignete, was für seine Zukunft sofort entscheidend werden sollte.

Es war am Sonntag dem 8. April. Findling und Bob hatten sich vorgenommen, den Tag in Queenstown zuzubringen. Vorzüglich bestimmte sie dazu das Verlangen, einmal in einer wirklichen Matrosenschänke zu frühstücken und zu speisen.

»Da giebts wohl Fische? fragte Bob.

– Ja, antwortete Findling, sogar Hummern, und wenn nicht diese, dann wenigstens Krabben, wenn Du diese magst....

– Ich?... Natürlich!«

Die Knaben legten die besten, sorgsam gereinigten Kleider an, zogen blank gewichste Stiefeln an die Füße und brachen frühzeitig mit dem glattgebürsteten Birk zu ihrem Ausfluge auf.

Heut' war prächtiges Wetter, glänzend strahlte die Frühlingssonne herab und über dem Wasser wehte eine leichte, laue Brise. Die Fahrt auf der Lee in einem Fährboot machte ihnen schon das größte Vergnügen. Hier befanden sich nämlich Musiker an Bord, Straßenvirtuosen, deren Vorträge Bob geradem entzückten. Der Tag begann also in angenehmster Weise, und es war nur zu wünschen, daß er ebenso endigte.

Kaum auf dem Quai von Queenstown angelangt, entdeckte Findling eine Schänke mit der Firma zum »Old Seaman«, die ihm ganz passend erschien, um darin einzukehren.

Vor der Thür stand ein Kübel, in dem ein halb Dutzend Krustenthiere ihre Beine und Scheeren durcheinander bewegten, bis sie in den Kochtopf wanderten, wenn ein Gast den dafür verlangten Preis anlegen wollte. Von einem Tische neben dem Fenster aus konnte man die an den Pfählen im Wasser befestigten Schiffe übersehen.

Findling und Bob wollten eben in die vielversprechende Schänke eintreten, als ihre Aufmerksamkeit durch ein großes Dampfschiff abgelenkt wurde, das[304] am Abend vorher in Queeastown angelaufen war und noch seine Sonntagstoilette machte.

Es war der »Vulcan«, ein Dampfer, von acht- bis neunhundert Tonnen, der von Amerika kam und am nächsten Tage nach Dublin weiter gehen sollte. Das hatte wenigstens ein Matrose in gelber Wachstuchjacke Findling auf dessen Fragen mitgetheilt.

Beide betrachteten noch das eine halbe Kabellänge vom Quai vertäute Fahrzeug, als sich ein großer Bursch mit geschwärztem Gesicht und noch [305] schwärzeren Händen Findling näherte, ihn ansah und den Mund weit aufsperrend rief:

»Du... Du!... Bist Du es wirklich?«

Findling wurde ganz bestürzt, und Bob war es nicht minder. Der junge, fremde Mann duzte ihn? Und noch dazu ein Neger?... Kein Zweifel, hier mußte ein Irrthum vorliegen.


Grip war es, und sie fielen sich in die Arme. (S. 306.)

Der vermeintliche Neger ließ sich durch die Zurückhaltung des Knaben jedoch nicht abschrecken.

»Ich bin's ja!... Kennst Du mich denn nicht?... Ich bin's... Die Ragged-School... Grip!...

– Grip!« wiederholte Findling ganz außer sich.

In der That war das Grip, und nun fielen sich beide in die Arme und küßten sich mit solcher Innigkeit, daß Findling selbst dabei so schwarz wie ein Kohlenträger wurde.

Das war eine Freude des Wiedersehns! Der alte Aufseher der Lumpenschule war jetzt ein großer, kräftiger junger Mann von zwanzig Jahren, der durch nichts mehr an die Leidenszeit in Galway erinnerte, oder höchstens nur dadurch, daß sein Gesicht noch den gleichen gutmüthigen Ausdruck zeigte.

»Grip... Grip... Du bist es... Du! rief Findling immer und immer wieder.

– Ja, ich bin's... und ich hatte Dich auch niemals vergessen, mein Junge!

– Und Du bist jetzt Matrose?...

– Nein, Heizer an Bord des »Vulcan«!«

Die Eigenschaft als Heizer machte auf Bob, der dabei ans Kochen dachte, einen sehr tiefen Eindruck.

»Was machen Sie denn da am Feuer? fragte er. Wohl Suppe?...

– Nein, Kleiner, erwiderte Grip lachend, ich koche gar nichts, ich heize nur den Dampfkessel, der unsre Maschine in Bewegung setzt und die dann das Schiff vorwärts treibt.«

Findling stellte seinem alten Beschützer aus derRagged-School nun seinen Bob vor.

»Eine Art Bruder, sagte er, den ich auf der Landstraße gefunden habe... und der Dich gut genug kennt, denn ich habe ihm unsre Geschichte oft erzählt. Ach, mein guter Grip, wie viel mußt Du mir erst zu erzählen haben, wo wir nun seit sechs langen Jahren getrennt gewesen sind!

[306] – Und Du doch wohl auch? entgegnete der Heizer.

– Nun, komm, komm, frühstücke mit uns... dort in jener Schänke, in die wir eben gehen wollten....

– O nein, erwiderte Grip, im Gegentheil, Ihr werdet mit mir frühstücken. Zunächst kommt jedoch einmal mit an Bord....

– An Bord des »Vulcan«?...

– Natürlich.«

Wie, beide sollten auf das Schiff gehen? – Findling und Bob wagten kaum, Grip zu glauben. Das war ja für sie dasselbe, als hätte man ihnen vorgeschlagen, ins Paradies einzutreten.

»Ja, aber unser Hund?...

– Welcher Hund?...

– Birk.

– Das Thier, das hier um mich herumstolziert?... Ist das Euer Hund?

– Unser Freund, Grip... ein Freund, fast in der Art wie Du!«

Wer weiß, ob Grip sich durch diesen Vergleich besonders geschmeichelt fühlte, jedenfalls streichelte er das Thier, das so warm gelobt worden war.

»Doch der Kapitän?... warf Bob noch ein, dem dieser Gedanke eine starke Zurückhaltung auferlegte.

– Der Kapitän ist am Lande, und der Oberbootsmann wird Euch wie große Herren empfangen!«

Daran zweifelte Bob, wenn er in Gesellschaft Grips kam, weit weniger. Ein erster Heizer... das hat doch etwas zu bedeuten!

»Uebrigens, fuhr Grip fort, muß ich noch ein bischen Toilette machen und mich vom Kopf bis zu den Füßen waschen, da mein Dienst zu Ende ist.

– Du hast also den ganzen Tag frei, Grip?

– Den ganzen Tag.

– Das war doch ein herrlicher Gedanke, Bob, heute nach Queenstown zu fahren!

– Ja, ich glaub's Dir, sagte Bob.

– Und Du, nahm Grip lachend wieder das Wort, Du mußt Dich auch etwas abseifen, ich habe Dich ja ganz schwarz gemacht, Findling. Du heißt doch noch immer so?

– Jawohl, Grip.

– Das ist mir lieb.

[307] – Grip... ich möchte Dich noch einmal umarmen!

– Geniere Dich nicht, mein Junge, wir stecken nachher doch die Nase in den Kübel!

– Nun, und ich? ließ sich Bob vernehmen.

– Du auch!«

Der junge Mann küßte auch den Kleinen, der davon ebenso negerähnlich wie Grip selbst wurde.

Was schadete das? Sie konnten sich ja an Bord des »Vulcan« und in der kleinen Cabine, worin der Heizer schlief, Gesicht und Hände wieder reinigen. – An Bord und in einer Cabine!... Bob konnte noch gar nicht daran glauben!

Einen Augenblick danach bestiegen alle drei – Birk nicht zu vergessen – das kleine Boot des Dampfers, das Grip mittelst Riemens vorwärts trieb – zur größten Freude Bobs, sich so herrlich geschaukelt zu sehen – und binnen zwei Minuten legten sie am »Vulcan« an.

Der Hochbootsmann machte Grip ein einladendes Zeichen mit der Hand und der Heizer ließ seine Gäste durch die Luke des Feuerraums hinabsteigen, während Birk auf dem Verdeck umhertrottete.

Hier wurde ein Faß neben dem Lager Grips mit warmem Wasser gefüllt, so daß sie ihre natürliche Farbe wieder erlangen konnten. Während er sich dann umkleidete, erzählte Grip seine Geschichte.

Beim Brande der Ragged-School ziemlich ernstlich verwundet, hatte er gegen sechs Wochen im Krankenhause gelegen, das er zum Glück wieder völlig hergestellt verließ, nur daß es ihm an allen Mitteln zum Unterhalt gebrach.

Die Stadt ging eben daran, die Lumpenschule wieder herzustellen, denn man konnte deren Insassen doch nicht auf der Straße liegen lassen. In Erinnerung an die in jenem abscheulichen Obdach zugebrachten Jahre, empfand Grip aber nicht das geringste Verlangen, dahin zurückzukehren. Auch ferner mit O'Bodkins und der alten Kriß zu leben, so boshafte Schlingel wie Carker und dessen Kameraden zu überwachen, das erschien ihm keineswegs verlockend. Nun war ja auch Findling nicht mehr dort. Grip wußte zwar, daß diesen eine schöne Dame mitgenommen habe, doch wohin... das konnte er nicht erfahren; und als er das Krankenhaus verlassen hatte, da blieben seine Erkundigungen danach leider ohne jeden Erfolg.

[308] Grip verließ also Galway und durchstreifte auf gut Glück das Land. Zur Erntezeit fand er zuweilen auf einer Farm Beschäftigung, doch keine feste Anstellung, was ihn natürlich beunruhigte. So wanderte er von Ort zu Ort, manchmal bittre Noth leidend, im ganzen aber doch glücklicher als früher in der Lumpenschule.

Ein Jahr später war Grip nach Dublin gekommen, er wollte auf die See gehen. Der Beruf als Seemann schien ihm sichrer als irgend ein andrer. Mit achtzehn Jahren ist es aber zu spät, Schiffsjunge, ja sogar Leichtmatrose zu werden. Da er sich also nicht als Matrose einschiffen konnte, schon weil ihm die dazu nöthigen Kenntnisse fehlten, so begnügte er sich, als Kohlenschaufler einzutreten, und als solcher war er an Bord des »Vulcan« aufgenommen worden. Da unten in der Tiefe, in einer von schwarzem Rauch geschwängerten Luft zu verweilen und noch dazu bei erstickender Hitze, das erscheint zwar nicht als das Ideal des Wohllebens hienieden. Grip war jedoch entschlossen und arbeitsam. Sauber und eifrig von Natur, gewöhnte er sich schnell an die Disciplin an Bord. Niemals zog er sich einen Vorwurf zu. So erwarb er sich die Achtung des Kapitäns und der Officiere, die sich für den armen Teufel ohne Familie interessierten.

Der »Vulcan« fuhr zwischen Dublin und New-York oder andern Häfen der Ostküste von Amerika. In zwei Jahren war Grip vielmals über den Ocean gekommen, immer damit betraut, die Bunker richtig zu füllen und das Heizmaterial vor die Feueröffnung zu schaffen. Da erwachte in ihm der Ehrgeiz. Er hielt darum an, unter dem Befehl des Maschinisten als Heizer verwendet zu werden. Man stellte ihn probeweise als solchen an und er befriedigte bald seine Vorgesetzten. So wurde er nach einiger Zeit erster Heizer, und als solchen fand Findling seinen alten Genossen von der Lumpenschule auf dem Quai von Queenstown wieder.

Der brave junge Mann, der keine Ausschreitungen liebte und dem unsinniges Zechen zuwider war, während das bei Matrosen der Handelsmarine, wenn die Leute ans Land kommen, so oft zu finden ist, hatte seinen Lohn stets zum größten Theil zurückgelegt. Er besaß also ein kleines Vermögen, das er mit Vergnügen wachsen sah – einige sechzig Pfund, an deren Verwendung er noch niemals gedacht hatte. Von seinem Gelde Interessen zu beziehen, das konnte ihm ja gar nicht in den Sinn kommen; war es ja schon wunderbar genug, daß Grip überhaupt vorräthige Geldmittel sein eigen nannte.

[309] Das war die Geschichte, die Grip lustig erzählte und nach der auch Findling die seinige zum Besten gab. Diese war freilich bewegter, und Grip wollte kaum seinen Ohren trauen, als er von dem künstlerischen Erfolge der Miß Anna Walston hörte, von der glücklichen, schönen Zeit in der Farm von Kerwan, von dem Unglück, das die ehrenwerthe Familie betroffen hatte. Es schmerzte ihn mit, daß Findling von seinen Pflegeeltern gar nichts weiter hatte in Erfahrung bringen können, er staunte aufrichtig über den Reichthum und die Pracht von Trelingar-castle und empörte sich über die Hochmüthigkeit des Grafen Ashton, die Findling veranlaßt hatte, seiner Existenz daselbst ein Ende zu machen.

Auch Bob mußte einiges aus seiner Lebensgeschichte erzählen. Sie war freilich mehr als einfach, denn in der That hatte er gar keine. Sein Leben begann ja eigentlich erst mit dem Tage, wo ihn Findling auf der Straße gefunden oder vielmehr aus der Dripsey wieder aufgefischt hatte, als er sich den Tod geben wollte.

Birks Geschichte fiel natürlich mit der seines Herrn zusammen und brauchte nicht weiter geschildert zu werden.

»Na, nun ist es an der Zeit, frühstücken zu gehen, sagte der erste Heizer des »Vulcan«.

– Doch nicht, bevor wir uns das Schiff angesehen haben? erwiderte Findling lebhaft.

– Und bevor wir einmal auf die Masten geklettert sind? setzte Bob hinzu.

– Wie es Euch beliebt, meine Boys!« erwiderte Grip.

Nun ging's durch die Luken im Verdeck hinunter in den Schiffsraum, was für unsern Handelsmann das allergrößte Vergnügen war. Hier lagen Baumwollenballen, Zuckerfässer, Säcke mit Kaffee, und Kisten, die allerlei überseeische Naturerzeugnisse enthielten, deren Duft Findling begierig einsog. Diese Schätze waren nun also aus weiter Ferne für Rechnung der Rheder des »Vulcan« eingekauft, um auf den Märkten des Vereinigten Königreichs wieder veräußert zu werden. O, wenn Findling jemals in die Lage kam....

Grip unterbrach den schönen Traum mit der Einladung, wieder nach dem Deck hinauszugehen, um die im Hintertheil des Schiffes gelegenen Cabinen des Kapitäns und der Officiere zu besuchen, während Bob außen auf den Wanten umherkletterte und wirklich bis auf die Stenge des Fockmastes gelangte. Im ganzen Leben war er noch nicht so entzückt, aber auch so gewandt im Klettern gewesen. Vielleicht steckte das Zeug zu einem Schiffsjungen in dem Knaben.

[310] Gegen elf Uhr saßen Grip, Findling und Bob vor einem Tische in der Schänke zum »Old Seaman«, Birk natürlich dahinter, der mit der Schnauze bis zur Höhe des Tischtuchs reichte, und es ist wohl kein Wunder, daß jetzt alle tüchtigen Appetit verspürten.

Dafür gab es auch eine vortreffliche Mahlzeit, deren Kosten Grip auf sich nahm. Nämlich Eier mit brauner Butter, kalten Schinken mit gelblichem zitternden Gelée darüber, ferner Chesterkäse und zu dem allen vorzüglich schäumendes Ale! Außerdem wurde Hummer aufgetischt, nicht die gewöhnlichen Krabben des Armen, nein, wirklicher Hummer mit weißrothem Fleisch in der hochrothen Schale, der Hummer der reichen Leute, ein Leckerbissen, den Bob als das weitaus beste bezeichnete, womit man sich den »Magen füllen« könnte.

Natürlich wurde auch während des Essens geplaudert. Wenn es in seinem Kreise nicht vorkommt, mit vollem Munde zu sprechen, so hatte unsre kleine Gesellschaft doch die Entschuldigung. daß sie keine Zeit verlieren durfte.

Dabei tauschten nun Grip und Findling alte Erinnerungen aus von der Zeit her, wo sie in der erbärmlichen Ragged-School gelebt hatten... sie erwähnten den Vorfall mit der armen Möve, die als Geschenk erhaltene wollene Jacke... die schlechten Streiche Carker's u. s. w.

»Was ist denn aus dem Thunichtgut geworden? fragte Grip.

– Ich weiß es nicht und habe mich nicht darum gekümmert, antwortete Findling. Das schlimmste für mich wär's jedenfalls gewesen, wenn ich wieder mit ihm zusammengetroffen wäre.

– Beruhige Dich, Du wirst ihm nicht wieder begegnen, versicherte Grip; da Du aber Zeitungen verkaufft, mein Boy, so rathe ich Dir, sie auch zuweilen zu lesen.

– Das thu ich wohl auch.

– Dann wirst Du sehr bald erfahren, daß jener Bösewicht Carker kürzlich an einem Hanffieber gestorben ist.

– Gehenkt?... Ach, Grip...

– Jawohl, gehenkt! Es war ja nicht anders zu erwarten!«

Hierauf kamen die Einzelheiten von der Feuersbrunst zur Sprache. Grip war es ja, der den Knaben mit eigner Lebensgefahr gerettet hatte, und jetzt hatte dieser zum ersten Male Gelegenheit, ihm zu danken.


Der Heizer ließ seine Gäste in den Feuerraum steigen. (S. 308.)
»Ich habe, seit wir getrennt waren, immer und immer an Dich gedacht! sagte er.
– Das freut mich herzlich, mein Boy!
[311] – Nur ich, ich habe nicht an Grip gedacht, rief Bob mit dem Ausdrucke lebhaften Bedauerns.
– Weil Du mich nur dem Namen nach gekannt hast, Bob, antwortete Grip. Jetzt kennst Du mich...
– Und ich werde auch immer von Dir sprechen, wenn wir beide mit einander plaudern, wir beide, Birk!«

Die Knaben halfen durch Schieben mit. (S. 317.)

Birk antwortete zustimmend mit Bellen, was ihm ein mit Speck belegtes Stück Brod einbrachte, das er auf einmal verschlang. Trotz der [312] Versicherung Bobs schien er dem Hummer dagegen keinen Geschmack abgewinnen zu können.

Grip wurde nun über seine Reisen nach Amerika gefragt. Er erzählte von den großen Städten Amerikas, von ihrer Industrie, ihrem Handel, und Findling hörte so aufmerksam zu, daß er darüber sogar das Essen ganz vergaß.

»Uebrigens, bemerkte Grip, giebt es auch sehr große Städte in England, und wenn Du jemals nach London, Liverpool oder Glasgow kommst...

[313] – Ja, Grip, das weiß ich. Ich hab' es in den Journalen gelesen, große Handelsstädte, sie liegen nur gar so weit von hier....

– O nein, nicht so weit....

– Für Seeleute, die dahin fahren, ja, doch für alle andern...

– Nun, aber zum Beispiel Dublin? rief Grip. Das ist nur dreihundert Meilen von hier entfernt. Ein Bahnzug erreicht es in einem Tage, ohne daß man über See zu gehen braucht....

– Ach ja, Dublin!« murmelte Findling.

Das entsprach so genau seinem lebhaften Wunsche, daß er nachdenklich wurde.

»Sieh, fuhr Grip fort, das ist eine sehr schöne Stadt mit sehr lebhaftem Geschäftsverkehr. Dort legen die Schiffe nicht nur vorübergehend an, wie hier in Cork. Dort nehmen sie Fracht ein und kehren mit solcher dahin zurück....«

Findling lauschte voller Spannung... seine Gedanken trugen ihn mit sich fort.

»Du solltest Dich in Dublin versuchen, sagte Grip. Ich bin überzeugt, da würden sich die Verhältnisse für Dich besser gestalten als hier; und wenn Du etwa Geld brauchst...

– Wir haben etwas erübrigt, Bob und ich, unterbrach ihn Findling.

– Das will ich meinen, fiel Bob ein, der einen Schilling sechs Pence aus der Tasche zog.

– Ich auch, erklärte Grip, und ich weiß nicht, was ich damit beginnen soll.

– Warum legst Du das Geld nicht an... irgendwo... in einer Bank?

– Dazu hab' ich kein Vertrauen....

– Ja, dann verlierst Du aber die Zinsen, die es Dir einbringen würde, Grip....

– Das ist besser, als alles zu verlieren, was man besitzt. Wenn ich keins zu andern Leuten habe, zu Dir würde ich es haben, mein Boy, und wenn Du nach Dublin kämst, nach dem Heimathafen des »Vulcan«, da würden wir uns auch oft sehen können. Ich wiederhole Dir, wenn Du, um einen Handel anzufangen, etwas Geld brauchst, so wär' ich gern erbötig, es Dir zu geben....«

[314] Der wackre Bursche war schon daran, das zu thun. Er fühlte sich ja überglücklich, seinen Findling wie der getroffen zu haben, und ihm schien es, als wären sie durch Bande verknüpft, die kein Zufall lösen könnte.

»Komm' nach Dublin, wiederholte Grip. Soll ich Dir sagen, was ich denke?

– Sprich. lieber Grip.

– Nun, siehst Du, mir schwebt immer der Gedanke vor... daß Du... dort Dein Glück machen müssest....

– Mir wohl auch... ich habe immer denselben Gedanken gehabt, antwortete Findling einfach. Seine Augen leuchteten aber in hellerem Glanze auf.

– Ja, ja, fuhr Grip fort, ich sehe Dich dort eines Tages schon reich... sehr reich. In Cork freilich wirst Du nicht so viel verdienen. Ueberlege Dir meine Worte, denn man soll niemals ohne Ueberlegung handeln.

– Ganz recht, Grip.

– Jetzt aber. wo es nichts mehr zu essen giebt... seufzte Bob aufstehend.

– Du willst sagen, Junge, fiel ihm Grip ins Wort, daß Du wohl auch keinen Hunger mehr hast....

– Ja, vielleicht... ich weiß nicht. Das ist das erste Mal, daß mir das vorkommt....

– So wollen wir also ein wenig spazieren gehen,« schlug Findling vor.

So verlief der Nachmittag, wobei die Freunde vielerlei Pläne schmiedeten, während sie auf den Quais und durch die Straßen Queenstowns lustwandelten.

Als dann die Trennungsstunde gekommen war und Grip die Knaben nach dem Landungsplatze des Fährbootes begleitet hatte, begann er:

»Wir werden uns wiedersehen. Man kann sich nicht gefunden haben, um einander nie wieder zu begegnen.

– Gewiß, Grip... in Cork... sobald der »Vulcan« hier wieder anlegt...

– Warum nicht in Dublin, wo er meist einige Wochen liegen bleibt?... Ja, in Dublin, und wenn Du Dich entschließen kannst...

– Leb wohl, leb wohl, Grip!

– Auf Wiedersehen, mein Boy!«

Sie umarmten sich herzlich und mit tiefer Erregung, die keiner von beiden zu verheimlichen sich bemühte.

[315] Bob und Birk nahmen ebenfalls mit Abschied, und als das Fährboot abgestoßen war, da folgte ihm Grip noch lange mit den Augen, während jenes den Fluß empordampfte.

9. Capitel
Neuntes Capitel.
Eine Speculation Bobs.

Einen Monat später schoben auf der Straße, die südwestlich von Cork und durch die östlichen Gebiete der Grafschaft nach Youghal führt, ein Knabe von elf und ein kleiner von acht Jahren einen leichten Karren, der von einem Hunde gezogen wurde.

Die beiden Kinder waren Findling und Bob. Der Hund war Birk.

Das Zureden Grips hatte gefruchtet. Ehe er mit dem ersten Heizer des »Vulcan« zusammentraf, träumte Findling nur davon, Cork zu verlassen und sein Glück in Dublin zu versuchen. Nach dem Zusammentreffen machte er seinen Traum zur Wahrheit. Gewiß hatte er über diesen wichtigen Schritt reiflich nachgedacht, denn er gab dabei ja das Gewisse für das Ungewisse hin. In Cork konnte er jedoch voraussichtlich niemals weiter vorwärts kommen, in Dublin dagegen eröffnete sich seiner Thätigkeit ein viel weiteres Feld. Auch Bob, den er deshalb befragte, erklärte sich bereit, sofort aufzubrechen, und einem Rathschlag Bobs durfte er schon einiges Gewicht beilegen.

Unser junger Held mußte infolge dessen seine Einlagen bei dem Buchhändler zurückziehen, der ihm einige Einwürfe wegen seiner Zukunftspläne machte. Er erzielte damit aber nichts bei dem so frühreifen Kinde, das ja nicht gewöhnt war, Chimären nachzujagen, was sonst vielfach in Paddys Natur liegt. Findling war nun einmal entschlossen, höher hinauf zu streben, und eine Ahnung sagte ihm, daß das nur gelingen werde, wenn er Cork mit Dublin vertauschte.

Ueber den einzuschlagenden Weg und die Art des Fortkommens war sich Findling bald im klaren.

[316] Den kürzesten Weg bietet allerdings die Bahnlinie nach Limerick und von da durch die Provinz Leinster nach Dublin, und die schnellste Beförderung fand man, wenn man in Cork in einen Eisenbahnzug ein-und nach dessen Ankunft in der Hauptstadt Irlands wieder ausstieg. Das hätte aber das Opfer einer Guinee für jeden gekostet, und Findling pflegte auf seine Guineen zu halten. Wer gesunde Beine und genug Zeit hat, braucht sich den Kopf ja nicht zu zerbrechen und sich in einem Waggon durchrütteln zu lassen. Jetzt war die schönste Jahreszeit, und die Wege der Grafschaft sind vom Mai bis zum September in recht gutem Zustande. Da lag doch der Vortheil auf der Hand, lieber unterwegs noch etwas zu verdienen, als so viel Geld für eine schnelle Beförderung auszugeben.

So wollte der junge Händler also, von Dorf zu Dorf, von Flecken zu Flecken ziehend, das in Cork begonnene Geschäft ununterbrochen fortsetzen, wollte Journale, Broschüren, Papiere u. dgl. verkaufen, kurz, Handel treiben bis Dublin.

Dazu brauchte er höchstens noch einen Karren, um seine Hausierwaaren unterzubringen, und darüber eine Wachstuchdecke, um sie gegen Staub und Nässe zu schützen. Vor den Karren sollte Birk gespannt werden, der sich gewiß nicht weigerte, ihn zu ziehen, und die beiden Kinder wollten dem Hunde durch nachschieben helfen. Als Weg sollte der längs der Küste gewählt werden, weil dieser über mehrere, nicht unwichtige Städte, Waterford, Wexford, Wicklow, und auch durch verschiedene, zu dieser Zeit stark besuchte Badeorte hinführt. Kostete das auch zwei, vielleicht gar drei Monate Zeit, so brauchten sie sich darum nicht zu kümmern, wenn unterwegs nur immer etwas verdient wurde.

Am 18. April, einen Monat nach der Begegnung mit Grip in Queenstown, befanden sich also Findling, Bob und Birk, der letztere ziehend, die andern beiden schiebend, auf der Landstraße von Cork nach Youghal, wo sie nach wenig anstrengendem Marsche am Nachmittage ankamen.

Zu klagen hatten sie keine Ursache, jedenfalls fiel es Birk gar nicht ein zu murren. Dieser wurde übrigens nicht zu stark in Anspruch genommen, und wo der Weg anstieg, halfen die Knaben durch schieben mit besten Kräften nach. Der zweirädrige Karren war sehr leicht. Findling hatte ihn durch Gelegenheitskauf von einem Kaufmann in Cork erworben. Der Waarenvorrath bestand in Zeitungen, politischen Broschüren – einige freilich in Gedankengang und Stil gleich schwerfällig – in Schreibpapier, Bleistiften, Federn und andern [317] ähnlichen suchen, ferner in Tabakspacketen, deren Bestand durch Einkauf in den besten Läden mit dem bunten Schilde des Bergschotten erneuert werden sollte, und endlich in verschiedenen Artikeln und Kleinigkeiten. Alles das wog nicht schwer und ließ sich voraussichtlich leicht und mit hübschem Profit absetzen.

Die Leute auf dem Lande interessierten sich überall für die beiden Knaben, von denen der eine so ernst war, wie ein ergrauter Kaufmann, und der andre ein so gewinnendes Lächeln zeigte, daß es gar niemand einfiel, mit ihm zu feilschen.

Der Karren kam in Youghal an, einem großen Flecken mit sechstausend Einwohnern und einem in der Ausmündung des Blackwater gelegnen Hafen für Küstenfahrzeuge. Hier ist das Land, wo die »heilige Kartoffel« in höchsten Ehren steht. Der Irländer könnte es wohl nie vergessen, daß Sir Walter Raleigh in der Umgebung von Youghal mit der Kartoffel, dem eigentlichen Brode Irlands, die ersten Anbauversuche unternahm.

Findling verbrachte den Rest des Tages in Youghal, gönnte sich aber keine Rast, ehe er nicht sein Waarenlager, das auf dem Wege nach Dungarvan jedenfalls schnell gelichtet wurde, vollständig ergänzt hatte. Ein nahrhaftes Essen am Tisch eines Gasthauses, ein Bett für beide und ein Lager für Birk fanden sie für mäßigen Preis. Am folgenden Morgen zogen sie dann nach dem nächsten Dörfchen weiter und hielten auch vor den Farmen an, deren sie auf jede Meile zweien bis dreien begegneten. Meist blieben sie auch über Nacht auf einer solchen Farm, da es nicht rathsam erschien, noch im Dunkeln auf der Landstraße zu sein, wenn Birk auch da war, seinen Herrn und dessen zweirädrigen Kramladen zu vertheidigen.

Wie empfand Findling da die Veränderung gegen jene Zeit, wo er auf den Landstraßen von Connaught so schwer hatte leiden müssen! Welcher Unterschied zwischen seinem Karren und dem des rohen Thornpipe, jenem finstern Kasten, worin er immer dem Ersticken nahe war! Diese Dinge ähnelten sich so wenig, wie Birk dem zottigen Köter des Puppenschaustellers. Jetzt brauchte er nicht mehr durch Drehen des Mechanismus die königliche Familie und den Hof von England Walzer tanzen zu lassen.... Er lebte nicht mehr von Almosen. sondern von seinem täglichen, ehrlichen Verdienst. Das flößte ihm auch Vertrauen für die Zukunft ein, die Hoffnung, in Dublin ebensoviel und wohl noch mehr Erfolg zu haben, als das halbe Jahr in Cork.

[318] Von Cork aus mußte eine Brücke überschritten werden, um zur Landstraße nach Dungarvan zu gelangen.

»Da ist eine Brücke, rief Bob; von solcher Länge hab' ich noch keine gesehen!

– Ich auch nicht,« antwortete Findling.

Die Brücke über die Bai des Blackwater, ohne die man einen starken Tagesmarsch mehr gehabt hätte, ist in der That zweihundertsiebzig Toisen (circa 527 Meter) lang.

Der Karren rollte auf ihrem Plankenbelag hin, über den ein frischer Westwind strich.

»Das ist fast, als wäre man auf einem Schiffe! bemerkte Bob.

– Jawohl, Bob, wie auf einem Schiffe mit Rückenwind. Fühlst Du, wie er uns vorwärts treibt?«

Jenseit der Brücke gelangte man nun in die Grafschaft Waterford, die ihrerseits wieder an die Grafschaft Kilkenny in der Provinz Leinster grenzt.

Findling und Bob ermüdeten sich nicht allzusehr. Sie wanderten ohne besondre Eile weiter. Es kam ihnen ja vor allem darauf an, die in Youghal eingekauften Waaren mit Nutzen abzusetzen, ehe sie Dungarvan erreichten, wo alle Vorräthe erneuert werden sollten. Fünfundzwanzig bis dreißig Meilen, die Abweichungen vom geraden Wege eingerechnet, hätten einen Spaziergang von wenigen Tagen erfordert. Lagen hier auch nahe der Küste nur wenige Dörfer, so trafen sie doch auf weit mehr einzelne Gehöfte, und das bot ihnen Aussichten auf reichlichen Absatz, die sie nicht unbeachtet lassen durften. Eine Eisenbahn gab es auf dem Küstengürtel nicht und die Bauern konnten sich nur schwierig mit den gewöhnlichsten kleinen Bedürfnissen versorgen. Findling wollte sich diesen Vortheil also jedenfalls nicht entgehen lassen.

Der Erfolg gab ihm Recht. Jeden Abend, ehe sie sich zur Ruhe begaben, zählte Bob die seit dem Morgen vereinnahmten Schillinge und Pence, und Findling trug die Summe in sein »Cassabuch« auf der Seite der Einnahmen gegenüber der der Ausgaben für persönliche Bedürfnisse, Essen, Trinken, Nachtlager u. s. w. gewissenhaft ein. Nichts machte Bob mehr Vergnügen, als die Geldstücke hübsch in Ordnung aufzuzählen, und Findling nichts mehr, als sein Guthaben zusammenzurechnen, während Birk zufrieden bei ihnen lag, bis sie fertig waren und dann alle die Ruhe suchten.

Am 3. Mai gelangte der Karren nach dem Flecken Dungarvan. Er war leer – nicht der Flecken, sondern der Karren – und mußte von Grund auf [319] frisch gefüllt werden, was in dem sechstausend Einwohner zählenden Orte keine großen Schwierigkeiten machte. Dungarvan hat einen Hafen für flächer gehende Schiffe, an der Bai gleichen Namens, deren Ufer durch einen fünfhundert Toisen (975 Meter) langen Damm, mit Durchlaß für die Schiffe, verbunden sind. Wie bei Youghal kann man also auch hier über die Bai hinweg gelangen, statt diese umkreisen zu müssen.

Zwei Tage verweilte Findling in Dungarvan. Er hatte hier den trefflichen Einfall, von den Küstenfahrern sehr billig verschiedene Wollenwaaren zu kaufen, die ihm seiner Meinung nach im Lande draußen gern abgenommen würden. Birks Last wurde dadurch auch nicht wesentlich vergrößert.

Die nutzbringende Reise ging immer langsam weiter, und wenn sie nicht von erwähnenswerthen Ereignissen unterbrochen wurde, so blieb sie zum Glück doch auch frei von Unfällen. Die Witterung blieb unverändert günstig. Auf der Landstraße kein Abenteuer. Wer hätte den Kindern auch ein Leid anthun sollen? An den Küsten Südirlands begegnet man überhaupt wenigeren, zu Rohheiten und Gewaltthätigkeiten geneigten Leuten. Die Gegend ist auch nicht so arm, wie viele andre Grafschaften, z. B. die von Connaught und von Ulster. Das Meer liefert hier reiche Beute. Fischfang und Küstenfahrt ernähren den Schiffer und den Matrosen hinreichend, und der Landmann fühlt noch deren Nachbarschaft.

Unter solchen günstigen Verhältnissen gelangte der Karren über das siebzehn Meilen von Dungarvan entfernte Trenmore und erreichte vierzehn Tage später das von hier wieder ebenso weite Waterford an der Grenze von Munster. Nun sollte Findling endlich die Provinz verlassen, wo ihm ein so wechselvolles Schicksal beschieden gewesen war, das seinen Aufenthalt in Limerick, auf der Farm von Kerwan, im Schlosse Trelingar, die Reise nach den Seen von Killarney und endlich den Anfang seiner Handelsthätigkeit in Cork umschloß. Alle traurigen Tage hatte er jetzt schon vergessen. Er erinnerte sich nur seines Verweilens im Schoße der Familie Mac Carthy, und die Tage dort vermißte er allein, wie man den Verlust der Freuden des häuslichen Herdes schmerzlich empfindet.

»Sagt' ich Dir nicht, Bob, begann er da, daß wir in Waterford ausruhen wollten?

– Ich glaube, antwortete Bob. Müde bin ich aber gar nicht, und wenn Du weiter gehen willst...

[320] [323]– Nein, nein; wir wollen einige Tage hier bleiben....

– Und gar nichts thun?...

– O, etwas zu thun giebt es immer, Bob.«

Man »thut« ja doch auch etwas, wenn man, wie hier, eine hübsche Stadt von fünfundzwanzigtausend Einwohnern besucht, die am Ufer des mit einer Brücke von neununddreißig Bogen überspannten Suir liegt. Waterford ist überdies ein ziemlich lebhafter Hafenplatz, was unsern jungen Handelsmann stets interessierte – der bedeutendste des östlichen Munster und mit regelmäßiger Schiffsverbindung mit Liverpool, Bristol und Dublin.


Die verschiedenen Waaren des Wanderladens. (S. 324.)

Nach Auffindung eines passenden Gasthofs, in dem der Karren eingestellt wurde, begaben sich beide Knaben nach den Quais, wo sie einige Stunden umherspazierten. Bei dem Anblick der ein- und auslaufenden Schiffe konnte ihnen ja keine Langeweile ankommen.

»Ei, rief Bob, wenn wir jetzt zufällig Grip wieder träfen!

– Nein, Bob, das ist nicht möglich. Der »Vulcan« geht in Waterford nicht vor Anker, und meiner Berechnung nach muß er jetzt weit fort... an der Küste Amerikas sein.

– Da draußen? fragte Bob, der nach dem entfernten Horizonte hinwies.

– Ja... nur noch weiter; ich glaube aber, er wird in Dublin zurück sein, wenn wir daselbst eintreffen.

– Wie freue ich mich, Grip wiederzusehen! rief der kleine Knabe. Ob er dann wohl immer noch so schwarz aussieht?

– Höchst wahrscheinlich.

– Ach, deshalb kann man ihn doch lieb haben!

– Gewiß, Bob; er hat mich, als ich recht unglücklich war, auch so herzlich geliebt....

– Ja, so wie Du mich!« antwortete das Kind, dessen Augen dankbar erglänzten.

Hätte Findling mehr Eile gehabt, Dublin zu erreichen, so hätte er sich hier auf einem Passagierdampfer, der zwischen Waterford und der Hauptstadt verkehrt, einschiffen können. Der Fahrpreis ist ein sehr niedriger. Da der Waarenkarren ausverkauft war, wäre dieser an Bord geschafft worden, die beiden Knaben hätten dafür, so wie für Verdeckplätze für sich (und den Hund) nur einige Schillinge zu zahlen gehabt und wären binnen zwölf Stunden an ihr Reiseziel gekommen. Außerdem wäre es ein herrliches Vergnügen gewesen, auf einem [323] großen Dampfer über den St. Georgscanal auf dem schönen irischen Meere fast stets angesichts der Küste dahinzugleiten.

Das war gewiß verlockend. Findling blieb jedoch besonnen wie immer und es erschien ihm gar nicht angezeigt, vor der Rückkehr Grips in Dublin einzutreffen. Grip kannte die Stadt, er würde die beiden Kinder durch das Häusermeer lootsen, das ihrer regen Phantasie noch weit ausgedehnter erschien, so daß sie sich nicht darin verirrten. Warum hätten sie auch die so einträgliche Landreise unterbrechen sollen? Die Empfindung für das Richtige, die Findling von jeher auszeichnete, überwog auch den Reiz einer so verlockenden Seefahrt. Nachdem er Bob nicht ohne Mühe zu einer verständigeren Auffassung der Verhältnisse bekehrt hatte, wurde denn beschlossen, die Reise auf dem Küstenlande von Leinster in der bisherigen Weise fortzusetzen.

Drei Tage später sehen wir die beiden also in der Grafschaft Wexford wieder, wo Birk den aufs neue assortierten Karren unverdrossen weiter zog. Ein Maulesel, selbst ein Pferd hätte keine besseren Dienste leisten können. Ging es zu sehr bergaufwärts, dann spannte sich freilich Bob mit an die Deichsel und Findling schob, sich mit der Schulter anstemmend, von rückwärts, so gut er konnte.

Im Hintergrunde der Bai von Waterford verläßt die Landstraße die vielfach von Buchten und kleinen Fjorden eingeschnittene Küste, und damit verloren sie den Theil des Meeres aus den Augen, wo das Cap Carnsore, die äußerste Spitze des Grünen Erin, am weitesten in den St. Georgscanal vorspringt.

Zu beklagen brauchten sie sich deshalb nicht. Statt durch einen wilden, öden Landstrich zu verlaufen, berührt die Straße Dörfer und Weiler und verbindet sie viele Pachtgüter miteinander, wo die verschiedenen Waaren des Wanderladens zu hohen Preisen an den Mann zu bringen waren. In Wexford langte Findling auch erst am 27. Mai an, obgleich die Luftlinie zwischen hier und Waterford nur etwa dreißig Meilen mißt. Freilich war der Karren genöthigt gewesen, nach rechts und links vielfach vom geraden Wege abzuweichen.

Wexford ist ein Städtchen von zwölf- bis dreizehntausend Seelen. Es liegt am Flusse Sancy, nahe der Mündung desselben, und macht den Eindruck, als wäre eine kleine englische Stadt mitten in eine irische Grafschaft versetzt worden. Das kommt daher, daß Wexford der erste Waffenplatz war, den [324] die Engländer hierzulande inne hatten, und der Ort hat dann, zur Stadt aufgewachsen, seine ursprüngliche Physiognomie beibehalten. Findling erstaunte nicht wenig, hier so viele Ruinen, verfallene Wälle und zerstörte Vertheidigungswerke zu sehen. Er kannte aber die Geschichte dieser Gegend zur Zeit Georgs III. nicht, wo hier, während der erbitterten Kämpfe zwischen Protestanten und Katholiken, schreckliche Metzeleien auf beiden Seiten, Feuersbrünste und Verwüstungen zur Tagesordnung gehörten. Vielleicht war es besser, daß er hiervon nichts wußte, denn es sind entsetzliche Erinnerungen, die auf so vielen Seiten der irischen Geschichte mit Blut geschrieben stehen. Das konnte er noch zeitig genug kennen lernen. wenn er dazu Muße hatte.

Von Wexford aus mußte sich der wohlausgestattete Wagen wieder von der Küste entfernen, die er erst fünfzehn Meilen weiter hin, in der Nähe des Hafens von Arklow, wieder treffen sollte. Das war, und zwar aus zwei Gründen, nicht zu bedauern.

Ersteas beherbergt dieser Theil der Grafschaft eine dichtere Bevölkerung und hat auch viel mehr Dörfer und Einzelgüter, wohl infolge der Bahnlinie, die Wexford über Arklow und Wicklow mit Dublin in Verbindung setzt.

Zweitens ist das Land hier ausnehmend schön. Der Weg verläuft durch üppige Wälder mit mächtigen Buchen und Eichen, darunter die im gaëlischen Lande so bemerkenswerthe schwarze Eiseneiche. Die Landschaft war von der Slaney, der Ovoca und deren Nebenflüssen ebenso reich bewässert, wie sie zur Zeit der religiösen Zwistigkeiten mit Blut begossen wurde. Und gerade dieser Theil des irischen Bodens, der an Schwefel und Kupfer so reich ist, auf den so viele Wasseradern von den nahen Bergen herabrieseln, die sogar etwas Gold führen – dieser besonders begünstigte Theil mußte zum Schauplatz der wildesten Kämpfe werden. Die Spuren davon erkennt man noch heute in Ennscarthy, in Ferns und in andern Orten bis nach Arklow hin, wo die Söldner des Königs Georg von dreißigtausend Rebellen – so nannte man die, die ihr Vaterland und ihren Glauben vertheidigten – aufs Haupt geschlagen wurden.

Zu einem Aufenthalt im Hafen von Arklow glaubte Findling seinem Personal – wenn man Birk als Person zählt – einen Rasttag aufnöthigen zu müssen.

Arklow mit fünftausend Einwohnern ist ein Fischerort mit regem Leben. Den Hafen schließen breite Sandbänke vom hohen Meere ab. Am Fuße mit grünen See-Eichen bedeckter Felsen werden hier viele Austern gefangen, die an Ort und Stelle natürlich billig zu haben sind.

[325] »Ich glaube sicherlich, daß Du noch keine Austern gegessen hast? fragte Findling den Gourmand Bob.

– Niemals.

– Möchtest Du sie denn probieren?

– Ei, herzlich gern.«

Bob wollte so etwas immer gern. Hier kam er aber damit nicht weiter, als bis zu einem Versuche.

»Nein, da ist mir Hummer lieber! erklärte er.

– Du bist nur noch zu jung zum Austern essen, Bob.«

Und Bob erwiderte, er sehne sich gar sehr nach dem Alter, wo er diese Mollusken richtiger zu schätzen verstehen werde.

Am Vormittag des 19. Juni legten beide die Wegstrecke nach Wicklow zurück, dem Hauptorte der gleichnamigen Grafschaft, die an die von Dublin anstößt.

Von hier aus kamen sie durch die schönste und merkwürdigste Gegend von ganz Irland, die von Touristen fast ebenso viel besucht wird, wie das Seengebiet von Killarney, und die dem Blicke die entzückendste Abwechslung bietet. Da und dort streben Berge empor, die mit denen von Donegal und Kerry wetteifern können, schimmern herrliche Seen, wie die von Bray und von Dan, deren klares Wasser die Alterthümer an ihren Ufern wiederspiegelt. Ferner dehnt sich hier, längs des Ovocabettes, das Thal von Glendalough aus mit seinen epheuumrankten Thürmen, seinen alten Kapellen am Rande eines mit glitzernden Moränen besetzten Sees, und das Heilige Thal mit den sieben Kirchen von Saint-Kevin, wo die Wallfahrer aus dem ganzen Erin zusammenströmen.

Das Handelsgeschäft der Knaben entwickelte sich inzwischen mehr und mehr. Ueberall wurden die jungen Hausierer willkommen geheißen. Freilich zogen sie hier durch eine der wohlhabendsten Landschaften Irlands, wo sich schon die Nähe der großen Hauptstadt bemerkbar machte. Von Arklow aus verbindet die Landstraße nämlich eine Anzahl Seebadeorte, die zur Zeit bereits von der Dubliner Gentry besucht waren. Diese ganze elegante Welt hatte wohlgefüllte Taschen. In diesen Bädern sah man mehr Guineen, als Schillinge in den Ortschaften von Sligo oder Donegal. Es bedurfte nur des Talents für den jungen Händler, um davon etwas in seine Tasche herüberzulocken. Das gelang ihm auch nach und nach, und Findling hatte die beste Aussicht, mit verdoppeltem Vermögen in Dublin anzukommen.

[326] Da hatte Bob einen recht guten Gedanken, der seinem großen Bruder bisher nicht gekommen war, einen Gedanken, dessen Ausführung ihm hundert Procent Nutzen abwerfen mußte, allein durch die vielen Kinder reicher Leute, die sich gewöhnlich auf dem Strande von Wicklow tummelten.

Bob war nämlich – er hatte das schon häufig bewiesen – sehr geschickt im Ausnehmen von Vogelnestern, und solche giebt es auf den Chausseebäumen Irlands in großer Menge.

Bisher hatte Bob seine Kunstfertigkeit im Klettern noch gar nicht ausgebeutet. Nur ein- oder zweimal verkaufte er um geringen Preis einige Vögel, die er dem Neste auf einer hohen Buche entnommen oder in einer sehr einfachen Falle gefangen hatte. Ehe sie Wicklow verließen, fiel es ihm aber ein, daraus einen Erwerb zu machen, und daher bat er Findling, einen Bauer anzuschaffen, der eine größere Anzahl Sperlinge, Meisen, Finken, Stieglitze und andre kleine Vögel aufnehmen konnte.

»Und wozu? fragte Findling. Willst Du etwa Vögel züchten?

– Keineswegs.

– Was soll also damit geschehen?

– Ich will sie wieder fliegen lassen.

– Weshalb sollen sie dann erst in einen Käfig gesteckt werden?«

Wenn Findling das zuerst nicht begriff, so verstand er es doch, als Bob sich etwas weiter erklärt hatte.

Dieser beabsichtigte nämlich, den Thierchen gegen Entgelt die Freiheit zu geben. Mit den zwitschernden Vögeln im Käfig wollte er unter die nicht weniger zwitschernde Schaar von Kindern am Strande der Seebäder treten, die gewiß gern bereit waren, den oder jenen der Gefangenen Bobs für einige Peace loszukaufen; ist's doch so reizend, einen Vogel lustig davonfliegen zu sehen, wenn man für ihn das Lösegeld bezahlt hat.

Bob zweifelte gar nicht an dem Erfolge seiner Speculation und auch Findling erkannte die praktische Idee des Kleinen an. Ein Versuch kostete ja so gut wie nichts. So wurde also ein Käfig gekauft, und Bob war von Wicklow kaum eine Meile weit weg, da hatte er diesen schon voller Vögel, die unruhig darin umherflatterten.

In den zahlreichen Badeorten, die jetzt viele Gäste hatten, ließ sich das Nebengeschäft sehr gut an. Während Findling seine Waaren vertrieb, erweckte Bob mit dem Käfig in der Hand das Mitleid der jungen Gentlemen und der [327] jungen Misses für seine hübschen Gefangenen. Unter lautem Jubel der Kinder flogen die freigekauften Vögel davon; der Käfig wurde bald leer und die Tasche des findigen Knaben bald voll von den dafür vereinnahmten Pence.

Jetzt freute er sich desto mehr über seinen einträglichen Gedanken und berechnete jeden Abend diesen besondern Gewinn, ehe derselbe der Gesammteinnahme zugeschlagen wurde.


Mit Bobs Vögeln wurde ein hübsches Geld verdient. (S. 330.)

Beide Knaben befanden sich, immer längs der Küste nach Dublin hinaufwandernd, am Nachmittage des 9 Juli in Bray, das nur noch etwa fünfzehn Meilen [328] von Dublin entfernt und am Fuße eines zu der Gruppe der Wicklow-Mounts gehörigen Vorgebirges liegt, das von dem dreitausend Fuß hohen Lugnaquilla überragt wird. Dank dieser bezaubernden Lage über trifft es hierin sogar Brigthon an der englischen Küste. So urtheilt wenigstens Fräulein de Bovet, die bei ihrer Beschreibung der Schönheiten der Grünen Insel einen sehr seinen, künstlerischen Geschmack erkennen läßt.


Findling hielt ihn mit den Knien fest. (S. 332.)

Ganz Bray besteht nur aus schönen Hôtels, blendend weißen Villen und zierlichen Landhäusern und zählt im Sommer mit den Badegästen gegen sechstausend [329] Bewohner. Die Straße bis Dublin ist fast ohne Unterbrechung von hübschen Landsitzen umrahmt. Bray steht mit der Hauptstadt auch durch einen Schienenweg in Verbindung. Dieser verschwindet nicht selten unter den hereintreibenden Dunstmassen vom Meere, das schäumend in die enge, nach Süden zu durch ein schroffes Vorgebirge abgeschlossene Bai von Killircey fluthet. Wie überall auf der Smaragdenen Insel finden sich auch bei Bray zahlreiche Ruinen: hier die Ueberreste einer alten Benedictinerabtei, dort eine Gruppe sogenannter Martellothürme, die im 13. Jahrhundert zur Küstenvertheidigung dienten. Erklimmt man den Abhang des Caps, so kann man mittelst guten Fernrohres und bei günstiger Witterung die Umrisse der Walliser Berge jenseits des Irischen Meeres erkennen. Findling erfreute sich jedoch an dieser Aussicht nicht, einmal weil er kein Fernrohr besaß, und dann, weil er Bray unerwartet schnell verlassen mußte.

Auf dem sandigen, von den Wellen weithin überspülten Strande tummeln sich sehr viele Kinder, ebenso wie längs der »Parade«, d. i. des Molos von Bray.

Hier treffen die kleinen pausbäckigen und rothwangigen Reichen zusammen, deren Leben nur ein ununterbrochener Sonnenschein war, Knaben, die die Ferienzeit genießen, und Mädchen, die sich unter der Aufsicht ihrer Mütter und Erzieherinnen belustigen. Man wäre jedoch nicht in Irland, wenn – selbst hier in Bray – nicht das darbende Elend durch eine Rotte zerlumpter Jungen vertreten gewesen wäre, die den Tang am Ufer durchwühlten.

Die ersten drei Tage waren – was den Handel der Knaben betraf – recht ergiebig, so daß der Karren sich beinahe leerte. Sein Inhalt bestand auch aus Dingen, die den fremden Kindern viel Vergnügen versprachen, aus billigen, reichen Gewinn abwerfenden Spielwaaren. Mit den Vögeln Bobs wurde ebenfalls hübsches Geld verdient. Von früh vier Uhr beschäftigte sich dieser mit dem Fange, der seinen Käfig meist schnell füllte. Am Nachmittage drängte sich dann die jugendliche Kundschaft, ihn wieder zu entleeren. Immerhin durften Findling und Bob ihr Reiseziel Dublin nicht aus den Augen verlieren; sie freuten sich ja auch gar zu sehr darauf, den »Vulcan« dort vor Anker und Grip auf seinem Posten zu finden, Grip, von dem sie nun schon seit mehreren Monaten ohne jede Nachricht waren.

Findling gedachte also am folgenden Tage aufzubrechen, als ein Zwischenfall eintrat, der seine Abreise unerwarteter Weise noch beschleunigte.

[330] Es war am 13. Juli. Gegen acht Uhr des Morgens kam Bob mit dem frischbevölkerten Käfig nach dem Hafen, wo er für den letzten Tag noch eine reiche Ernte zu machen hoffte.

Noch befand sich niemand am Strande oder auf der »Parade«.

Als Bob gerade am Anfang des Molos vorüberkam, begegnete er drei Knaben von zwölf bis fünfzehn Jahren, übermüthigen Bürschchen in seiner Kleidung, mit dem Matrosenhut tief im Nacken und scharlachrothen, goldknöpfigen Jacken, die mit dem vorschriftsmäßigen Anker verziert waren.

Bob wollte womöglich seinen Vorrath gleich bei dieser Gelegenheit abzusetzen suchen, da er ihn bis zur eigentlichen Badestunde wieder erneuern zu können hoffte. Die etwas höhnisch aussehenden und deshalb wenig Vertrauen erweckenden jungen Gentlemen veranlaßten ihn jedoch, davon abzustehen. Er fürchtete sammt seinen Vögeln einen übeln Empfang. Das Dreiblatt schien weit mehr aufgelegt, ihn und seinen Handel zu verspotten, darum ging er an den Knaben stumm vorüber.

Das paßte aber den Bürschchen nicht, deren ältester – schon ein kleiner Herr mit recht boshaften Augen – Bob den Weg vertrat und ihn barsch fragte, wohin er gehe.

»Ich will eben wieder nach Hause gehen, antwortete Bob höflich.

– Und der Käfig da?...

– Der gehört mir.

– Die Vögel darin aber?...

– Die hab' ich heute früh gefangen.

– Aha, das ist der Junge, der sich immer am Strande umhertreibt! rief da einer der drei Gentlemen. Den hab' ich schon gesehen... ich erkenne ihn wieder.... Für zwei bis drei Pence läßt er allemal einen der Vögel fliegen....

– Jetzt aber, fiel ihm der größere ins Wort, sollen alle ihre Freiheit umsonst haben... alle!«

Damit entriß er Bob den Käfig, öffnete ihn, und die ganze gefiederte Gesellschaft flog davon.

Für Bob war das ein fühlbarer Verlust, und er rief bestürzt:

»Meine Vögel!... Meine Vögel!«

Die frechen Knaben antworteten darauf nur durch ein höhnisches Gelächter.

Erfreut durch ihre garstige Handlung, wollten sie sich schon nach dem Molo begeben, als sie hinter sich eine Stimme vernahmen.

[331] »Das war ein schlechter Streich, den Ihr ausgeführt habt!«

Findling war mit Birk eben auf dem Platze erschienen. Er sah, was sich zugetragen hatte, und rief mit lauter Stimme:

»Ja... das war ein Unrecht, eine Schlechtigkeit von Euch!«

Und als er den größeren Burschen stärker ins Auge gefaßt hatte, setzte er hinzu:

»Uebrigens ist eine solche Bosheit von dem Grafen Ashton nicht zu verwundern!«

Hier stand in der That der Erbe des Marquis vor ihm. Die hochvornehme Familie hatte sich von Trelingar-castle aus nach diesem Seebade begeben und bewohnte seit dem Tage vorher eine der schönsten Villen des Ortes.

»Ah, das ist der Schlingel von Groom! versetzte mit verächtlichstem Tone der Graf Ashton.

– Gewiß!... Ich bin's.

– Und, irre ich nicht, ist da auch der Köter, der meinen Wachtelhund todtgebissen hat?... Er ist also davon gekommen?... Ich glaubte ihm das Lebenslicht ausgeblasen zu haben....

– Es scheint nicht so, bemerkte Findling, der sich durch das hochmüthige Auftreten seines frühern Herrn nicht irre machen ließ.

– Nun, da ich Dich erwische, arger Schlingel, will ich gleich heim »zahlen, was ich Dir schulde, rief der Graf Ashton, mit geschwungenem Stocke auf ihn eindringend.

– Oder Sie... Sie werden vielmehr den Preis für Bobs Vögel zahlen, Herr Piborne.

– Nein... erst Du... dann ich!«

Damit schlug er schon mit seinem Stöckchen auf Findling los.

Dieser, obwohl jünger als sein Gegner, war ihm doch an Körperkraft gleich und an Muth überlegen. Mit einem Satze sprang er auf den Grafen Ashton zu, entriß ihm den Stock und versetzte ihm ein paar schallende Ohrfeigen.

Der Nachkomme der Piborne's wollte Gleiches mit Gleichem vergelten... er kam jedoch gar nicht dazu. Im nächsten Augenblick lag er auf der Erde und Findling hielt ihn hier mit den Knien fest.

Seine beiden Kameraden wollten ihm zu Hilfe kommen. Da richtete sich jedoch Birk auf und zeigte ihnen knurrend die Zähne. Er würde den [332] Bürschchen wohl übel mitgespielt haben, wenn ihn sein Herr, der wieder aufgestanden war, nicht gehalten hätte.

Dann wandte sich dieser an Bob.

»Komm her!« rief er ihm zu.

Ohne sich weiter um den Grafen Ashton und die beiden andern zu bekümmern, die sich wohl hüteten, mit Birk in Streit zu kommen, kehrten Findling und Bob nach ihrem Gasthofe zurück.

Nach einem für die Eigenliebe des jungen Piborne so unerquicklichen Auftritte schien es das beste, Bray schleunigst zu verlassen. Es mußte immerhin eine unangenehme Geschichte werden, wenn der Geschlagene, obwohl er der Angreifer war, Klage erhob. Bei richtiger Beurtheilung der menschlichen Natur hätte sich Findling freilich sagen müssen, daß der thörichte und eitle junge Mann sich hüten würde, ein Abenteuer, um dessenwillen er erröthen mußte, unter die Leute zu bringen. Da er dessen aber nicht ganz sicher war, beglich er seine Rechnung, spannte Birk vor den jetzt leeren Karren, und bald nach acht Uhr hatten Bob und er Bray schon verlassen.

Sehr spät am Abend desselben Tages kamen unsre jungen Reisenden in Dublin an, nachdem sie binnen drei Monaten von Cork aus eine Strecke von fast zweihundertfünfzig Meilen zurückgelegt hatten.

10. Capitel
Zehntes Capitel.
In Dublin.

Dublin!... Findling in Dublin!... Jetzt gleicht er dem Thespisjünger der sich zum ersten Male in großen Rollen versucht oder von einer umherziehenden Gesellschaft an die Bühne der Großstadt übergeht.

Dublin, die Hauptstadt Irlands, hat eine Bevölkerung von dreihundertfünfundzwanzigtausend Seelen. Verwaltet von einem Lordmajor, der gleichzeitig Chef des Militärwesens und damit überhaupt der zweithöchste Beamte der Insel ist, während ihm vierundzwanzig Aldermen, zwei Sheriffs und hundertvierundvierzig [333] Räthe zur Seite stehen, gehört Dublin mit zu den bedeutendsten Städten des britischen Inselreichs. Handelsthätig mit seinen Docks, gewerbfleißig mit seinen Fabriken, wissenschaftlich hervorragend mit seiner Universität und seinen Schulen, reichen hier dennoch weder die Workhouses für die Armen, noch die Ragged-Schools für die Verlassenen und Waisen aus.

Da er auf die letzteren beiden Anstaltsorte keine Ansprüche zu machen gedachte, mußte Findling also ein Gelehrter, ein Kaufmann oder Gewerbetreibender werden, wenn ihn die Zukunft nicht etwa zum Rentier machte.

Cork verlassen zu haben, bedauerte unser junger Held gewiß nicht, und furchtsam machte es ihn nicht, den Vorschlägen Grips, die ja mit seinen geheimen Wünschen so schön übereinstimmten, gefolgt zu sein. Auch der Gedanke, daß der Kampf ums Dasein bei den vielen Mitbewerbern hier weit schwerer werden müsse, vermochte ihn nicht zu ängstigen – er war mit Vertrauen von Cork abgereist und sein Vertrauen war unterwegs nicht erschüttert worden.

Die Grafschaft Dublin gehört zur Provinz Leinster. Bergig im Süden, eben oder wellenförmig im Norden, erzeugt sie vor allem viel Lein und Hafer. Hierin liegt indeß die Quelle ihres Reichthums nicht. Diesen verdankt sie dem Meere, dem Seehandelsverkehr, der sich auf eine Jahresbewegung von zwölftausend Schiffen mit dreiundeinhalb Millionen Tonnen beziffert. Hiermit nimmt Dublin unter allen Häfen des Vereinigten Königreichs die siebente Rangstufe ein.

Die Bai von Dublin, an der sich die elf Meilen im Umfang messende Stadt erhebt, hält den Vergleich mit den schönsten in Europa aus. Sie erstreckt sich vom Hafen Kingstown im Süden bis zum Hafen Howth im Norden; der von Dublin selbst wird durch die Mündungen der Liffey gebildet. Zwei zur Abhaltung der Versandung bis weit hinaus vorgeschobene »Walls« haben die Barre, die sonst den Zugang zum Hafen erschwerte, beseitigt und gestatten jetzt Schiffen bis zu zwanzig Fuß Tiefgang die Fahrt auf dem Flusse bis zur ersten (der Carlisle-) Brücke hinaus.

Vom Meere aus, bei einem sonnigen Tage mit klarer Luft, muß man nach dieser Hauptstadt kommen, um das prächtige Gesammtbild mit einem Blicke erfassen zu können. Bob und Findling hatten sich dieses Glücks nicht zu erfreuen gehabt. Die Nacht war finster und die Atmosphäre dunsterfüllt, als sie die ersten Häuser einer Vorstadt von Dublin erreichten, nachdem sie der Straße längs der Bahnlinie, auf der man von Kingstown aus die Hauptstadt binnen zwanzig Minuten erreicht, nachgegangen waren.

[334] Der Anblick der unteren Quartiere der Stadt in trübem, nur von wenigen Gasflammen unterbrochenem Dunste war keineswegs einladend zu nennen. Der von Birk gezogene Wagen bewegte sich durch enge, verwickelte Gassen dahin. Ueberall schmutzige Häuser, geschlossene Läden und offne public houses, überall eine Menge obdachloser Armer oder ein Gedränge ganzer Familien in qualmerfüllten Spelunken, und das widerwärtige Bild der Trunkenheit, vor allem der von Whisky, der den schlimmsten Rausch verursacht und so oft Streitigkeiten, Beleidigungen und Gewaltthätigkeiten erzeugt.

Die beiden Knaben hatten so etwas auch anderswo gesehen, darüber erstaunten sie also nicht besonders. Wie zahlreich lungerten hier aber auch Kinder ihres Alters herum, die auf den Stufen und Ecksteinen saßen oder Abfälle durchwühlten – alle barfuß, ohne Kopfbedeckung und mit jämmerlichen Lumpen umhüllt! Bob und Findling kamen an einer, jetzt schwer zu überblickenden großen Kirche vorbei, einer der beiden protestantischen Kathedralen, die mit den Millionen des großen Brauers Leo Guineß und des großen Branntweinbrenners Roe wieder hergestellt worden war. Von dem gewaltigen Thurme mit seiner achteckigen Spitze. die von den Bewegungen seines achtstimmigen Glockenspiels ins Schwanken kommt, schlug gerade die neunte Stunde.

Von der langen und schnellen Wanderung von Bray bis hierher ermüdet, hatte Bob im Karren Platz genommen. Findling schob diesen zur Entlastung Birks. Er sachte ein Unterkommen für die Nacht, bereit, es am folgenden Tage, wenn nöthig, umzutauschen. Ohne es zu wissen, durchzog er den Stadttheil, der »die Freiheiten« genannt wird, nahe dem Eingang der Hauptstraße Saint-Patrick, die von der erwähnten Kathedrale bis zur andern, Christ-Church, hin verläuft. Es ist das eine breite, mit Häusern, die früher als comfortabel galten, besetzte Straße, auf die ungesunde Gassen, schmutzige »Lanes« einmünden. Diese sind angefüllt mit erbärmlichen Höhlen, mit Löchern, denen gegenüber man die Hütte der Hard noch vorgezogen hätte. Findling erinnerte sich dieser mit heimlichem Entsetzen. Und doch befand er sich ja nicht in einem Dorfe von Donegal, sondern in Dublin, der Hauptstadt der Smaragdnen Insel, und er besaß jetzt mehr verdiente Guineen, als alle diese Bettelkinder Farthings in der Tasche haben mochten. Er suchte auch nicht nach einem jener verdächtigen Häuser, wo es mit der Sicherheit sehr zweifelhaft bestellt ist, sondern nach einem bescheidnen Gasthof, in dem Nachtlager und Nahrung für bescheidnen Preis zu haben waren.

[335] Das fand er zufällig in der Mitte der Saint-Patrick-Street, ein Gasthaus von bescheidnem, aber ordentlich erscheinendem Aeußern, in dem der Karren in einem Schuppen Platz fand. Nach dem Abendessen stiegen die Knaben nach ihrem engen Kämmerchen hinauf, und in dieser Nacht hätten alle Glockenspiele der Kathedrale, aller Lärm der Freiheiten ihren Schlaf nicht zu stören vermocht.

Am folgenden Tage standen sie frühzeitig auf; sie wollten auf Recognoscierung ausgehen und vorzüglich vielleicht Grip aufsuchen, was ja nicht schwierig sein konnte, wenn der »Vulcan« in seinem Heimathafen wieder zurück war.

»Birk nehmen wir doch mit? fragte Bob.

– Natürlich, antwortete Findling, er muß doch die Stadt kennen lernen.«

Birk ließ sich darum nicht bitten.

Dublin bildet ein Oval, dessen großer Halbmesser drei Meilen beträgt. Die von Westen nach Osten fließende Liffey scheidet es in zwei fast gleich große Theile. An ihrer Mündung verbindet sich der Strom mit einem, die Stadt umrahmenden doppelten Canal – im Norden dem Royal-Canal, der sich an der Midland-Great-Western hinzieht, im Süden dem Grand-Canal, der bis Galway reicht und den Atlantischen Ocean mit dem Irischen Meere verbindet.

Die Saint-Patrick-Street zählt unter ihren Bewohnern – und zwar als den wohlhabensten – zahlreiche jüdische Trödler. Von diesen Händlern entnehmen die Paddys der untern Volksclassen alles, was zu ihrer sehr primitiven Kleidung gehört, ausgebesserte Leibwäsche, abgetragene Röcke, Hosen mit aufgesetzten andersfarbigen Flicken, unbeschreibbare Männerhüte und Frauenhüte mit unmöglichen Federn. Hier versetzen die Leute auch ihre Lumpen für wenige Pence, die sie dann in den benachbarten »Inns«, wo Whisky und Gin verschänkt werden, schnellstens vertrinken. Jene Kramläden erregten schon die Aufmerksamkeit Findlings.

Jetzt zu früher Morgenstunde waren die Straßen fast menschenleer. Man steht spät auf in Dublin, wo es übrigens nicht viel Industrie giebt. Werkstätten findet man fast gar nicht, außer den Etablissements, die Seide, Flachs, Wolle und vor allem Popeline (Halbseidenstoffe) erzeugen, deren Fabrication einst durch Franzosen eingeführt wurde, welche in Folge der Aufhebung des Edicts von Nantes hier eingewandert waren. Brauereien und Brennereien stehen dagegen in hoher Blüthe. Hier erhebt sich die großartige und weitberühmte Whiskybrennerei [336] von Roe, dort die ausgedehnte Stoutbrauerei von Guineß, die einen Werth von hundertzwanzig Millionen Mark haben soll und die durch unterirdische Canäle mit dem Victoria-Dock in Verbindung steht, von wo hunderte von Schiffen ausgehen, die das Bier nach beiden Welten befördern. Ist aber die Industrie dürftig, so nimmt der Handelsverkehr wenigstens immer mehr zu, und was die Ausfuhr von Schweinen und Rindern betrifft, hat sich Dublin unter den Häfen des Vereinigten Königreichs sogar zum ersten Range emporgeschwungen.

[337] Findling wußte das, da er den volkswirthschaftlichen Theil der Zeitungen und Broschüren, die er verkaufte, stets zu lesen pflegte.

Während sie nach der Liffey wanderten, verloren Bob und er nichts Bemerkenswerthes aus den Augen. Bob schwatzte unterwegs nach alter Gewohnheit.

»O, diese Kirche!... Ah, dieser Platz!... Welch' ungeheures Gebäude!... Welch' schöner Square!«

Das genannte Gebäude war die Börse, die Royal-Exchange. In der Dame-Street lag die City-Hall, die Commercial Building, der Sammelplatz für die Kaufleute der Stadt. Weiterhin erschien das Schloß auf dem Rücken des Cork-Hill, mit seinem großen, zinnengekrönten Thurm und den schwerfälligen Backsteinmauern. Früher ein von Elisabeth ausgebautes Festungswerk, dessen Spuren man kaum noch wiederfindet, dient es jetzt als Amtswohnung des Lord-Lieutenant und als Sitz der Civil- und Militärbehörden.


Findling durchzog den Stadttheil »die Freiheiten«. (S. 335.)

Darunter breitet sich der Steffen-Square aus mit einer Reiterstatue Georgs I., die von üppigen Rasenplätzen und schönen Bäumen umgeben ist. Die Einfassung des Square aber bilden ebenso traurige wie symmetrische Häuser, unter denen der Palast des protestantischen Erzbischofs und der Boardroom die umfänglichsten sind. Weiter nach rechts liegt dann der Merrion-Square, wo sich die alte Ritterburg von Leinster, das Hôtel der königlichen Gesellschaft, mit korinthischer Façade und dorischem Vestibül, erhebt und an dem auch das Geburtshaus O'Connell's liegt.

Findling ließ Bob plaudern und gab sich seinen Gedanken hin. Er bemühte sich, aus dem, was er sah, einen praktischen Nutzen zu ziehen. Noch wußte er ja nicht, was er mit seinem kleinen Vermögen beginnen, welche Art von Handel er mit Aussicht auf Erfolg anfangen sollte.

Auf ihrem Wege durch die ärmlichen Straßen, die die bessern Quartiere umgeben, verliefen sich die Knaben mehr als einmal, so daß sie eine Stunde nach ihrem Aufbruche aus der Saint-Patrick-Street noch nicht einmal die Quais der Liffey erreicht hatten.

»Einen Fluß giebt's hier also wohl gar nicht? fragte Bob wiederholt.

– Doch... einen Fluß, der in den Hafen mündet,« versicherte Findling.

Immer fast blindlings weitergehend, gelangten sie nach einer Gruppe vier Etagen hoher, aus Portland-Cement errichteter Gebäude, mit hundert Meter langer griechischer Façade, einem von vier korinthischen Säulen getragenen Fronton und mit zwei Eckpavillons mit Pilastern und Attiken. Um das Ganze [338] erstreckte sich ein wirklicher Park, worin junge Leute dem Sport aller Art huldigten. Das Ganze war aber nicht etwa eine Art Turnanstalt, sondern die von Elisabeth gegründete Universität, das Trinity-College. Die jungen Leute hier waren irische Studenten, lauter eifrige Sportsmen, die sich an Kühnheit und Feuer mit ihren Kameraden von Oxford und Cambridge messen können. Das Ganze glich freilich nicht der Ragged-School von Galway, und der Vorsteher hier mochte wohl eine ganz andre Persönlichkeit sein, als jener O'Bodkins.

Bob und Findling wandten sich von hier aus weiter nach rechts, und sie hatten kaum hundert Schritte gemacht, als der kleine Knabe jubelnd ausrief:

»Dort... dort sehe ich Masten!

– Also, Bob, muß auch ein Strom dort sein!«

Von den Masten sah man zunächst freilich nur die über die Häuser am Quai hinausragenden Spitzen. Deshalb suchten sie sich also eine nach der Liffey hinabführende Straße, wobei ihnen Birk, mit der Nase an der Erde schnüffelnd, als hätte er eine Spur gewittert, lustig vorauslief.

Ihm schnell folgend, schenkten sie der Christ-Church-Kathedrale nur einen flüchtigen Blick. Diese liegt aber von der ersten Kathedrale nur durch die Länge der Saint-Patrick-Street getrennt – ein Beweis für die weiten Umwege, die die Knaben gemacht hatten. Letztere ist übrigens eine recht bemerkenswerthe Kirche, erbaut im 13. Jahrhundert in Farm eines lateinischen Kreuzes, mit Nebenthurm und spitzen Dachreitern u. s. w. Doch sie näher zu betrachten, dazu fand sich wohl immer noch einmal Zeit.

Endlich erreichten Findling und Bob das rechte Ufer der Liffey.

»O, wie schön das ist! rief der eine.

– Etwas so Schönes haben wir noch nie gesehen!« meinte der andre.

In Limerick wie in Cork, am Shannon wie an der Lee würde man freilich das herrliche Bild granitner Quais, die mit prächtigen Gebäuden besetzt sind, vergeblich sachen – zur Rechten die von Ushers-Aleschants. von Word und von Essex, zur Linken die von Ellis, Avan, von Kings-Inn und andre.

Hier gingen die Seeschiffe indeß nicht vor Anker. Ihr Mastenwald erhob sich weiter stromabwärts in einem tiefen Einschnitt des linken Ufers der Liffey.

»Das sind dort jedenfalls die Docks? sagte Findling.

– Ei, komm, dahin gehen wir sofort!« antwortete Bob, dessen Neugier das Wort »Dock« erregte.

[339] Die beiden Hälften von Dublin stehen durch neun Strombrücken in bequemer Verbindung, und die östlichste davon, die Carlisle-bridge – gleichzeitig die bedeutendste – führt unmittelbar von der Westmoreland-Street auf der einen, nach der Sackeville-Street auf der andern Seite.

In die letztere bogen die Knaben nicht ein, denn das hätte sie zu weit von den Docks weggeführt. Dagegen musterten sie aufmerksam alle Schiffe, die unterhalb der Carlisle-bridge auf der Liffey lagen. Vielleicht fanden sie den »Vulcan« darunter. Den Dampfer Grips hätten sie ja unter Tausenden erkannt.

Der »Vulcan« lag aber nicht an den Quais der Liffey. Vielleicht war er noch gar nicht zurückgekehrt, vielleicht ankerte er inmitten der Docks oder war wegen nothwendiger Ausbesserungen ins Trockendock gegangen.

Findling und Bob folgten dem Quai am linken Stromufer. In Gedanken an den »Vulcan« bemerkte der eine vielleicht gar nicht das Custom-house (Zollgebäude), ein mächtiges, viereckiges Bauwerk mit hundert Fuß hoher, von einer Statue der Hoffnung bekrönter Kuppel. Der andre dagegen blieb einen Augenblick in Betrachtung verloren stehen. Er dachte daran, ob wohl jemals auch Waaren von ihm hier der Zollbehandlung unterliegen würden. Ein erhebendes Gefühl mußte es sein, hier Frachtgüter, die aus fremdem Lande für ihn eingetroffen wären, in Empfang zu nehmen Doch sollte ihm das jemals beschieden sein?

Die Knaben gelangten nach den Victoria-Docks. In dem Bassin, dem Herzen der Handelsstadt, dessen Venen nach allen Meeren hin ausstrahlen, lagen eine Menge Schiffe, die entweder ihre Ladung löschten oder aufs neue befrachtet wurden.

Da entfuhr Bob ein Schrei.

»Der »Vulcan«! Da... da!«

Wirklich lag der »Vulcan« an einem der Quais und nahm eben Fracht ein.

Bald darauf hatte Grip, der an Bord unbeschäftigt war, seine beiden Freunde gefunden.

»Endlich... seid Ihr da!« rief er, sie an sich drückend, als sollte er sie ersticken.

Alle drei gingen nun, um ungestörter plaudern zu können, am Quai wieder zurück nach dem Ufer des Royal-Canal zu, wo dieser in die Liffey einmündet.

Hier war es hübsch still.

[340] »Seid wann seid Ihr denn in Dublin? fragte Grip, der beide Knaben an den Armen führte.

– Seit gestern Abend, erwiderte Findling.

– Erst?... Ich sehe, mein Boy, Du hast Dir Zeit genommen zu einem Entschlusse....

– Nein, das nicht, Grip; nach Deiner Abfahrt zögerte ich gar nicht mehr, Cork zu verlassen.

– Ja, das ist aber drei Monate her, und ich bin inzwischen zweimal in Amerika gewesen. Allemal, wenn ich nach Dublin kam, bin ich in der Hoffnung, Dich zu treffen, in der ganzen Stadt umhergelaufen... doch keine Spur von Findling oder dem Kleinen und Eurem Birk. Darauf hab ich an Dich geschrieben. Hast Du keinen Brief von mir erhalten?

– Nein, Grip, jedenfalls, weil wir bei dessen Eintreffen gar nicht mehr in Cork waren. Wir befinden uns schon volle zwei Monate unterwegs.

– Zwei Monate! rief Grip. Nun sagt mir, welchen Zug habt Ihr denn hierher benützt?

– Welchen Zug? fragte Bob, den Heizer verwundert anschauend, den Zug mit unsern Beinen.

– Ihr habt die ganze Strecke zu Fuß zurückgelegt?

– Natürlich, und auch nicht einmal auf dem nächsten Wege.

– Zwei volle Monate unterwegs! rief Grip.

– Die uns aber nichts gekostet haben, versicherte Bob.

– Sondern die sogar ein hübsches Sümmchen einbrachten!« setzte Findling hinzu.

Sie berichteten Grip nun ausführlich über ihre Fahrt längs der Küste, über den Handel, den sie getrieben, und dabei wurde auch die Speculation Bobs mit dem Einfangen und Freilassen von Vögeln er wähnt.

Natürlich kam dabei der Aufenthalt in Bray, das Zusammentreffen mit dem Erben der Piborne's, dessen tadelnswerthes Auftreten und was darauf folgte, mit zur Sprache.

»Du hast ihn doch ordentlich durchgeprügelt? fragte Grip.

– Nein, der erbärmliche Ashton war mehr dadurch gestraft, daß er unter meinen Knien auf der Erde lag, als wenn ich ihn geschlagen hätte.

– Das ist gleichgiltig, ich hätte ihm noch einen Denkzettel obendrein gegeben,« erklärte der erste Heizer des »Vulcan«.

[341] Inzwischen spazierte das fröhliche Kleeblatt am rechten Ufer des Canals hinaus. Grip wollte immer weitere Einzelheiten hören. Seine Bewunderung Findlings sachte er gar nicht zu verbergen. Was der schon alles vom Handel verstand!

Er wußte zu kaufen, zu verkaufen und Buch und Rechnung zu führen... mindestens ebensogut wie O'Bodkins. Und als Findling ihm mitgetheilt hatte, daß er jetzt ein Capital von hundertfünzig Pfund »in der Casse« hatte, rief er verwundert:

»Alle Wetter, da bist Du ja ebenso reich wie ich, mein Junge!... Nur daß ich sechs Jahre gebraucht habe, diese Summe zu erwerben, und Du nur sechs Monate!... Ich wiederhole Dir, was ich schon damals in Cork sagte, Du wirst Geschäfte machen... wirst ein Vermögen ansammeln...

– Wo denn? fragte Findling.

– Ueberall, wohin Du gehst, versicherte Grip mit dem Tone vollster Ueberzeugung. In Dublin, wenn Du hier bleibst... irgendwo, wenn Du wo andershin gehst.

– Und ich? ließ Bob sich vernehmen.

– Du auch, Knirps, vorzüglich wenn Du öfters so gute Ideen hast, wie die mit den Vögeln.

– Daran soll's nicht fehlen, Grip.

– Und wenn Du nichts unternimmst, ohne Dich mit dem Patron zu besprechen...

– Mit wem?... Dem Patron?...

– Natürlich mit Findling! Erscheint er Dir denn etwa nicht wie ein richtiger Patron oder Principal?...

– Ja, ja, davon plaudern wir noch mehr....

– Doch erst nach dem Frühstück, meinte Grip. Für heute bin ich ganz frei. Ich kenne die Stadt durch und durch und will Euch durch Dublin lootsen. Da wirst Du auch sehen, Findling, was hier am besten zu thun ist.«

Das Frühstück wurde in einer Matrosenschänke am Quai eingenommen und mundete vortrefflich, wenn auch die Leckerbissen des unvergeßlichen Festmahls in Cork dabei nicht wieder auf den Tisch kamen. Grip erzählte von seinen Reisen. Bob lauschte seinen Worten mit Entzücken, Findling immer nachsinnend. – Der Knabe machte wirklich den Eindruck, als ob er gleich zwanzig Jahre alt geboren wäre und jetzt im dreißigsten Jahre stände.

[342] Hierauf führte Grip seine beiden Freunde nach der Mitte der Stadt, in die Gegend der Liffey. Hier erhob sich das reiche Quartier Dublins, das umsomehr von den andern absticht, als es an einem vermittelnden Uebergang von den Hütten zu den Palästen gänzlich fehlt. Einen Mittelstand giebt es in der Hauptstadt Irlands nicht. Luxus und Armuth stoßen sich mit dem Ellbogen. Das reiche Stadtviertel erstreckt sich vom Flusse aus bis nach dem Stephens-Square, wo die vornehme Bürgerschaft wohnt, die sich zwar durch seine Sitten und Bildung auszeichnet, leider aber durch religiöse und politische Streitfragen in zwei Lager zerfällt.

Eine der schönsten Straßen ist hier die Sackeville-Street. Hier hat auch das Centralcomité der Landliga seinen Sitz, der durch ein Schild mit goldnen Buchstaben gekennzeichnet ist.

In der herrlichen Straße wimmelt es freilich auch von Armen, die überall herumsitzen und am Fuße der Denkmäler stehen. Findling fühlte sich recht sehr davon ergriffen. Was in dem Quartier Saint-Patrick vielleicht natürlich erschien, bildete in der schönen Sackeville-Street einen gar zu schreienden Contrast.

Auffallend war hier auch die erstaunliche Menge von Kindern, die alle Zeitungen, wie die Gazette de Dublin, den Dublin Expreß, die National Preß, Freemann's Journal, die hauptsächlichsten protestantischen und katholischen Blätter und noch manche andre zum Verkauf ausboten.

»Seh' einer, bemerkte Grip, die vielen kleinen Händler auf den Straßen, an den Bahnhöfen und den Quais!

– Ja freilich, an ein solches Geschäft ist hier gar nicht zu denken, antwortete Findling. In Cork ging das ganz gut, hier dürfte es fehlschlagen.«

In der That machte es die übermäßige Concurrenz sehr wahrscheinlich, daß der früh morgens gefüllte Karren Birks am Abend auch noch voll gewesen wäre. Auf dem weiteren Spaziergange entdeckten sie nun noch andre schöne Straßen mit prächtigen Gebäuden, so die Post-Office, deren Mittelporticus auf einer Reihe jonischer Säulen ruht. Findling dachte beim Anblick derselben an die unendliche Menge von Briefen, die hier zusammenströmen oder von hier ausgehen.

»Dieses Haus hat man auch für Deinen Gebrauch gebaut, mein Boy, sagte Grip, denn hier werden Deine Briefe eingehen mit der Adresse: »Master Findling, Kaufmann in Dublin.«


[343]
Sie musterten aufmerksam alle Schiffe. (S. 340.)

Der Knabe konnte nicht umhin, über den Enthusiasmus seines alten Gefährten aus der Ragged-School zu lachen. Fernerhin kamen die drei Freunde nach dem Gebäude der vier unter einem Dache vereinigten Gerichtshöfe, mit seiner dreiundsechzig Toisen langen Front und der von zwölf Fenstern unterbrochnen Kuppel, die heute dann und wann von einem Sonnenstrahl erglänzte.

»Ich hoffe, ließ Grip sich vernehmen, daß Du mit dem großen Hause da niemals etwas zu thun hast!

– Und warum nicht?...


Sackeville-Street in Dublin. (S. 343.)

– Weil das auch ein Heizraum ist, wie der auf dem »Vulcan«, nur daß man hier keine Steinkohlen verbrennt, sondern Verklagte langsam schmoren läßt, wobei Solicitors, Attorneys, Proctors und andre [344] Händler mit Gesetzen einheizen... einheizen....

– Man kann kein Geschäft machen, ohne einmal in einen Proceß zu gerathen, Grip.

– Jedenfalls bemühe Dich, deren so wenig wie möglich zu haben. Es kostet einem viel Geld, wenn man sie gewinnt, und ruiniert einen, wenn man sie verliert!«

[345] Es klang, als wenn Grip aus Erfahrung spräche. Wie wechselte er aber den Ton, als alle drei ein rundes Gebäude bewunderten, das durchweg einen dorischen Styl zeigte.

»Die Bank von Irland! rief er grüßend. Da hinein, mein Boy, solltest Du einmal recht häufig zu gehen haben. Da drinnen stehen Geldschränke so groß wie Häuser! Möchtest Du nicht in einem solchen wohnen, Bob?

– Sind die aus Gold?

– Nein, doch was darin steckt, ist Gold.... Ich hoffe bestimmt, daß Findling hier einmal seine Gelder anlegen wird!«

Grip übertrieb wie immer, wenn er auch nur seiner festen Ueberzeugung Ausdruck gab. Findling hörte ihm nur halb zu, während er das geräumige Gebäude betrachtete, worin nach Grips Aussage ein Hause von Millionen auf dem andern liegen sollte.

Weiterhin führte der Weg wiederholt aus den Straßen des Elends in die des prunkenden Luxus; hier die reichen Leute, die zum Vergnügen lustwandelten, dort die Armen, die die Hand ausstreckten, ohne sich gerade Mühe zu geben, die Vorübergehenden zu rühren. Ueberall Polizisten mit dem Skiff in der Hand und zur besseren Sicherheit der Schwesterinsel den Revolver im Gürtel, eine Vorsicht, die bei der leidenschaftlichen politischen Erregung hier allerdings geboten erscheint. Die Irländer vertragen sich untereinander nur, so lange eine religiöse oder eine Home-rule betreffende Frage sie nicht gegeneinander aufhetzt. Dann gerathen sie ganz außer sich, dann fließt nicht mehr das Blut der alten Gaëler in ihren Adern und sie sind so weit unter einander uneinig, daß sie ein Sprichwort ihres Landes bestätigen, welches lautet: Setzt einen Irländer an den Bratspieß, so wird sich stets ein andrer einfinden, um diesen zu drehen.

Bei ihrem Ausfluge zeigte Grip seinen kleinen Freunden auch eine große Menge Statuen. Noch ein halbes Jahrhundert, und es sind ihrer so viele wie Einwohner in der Stadt. Da steht in Bronze oder Marmor eine ganze Bevölkerung von Wellington, O'Connell, O'Brien, Burke, Goldsmith, Grawan, Thomas Moore, Crampton, Nelson, der Wilhelme von Oranien und der Könige Georg, von denen vor der Hand erst vier vorhanden sind. Noch niemals hatte Findling oder Bob eine solche Versammlung berühmter Persönlichkeiten auf ihren Piedestalen gesehen.

Dann unternahmen sie eine Fahrt mit der Trambahn, und während der Wagen an verschiedenen Gebäuden, die ihre Aufmerksamkeit erregten, vorüberrollte, [346] fragten sie Grip darüber, der allemal Auskunft zu geben wußte. Einmal war es das Gefängniß, wo man die Leute einsperrt, und dann wieder Workhouses, wo man sie gegen sehr geringe Entschädigung zum Arbeiten zwingt.

»Und das da?... erkundigte sich Bob, auf ein sehr großes Haus in der Coombe-Street zeigend.

– Das?... antwortete Grip, das ist die Ragged-School

Das Wort erweckte in Findling manch. trübe Erinnerung. Hatte er unter einem solchen traurigen Dache aber einst auch viel gelitten, so hatte er daselbst doch Grip kennen gelernt... und das hob sich auf. Jene Mauern bargen also eine Schaar verlassner Kinder! Mit ihrem blauen Jersey, dem grauen Beinkleid und derben Schuhen an den Füßen, nebst einem Barret auf dem Kopfe, glichen sie freilich nicht im geringsten den zerlumpten Knaben in Galway, um die sich O'Bodkins so wenig bekümmerte. Hier bemühte sich die »Missionsgesellschaft der Irischen Kirche«, die Eigenthümerin der Schule, ihre Zöglinge nicht nur körperlich und geistig zu erziehen, sondern ihnen auch die Glaubenssätze der anglicanischen Kirche einzupflanzen, und ähnliche Ziele verfolgen mit den gleichen Mitteln auch verschiedne katholische religiöse Vereine.

Immer unter Leitung ihres Führers verließen Findling und Bob endlich die Trambahn am Eingang eines im Westen der Stadt gelegenen Gartens, der auf jener Seite von der Liffey begrenzt wird.

Ein Garten ist es weniger, vielmehr ein großer Park von eintausendsiebenhundertundfünfzig Acres (709 Hektaren), der Phönix-Park, auf den Dublin mit Recht stolz ist. Dickichte von herrlichen Ulmen, saftige Rasenflächen, auf denen Kühe und Schafe weiden, dichte Gebüsche, in denen sich Ziegen tummeln, große Beete mit prächtigen Blumen, freie Plätze für Paraden, geräumige Flächen für das Fußball- und das Polospiel... nichts fehlt diesem mitten in einer Stadt gelegenen Stück Landschaft. Unsern der großen Mittelallee erhebt sich die Residenz des Lord-Lieutenant, neben der sich eine Schule und ein Krankenhaus für das Militär sowie ein Artilleriehof mit Kaserne befinden.

Der Phönix-Park ist freilich auch der Schauplatz mancher Mordthat gewesen, und Grip zeigte den Knaben zwei Einschnitte in Form eines Kreuzes, wo kaum drei Monate vorher, am 6. Mai und fast unter den Augen des Lord-Lieutenant, der Dolch der Unbezwinglichen den Staatssecretär von Irland und den Untersecretär, Burke und Lord Frederick Cavendish, tödtlich getroffen hatte.

[347] Ein Spaziergang durch den Phönix-Park bis zu dem hier angeschlossenen Zoologischen Garten beendigte diesen Ausflug durch die Stadt. Es war um fünf Uhr, als die Knaben von Grip Abschied nahmen, um nach ihrem Gasthaus in der Saint-Patrick-Street zurückzukehren, nachdem sie übereingekommen waren, sich alle drei jeden Tag bis zur Abfahrt des Dampfers zu treffen.

Als sie sich trennen wollten, sagte Grip noch zu Findling:

»Nun, mein Boy, ist Dir denn im Laufe dieses Nachmittags ein guter Gedanke gekommen?

– Ein Gedanke, Grip?..

– Nun ja, hast Du Dich für etwas entschieden, was Du anfangen willst?

– Was ich anfangen will... nein, das noch nicht, doch was ich nicht anfangen will, ja. Unsern Straßenhandel wie in Cork wieder aufzunehmen, das ist hier aussichtslos. Für den Verkauf von Zeitungen und Broschüren giebt es zu viel Concurrenz.

– Das mein' ich auch, sagte Grip.

– Ob wir mit dem Karren durch die Straßen fahren sollen... das weiß ich nicht... welcherlei Waaren sollte man da verkaufen?... Auch solche fahrende Händler giebt es schon sehr viele. Nein, es erscheint mir das rathsamste, gleich einen kleinen Laden zu miethen....

– Jetzt bist Du auf dem richtigen Wege, mein Boy!

– Einen Laden in einem Stadttheil mit lebhaftem Verkehr... nicht von reichen Leuten... so etwa in einer Straße der Freiheiten....

– Ganz vortrefflich! rief Grip.

– Was sollen wir da aber verkaufen? fragte Bob.

– Lauter nützliche Dinge, antwortete Findling, alles, was täglich gebraucht wird....

– Also etwas zum Essen, meinte Bob, zum Beispiel Kuchen, nicht wahr?

– Das Leckermäulchen! rief Grip. Kuchen gehören doch nicht zu den nützlichen Dingen....

– O doch, weil sie gut schmecken.

– Das genügt nicht, vor allem müssen die Dinge nothwendig sein, erwiderte Findling. Doch... das wird sich finden. Erst will ich mir das Quartier da unten noch ansehen. Allem Anscheine nach machen die Händler daselbst gar nicht so schlechte Geschäfte. Ich denke, so eine Art Bazar....

[348] – Ein Bazar... richtig! jubelte Grip, der schon den großen, reich ausgestatteten Laden Findlings mit glänzender Firma vor sich sah.

– Ich werde mir's überlegen, Grip. – Nur nicht überhasten! Ehe man sich entscheidet, muß man alles reiflich erwägen.

– Und vergiß nicht, mein Boy, daß ich mein ganzes Geld zu Deiner Verfügung stelle. Ich weiß so wie so nicht, was ich damit anfangen soll, und wirklich, es belästigt mich nicht wenig, es immer bei mir zu tragen....

– Warum legst Du es denn nicht an, Grip...?

– Ja, gern, bei Dir... Willst Du es?

– Wir werden sehen, vielleicht später... wenn unser Handel gut geht. Für jetzt fehlt mir ja nur mehr das Hans, in dem ich einen Laden eröffnen könnte, und wo nicht zu viel Risico dabei wäre...

– Keine Angst, mein Boy! Ich sage Dir, Du erwirbst Dir ein Vermögen, das weiß ich gewiß! Ich sehe Dich schon im Besitz von hunderten, von tausenden Pfund Sterling...

– Wann fährt denn der »Vulcan« ab, Grip?

– Etwa in acht Tagen.

– Und kehrt hierher zurück?

– Nicht vor Verlauf von zwei Monaten, denn wir wollen nach Boston, Baltimore, ich weiß nicht, wohin, oder vielmehr überall hin, wo Fracht einzunehmen...

– Und hierher zu bringen ist!« rief Findling mit heimlichem Neide.

Endlich trennten sie sich. Grip wandte sich nach den Docks zu, während Findling mit Bob und Birk die Brücke über die Liffey überschritt, um nach Saint-Patrick zurückzugelangen.

Wie vielen Atmen beiderlei Geschlechts begegneten sie da, doch auch wie vielen, die von übermäßig genossenem Whisky und Gin widerwärtig dahinschwankten!

Wozu hatte es genützt, daß der Erzbischof Johann bei einem 1186 in der Hauptstadt Irlands abgehaltenen Concil so wüthend gegen die Trunksucht gedonnert hatte? Sieben Jahrhunderte später trank Paddy noch immer über die maßen und weder ein andrer Erzbischof noch ein andres Concil dürfte jemals im Stande sein, diesen traurigen Erbfehler auszurotten.

[349]
11. Capitel
Elftes Capitel.
Der Bazar »Zum kleinen Geldbeutel«.

Unser Held zählte jetzt elfeinhalb und Bob acht Jahre, so daß beide zusammen noch nicht einmal das majorenne Alter dargestellt hätten. Findling schon mitten in der Geschäftsthätigkeit, im Begriff, ein Handelshaus zu gründen. Es gehörte wirklich die blinde Vorliebe eines Grip dazu, um zu glauben, daß er damit gleich Glück haben, daß sein Handel nach und nach Umfang genug erreichen werde, um damit ein Vermögen zu erwerben.

Jedenfalls besaß das Quartier Saint-Patrick zwei Monate nach dem Eintreffen der beiden Knaben in der Hauptstadt Irlands einen Bazar, der die Aufmerksamkeit der Leute erregte und auch eine große Kundschaft heranlockte.

Dieser Bazar aber war nicht etwa in den ärmlichen Straßen der Freiheiten zu suchen, die sich in der Umgebung der Saint-Patrick-Street kreuzen.

Findling hatte es vorgezogen, sich mehr nach der Liffey zu, in der Bedford-Street, zu etablieren, wo man nichts überflüssiges, sondern nur Bedarfsgegenstände einzukaufen pflegt. Für die nothwendigsten Gegenstände finden sich ja stets Käufer, wenn jene gut und nicht zu theuer sind. Das hatte die Erfahrung dem jungen Kaufmann schon gelehrt, als er noch mit dem Karren durch die Straßen von Cork zog und dann die Grafschaften von Munster und Leinster durchwanderte.

Ein wirkliches Magazin war es, treu bewacht von Birk, der jetzt nicht mehr zum Zugthier erniedrigt wurde. Der Laden führte ein in die Augen fallendes Schild mit der Inschrift »Zum kleinen Geldbeutel«, und darunter die Firma »Little Boy and Co.«

Little Boy, das war Findling; and Co., das war Bob... und ohne Zweifel auch Birk.

Das betreffende Haus in der Bedfort-Street bestand aus drei Stockwerken. Eine Treppe hoch wohnte darin der Besitzer O'Brien, ein früherer Colonialwaarenhändler, der sich nach erfolgreicher Thätigkeit vom Geschäft zurückgezogen hatte, übrigens ein rüstiger alter Junggeselle von fünfundsechzig [350] Jahren, der mit Recht im Rufe eines hochachtbaren Mannes stand. O'Brien war natürlich nicht wenig erstaunt, als ein Kind von elfeinhalb Jahren kam, um einen seit einigen Monaten leerstehenden Laden im Erdgeschoß von ihm zu miethen. Die verständigen und praktischen Antworten aber, die er auf seine Fragen von dem Knaben erhielt, nahmen ihn schnell für diesen ein, und so kam ein Miethcontract bald zu Stande, vorzüglich, da der junge Miether sich erbot, den Zins für ein ganzes Jahr gleich im Voraus zu entrichten.

Der freundliche Leser wolle nicht vergessen, daß der Held unsrer Erzählung wegen seiner Größe und Schulterbreite älter erschien, als er war. Doch wenn man ihn auch für vierzehn oder fünfzehn Jahre schätzte, so erschien er doch jedem Fernstehenden gewiß noch als viel zu jung, um einen selbständigen Ladenhandel anzufangen, wenn dieser auch die bescheidne Bezeichnung »Zum kleinen Geldbeutel« trug.

Jedenfalls handelte O'Brien nicht, wie es vielleicht viele gethan hätten. Als sich der ordentlich gekleidete Knabe mit einer gewissen Sicherheit vorstellte, sein Anliegen klar und deutlich vorbrachte, da führte er ihn nicht ohne Erwiderung hinaus, sondern hörte ihn bis zum Ende ruhig an. Was er da von der Vergangenheit desselben, von seinem Handel in Cork, seiner Wanderung nach der Hauptstadt vernahm, das rief unwillkürlich sein Interesse wach. Er erkannte in Findling einen so gereiften Verstand, eine solche Klarheit der Gedanken, daß er an dessen glücklicher Zukunft gar nicht zweifeln konnte. Der alte Kaufmann versprach daher, Findling mit seinem Rathe beizustehen, indem er sich vornahm, alles, was sein junger Miethsmann thäte, zu beobachten.

Mit Unterzeichnung des Contractes und Zahlung des Miethpreises wurde Findling endgiltig zu einem der Ladeninhaber der Bedford-Street.


Der Phönix-Park in Dublin. (S. 347.)

Das an Little Boy and Co. vermiethete Erdgeschoß bestand aus zwei Räumlichkeiten, von denen eine nach der Straße, die andre nach dem Hofe zu lag. Die erste sollte als Geschäftslocal, die zweite als Schlafzimmer dienen. Nach dem Hofe schloß sich hieran noch ein Kämmerchen und eine Küche, wo eine Köchin hausen konnte... wenn einmal eine solche da war. Jetzt erschien eine solche für die zwei Knaben noch nicht nöthig. Sie wollten essen, wenn sie dazu Zeit hatten und keine Knaben zu bedienen waren. Zuerst immer die Kundschaft!

Auf Zuspruch konnte Findling ja rechnen, da er in seinem saubern Laden eine große Auswahl von Waaren bot. Mit dem nach Zahlung des Miethzinses übrig gebliebnen Geld hatte der junge Kaufmann alles von den Großhändlern [351] und Fabrikanten gegen baar bezogen, und jetzt war der Bazar »Zum kleinen Geldbeutel« auf Tischen und Regalen reichlich ausgestattet.

Nach Beschaffung des nothwendigen Mobiliars für Laden und Schlafstube war von den hundertundfünfzig Pfund, die Findling mit nach Dublin gebracht hatte, freilich nur noch der dritte Theil übrig. Weitere Ausgaben vermied er weislich, um sich für den Nothfall eine Reserve zu sichern. Lücken, die in seinen Waarenvorräthen entständen, hoffte er mit den laufenden Einnahmen wieder füllen zu können.

[352] [355]Selbstverständlich verlangte eine geordnete Geschäftsführung die Anlage eines sogenannten Journals für die täglichen Verkäufe, ferner eines Hauptbuches – das Hauptbuch Findlings! – wo Einnahmen und Ausgaben eingetragen werden sollten, um jeden Abend die Richtigkeit der Casse prüfen zu können. Wahrlich, O'Bodkins von der Lumpenschule hätte seine Sache auch nicht besser machen können.


Vornehme Damen leerten das Spielwaarenlager (S. 356.)

In dem Bazar von Little Boy fand man etwas von allem, was in diesem Stadttheil vorwiegend gebraucht wurde. Was der Papierhändler, der Kurzwaaren-, der Eisenwaaren-, der Buchhändler and andre ihren Kunden einzeln boten, das vereinigte der Laden Findlings an einer Stelle. Im Bazar »Zum kleinen Geldbeutel« konnte man nahezu alles zu festem, aber billigem Preis haben Neben den eigentlichen Bedarfsgegenständen enthielt der Laden noch eine reiche Auswahl von Spielwaaren aller Art, doch nur solche für Kinder von fünf bis zu zwölf Jahren. Diese Abtheilung besorgte Bob mit besondrer Vorliebe und bemühte sich, sie in bester Ordnung zu halten, wenn er sich auch nicht überwinden konnte, das eine oder das andre Spielzeug einmal selbst zu versuchen. Vorzüglich beschäftigte er sich da mit den Schiffen und Booten – für wenige Pence – wobei er sich sorglich hütete, dieselben irgendwie zu beschädigen, denn der Principal scherzte damit nicht und ermahnte ihn manchmal.

»Sei doch ernsthaft, Bob! Wenn Du das jetzt nicht bist, könnte man glauben, daß Du es niemals würdest!«

Wir haben nicht nöthig, Tag für Tag die Fortschritte zu verfolgen, die der Bazar von Little Boy and Co. in der Achtung und dem Vertrauen der Leute machte. Auf jeden Fall erfreute er sich des besten Erfolges. O'Brien konnte sich nicht genug wundern über die Gewandtheit und den richtigen Blick seines jungen Miethers, der stets vortheilhaft einzukaufen und wieder zu verkaufen verstand. So hatte es auch der alte Kaufmann gemacht und sich dadurch ein recht schönes Vermögen erworben Freilich begann er sein Geschäft im Alter von fünfundzwanzig Jahren, nicht in dem von zwölf Jahren. Auch O'Brien theilte bald die Ansicht Grips, daß es Findling gar nicht fehlen könne, bald zu Vermögen zu kommen.

Zur Erklärung des wirklich außergewöhnlichen Erfolges, dessen sich der Bazar »Zum kleinen Geldbeutel« erfreute, diene die Bemerkung, daß es sich in der ganzen Stadt mit Windeseile verbreitet hatte, daß dieses Geschäft von einem kaum den Schuljahren entwachsenen Knaben begründet worden war, [355] und von ihm nur mit Unterstützung eines noch weit jüngeren Knaben geführt wurde. Das genügte, um Findlings Laden sozusagen in die Mode zu bringen. Findling hatte auch nicht unterlassen, sich durch einige Annoncen in den Blättern zu empfehlen, die er recht theuer bezahlen mußte. Bald begannen aber die hervorragendsten Blätter der Hauptstadt seines ungewöhnlichen Geschäftes auch aus freien Stücken Erwähnung zu thun, und nun stellten sich viele Reporter ein, die Little Boy and Co. – ja, auch Bob selbst! – mit ebenso vieler Sorgfalt interviewten, als wenn es dem Lord Gladstone gegolten hätte. Ueberall sprach man schon von dem jugendlichen Kaufmann der Bedford-Street und von seinem Unternehmen, dem sich die allgemeine Theilnahme zuwandte. Er wurde der Held des Tages und – was das wichtigste ist – die Leute drängten sich, seinen Bazar zu besuchen.

Natürlich wurde hier die Kundschaft mit größter Höflichkeit und Zuvorkommenheit behandelt. Findling hatte die Augen überall und Bob mit dem Lockenkopfe sprang hin und her, um jeden nach Wunsch zu bedienen. Sogar Damen aus dem vornehmen Viertel kamen zu Wagen an und machten es sich zum Vergnügen, wenigstens das Spielwaarenlager Findlings bald zu vermindern oder gar zu leeren.

Mit einem Worte, Findling konnte sich eines glänzenden Erfolges rühmen, und um sich diesen auch weiter zu sichern, ließ er's an keiner Mühe fehlen.

Als der »Vulcan« in Dublin wieder eingelaufen war, galt der erste Ausgang Grips natürlich seinen Freunden. Ueber den Bazar in der Bedford-Street konnte er seiner Verwunderung gar nicht laut genug Ausdruck verleihen; ja, seiner Meinung nach hatte sich die ganze Straße dadurch so verwandelt, daß sie wenigstens der Sackevillestraße hier in Dublin, womöglich auch gar dem Strand in London, dem Broadway in Newyork, dem Boulevard des italiens in Paris gleichkam. Bei jedem Besuche hielt er sich für verpflichtet, etwas zu kaufen, »um das Geschäft in Gang zu erhalten«, wie er sagte, obgleich er das gewiß nicht nöthig hatte.

Einmal wählte er eine Brieftasche, um diejenige zu ersetzen, die er... niemals besessen hatte, ein andermal eine hübsche, bunt angestrichene Brigg, die er den Kindern eines seiner Kameraden vom »Vulcan« zum Geschenk machen wollte. Schließlich erwarb er sogar einmal eine ziemlich theure Pfeife aus falschem Meerschaum, deren Mundstück aus gelbem Bernstein geschnitzt war.

[356] Findling mußte von ihm natürlich wie von andern Leuten Bezahlung annehmen.

»Siehst Du, mein Boy, die Sache macht sich!... Das geht ja wie mit hundert Schraubenumdrehungen, nicht wahr? Jetzt bist Du Befehlshaber an Bord des »Kleinen Geldbeutel« und brauchst nur darauf zu achten, daß das Feuer nicht ausgeht. Es ist lange her, daß wir zwei noch in Lumpen durch die Straßen von Galway trabten, oft Hunger und Kälte zu erleiden hatten, damals in der Ragged-School. Da fällt mir ein, ist Carker denn gehenkt worden?

– So viel ich weiß, noch nicht, Grip.

– Das kann aber nicht mehr lange dauern, und jedenfalls legst Du mir das Journal bei Seite, das darüber ausführlich berichtet!«

Grip fuhr mit dem »Vulcan« wieder hinaus aufs weite Meer, und kaum von der Reise zurückkehrend, erschien er auch aufs neue im Bazar und ruinierte sich durch fortwährende Einkäufe.

Da sagte Findling eines Tags zu ihm:

»Glaubst Du es denn noch immer, Grip, daß ich es einmal zu einem gewissen Vermögen bringe?

– Natürlich, mein Boy, so sicher, wie ich glaube, daß unser einstiger Kamerad Carker mit einem Strick um den Hals endigen wird!

– Nun aber Du selbst, mein guter Grip, denkst Du denn niemals an die Zukunft?

– Ich?... Weshalb sollte ich daran denken?... Hab ich nicht einen Beruf, den ich doch gegen keinen andern vertauschen möchte.

– Einen beschwerlichen Beruf, der sich auch nicht besonders lohnt.

– Wie?... Vier Pfund monatlich, und dazu Nahrung, Wohnung, Heizung, daß man zuweilen fast selbst gebraten wird?

– Und das in einem Schiffe! fiel Bob ein, dessen größtes Glück es gewesen wäre, einmal auf dem Meere zu schwimmen.

– Das thut nichts, Grip, fuhr Findling fort. Ein Heizer zu sein, hat noch niemand Vermögen gebracht, und Gott will, daß man auf Erden sein Glück sache....

– Bist Du dessen so sicher? fragte Grip mit den Achseln zuckend. Steht das mit in seinen Geboten?

– Ja, antwortete Findling. Er will, daß man etwas erwirbt, nicht um allein glücklich zu sein, sondern um auch die glücklich zu machen, die es nicht sind und doch zu sein verdienten!«

[357] In seinen Gedanken tauchte dabei die Erinnerung an Sissy auf, an seine Leidensgefährtin in der Hütte der Hard, und an die Familie Mac Carthy, deren Spuren er nicht zu entdecken vermocht hatte, sowie an sein Pathenkind Jenny, der es jetzt gewiß recht traurig erging, während er...

»Nun, Grip, nahm er wieder das Wort, überlege Dir wohl, welche Antwort Du giebst. Warum willst Du nicht auf dem Lande bleiben?

– Ich sollte den »Vulcan« verlassen?...

– Ja, doch nur, um Dich mit mir zu associieren. Du weißt ja... Little Boy and Co.... ist durch Bob nicht hinreichend vertreten, doch wenn Du mit einträtest...

– Ach, lieber, bester Grip, fiel Bob ein, das würde für uns beide das größte Vergnügen sein.

– Für mich auch, meine Kinder, erwiderte Grip sehr gerührt von diesem Vorschlage, doch soll ich Euch etwas sagen?

– So sprich, Grip.

– Nun also... ich bin zu groß.

– Zu groß?

– Ja, wenn die Leute mich im Laden sähen, so einen langen Bengel, so ginge das Geschäft nicht mehr, da wär es nicht mehr Little Boy and Co.... and Co. muß klein sein, um die Leute heranzuziehen. Ich würde die Handelsgesellschaft stören, würde Euch Unrecht thun. Gerade weil Ihr noch Knaben seid, blüht das Geschäft so ganz besonders.

– Vielleicht hast Du recht, Grip, antwortete Findling. Doch wir werden auch größer...

– Natürlich werden wir alle Tage größer, versetzte Bob, sich auf den Zehen aufrichtend.

– Gewiß, und hütet Euch nur, nicht allzuschnell zu wachsen!

– Das kann man wohl nicht hindern, bemerkte Bob.

– Nein, freilich nicht. Darum seht zu, daß Ihr Euer Geschäft gemacht habt, so lange Ihr noch Knaben seid. Zum Kuckuck, ich messe fünf Fuß sechs Zoll, und was über fünf Fuß ist, das paßt nicht in Euer Geschäft. Wenn ich übrigens Dein Geschäftstheilhaber nicht sein kann, Findling, so weißt Du doch, daß mein Geld Dir gehört....

– Ich bedarf desselben nicht.

– Na, wie es Dir beliebt. Wenn Du Dich indeß einmal vergrößern willst...

[358] – Dann könnten wir zwei dem Geschäft nicht gut mehr allein vorstehen....

– Ei, warum nehmt Ihr nicht wenigstens eine Frau ins Haus, um Euch die Wirthschaft zu besorgen?

– Daran hab' ich allerdings bereits gedacht, Grip, und der vortreffliche Herr O'Brien hat mir dasselbe angerathen.

– Er hat ganz recht damit, der brave Mann. Kennst Du denn kein weibliches Wesen, das Dein Vertrauen besäße?

– Nein, Grip.

– Das findet sich... wenn man danach sucht...

– Ah warte... eben denke ich an eine alte Freundin... Kat!«

Bei Erwähnung dieses Namens erscholl ein lustiges Gebell. Birk hatte ihn verstanden und sprang wie toll hin und her.

»Ah. Du erinnerst Dich ihrer. Birk? sagte sein junger Herr, Kat... nicht wahr, der guten Kat?...«

Da scharrte Birk an der Thür und schien nur noch den Auftrag zu erwarten, sofort in der Richtung nach dem Schlosse hinzulaufen.

Grip erhielt nun eine weitere Erklärung. Eine bessere als Kat konnte man gar nicht finden; sie würde dem Haushalt vorstehen und die Küche besorgen, ohne selbst gesehen zu werden, und so konnte sie auch die sociale Lage der Firma Little Boy and Co. nicht durchkreuzen.

Freilich entstand die Frage, ob sie überhaupt noch in Trelingar-castle war oder nicht.

Findling schickte mit der ersten Post einen Brief an sie. Schon am nächsten Tage erhielt er eine Antwort in etwas grober, aber leserlicher Schrift, und kaum waren achtundvierzig Stunden verflossen, als Kat auf dem Dubliner Bahnhofe anlangte.

Den herzlichen Empfang nach achtzehnmonatlicher Entfernung kann man sich wohl vorstellen. Findling sank ihr in die Arme und Birk sprang an ihr empor. Sie wußte gar nicht, wem sie zuerst antworten sollte. Die Thränen strömten ihr aus den Augen, and als sie in die Küche eingetreten war, wo sie Bob kennen lernte, wiederholte sich der Empfang noch einmal.


Birk sprang an der Kat empor. (S. 359.)

An diesem Tage hatte Grip die Ehre und das Glück, mit seinen jungen Freunden das erste von der guten Kat bereitete Mittagsmahl zu theilen, und als der »Vulcan« am nächsten Tage die Anker lichtete, trug er den zufriedensten Heizer von der Welt mit aufs Meer hinaus.

[359] Die Bedingungen, unter denen die gute Frau ihre neue Stellung übernahm, waren bald und ohne Feilschen verabredet, denn sie empfand es keineswegs als einen Rückschritt, jetzt bei Little Boy statt früher im Trelingar-castle in Dienst zu stehen. Ihren neuen Herrn noch mit Du anzureden, dazu war sie freilich nicht zu bewegen; dieser war ja nicht mehr der Groom des Grafen Ashton, sondern der Chef des Hauses »Zum kleinen Geldbeutel«. Auch Bob wurde von ihr nur »Herr Bob« genannt, und höchstens Birk erfreute sich der alten vertraulichen Anrede. Bald machte sich die Anwesenheit der braven Frau im Hause [360] bemerkbar. Jetzt blieb die Wirthschaft stets in schönster Ordnung und im Zimmer wie im Laden sah es noch einmal so sauber aus. Nach einem Restaurant zu Tische zu gehen, das mochte wohl für einen Commis passen, für den Principal eines Geschäfts aber schickte es sich ja nicht mehr, dieser mußte sein völlig eingerichtetes »Home« haben und am eigenen Tische speisen.

Das Jahr 1882 brachte für Little Boy and Co. einen sehr vortheilhaften Abschluß. Während der letzten Wochen konnte der Bazar zu Weihnachten und mm neuen Jahre kaum den Ansprüchen der Käufer genügen. Die Spielwaarenabtheilung [361] mußte wohl zwanzigmal erneuert werden und Bob verkaufte mit einem Eifer sondergleichen Schaluppen, Kutter, Goëletten, Briggs, Dreimaster und selbst mechanische Dampfboote. Doch auch die andern Waaren fanden reißenden Absatz. In der seinen Welt gehörte es zum guten Ton, seine Bedürfnisse im Bazar »Zum kleinen Geldbeutel« zu decken.


»Sie werden mich schwerlich überzeugen.« (S. 366.)

Ein Geschenk galt nicht als »select«, wenn ihm die Marke Little Boy and Co. fehlte. Ja, die »Mode« ist etwas werth, wenn die Kinder sie machen und die Eltern diesen, wie es ihre Pflicht ist, gehorchen.

Findling hatte keine Ursache sich zu beklagen, daß er Cork verlassen und seinen Handel mit Zeitungen aufgegeben hatte. Den erweiterten Markt, den er in der Hauptstadt Irlands sachte, hatte er gefunden. O'Brien freute sich aufrichtig über die Zunahme der Geschäftsthätigkeit seines jungen Miethers, die dieser mit eignen Kräften und eignen Hilfsmitteln erzielt hatte. Seine Rathschläge wurden stets gern beachtet, sein Geld aber, das er in die Firma einzuschießen bereit war, lehnte Findling höflich ab.

Kurz nach Abschluß der Inventuraufnahme des ersten Jahres, dessen Verläßlichkeit O'Brien in allen Stücken anerkannte, konnte Findling gewiß höchst zufrieden sein: binnen sechs Monaten, seit dem Eintreffen in Dublin, hatte er sein Capital verdreifacht.

12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Das Wiederfinden.

»Wer irgendwelche Mittheilungen über die Familie Martin Mac Carthy »(früheren Pächter der Farm von Kerwan, Grafschaft Kerry, Kirchspiel Silton) »zu machen im Stande ist, wird dringend gebeten, diese der Firma »Little Boy »and Co., Bedford-Street, Dublin, zugehen zu lassen.«

Diese Anzeige in der Nummer vom 3. April 1884 der Gazette de Dublin hatte unser junger Held selbst aufgegeben und mit zwei Schillingen für die [362] Zeile bezahlt. Am nächsten Tage stand derselbe Aufruf auch in den andern Blättern der Hauptstadt. Findling hätte eine halbe Guinee gar nicht besser anzuwenden gewußt, denn wie hätte er, das Adoptivkind der unglücklichen Familie, die ihm so viele Wohlthaten erwiesen hatte, diese jemals vergessen können? Er hielt es für seine Pflicht, alles zu versuchen, um sie wiederzufinden, ihr nach Kräften zu helfen, und er freute sich schon im voraus von ganzem Herzen darauf, der Familie an Lebensglück zurückerstatten zu können, was er an Liebe von ihr empfangen hatte.

Wie konnte er aber wissen, wo die Leute jetzt ein Obdach gefunden hatten, ob sie in Irland geblieben waren und jetzt vielleicht ihr Brod von Tag zu Tag er werben mußten, ob Murdock, um sich weiteren Verfolgungen zu entziehen, vielleicht ausgewandert war und ob dessen Angehörige etwa gar sein Exil in fernem Lande, in Australien oder Amerika, theilten. Er hatte auch keine Ahnung, ob Pat noch segelte, und der Gedanke, daß die brave Familie wahrscheinlich jetzt noch unter der Last des Unglücks seufzte, verursachte ihm recht schweren Kummer.

Obwohl Findlings Aufruf jeden Sonnabend mehrere Wochen hindurch in allen Dubliner Blättern stand, blieb er doch erfolglos. Wäre Murdock in ein Gefängniß des Landes eingeliefert worden, so hätte er das jedenfalls erfahren. So konnte der Knabe nur annehmen, daß Martin Mac Carthy sich inzwischen mit den Seinigen nach Amerika oder Australien eingeschifft habe, von wo sie vielleicht nie mehr zurückkehrten, wenn sie da eine zweite Heimat gefunden hatten.

Die Hypothese einer Auswanderung nach Australien wurde übrigens durch Nachrichten, die O'Brien von früheren Geschäftsfreunden einzog, bald bestätigt. Ein von Belfast eingetroffener Brief brachte die erste Aufklärung. Nach Angabe der Bücher einer Auswanderungsagentur hatten sich die Mac Carthy's – drei Männer, zwei Frauen und ein Kind – vor fast zwei Jahren nach Melbourne eingeschifft. Hier ihre Spuren zu entdecken, war fast unmöglich, und alle Schritte, die O'Brien in dieser Richtung that, blieben ohne jeden Erfolg. Findling rechnete nun blos noch auf den zweiten Sohn Mac Carthy's, vorausgesetzt, daß dieser noch auf einem Schiffe des Hauses Macuard von Liverpool in Diensten stand. Er schrieb also an den Chef dieser Firma, erhielt aber die Antwort, daß Pat vor fünfzehn Monaten aus seiner Stellung bei ihnen geschieden sei und sie nicht wüßten, auf welchem Schiffe er jetzt segelte.

[363] So blieb nur die einzige Hoffnung, daß Pat bei gelegentlicher Rückkehr nach Irland von der seine Familie betreffenden Anzeige Kenntniß erhielt, und an diese, wenn auch schwache Hoffnung wollte Findling sich vorläufig halten.

O'Brien bemühte sich vergeblich, seinem jungen Abmiether mehr Zuversicht einzuflößen, und eines Tages, als sie von der gleichen Angelegenheit sprachen, sagte er:

»Es sollte mich wundern, junger Freund, wenn Du die Familie Mac Carthy nicht früher oder später wiedersähest.

– Jetzt, wo alle in Australien... Tausende von Meilen von hier weg sind, Herr O'Brien?

– Wie kannst Du nur so sprechen, mein Kind! Australien gehört doch fast zu unsrer Stadt, es liegt beinahe vor unsrer Hausthür. Entfernungen giebt es heutigen Tages nicht mehr, die hat der Dampf zunichte gemacht. Jener Martin und seine Frau werden schon nach der Heimat zurückkehren. Irländer vergessen ihr Irland niemals, und haben sie da draußen etwas vor sich gebracht....

– Könnte ich das wirklich erhoffen, Herr O'Brien? fragte Findling kopfschüttelnd.

– Gewiß, wenn sie so tüchtige Arbeiter sind, wie Du sagst.

– Muth und Einsicht genügen nicht immer, Herr O'Brien. Man muß auch etwas Glück haben, und das war den Mac Carthy's fast stets versagt geblieben.

– Was nicht ist, kann noch werden, mein Sohn! Glaubst Du etwa, daß ich selbst immer vom Glück begünstigt gewesen wäre?... Nein, ich habe manche Schwierigkeiten zu überwinden, manche Verluste zu tragen gehabt, bis ich mich als Herrn meiner Lage fühlte. Bist Du nicht selbst ein Beispiel dafür? Hast Du Deine Laufbahn nicht als ein Spielball des Elends begonnen, und jetzt...

– Ja, Sie haben Recht, Herr O'Brien; ich frage mich auch manchmal, ob nicht alles nur ein Traum ist.

– Nein, mein liebes Kind, es ist echte, schöne Wirklichkeit! Daß Du ganz anders gehandelt hast, als man es von einem zwölfjährigen Kinde erwarten konnte, ist freilich etwas ganz außergewöhnliches. Doch, die Vernunft ist nicht immer nach dem Alter zu messen, und von ihr hast Du Dich von jeher leiten lassen.

[364] – Von der Vernunft?... Vielleicht Und doch wenn ich mir meine heutige Lage vergegenwärtige, scheint es mir, daß der Zufall daran nicht wenig Antheil hat.

Im Leben giebt es weniger Zufall, als du glaubst, alles geht mit logischer Nothwendigkeit eines aus dem andern hervor. Das wirst Du noch erfahren. Es ist auch selten, daß ein Unglück nicht durch einen Glücksfall wettgemacht würde.

– Das glauben Sie, Herr O'Brien?

– Ja, und um so fester, als es, was Dich betrifft, gar nicht zweifelhaft sein kann. Das hab' ich mir schon oft gesagt, wenn ich über Deinen Lebenslauf nachdachte. So bist Du zu der bösen Hard gekommen, das war ein Unglück....

– Aber auch ein Glück, weil ich dort die gute Sissy kennen lernte, deren Liebe zu mir ich nie vergessen kann. Was mag aus meiner armen, kleinen Leidensgefährtin geworden sein, und ob ich sie wohl jemals wiedersehe?... Ja, das war damals ein Glück...

– Und auch das war ein solches, daß die Hard eine so abscheuliche Megäre war, sonst wärst Du ja in Rindock bis zu der Zeit geblieben, wo Du in das Armenhaus von Donegal zurück mußtest. Da bist Du entflohen und in die Hände des Puppenschaustellers gefallen....

– O, das Ungeheuer! rief Findling.

– Dennoch betrachte ich es als Glück, daß er das war, denn sonst irrtest Du vielleicht noch heute, wenn auch nicht versteckt im Kasten, so doch im Dienste Thornpipe's auf den Landstraßen umher. Von da kamst Du nach der Ragged-School in Galway...

– Ja, und da lernte ich Grip kennen... Grip, der so gut zu mir war, dem ich das Leben verdanke, das er mir rettete, während er das seinige aufs Spiel setzte....

– Und damit kamst Du zu der launenhaften Schauspielerin. Zugegeben, daß Du bei ihr ein weit schöneres Leben hattest, zu einem ehrenvollen Ziele hätte es Dich aber doch nicht geführt, und ich betrachte es als ein Glück, daß sie. nachdem sie ihr Vergnügen mit Dir gehabt hatte, Dich eines schönen Tages verließ....

– Darum zürne ich ihr nicht, Herr O'Brien. Sie hatte mich aufgenommen, war liebreich gegen mich... und seit jener Zeit... ist mir manches [365] klar geworden. Ihrem Gedankengang nach wurde ich in Folge dessen von der Familie Mac Carthy in der Farm von Kerwan aufgenommen....

– Richtig, mein Sohn. Und auch da...

– O, Herr O'Brien, Sie werden mich schwerlich überzeugen, daß das Unglück dieser braven Leute auch ein Glück für mich gewesen wäre.

– Ja und nein, antwortete O'Brien.

– Nein, Herr O'Brien, nein! versicherte Findling energisch. Und wenn ich mir etwas erwerbe, wird mir immer das schmerzliche Gefühl bleiben, daß der Grund dieses Vermögens nach dem Untergange der Mac Carthy's gelegt wurde. Wie gern hätt' ich als Kind des Hauses mein Leben auf jener Farm verbracht! Da hätt' ich mein Pathenkind Jenny aufwachsen sehen, und ein größeres Glück, als das meiner Adoptivfamilie zu betrachten, könnt' ich mir gar nicht denken.

– Ich verstehe Dich, mein Kind. Es ist aber nicht minder richtig, daß grade dieser Verlauf der Dinge Dir einmal gestatten wird, Dich für das, was jene an Dir gethan, erkenntlich zu zeigen.

– Besser wär' es doch, Herr O'Brien, wenn sie nicht nöthig hätten, von irgend jemand Hilfe anzunehmen.

– Ich erkenne gern diese Empfindungen an, die Dir alle Ehre machen. Doch setzen wir unsre Betrachtungen fort. Du kamst nach Trelingar-castle...

– O, diese widerwärtigen Leute, der Marquis, die Marquise und ihr Sohn Ashton!... Welche Kränkungen hab ich da erdulden müssen!... Das war die schlimmste Zeit meines Lebens.

– lind doch ein Glück, daß es so war. Bei guter Behandlung wärst Du vielleicht in Trelingar-castle geblieben....

– Nein, Herr O'Brien, im Dienste als Groom?... Nein, gewiß nicht!... Ich blieb nur da, um auf ein besseres Unterkommen zu warten und bis ich mir etwas erspart hätte.

– Nun, bemerkte O'Brien, eine Person muß doch sehr befriedigt davon sein, daß Du überhaupt in jenes Schloß gekommen warst; ich meine die Kat.

– O, die vortreffliche Frau!

– Und einer, der sehr zufrieden sein muß, daß Du von dort weggegangen bist, ich meine Bob, denn sonst konntest Du den nicht auf der Landstraße finden... nicht ihn retten und mit nach Cork nehmen, wo Ihr beide so tüchtig gearbeitet, wo Ihr Grip wiedergefunden habt, und heute wärst Du nicht in Dublin...

[366] – Und im vertraulichen Gespräch mit dem besten aller Menschen, der uns so freundlich entgegenkam! antwortete Findling, die Hand des Exkaufmanns ergreifend.

– Der Dir auch später, wenn nöthig, mit Rath und That beistehen wird.

– Ich danke Ihnen, Herr O'Brien, ich danke! Ja, Sie haben recht; Ihre Erfahrungen können Sie nicht trügen. Im Leben ist alles miteinander verkettet. Gebe Gott, daß auch ich allen nützlich sein könnte, die ich liebe und die mich geliebt haben!«

Das Geschäft des Knaben blühte immer weiter, der Zudrang von Käufern verminderte sich nicht. Der Bazar erhielt vielmehr noch eine neue Einnahmequelle.

Auf Anrathen O'Brien's legte sich Findling noch den Einzelverkauf von Specereien zu und zu diesen wird jetzt ja vielerlei gerechnet. Der Laden wurde bald zu beschränkt, so daß noch der andre Theil des Erdgeschosses gemiethet werden mußte, und es währte nicht lange, da wollte sich das ganze Stadtviertel mit derlei Waaren nur im »Kleinen Geldbeutel« versorgen. Diese Abtheilung fiel Kat zu, und sie entledigte sich ihrer Aufgabe auch mit rühmlichstem Eifer. Nun gab's freilich vom Morgen bis zum späten Abend sehr viel zu thun und Findling wäre mit seiner Buchführung und dem täglichen Cassenabschluß manchmal nicht fertig geworden, wenn ihm nicht der alte Kaufmann hilfreich beigesprungen wäre.

Jetzt hätte sich unbedingt die Einstellung eines Gehilfen nöthig gemacht, und doch wollte der jugendliche Principal sich nicht entschließen, einen ganz Fremden bei sich aufzunehmen. Ja, wenn Grip dazu zu bewegen gewesen wäre! Doch daran war vorläufig nicht zu denken, obwohl dieser wie ausersehen schien, auf hohem Sessel hinter dem Pulte zu sitzen und die Conti für alle Lieferanten in Ordnung zu halten. Das war doch jedenfalls angenehmer, als sich vor den Dampfkesseln des »Vulcan« den Magen ausbraten zu lassen. Vergeblich wurde ihm das vorgestellt. Beim jedesmaligen Aufenthalt in Dublin widmete der erste Heizer zwar alle freien Stunden dem Bazar seines Freundes und unterzog sich hier gern jeder Arbeit; doch das dauerte nur eine Woche, dann fuhr der »Vulcan« wieder ab, und achtundvierzig Stunden später befand sich Grip schon Hunderte von Meilen weit entfernt von der Smaragdenen Insel. Seine Abfahrt war allemal ein Schmerz, seine Rückkehr eine Freude, so als ob ein älterer Bruder fortgegangen und wieder gekommen wäre.

[367] Der ältere Bruder machte nach wie vor seine Einkäufe bei Little Boy and Co. Immer kam er mit seinem ganzen Vermögen im Gürtel dahin, doch ließ er sich schließlich bestimmen, sich dieser Last und Sorge zu entledigen. Findling nahm die Ersparnisse des Freundes, aber nicht etwa für sein Geschäft, an; er brauchte das nicht, denn er besaß schon eine hübsche Einzahlung bei der Bank von Irland und ein Chequebuch, womit er alle vorkommenden Bedürfnisse bequem decken konnte. Grips Capital wurde in der Sparcasse angelegt, die mit ihrem Capital von fast vier Millionen mehr als genügend Sicherheit bot. Nun konnte Grip ruhig schlafen, und dazu vermehrten sich seine Ersparnisse noch durch die auflaufenden Zinsen, die zum Capital geschlagen wurden.

Wenn Grip sich auch weigerte, die Seemannsjacke mit dem eleganten Comptoirrocke zu vertauschen, so hatte er doch geholfen, die Kundschaft von Little Boy zu vermehren. Alle seine Kameraden vom »Vulcan« und deren Familien kauften alles mögliche in dem billigen Bazar, und Grip hatte diesen überhaupt allen Matrosen im Hafen so warm empfohlen, als wenn er der Reisende des Hauses »Zum kleinen Geldbeutel« gewesen wäre.

»Du wirst sehen, sagte er eines Tages, daß sich später auch noch die Rheder selbst bei Dir versorgen werden. Dann mußt Du freilich für lange Seereisen Vorräthe an Specereien und Conserven halten. Du wirst dann Großhändler....

– Großhändler? fragte Bob dazwischen.

– Ja freilich... mit Läden, Kellern und Speichern; wie die Herren Roe und Guineß.

– Oho! stieß Bob hervor.

– Gewiß, and Co., erwiderte Grip, der für Bob gern diesen Spitznamen gebrauchte, und denkt daran, was ich Euch sage....

– Bei jeder Reise, fiel ihm Findling ins Wort.

– Ja... bei jeder Reise, wiederholte Grip. Du wirst noch ein Vermögen erwerben, ein sehr großes Vermögen....

– Warum willst Du dann in das Geschäft nicht als Theilhaber eintreten, Grip?

– Ich?... Ich soll meinen Beruf aufgeben?

– Denkst Du darin etwa vorwärts zu kommen und vielleicht noch Maschinist zu werden?

[368] – O nein... das nicht. So ehrgeizig bin ich nicht. Dazu muß man auch studiert haben, und dazu ist's jetzt zu spät. Nein, ich bin ja zufrieden mit dem, was ich bin!


Alle Kameraden Grips kauften hier. (S. 368.)

– Höre mich an, Grip. Wir brauchen einen Gehilfen, auf den wir uns unbedingt verlassen können. Warum weigerst Du Dich, als solcher einzutreten?

– Ich verstehe nichts von Eurer Buchführung.

– Die würdest Du in kurzer Zeit erlernen.

[369] – Dann hab' ich auch den O'Bodkins, da unten in der Lumpenschule, sich genug damit abmühen sehen. Nein, mein Boy, nein! Auf dem Lande bin ich so unglücklich gewesen, auf dem Meere bin ich so glücklich. Ich fürchte mich ordentlich vor dem Lande. Ach, wenn Du erst ein großer Handelsherr bist und eigene Schiffe hast, dann... dann fahr' ich nur für Dich, das versprech' ich Dir!

– Wir wollen ernsthaft sprechen, Grip. Bedenk' einmal, daß Du Dich später doch einmal recht vereinsamt fühlen könntest. Wenn Dir's nun einfiele, zu heiraten...

– Zu hei... raten!... Ich?

– Ja, Du!

– Was? Ich, der heimatlose Grip, ich sollte eine Frau haben?... Und Kinder noch obendrein?

– Natürlich... so wie alle andern Leute, bemerkte Bob mit dem Tone eines Mannes von gereiftester Erfahrung.

– Wie alle andern?

– Gewiß, Grip, ich selbst sogar...

– Nun hör' einer den Knirps... was der davon versteht!

– Er hat aber Recht, erklärte Findling.

– Und Du, mein Boy, Du denkst wohl auch daran...

– Das könnte später wohl der Fall sein.

– Sehr schön! Da ist der eine dreizehn, der andre kaum neun Jahre alt, und sie sprechen schon vom Heiraten!

– Von uns ist nicht die Rede, Grip, doch von Dir, der Du bald fünfundzwanzig Jahre alt bist.

– Nein, mein Junge, überlege Dir doch! Ich... mich verheiraten!... Ein Heizer, der während zwei Dritteln seines Lebens schwarz aussieht wie ein Neger!

– Aha, rief Bob lachend, Grip fürchtet, seine Kinder könnten auch kleine Negerbuben werden.

– Das wäre schon möglich, antwortete Grip. Ich dürfte eigentlich nur eine Negerin heiraten oder höchstens eine Rothhaut aus dem Innern von Amerika.

– Grip, nahm Findling wieder das Wort, Du thust unrecht, zu scherzen. Wir sprechen ja einzig in Deinem Interesse. Die Zeit wird kommen, wo es Dich reuen dürfte....

[370] – Was willst Du denn, mein Boy... Ich weiß ja, Du bist verständig... es wäre auch so schön, bei einander zu wohnen. Bisher hat mich mein Beruf aber ernährt; er wird mich auch später ernähren, und ich kann's mir gar nicht vorstellen, ihn aufgeben zu sollen.

– Nun, wie Du willst, Grip. Hier wird immer Raum für Dich sein, und es sollte mich doch sehr wundern, wenn ich Dich nicht eines Tages noch hinter dem Pulte als Geschäftstheilhaber sitzen sähe.

– Da müßt' ich mich erst stark verändert haben....

– Das wird schon kommen, Grip. Jeder Mensch verändert sich, und das ist auch ganz recht, denn es geschieht, um sich zu verbessern...«

Grip gab jedoch keinem Zureden nach. Er liebte einmal seinen Beruf, stand bei seinen Rhedern gut angeschrieben, der Kapitän des »Vulcan« schätzte und seine Kameraden liebten ihn. Um Findling aber nicht gar so sehr zu betrüben, sagte er:

»Wir werden ja sehen... bei meiner Rückkehr!«

Wenn er dann wiederkam, wiederholte er freilich nur, was er bei der Abreise gesagt hatte:

»Wir werden ja sehen... werden ja sehen!«

Little Boy and Co. mußten also für die schriftlichen Arbeiten einen Commis anstellen. O'Brien sendete ihnen einen alten Buchhalter, Balfour mit Namen, zu, für den er gutsagte und der seine Sache aus dem Grunde verstand. Grip war es aber doch nicht!

Das Jahr verlief vortrefflich, und als genannter Balfour aus den Büchern die Lage des Geschäftes feststellte, ergab sich – an Waaren und an Depositen bei der Bank von Irland – ein Vermögensstand von tausend Pfund Sterling.

Zu dieser Zeit – im Januar 1885 – trat Findling ins vierzehnte Lebensjahr und Bob war nun neuneinhalb Jahre alt. Gesund und kräftig, spürten sie nichts mehr von dem früheren elenden Leben. Es war edles gaëlisches Blut, das in ihren Adern floß, wie der Shannon, die Lee oder die Liffey, die durch Irland strömen, um es immer frisch zu beleben.

Der Bazar blühte immer weiter. Findling war offenbar auf dem Wege zu Glück und Wohlstand. Von gewagten Speculationen hielt er sich fern, obgleich er nicht der »Mann« dazu war, eine sich bietende günstige Gelegenheit unbenützt zu lassen.

[371] Immerfort beunruhigte ihn jedoch das Schicksal der Mac Carthy's. Auf Erkundigungen, die er von Melbourne in Australien einzog, wurde ihm nur die Antwort zutheil, daß man die Spuren der gesuchten Familie gänzlich verloren habe, was in dem großen, in seinem Innern kaum bekannten Lande ja so häufig vorkommt. Mittellos, wie sie waren, hatten Martin und seine Kinder wahrscheinlich nur auf irgend einer weit entlegenen Schafzüchterei Arbeit finden können, doch wo?... Wer hätte das zu sagen vermocht?

Ueber Pat war seit seinem Abgange von der Firma Macuard auch nichts bekannt geworden, und möglicherweise hatte sich dieser zu seinen Eltern nach Australien begeben.

Neben der Sorge um die Mac Carthy's bekümmerte Findling nur noch die um Sissy, seine Leidensgenossin bei der Hard. An die letztere selbst, sowie an den grausamen Thornpipe und an die hochfahrenden Piborne's dachte er gar nicht mehr.

Höchstens bezüglich der Miß Anna Walston wunderte er sich, sie noch niemals auf einem Dubliner Theater wieder haben erscheinen zu sehen, doch war er unschlüssig, ob er, wenn das doch einträte, zu ihr gehen sollte oder nicht.

»Und Carker?... Ist der endlich gehenkt worden?«

So lautete unverändert Grips Frage nach jeder Heimkehr des »Vulcan«, sobald er den Laden »Zum kleinen Geldbeutel« betrat. Auf die Antwort, daß man ihm darüber nichts sagen könne, durchwühlte Grip die alten Zeitungen, ohne etwas zu finden, was sich »auf den vollendetsten Galgenstrick der Lumpenschule« bezogen hätte.

»Nun, wir wollen's abwarten. Nur ein wenig Geduld!

– Warum sollte denn Carker nicht ein ganz braver Bursche geworden sein können?

– Er?... rief Grip,... er, der Schlingel?... Nein, dann könnte es einem leid werden, ehrenhaft zu sein.«

Kat, der die Geschichte der Verwahrlosten von Galway bekannt war, stimmte mit Grip darin überein, wie überhaupt in allem, bis auf den einen Punkt, daß Kat den Grip stets drängte, das Seefahren aufzugeben, was dieser wieder hartnäckig verweigerte. Mit Ende des Jahres war denn diese Frage auch um keinen Schritt vorwärts gekommen.

Jetzt war der 25. November; es herrschte schon voller Winter. In großen Flocken fiel der Schnee herab, der leichten Federn gleich auf der [372] Erde hintrieb. Es war einer jener eisigen Tage, an denen man am liebsten in der warmen Stube bleibt.

Findling konnte das heute jedoch nicht. Am Morgen hatte er einen Brief eines seiner Lieferanten in Belfast erhalten. Die Ausgleichung einer Rechnung drohte dort einen Proceß herbeizuführen, und Processe soll man in jedem Falle möglichst zu vermeiden suchen. Das war wenigstens die Ansicht O'Brien's, und dieser drängte den Knaben auch, selbst nach Belfast zu reisen und jene Angelegenheit so gut wie möglich persönlich zu erledigen.

Findling mußte ihm Recht geben und beschloß diesem Rathe sofort zu folgen. Es handelte sich ja nur um eine Eisenbahnfahrt von kaum hundert Meilen. Wenn er um neun Uhr abreiste, traf er noch denselben Vormittag in Belfast ein, der Nachmittag mußte genügen, mit seinem Geschäftsfreunde ins reine zu kommen, und vor Mitternacht hoffte er wieder zu Hause sein zu können.

Bei einer so knapp bemessenen Zeit kann ein Reisender den Einzelheiten der Fahrt keine große Aufmerksamkeit schenken. Dazu flog der Zug sehr schnell dahin, einmal längs der Küste und dann wieder mehr im Innern des Landes. Von der Grafschaft Dublin aus durcheilte er die Grafschaft Meath und hielt nur einige Minuten in Drogheda, einem nicht unbedeutenden Hafen, von dem Findling freilich nichts sah, ebensowenig wie von dem eine Meile davon entfernten berühmten Schlachtfelde von Boyne, das den schließlichen Sturz der Dynastie der Stuart's sah. Weiter rastete der Zug einmal in der Grafschaft Louth in Dunkalk. einer der ältesten Städte der Grünen Insel, wo der berühmte Robert Bruce einst gekrönt wurde. Hierauf gelangte er nach der Provinz Ulster, wo die Grafschaft Donegal unsern jungen Reisenden an sein früheres Elend erinnerte. Nach Durchschneidung der Grafschaften Armagh und Down überschritt der Zug endlich die Grenze von Antrim.

Antrim, das Land des vulkanischen Bodens und der wilden Höhlen, hat Belfast als Hauptstadt; ihrem Handel und ihrer Flotte von drei Millionen Tonnengehalt nach ist das die zweite Stadt Irlands, ebenso durch ihre Einwohnerzahl von fast zweimalhunderttausend Köpfen, durch ihren intensiven, meist auf Lein gerichteten Feldbau, wie durch ihre Industrie, die sechzigtausend Arbeiter in hundertsechzig Spinnereien beschäftigt, und durch ihre wissenschaftlichen Bestrebungen, von deren Bedeutung das Queen's-College Zeugniß giebt.

Belfast liegt an der engen Ausmündung des Laganflusses, von dem ein Canal durch die vorgelagerten Sandbänke führt. Leichtbegreiflicherweise herrschte[373] an einem so gewerbthätigen Punkte, wo die politische Erregung durch die Berührung, oder besser durch den Zusammenprall persönlicher Interessen wach gehalten wird, immer hitziger Streit zwischen Protestanten und Katholiken. Die ersteren sind Feinde der Unabhängigkeit, die die andern erstreben. Die einen mit dem Feldgeschrei »Oranien«, die andern mit einem gelben Bande als Erkennungszeichen, kommen sie oft miteinander ins Handgemenge, regelmäßig aber am 7. Juli, dem Jahrestage der Schlacht von Boyne.

Obwohl heute nicht der 7. Juli war und die Temperatur vier Grad unter Null betrug, herrschte in der Stadt doch der helle Aufruhr. Die Parnelliten und die Parteigänger der »Land League« und des Landlordismus waren in bittern Streit gerathen. Der Sitz der »Gesellschaft zur Verbreitung der Leincultur«, an den sich die meisten Fabriken der Stadt anschließen, hatte sogar ganz besonders geschützt werden müssen.

Findling, der ja nicht im entferntesten um politischer Streitfragen willen hierher gekommen war, begab sich zunächst zu seinem Lieferanten, den er auch glücklicherweise antraf.

Der Mann war nicht wenig erstaunt, als sich ihm ein so junger Knabe in seinem Bureau vorstellte, ebenso aber über den Scharfsinn und die Einsicht, womit dieser seine Interessen vertrat. Bald war alles zu beiderseitiger Zufriedenheit geordnet. Zwei Stunden hatten dazu hingereicht, und Findling wollte nun in der Nähe des Bahnhofs zum Essen gehen. Hatte er die heutige Reise schon nicht zu bereuen, da sie ihm einen Proceß ersparte, so sollte der Besuch von Belfast ihm doch noch eine andre Ueberraschung bereiten.

Es wurde bereits dunkel und hatte zu schneien aufgehört, nur herrschte noch eine recht empfindliche Kälte.

Vor einer großen Fabrikanlage der Stadt vorübergehend, wurde Findling durch einen Haufen von Menschen aufgehalten, der die Straße völlig sperrte. Es war grade Zahltag in den Fabriken, und eine für die folgende Woche angekündigte Lohnverkürzung hatte eine große Arbeiterschaar gewaltig in Erregung versetzt.

Die Leinindustrie wurde in Belfast von Emigranten nach Aufhebung des Edicts von Nantes eingeführt, deren Nachkommen noch heute in derselben thätig sind. Die betreffende Fabrik gehörte einer anglicanischen Gesellschaft, deren Arbeiter aber zum größten Theile Katholiken waren, und diese gaben ihrem Unwillen nun in lärmendster und rohester Weise Ausdruck.

[374] Auf das anfängliche Geschrei folgten schwere Drohungen und bald wurden Thüren und Fenster des Etablissements mit Steinen beworfen. Da trabte aber auch schon eine Abtheilung Polizisten in die Straße ein, um die Zusammenrottung zu zerstreuen und die Rädelsführer zu verhaften.

Um den Zug nicht zu versäumen, sachte Findling aus dem Tumulte zu entkommen; vergeblich. Der Gefahr ausgesetzt, umgeworfen, gesteinigt oder durch den Angriff der berittenen Constabler zermalmt zu werden, flüchtete er sich in eine Hausthüröffnung, als gerade fünf oder sechs Arbeiter, von wuchtigen Schlägen getroffen, in der Nähe niederstürzten.

Neben ihm lag ein junges weibliches Wesen, eines jener armen, blassen entkräfteten Fabrikmädchen, die, obwohl achtzehn Jahre zählend, doch kaum zwölf Jahre alt zu sein schien. Zur Erde geworfen, rief sie noch:

»Zu Hilfe!... Zu Hilfe!«

Diese Stimme?... Findling glaubte sie zu kennen; es dämmerte wie eine alte Erinnerung in ihm auf... er konnte kein Wort hervorbringen... sein Herz schlug zum Zerspringen...

Als die zum Theil zurückgetriebene Menge die Straße etwas frei ließ, beugte er sich über das arme Mädchen nieder. Diese war bewußtlos. Er hob ihren Kopf in die Höhe und wendete das Gesicht dem Lichte einer Gasflamme zu....

»Sissy!... Sissy!« murmelte er.

In der That war es Sissy, die ihn aber nicht hören konnte.

Ohne sich über seine Handlungsweise Rechenschaft zu geben, hob er die Unglückliche, als ob sie ihm angehört hätte, und wie ein Bruder die Schwester, einfach auf und brachte sie, ohne daß das Mädchen noch wußte, was mit ihr geschah, nach dem nahen Bahnhof.


Bald wurden Dhüren und Fenster mit Steinen beworfen. (S. 375.)

Als der Zug abfuhr, lag Sissy in einem Coupo erster Classe bequem und noch immer halb bewußtlos auf den Polstern und neben ihr kniete Findling, der sie rief... anredete... sie umarmte....

Nun, er hatte ja wohl ein Recht darauf, Sissy, die Gefährtin seiner Leiden, zu entführen, und wenn sie bei jemand ein Anrecht auf Samariterhilfe besaß, dann war es doch bei diesem Knaben, den sie früher so oft gegen die Mißhandlungen durch die abscheuliche Hard geschützt hatte.

[375]
13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Farben- und Standeswechsel.

Am 16. November 1885 gab es in ganz Irland – vielleicht nirgends auf der Erde – eine so große Summe von Glück, wie im Bazar »Zum kleinen Geldbeutel.«


Der erste Heizer war auf seinem Posten. (S. 383.)

[376]

[377] [379]Sissy ruhte noch im besten Zimmer des Hauses. Findling stand an ihrem Lager. Jetzt hatte sie in ihm das Kind wiedererkannt, das einst durch ein Mäuseloch aus der Höhle der Hard entwichen und das jetzt zum kräftigen, blühenden Knaben geworden war.

Zur Zeit ihrer Trennung von einander zählte sie kaum sieben Jahre, heute war sie achtzehn Jahre alt, doch schien es fraglich, ob sie nach so vielen Anstrengungen und Entbehrungen sich zu dem schönen jungen Mädchen entwickeln würde, das sie zu werden versprach, wenn sie unter günstigeren Verhältnissen gelebt hätte. Seit fast elf Jahren hatten die beiden sich nicht gesehen, und doch erkannte Findling Sissy sofort schon an der Stimme, und auch das junge Mädchen erinnerte sich genau an alles, was den kleinen schwächlichen Knaben von früher betraf.

Von diesen Dingen sprachen sie, sich an den Händen haltend, und blickten in die Vergangenheit wie in einen Spiegel ihres Elends zurück.

Kat, die dabei war, konnte ihre zärtliche Theilnahme nicht verhehlen. Bob gab seiner Freude in lauten Jubelrufen Ausdruck, denen Birk mit verhaltenem Bellen antwortete. Auch O'Brien fehlte als Zeuge dieser Scene nicht. Selbst der Commis Balfour würde die allgemeine Aufregung getheilt haben, wäre er nicht im Comptoir mit dem Rechnungswesen des Hauses Little Boy and Co. angestrengt gewesen. Alle hatten von Sissy – wie von der Familie Mac Carthy – so häufig sprechen hören, daß sie nur noch deren persönliche Bekanntschaft zu machen brauchten. Für alle war sie eine ältere Schwester Findlings, die ins Haus zurückkehrte, als hätte sie es erst gestern verlassen.

Nur Grip fehlte in dem Kreise; man darf aber glauben, daß er das junge Mädchen seines Boy, obwohl er diese nie gesehen hatte, auf den ersten Blick erkannt hätte. Der »Vulcan« konnte übrigens nicht mehr lange ausbleiben, und dann erst würde die Familie vollzählig sein.

Das Leben des jungen Mädchens war bisher das aller armen Kinder in Irland gewesen. Sechs Monate nach Findlings Flucht starb die Hard in einem Tobsuchtsanfalle und Sissy war in das Armenhaus von Donegal zurückgebracht worden, wo sie noch zwei Jahre blieb. Dann mußte sie hier andern Unglücklichen Platz machen. Sie zählte damals neun Jahre, und mit diesem Alter muß man schon selbst für sich sorgen können. Kann ein Mädchen dann nicht in Dienst gehen, eine »Maid« werden, als welche sie ohne Lohn nur für Wohnung und Beköstigung arbeitet, so findet sie wohl Beschäftigung in einer Fabrik. Deshalb[379] sandte man Sissy nach Belfast, wo die Spinnereien ein ganzes Heer von Arbeitern brauchen. Da lebte sie von einem Tagesverdienst von einigen Pence inmitten einer ungesunden Atmosphäre, hier- und dorthin gestoßen und hart angefahren, ohne jemand zur Vertheidigung zu haben, doch immer gut, sanft, dienstbereit, und übrigens an Widerwärtigkeiten des Lebens schon lange Zeit gewöhnt.

Jener Zeit hielt Sissy eine Besserung ihrer Lage für ganz unmöglich; doch gerade, als sie verzweifelte, daß irgend jemand sie dieser entreißen könnte – da ergriff sie eine rettende Hand, die Hand des Kleinen, dem ihre ersten Liebkosungen gegolten hatten und der jetzt der Chef eines Handelshauses war. Ja, er hatte sie aus der Hölle in Belfast befreit, und jetzt befand sie sich bei ihm, wo sie Geschäftsdame werden sollte, nicht etwa Dienerin....

Sie?... Eine Dienerin?... Das hätte die Kat nicht gelitten und Bob ebensowenig, wie Findling es erlaubt hätte.

»Du willst mich also bei Dir behalten? fragte sie.

– Ob ich das will, Sissy!

– Ich werde aber wenigstens arbeiten, um Dir keine Last zu sein.

– Jawohl, liebe Sissy.

– Und was werd' ich zu thun haben?

– Vorläufig gar nichts, Sissy.«

Weiter war jetzt nicht zu kommen, in der That wurde Sissy aber acht Tage später – auf ihren bestimmten Wunsch – im Laden angestellt, nachdem sie sich mit dem Verkauf vertraut gemacht hatte, und hier bildete das zierliche junge Mädchen, die schon wieder merkwürdig aufgeblüht war, ein neues Zugmittel für die Kundschaft.

Ein lebhafter Wunsch Sissys war es da, den ersten Heizer des »Vulcan« einmal die Schwelle des Hauses überschreiten zu sehen. Sie kannte das Verhalten Grips in der Ragged-School und wußte, daß er ihre Schützerrolle gegenüber dem Kinde, nachdem sich dieses der rohen Hard entzogen, übernommen hatte. Wie sie ihn einst gegen die Hard schützte, so hatte er den Knaben später gegen Carker und dessen Spießgesellen in Schutz genommen. Ohne die Aufopferung des wackern Burschen wäre der Kleine ja gar in den Flammen umgekommen. Der erste Heizer konnte bei seiner Rückkehr also auf den besten Empfang rechnen. Besondre Umstände verzögerten die Heimkehr des Schiffes diesmal aber bis über Ende des laufenden Jahres hinaus.

[380] Die am 31. December 1886 gezogene Bilanz ergab ein noch günstigeres Resultat als die früheren. Mehr als zweitausend Pfund Sterling betrug schon das reine Vermögen des Hauses »Zum kleinen Geldbeutel«. O'Brien hatte das nach Durchsicht der Bücher bestätigt. Der ehrliche Kaufmann konnte den jungen Chef zu diesem Erfolge nur beglückwünschen, legte ihm dabei aber ans Herz, immer mit so weiser Vorsicht wie bisher zu Werke zu gehen.

»Schwerer ist es oft, sich sein Vermögen zu erhalten, als es zu erwerben, sagte er zu Findling bei Zurückgabe der Geschäftsbücher.

– Sie haben Recht, erwiderte dieser, doch glauben Sie mir, Herr O'Brien, daß ich mich nie auf Irrwege locken lassen werde. Immerhin bedaure ich, daß die in der Bank von Irland liegenden Summen keine lohnendere Verwendung finden sollen. Das ist Geld im Schlaf, und wenn man schläft, arbeitet man nicht.

– Nein, mein Sohn, man ruht aber aus, und Ruhe ist dem Gelde ebenso nothwendig, wie dem Menschen.

– Und doch, Herr O'Brien, wenn sich eine gute Gelegenheit böte...

– Die dürfte nicht nur gut, sie müßte ausgezeichnet sein.

– Zugegeben, in einem solchen Falle aber weiß ich, würden Sie mir selbst rathen...

– Davon Nutzen zu ziehen?... Natürlich, mein Sohn, wenigstens wenn die Sache zu Deinem jetzigen Geschäftsbetriebe paßt.

– Das ist auch für mich Bedingung, Herr O'Brien, und es wird mir nie einfallen, mich auf Speculationen einzulassen, die auf mir unbekanntem Gebiete liegen. Wenn man jedoch mit Klugheit vorgeht, kann man wohl versuchen, sein Geschäft zu erweitern.

– Es wäre unrecht von mir, Dich davon abzuhalten, mein Sohn, und wenn ich ein ganz sicheres Geschäft aufspüre... nun ja... vielleicht... doch, das wird sich finden.«

Aus kluger Vorsicht wollte sich der Exkaufmann nicht zu sehr binden.

Ein Tag, der im Kalender des »Kleinen Geldbeutels« roth angestrichen zu werden verdient hätte, war der 23. Februar.

Auf einer hohen Leiter stehend, wäre Bob beinahe heruntergepurzelt, als er sich anrufen hörte mit den Worten:

»He, da sitzt einer auf der Bramstenge!... Heda!

– Grip! rief Bob, der herunterglitt, wie die Jungen auf einem Treppengeländer.

[381] – Ja, ich bin's, and Co!... Findling geht es doch gut, Knirps?... Kat ebenfalls?... Und Herrn O'Brien auch?... Ich habe doch keinen vergessen?

– Keinen?... Und mich, Grip?«

Diese Worte kamen von einem jungen Mädchen, die freudestrahlend auf den ersten Heizer des »Vulcan« zutrat und ihm ohne Umstände einen Kuß auf jede Wange drückte.

»Wa... was? rief Grip ganz verdutzt. Mein Fräulein... ich kenne Sie ja gar nicht... Umarmt und küßt man denn hier die Leute, ohne sie zu kennen?

– Nun so fange ich erst wieder an, wenn wir mit einander bekannt geworden sind....

– Das ist ja Sissy, Grip!... Sissy!... Sissy!« wiederholte Bob laut auflachend.

Eben traten Findling und die Kat ein. Der Teufelskerl, der Grip, wollte jetzt aber nichts von einer weiteren Erklärung hören, als bis er dem Mägdlein die erhaltenen Küsse richtig heimgezahlt hätte. Bei Sanct Patrick! Sissy erschien ihm doch gar zu reizend und thaufrisch! Und da er von Amerika ein kostbares Herren-Reisenecessaire mit Stiefelknecht, Rasiermesser und Seifenbecken – für die spätere Zeit seines Boy bestimmt – mitgebracht hatte, behauptete er flottweg, dieses für Sissy gekauft zu haben, deren Anwesenheit im Bazar des Little Boy er geahnt hätte – und Sissy mußte sich schon drein fügen, sein Geschenk anzunehmen, was der eigentliche Empfänger desselben auch ohne Murren geschehen ließ.

Jetzt gab es in dem Magazin der Bedford-Street herrliche Tage. War er nicht an Bord zurückgehalten, so »lichtete« Grip »hier gar nicht mehr die Anker«. Im Comptoir des »Kleinen Geldbeutels« befand sich offenbar ein Magnet, dessen Anziehungskraft bis zu den Docks reichte und der ihn bei Sissy festhielt. Den Naturgesetzen kann einmal keiner widerstehen. Findling hatte es sehr bald bemerkt.

»Nicht wahr, sie ist nett, meine große Schwester? fragte er eines Tages Grip.

– Deine große Schwester, mein Boy?... O, es wäre gar nicht hübsch, es wäre häßlich von ihr, wenn sie das nicht ganz von selbst wäre!... Es wäre garstig von ihr!

[382] – Garstig... Sissy?... Ich bitte Dich, Grip!...

– Ja, ja, ich spreche dummes Zeug... das heißt, weil ich's nicht besser von mir geben kann. Ja, wenn ich mich auszudrücken verstände...«

Er drückte sich ja ganz gut aus, mindestens nach Ansicht der Kat, und seit der Rückkehr Grips waren kaum drei Wochen verstrichen, als sie zu Findling sagte:

»Unser Grip gleicht jetzt den Thieren in der Mauser. Erst ganz schwarz, bekommt er schon langsam die natürliche Farbe wieder, die weiße Farbe, und mir ahnt, er wird nicht mehr lange auf dem »Vulcan« bleiben.«

Das war auch die Meinung O'Brien's.

Und doch war, als der »Vulcan« am 15. März nach Amerika abdampfte, dessen erster Heizer, den die ganze Familie nach dem Hafen begleitet hatte, wieder auf seinem Posten, als hätte der Dampfer gerade seiner Dienste nicht entrathen können.

Als er am 13. Mai nach achtwöchentlicher Abwesenheit zurückkehrte, erschien seine »Farbenveränderung« noch bemerkbarer als früher. Natürlich wurde ihm der herzlichste Empfang zu Theil. Findling, die Kat und Bob drückten ihn an sich. Er selbst blieb aber etwas zurückhaltender und begnügte sich, Sissy einen Kuß auf die linke Wange zu geben, so wie diese ihn nur mit einem einzigen auf die rechte Wange begrüßt hatte. Grip wurde nachdenklicher und Sissy immer ernsthafter, wenn sie bei einander waren, und das drückte sich auch durch eine gewisse Geniertheit bei dem abendlichen Zusammensein aller aus. Sagte dann Findling, wenn die Abschiedsstunde Grips gekommen war, zu diesem:

»Nun, also auf Wiedersehen morgen!«

... so antwortete dieser wohl:

»Nein... morgen glaub' ich nicht... ich habe dringende Arbeiten in der Heizkammer.... Es wird unmöglich sein!«

Am nächsten Tage stellte sich der gute Grip aber ebenso wie vorher, womöglich noch eine Stunde früher ein, und – wunderbar! – seine Haut wurde von Tag zu Tag weißer.

Grip war jetzt offenbar in der Seelenstimmung, einen Antrag, seinen bisherigen Beruf zu verlassen, gern anzunehmen und als Theilhaber in die Firma Little Boy and Co. einzutreten. Findling hütete sich aber weislich, diese Angelegenheit wieder zu berühren. Besser, Grip käme selbst darauf zu sprechen.

[383] Das war auch zu Anfang des Juni in bescheidenem Maße der Fall.

»Na, das Geschäft geht noch immer nach Wunsch? hatte Grip gefragt.

– Urtheile selbst, erwiderte Findling. Unsre Läden werden niemals leer....

– Ja... es sind immer Käufer da.

– Sogar viele, Grip; vorzüglich seitdem Sissy im Verkauf mit thätig ist.

– Das ist kein Wunder, mein Boy! Ich begreife überhaupt nicht, wie jemand in Dublin... nein, in ganz Irland bei irgend einem andern noch irgendwas kaufen mag als bei ihr.

– Thatsächlich könnte man nirgends so bedient werden, wie von diesem liebenswürdigen...

– O, noch mehr... mehr... fiel Grip ein, ohne das rechte Wort zu finden.

– Nun ja, von diesem bezaubernden jungen Mädchen! setzte Findling hinzu.

– Es geht also alles gut?

– Wie ich Dir gesagt habe.

– Und der Herr Balfour?...

– Mit Herrn Balfour ebenso.

– Ich spreche nicht von seinem Gesundheitszustande, antwortete Grip etwas lebhafter. Was geht mich Herrn Balfour's Gesundheit an?...

– Wohl aber mich, lieber Grip. Er ist uns sehr nützlich. Er ist ein vorzüglicher Buchhalter....

– Er versteht also seine Sache?

– Vollkommen.

– Mir kommt er schon etwas alt vor.

– Nein, davon merkt man nichts.

– Hm!«

Dieses Hm! schien zu sagen, daß der Herr Balfour doch baldigst die Grenze des leistungsfähigen Alters erreichen müsse.


Und Grip holte sofort den Schubkasten. (S. 386.)

Hiermit brach das Gespräch ab. Als Findling der Kat davon erzählte, konnte diese ein leises Kichern nicht unterdrücken.

Sogar Bob machte sich darüber seine eignen Gedanken, und mehrere Tage später fragte er Grip:

»Der »Vulcan« wird wohl bald wieder abdampfen?

[384] – Ja... man spricht davon... es scheint so, erwiderte Grip, dessen Stirn sich bewölkte, wie der Himmel bei einem Südwestwinde.

– Und da wirst Du, fuhr and Co. fort, auch wieder die Kessel bedienen?«

Die Augen des ersten Heizers leuchteten auf, als wenn er die Kohlen auf dem Kesselroste schon durch einen Blick allein hätte anzünden können. Das kam jedoch wohl nur daher, daß Sissy gerade lächelnd durch den Laden ging und stehenbleibend sagte:

[385] »Grip, würden Sie mir da den Kasten mit Chocolade herunterholen... ich bin nicht groß genug....«

Der Heizer holte sofort den Schubkasten.

... oder auch:

»Würden Sie mir wohl jenen Laib Zucker heruntergeben... ich bin nicht stark genug dazu.«

Und Grip brachte ihr den schweren Zuckerhut.

»Wird Deine diesmalige Reise lange dauern? fragte Bob, dem es – man sah es an seinen verschmitzten Blicken – Spaß machte, den Freund etwas auf die Folter zu spannen.

– Ich fürchte, sehr lange! antwortete der Heizer, den Kopf schüttelnd. Wenigstens vier bis fünf Wochen.

– Bah, fünf Wochen! Die sind bald dahin. Ich glaubte, Du wolltest fünf Monate sagen.

– Fünf Monate?... Warum nicht gar gleich fünf Jahre! rief Grip, erschrocken wie ein armer Teufel, der eben zu fünf Jahren Gefängniß verurtheilt wurde.

– Na... da bist Du also ganz glücklich, Grip?

– Sapperment... was soll ich denn sein?... Natürlich bin ich's!

– Nein, Du bist ein rechter... Querkopf!«

Bob lief dabei mit einer bezeichnenden Grimasse davon.

In der That lebte Grip eigentlich gar nicht mehr, denn man kann es nicht leben nennen, wenn einer, in Gedanken versunken, sich überall an den Kopf stößt, wie die Fliege an einer Lampenglocke. So war es für ihn, da er einmal noch nicht zu dem Entschlusse, dazubleiben, kam, ganz gut, daß sein Schiff am 22. Juni wieder abfuhr.

Während seiner jetzigen Abwesenheit ließ sich die Firma Little Boy auf ein auch von O'Brien gern gutgeheißenes Geschäft ein, das reichlichen Gewinn versprach. Es handelte sich um ein neues Spielzeug, von dessen Erfinder Findling das Patent erwarb.

Dieses Spielzeug machte umsomehr Aufsehen, weil es das Haus Little Boy and Co., d. h. weil es zwei Knaben waren, die den Alleinverkauf desselben in die Hand genommen hatten. Zu Beginn der Sommerreisen nach den Seeküsten wollte die ganze kindliche Gentry das Ding haben, das übrigens nicht zu billig war, und Bob, dem der Verkauf zufiel, vermochte oft die Wünsche [386] der Kunden kaum zu befriedigen. Sissy mußte ihm beispringen, und deshalb ging der Handel gewiß nicht schlechter und übertraf in den Einnahmen sogar die der andern Branchen des Geschäfts. Jener besondre Artikel bereicherte die Casse allein um mehrere hundert Guineen. Voraussichtlich betrug das Vermögen des Hauses am Ende des Jahres, den noch regeren Weihnachtsumsatz eingerechnet, gut dreitausend Pfund Sterling.

Das gestattete nun dem jungen Inhaber des »Kleinen Geldbeutels«, Sissy, wenn diese sich verheiraten sollte, eine hübsche Aussteuer mit auf den Weg zu geben.

Grip war ja ein recht hübscher junger Mann, der einen vollkommenen Ehemann abgeben mußte und der ihr offenbar gefiel wenn sie sich auch hütete, das merken zu lassen. Alle im Hause wußten es jedoch ganz gut. Nur Grip schien zu keiner Entscheidung zu kommen; er that, als ob ohne ihn die ganze Maschinerie seines Dampfers in Unordnung kommen müßte, und hatte damals, als Findling von seiner etwaigen späteren Verheiratung sprach, vor Lachen fast bersten wollen.

Natürlich erschien unter diesen Umständen der erste Heizer des am 29. Juli zurückgekehrten »Vulcan« nur noch linkischer, grübelnder, düsterer, kurz, unglücklicher als vorher. Sein Schiff sollte am 15. September wieder auslaufen, und man fragte sich, ob er wohl auch diesmal wieder mitfahren würde.

Das war fast anzunehmen, da Findling – welche Bosheit! – fest entschlossen war, die Lösung der in der Luft schwebenden Frage nicht zu beschleunigen, so lange es Grip nicht über sich gewonnen hätte, ausdrücklich davon zu reden und ihn darum zu fragen. Es handelte sich ja um seine große Schwester, die von ihm abhing, für deren Lebensglück er die Verantwortung trug. Die erste Bedingung – das sine qua non – die er stellte, war aber die, daß Grip seine Seemannslaufbahn aufgab und als Theilhaber in das Handelsgeschäft eintrat.

Einmal wurde nun Grip bezüglich seiner Herzensangelegenheit so sehr an die Mauer gedrückt, daß er sich eigentlich hätte erklären müssen.

Eines Tags, als er sich um die Kat zu thun machte – und dieser würdigen Frau hätte er sich zuerst vielleicht am liebsten offenbart – begann die Kat ganz hingeworfen:

»Ist's Ihnen nicht aufgefallen, Grip, daß die Sissy von Tag zu Tag reizender wird?

[387] – Nein, antwortete Grip, das hab' ich nicht bemerkt. Warum sollte mir's auch aufgefallen sein?... Ich achte doch darauf nicht so besonders...

– Ah, so, Sie bemerken das also nicht?... Nun, dann machen Sie nur einmal die Augen ordentlich auf, da werden Sie ja sehen, welch wunderhübsches Mädchen wir hier haben. Wissen Sie denn, daß sie bald neunzehn Jahre alt wird?

– Was?... Schon?... versetzte Grip, der das Alter Sissys auf die Stunde genau kannte. Sie irren sich wohl, Kat!

– Nein, gewiß nicht... neunzehn Jahre... sie wird nun bald heiraten müssen... Findling wird einen braven Mann für sie suchen, so einen von sechs- bis siebenundzwanzig Jahren... ja, ungefähr wie Sie. Es muß natürlich einer sein, zu dem man volles Vertrauen haben kann... und der nicht der Marine angehört... nicht der Marine... Seemann... Ehemann, das stimmt nicht gut zusammen. Da Sissy außerdem eine hübsche Mitgift bekommt...

– Die braucht sie gar nicht, warf Grip dazwischen ein.

– Das ist wahr... eine so liebreizende Person... am letzten Ende ist es aber doch nicht schädlich.... Na, unser junger Herr wird wohl bald den Rechten finden....

– Er hat wohl schon einen im Auge?

– Ich glaub' es.

– Einen, der häufig nach dem Bazar kommt?.

– Sehr häufig.

– Kenne ich ihn?

– Nein... mir scheint, Sie kennen ihn nicht, antwortete Kat mit einem Blicke auf Grip, der die Augen niederschlug.

– Und... der... der gefällt auch Mamsell Sissy? fragte er, wobei ihm die Worte halb in der Kehle stecken blieben.

– Ja, wer kann das wissen? Bei Leuten, die nicht von der Leber weg reden...

– Herr Gott, was giebt es doch für Schwachköpfe! rief Grip.

– Ja, das sind' ich allerdings auch!« stimmte die gute Kat ihm zu.

Auch dieser Wink mit dem Zaunpfahle verhinderte den Heizer nicht, acht Tage später mit abzufahren. Als er am 29. October wiederkam, sah man's ihm auf dem Gesicht an, daß er einen großen Entschluß gefaßt hatte, nur gelang es ihm noch nicht, diesen in Worte zu kleiden.

[388] Jetzt hatte er freilich genügende Zeit dazu. Der »Vulcan« sollte zwei Monate lang hier liegen bleiben, um verschiedene nothwendig gewordene Reparaturen daran auszuführen, und zwei Monate reichen doch übrig dazu, ein einziges kleines Wort auszusprechen.

»Mamsell Sissy ist doch noch nicht verheiratet? hatte er die Kat beim ersten Besuche gefragt.

– Das noch nicht... lange wird's aber nicht mehr dauern... Es brennt schon!« antwortete darauf die gute Frau.

Nach Abtakelung des »Vulcan« hatte Grip an Bord selbstverständlich nichts zu thun, und folglich hielt er sich sehr häufig – sagen wir lieber, immer – im Bazar von Little Boy auf. Höchstens wenn er hier gleich wohnte, hätte er noch mehr daselbst sein können. Während seiner ganzen Urlaubszeit kamen die suchen jedoch keinen Schritt weiter.

Als die Reparaturen des »Vulcan« in der dazu bestimmten Frist beendigt waren, sollte er eine Woche später wieder in See gehen. Und dieser Schwachkopf von Grip hatte den Mund noch immer nicht aufgethan – wenigstens nicht, um das zu sagen, was man von ihm erwartete.

Da ereignete sich in der ersten Decemberwoche ein unerwarteter Zwischenfall.

Ein an O'Brien gerichteter Brief, die Antwort auf dessen letzte Anfrage in Australien, brachte folgende Nachrichten:

Martin und Martine Mac Carthy, Murdock, dessen Frau und Töchterchen, sowie Sim und Pat, die jenen gefolgt waren, hatten sich in Melbourne zur Rückkehr nach Irland wieder eingeschifft. Das Glück war ihnen auch hier nicht günstig gewesen und sie kamen ebenso elend heim, wie sie einst fortgegangen waren. Das Emigrantenschiff, auf dem sie sich befanden, der Segler »Queeasland«, konnte vor Ablauf von drei Monaten in Queenstown schwerlich eintreffen.

Unsern Findling betrübten diese Nachrichten recht schmerzlich, meldeten sie ihm doch, daß die Familie Mac Carthy auch heute noch unglücklich, ohne Arbeit und ohne Mittel sei. Er sollte aber wenigstens seine Adoptiveltern wiedersehen, sollte endlich die Genugthuung haben, ihnen beistehen zu können. Ja, wenn er zehnmal so vermögend gewesen wäre, um ihre Lage zehnmal besser gestalten zu können!

Den Brief, den er sich von O'Brien erbeten hatte, verschloß er in seinem Schreibtische, und – wunderbar! – von jenem Tage ab erwähnte er desselben [389] mit keiner Silbe und sprach auch überhaupt nicht mehr von den früheren Pächtern von Kerwan.

Jene Nachrichten übten aber einen unerwarteten Einfluß auf Grip aus. Das Menschenherz bleibt sich ja immer gleich, selbst in der Brust eines ersten Heizers. Da sollten die Mac Carthy's heimkehren, die beiden Brüder Sim und Pat, gewiß jetzt ein paar prächtige Burschen, die Findling fast wie leibliche Brüder liebte... wer konnte wissen, ob er nicht einem von diesen diejenige, die fast seine Schwester war, zugedacht hatte? Kurz, Grip wurde eifersüchtig, entsetzlich eifersüchtig, und am 9. December war er fest entschlossen, der Ungewißheit ein Ende zu machen, als Findling ihn zur Seite nahm und sagte:

»Komm nach meinem Comptoir, Grip, ich habe mit Dir zu sprechen.«

Ganz bleich – er hatte das Vorgefühl, daß es sich um etwas sehr wichtiges handelte – folgte Grip der Aufforderung Findlings.

Als sie sich allein gegenüber saßen, begann der Chef des »Kleinen Geldbeutels« trocknen Tones:

»Ich werde mich voraussichtlich auf ein umfänglicheres Geschäft einlassen, und dazu braucht' ich Dein Geld.

– Na, meinte Grip, das giebt nicht sehr viel. Wie viel brauchst Du denn?

– Alles, was Du in der Sparcasse liegen hast.

– Nimm, was Du willst.

– Hier ist Dein Sparbuch. Du mußt es unterzeichnen, damit ich das Geld erheben kann.«

Grip schlug das Buch auf und unterschrieb.

»Was Deine Zinsen betrifft, fuhr Findling fort, sprech' ich davon jetzt nicht.

– Das ist auch nicht der Mühe werth....

– Nein, weil Du von heute an Theilhaber der Firma Little Boy and Co. bist.

– In welcher Eigenschaft?...

– Nun, als richtiger Associé.

– Ja... aber mein Schiff?

– Du verlangst Deine Entlassung.

– Und mein Beruf?

– Den giebst Du auf.

– Weshalb müßt' ich den aufgeben?

[390] – Weil Du Sissy heiraten sollst.

– Heiraten?... Ich?... Die Mamsell Sissy! rief Grip, der das gar nicht fassen zu können schien.

– Ja, ja, sie will es selbst.

– Wa... s? Sie selbst wollte...

– Gewiß; und da es Dein Wunsch auch ist...

– Mein Wunsch... ich weiß nicht... freilich...«

Grip wußte gar nicht, was er antwortete, und hörte kein Wort mehr von dem, was Findling zu ihm sagte. Er ergriff seinen Hut, stülpte ihn auf den Kopf, nahm ihn wieder ab, legte ihn auf einen Stuhl und setzte sich dann selbst darauf, ohne es zu merken.

»Achtung, rief Findling lachend, nun wirst Du Dir zur Hochzeit einen neuen anschaffen müssen.«

Natürlich kaufte er gern einen andern Hut, doch wie er überhaupt zu dieser Heirat gekommen war, das begriff er nimmermehr. Lange Zeit konnte ihn niemand aus seiner Verwunderung reißen... nicht einmal Sissy. Doch, so etwas geht ja mit der Zeit vorüber.

Jedenfalls legte Grip am frühen Morgen des Weihnachtsheiligabends ganz schwarze Kleidung an, als ob er zu einer Beerdigung – und Sissy ein ganz weißes Gewand, als ob sie zu einem Balle gehen wollte. Findling, Bob und Kat zogen ebenfalls den Sonntagsstaat an, obwohl es Freitag war. Dann holten zwei Wagen alle an der Thür des »Kleinen Geldbeutels« ab, um sie nach der Kapelle in der Bedford-Street zu bringen.


»Ja, das sind' ich auch!« stimmte Kat ihm zu. (S. 388.)

Und als Grip und Sissy eine halbe Stunde später das Gotteshaus wieder verließen, da waren sie plötzlich Mann und Frau geworden.

Außer dieser Kleinigkeit hatte sich nichts verändert, als die fröhliche Gesellschaft nach dem Bazar von Little Boy and Co. zurückkehrte. Sofort wurde der Verkauf wieder aufgenommen, denn am Abend vor Weihnachten konnte man doch der zahlreich herbeiströmenden Kundschaft einen so reichlich ausgestatteten Laden nicht verschließen.

[391]
14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Das Meer von drei Seiten.

Am 15. März, etwa drei Monate nach der Hochzeit Grips und Sissys, verließ der Schooner »Doris« den Hafen von Londonderry und stach bei günstigem Nordostwind ins Meer.


Der Schooner »Doris« verläßt Londonderry. (S. 393.)

[392]

Londonderry ist die Hauptstadt der gleichnamigen Grafschaft, die im Norden Irlands an Donegal grenzt. Die Bewohner von London sagen Londonderry, weil diese Grafschaft fast gänzlich Körperschaften der Hauptstadt der Britischen Inseln gehört – freilich nur in Folge früherer Confiscationen – und weil Londoner Capital die Stadt wieder aus ihren Ruinen erstehen ließ. Paddy, dagegen sagt, weil er nicht anders zu protestieren vermag, einfach Derry, und es wird ihn niemand darum tadeln wollen. Der am linken Ufer und nahe der Mündung der Foyle gelegne Hauptort der Grafschaft ist eine bedeutendere [393] Stadt. Ihre breiten, lustigen, gut unterhaltenen Straßen zeigen, trotz einer Bevölkerung von fünfzehntausend Seelen, nicht viel Verkehr. Man findet hier Spaziergänge an der Stelle der alten Wälle, eine bischöfliche Kathedrale auf einem Hügel und auch einzelne, kaum erkennbare Spuren der Abtei St. Columba und des Tempal More, eines merkwürdigen Gebäudes aus dem zwölften Jahrhundert.

Der belebte Hafen führt eine Menge Erzeugnisse aus. Waaren aller Art, Schiefer, Bier und Vieh, aber auch recht viele Auswandrer. Wie viele dieser von der Noth vertriebenen unglücklichen Irländer kehren aber schließlich in die Heimat zurück!

Es ist kein besondres Ereigniß, daß ein Schooner den Hafen von Londonderry verläßt, wo täglich Hunderte von Fahrzeugen die enge Bai des Lough-Foyle hinauf- und hinabsegeln. Warum sollte also die Abfahrt der »Doris« auffallen bei einem Schiffsverkehr, der sich jährlich auf sechsmalhunderttausend Tonnen beläuft?

Das ist ja richtig. Die Goëlette verdient aber unsre besondre Aufmerksamkeit, weil sie »Cäsar und sein Glück« trug. Cäsar war in diesem Falle freilich Findling, und sein Glück (oder Vermögen) war die Ladung, die das Schiff nach Dublin bringen sollte.

Der jugendliche Chef von Little Boy and Co. befand sich an Bord der »Doris« aber aus folgenden Gründen:

Nach der Verheiratung Sissys und Grips war der »Kleine Geldbeutel« wegen des neuen Jahres sehr stark beschäftigt gewesen. Da galt es, die Inventur aufzustellen, die zahlreichen Käufer zu befriedigen, den Bazar noch mehr zu erweitern u. s. w. Grip war tüchtig ins Zeug gegangen, obgleich er sein eheherrliches Erstaunen noch nicht überwunden hatte. Der Gatte der reizenden Sissy zu sein, das erschien ihm immer noch wie ein Traum, der jeden Augenblick verschwinden könnte.

»Ich versichere Dir aber, daß Du verheiratet bist, sagte ihm Bob wiederholt.

– Ja, ja, Bob, es scheint mir auch so, und doch... manchmal kann ich's gar nicht glauben.«

Das Jahr 1887 begann also unter den günstigsten Verhältnissen. Findling konnte nur wünschen, daß alles in gleicher Weise fortginge; nur eine schwere Sorge drückte ihn: das Los der Mac Carthy's sicherzustellen, wenn die armen Leute den Fuß wieder auf irischen Boden setzen würden.

[394] Ueber den »Queensland«, auf dem sie sich befanden, war bisher nichts zu hören gewesen, obwohl Findling alle Seeberichte aufmerksam verfolgte. Erst am 14. März fand er in der »Shipping-Gazette« folgende Zeilen:

»Der Dampfer »Burnside« hat am 3. laufenden Monats den Segler »Queensland« bei Assuncion getroffen.«

Segelschiffe, die von Süden her kommen, können ihre Fahrt nicht durch Benützung des Suezcanals abkürzen, denn es ist schwierig, ohne Maschinenkraft das Rothe Meer hinauf zu fahren. Der »Queensland« mußte also von Australien nach Europa den Weg ums Cap der Guten Hoffnung einschlagen und befand sich demnach jetzt noch auf hoher See. Bei günstigem Winde konnte er nach zwei bis drei Wochen in Queenstown eintreffen. Bis dahin hieß es also sich zu gedulden.

Die Begegnung der beiden Schiffe gab doch wenigstens einen Fingerzeig. Jedenfalls hatte Findling gut daran gethan, jene Nummer der »Shipping-Gazette« zu lesen, schon weil er dabei folgende Anzeige fand:

»Londonderry, den 13. März. – Uebermorgen, am 15. d., kommt die Ladung des Schooners »Doris« von Hamburg zur öffentlichen Versteigerung. Diese beträgt hundertfünfzig Tonnen und umfaßt Alkohol und Wein in Fässern, Kisten mit Seife, Ballen mit Kaffee, Säcke mit Gewürzen u. s. w. – Der Verkauf findet statt auf Antrag der Gläubiger, der Herren Gebrüder Harrington u. s. w.«

Findling kam beim Lesen dieser Annonce der Gedanke, daß hier vielleicht etwas zu verdienen sei, da die Fracht der »Doris« bei einer Auction voraussichtlich zu billigem Preise wegging. Die Art der Waaren paßte ja für sein eignes Geschäft, und so ging ihm die Sache so sehr im Kopfe herum, daß er O'Brien deshalb um Rath fragte.

Der Ex-Kaufmann durchlas die Anzeige, hörte die Erwägungen des Knaben an und antwortete nach einiger Ueberlegung:

»Ja, hier wäre wohl ein Geschäft zu machen. Alle diese Waaren ließen sich, wenn man sie billig ersteht, mit hübschem Nutzen verwerthen... doch unter zwei Bedingungen: erstens, daß sie tadelloser Qualität sind, und zweitens, daß man sie fünfzig bis sechzig Procent unter dem Marktpreise erhält.

– Das ist auch meine Meinung, Herr O'Brien, antwortete Findling; es läßt sich etwas bestimmtes über die Sache nicht eher sagen, als bis man die Ladung der »Doris« selbst besichtigt hat. Ich denke noch heute Abend nach Londonderry zu fahren.

[395] – Du hast Recht... ich werde Dich begleiten, mein Sohn. Ich verstehe mich auf derlei Waaren, mit denen ich mein Leben lang zu thun gehabt habe.

– Ich danke Ihnen, Herr O'Brien, nur weiß ich nicht, wie ich Ihnen meine Erkenntlichkeit beweisen kann....

– Versuchen wir, aus der Sache ein gutes Geschäft zu machen, mehr verlange ich nicht.

– Dann ist aber keine Zeit zu verlieren, erwiderte Findling, die Versteigerung ist schon für übermorgen angesetzt....

– Ich bin bereit, mein Sohn; ich brauche nur meine Reisetasche zu holen. Morgen sehen wir uns die Ladung der »Doris« ganz genau an. Uebermorgen kaufen wir sie oder kaufen sie nicht, je nach ihrer Güte und ihrem Preis, und am Abend geht's zurück nach Dublin.«

Findling benachrichtigte Grip und Sissy sofort von seiner Absicht, ein Geschäft zu wagen, das fast seine gesammten Geldmittel in Anspruch nehmen würde. Er vertraute ihnen also für achtundvierzig Stunden die Oberleitung des Bazars »Zum kleinen Geldbeutel« an.

So kurz die Trennung auch war, konnten sich Grip und Bob doch gar nicht darein finden... vorzüglich der kleine Knabe nicht. Seit viereinhalb Jahren war es das erste Mal, daß Findling und er nicht bei einander sein sollten. Auch zwei leibliche Brüder hätte kein innigeres Band verknüpfen können. Sissy sah »ihr liebes Kind« nicht ohne Beunruhigung fortgehen. Eine Abwesenheit von wenigen Tagen hatte am Ende aber doch nicht viel zu bedeuten. Was das Vorgehen Findlings selbst betraf, das auch O'Brien gebilligt hatte, wußte sie ja, daß jener nichts unternehmen würde, was seine Lage erschüttern und einer halsbrecherischen Speculation ähnlich sein könnte. Mit dem Zuge zehn Uhr abends fuhren die beiden Kaufleute, der alte und der junge, ab. Diesmal kam Findling über Belfast, die Hauptstadt der Grafschaft Down hinaus... Belfast, wo er seine liebe Sissy wiedergefunden hatte. Am folgenden Morgen um acht Uhr langten die beiden Reisenden am Bahnhofe in Londonderry glücklich an.

Wie seltsam doch das Schicksal spielt! In Londonderry, wo er jetzt ein bedeutendes Handelsgeschäft abschließen wollte, befand sich Findling nur dreißig Meilen weit von dem Weiler Rindock, im Herzen von Donegal, wo sein Leben unter so elenden Verhältnissen begonnen hatte. Ein Dutzend Jahre waren vergangen, er hatte inzwischen ganz Irland durchstreift und wie viel Glückswechsel [396] erlitten, wie viele Widerwärtigkeiten zu besiegen gehabt! Mußte er nicht unwillkürlich an die jetzige Veränderung seiner Lage denken?

O'Brien unterwarf die Ladung der »Doris« einer sehr eingehenden Prüfung. Der Qualität und der Art nach entsprachen die Waaren vollständig den Ansprüchen des Hauses zum »Kleinen Geldbeutel«. Konnte er sie billig erstehen, so erzielte er damit einen großen Gewinn, der sein Capital mindestens vervierfachte. Der alte Kaufmann hätte auch nicht gezögert, dieses Geschäft für eigne Rechnung zu unternehmen. Er rieth Findling sogar, den Gebrüdern Harrington noch vor der Auction einen annehmbaren Preis zu bieten.

Der Rath erwies sich gut. Findling traf mit den Gläubigern der »Doris« ein Uebereinkommen und erhielt die ganze Ladung zu einem desto annehmbareren Preise, als er sofortige Bezahlung dafür leistete. Wenn schon die Jugend des Käufers die Verwunderung der Herren Harrington erweckte, so that das der Scharfsinn, womit dieser sein Interesse wahrnahm, nur noch viel mehr. Da sich auch O'Brien persönlich verbürgte, wickelte sich die Angelegenheit ganz allein ab und wurde bei der ersten Verhandlung darüber mittelst eines Checks auf die Bank von Irland geregelt.

Für dreitausendfünfhundert Pfund – fast das ganze Vermögen Findlings – erhielt dieser die ganze Ladung der »Doris«, nach Abschluß des Geschäfts aber konnte er sich einer gewissen Erregung doch nicht ganz erwehren.

Was den Transport der Fracht nach Dublin betraf, schien es am einfachsten, gleich die »Doris« dazu zu benützen, um eine Ueberladung nach einem andern Schiffe zu ersparen. Der Kapitän derselben verlangte auch gar nicht mehr, als daß ihm seine Schiffsmiethe gesichert wurde, und bei günstigem Wind konnte die Ueberfahrt kaum mehr als zwei Tage in Anspruch nehmen.

Nachdem auch das geordnet war, hatten O'Brien und sein junger Begleiter nur wieder den Abendzug zu besteigen, dann würde ihre Abwesenheit nicht mehr als sechsunddreißig Stunden gedauert haben.

Da kam es Findling in den Sinn, O'Brien den Vorschlag zu machen, auf der »Doris« nach Dublin heinizukehren.

»Ich danke Dir, mein Sohn, antwortete der alte Kaufmann, doch das Meer und ich, wir sind niemals die besten Freunde gewesen. Doch wenn Du Lust hast...

– Gewiß, Herr O'Brien. Eine so kurze Ueberfahrt bietet ja keine so besondre Gefahr und ich würde lieber bei meiner Waarenladung bleiben.«

[397] O'Brien fuhr also allein nach Dublin zurück, wo er mit dem Frühroth des folgenden Tages eintraf.

Im gleichen Augenblick verließ die »Doris« den Canal der Foyle und steuerte nach dem engen Fahrwasser, das die Bai mit dem Canal des Nordens in Verbindung setzt.

Die Nordwestbrise war ihrer Fahrt günstig; bei Fortdauer derselben mußte die Ueberfahrt ausgezeichnet verlaufen. Der Schooner konnte sich in der Nähe der Küste halten, wo das Meer unter dem Schutze der hohen Küsten stets ruhiger ist. Freilich ist man im Monat März bei Annäherung der Tagundnachtgleiche im irischen Meere niemals vor Ueberraschungen sicher.

Die »Doris« wurde von einem Kapitän der Küstenfahrt John Clear befehligt, der acht Matrosen zu ihrer Bedienung hatte. Alle schienen mit ihrer Aufgabe bestens vertraut und kannten die Küste von Irland von vielen Fahrten längs derselben her genau. Von Londonderry nach Dublin wären sie zur Noth mit geschlossenen Augen gesegelt.

Unter vollen Segeln glitt die »Doris« aus der Bai hinaus. Auf dem Meere angelangt, konnte Findling den Hafen von Innishafen erkennen, der am Eingang einer durch die Spitze von Donegal gedeckten Bai liegt, und weiterhinaus das mit dem Cap Malin auslaufende lange Vorgebirge, das im Norden Irlands am allerweitesten hinausragt.

Der erste Tag ließ sich ganz glücklich an. Für den jungen Knaben war es ein wahrer Hochgenuß, unter den Segeln der »Doris« über das leicht bewegte Meer dahinzuschaukeln. Von der Seekrankheit fühlte er keine Spur. Ein Schiffsjunge hätte nicht mehr Seemann sein können als er. Nur ein Gedanke beschäftigte ihn wiederholt, der an die im Raum der Goëlette verstaute Fracht und daneben an die ungeheure Tiefe, die sich nur zu öffnen brauchte, um sein ganzes Vermögen zu verschlingen.

Für diese Befürchtung lag jedoch kaum ein Grund vor. Die »Doris« war ein solides Fahrzeug und ein vortrefflicher Segler, mit dem ihr Kapitän unter allen Verhältnissen umzugehen verstand.

Wie schade, daß Bob nicht mit an Bord war! Wie hätte sich dieser gefreut, einmal wirklich zu schwimmen, nicht wie auf dem »Vulcan«, wenn dieser im Hafen von Cork oder Dublin vor Anker lag. Hätte Findling eine Ahnung von dieser Rückfahrt zu Wasser gehabt, so würde er Bob unzweifelhaft mitgenommen haben und dieser wäre am Ziele seiner sehnlichsten Wünsche gewesen.

[398] Das Ufer, das sich längs der Grafschaft Antrim hinzieht, ist herrlich anzusehen. Es hat überall weiße Mauern von Kreidefelsen und in diesen so viele Höhlen, daß das ganze Personal der gaëlischen Mythologie darin Raum gefunden hätte. Hier ragen die »Kaminschornsteine« empor, deren Rauch nur aus dem Wasserdunst der Brandung besteht, und erheben sich trotzige Steilufer, die mehr den Mauern einer Festung gleichen. Dort wieder dehnt sich die Chaussee der Riesen aus, die aus lothrecht stehenden Säulen, wunderlichen Basaltpfeilern, gebildet ist, welche von den anprallenden Wogen einen metallischen Ton geben, und deren es, wenn man den Touristen glauben darf, über vierzigtausend geben soll. Alles das bietet einen bezaubernden Anblick.

Die »Doris« hütete sich freilich, dem Riffgürtel zu nahe zu kommen, und um vier Uhr nachmittags segelte sie, das schottische Mull von Cantire nordöstlich liegen lassend, zwischen dem Cap Fair und der Insel Rathlin hin, um den Nordcanal zu gewinnen.

Die Nordwestbrise hielt sich bis drei Uhr nachmittags und zertheilte die hoch in der Luft dahinziehenden Wolken.

Während der Schooner so in zwei bis drei Meilen Entfernung vom Ufer dahinsteuerte, war kaum ein leichtes Rollen, und vorzüglich gar kein Schlingern des Schiffes wahrzunehmen. Findling hatte das Deck keinen Augenblick verlassen; hier wollte er bleiben, bis ihn vielleicht die nächtliche Kälte nach der Cabine des Kapitäns hinuntertrieb. Voraussichtlich ließ diese erste Seefahrt in ihm die angenehmste Erinnerung zurück, und er beglückwünschte sich schon, seine Ladung selbst begleitet zu haben. Er hoffte mit einem gewissen Stolz in den Hafen von Dublin einzulaufen, wo ihn Grip, Sissy, Bob und Kat, die ja von O'Brien benachrichtigt sein mußten, gewiß mit Jubel empfangen würden.


Dort dehnt sich die Chaussee der Riesen aus. (S. 399.)

Zwischen vier und fünf Uhr nachmittags ballten sich im Osten dichte Dunstmassen zusammen. Der Himmel nahm schnell ein mehr bedrohliches Aussehen an. Die scharfbegrenzten, vor entgegengesetztem Winde treibenden Wolken stiegen mit großer Schnelligkeit auf. Keine Lichtung verrieth, daß diese Windrichtung vor Einbruch der Nacht wieder umschlagen würde.

»Achtung vor der Böe!« Das schien am äußersten Rande des Meeres geschrieben zu sein. John Clear verstand es, denn seine Stirn verdüsterte sich, als er den Horizont aufmerksam musterte.

»Nun, Herr Kapitän, fragte Findling, den die Haltung John Clear's nicht weniger wie die der Matrosen etwas staunen machte.

[399] – Ja, die Sache gefällt mir nicht,« antwortete der Kapitän, der sich nach Westen zu wandte.

In der That flaute die bisherige Brise schon merkbar ab. Die schlaffen Segel begannen klatschend an die Masten zu schlagen. Nur dann und wann vermochte sie noch ein leiser Windhauch zu schwellen. Die jetzt weniger gehaltene »Doris« begann zu rollen.

Das Steuerruder versagte, da das Schiff kaum noch Fahrt machte, fast den Dienst.

[400] Findling litt von diesem Rollen indeß nicht allzuviel, obwohl dasselbe auf den sonst ruhigen Meeren unangenehmer erscheint, und er ging auch nicht nach der Kapitänscabine hinunter, wozu ihn John Clear schon aufgefordert hatte.


Seine Mannschaft und er sprangen in die Schaluppe. (S. 404.)

Inzwischen wurden die Windstöße von Osten her häufiger und stärker, so daß sie das Wasser der Oberfläche des Canals zerstäubten. Ueber zwei Drittel des Horizonts flohen lange Wolken hin, die bei den Strahlen der sinkenden Sonne noch drohender erschienen, als sie vielleicht wirklich waren.

[401] Der Kapitän Clear ordnete nun die nöthigen Vorsichtsmaßregeln an; er ließ die Segel einziehen oder brassen, und behielt nur die Stagsegel bei, die ein Schiff nicht entbehren kann, wenn es gegen einen Sturm aufkommen will. Der Schooner war übrigens schon vorher etwas weiter vom Ufer abgebracht worden, um, wenn er den Wind nicht passend abfangen konnte, wenigstens nicht bis ans Land getrieben zu werden.

Jeder Seemann weiß, daß die atmosphärischen Strömungen zur Zeit der Aequinoctien vorzüglich im Norden häufig mit furchtbarer Gewalt auftreten. Noch war es auch nicht Nacht geworden, als die »Doris« vom heulenden Sturm gepackt wurde. Niemand, der nicht selbst Zeuge eines solchen Vorganges gewesen ist, vermag sich davon eine richtige Vorstellung zu machen.

Nach Sonnenuntergang erschien der Himmel vollkommen schwarz. Die Luft zerriß ein schrilles Pfeifen, unter dem zahlreiche Möwen nach dem Lande zu flatterten. In einem Augenblick wurde der Schooner vom Kiel bis zu den Mastspitzen gewaltig erschüttert. Das Meer kam, wie der Ausdruck lautet, »von drei Seiten«, das heißt, die von wechselnden Windstößen gepeitschten Wogen stürzten sich gleichzeitig über den Bug und über die Seiten der »Doris« herein. Alles, vom Klüverbaum bis zum Steuerruder, wurde umgerissen und nur mit größter Mühe vermochte man sich auf dem Verdeck zu erhalten. Der Mann am Steuer mußte festgebunden werden und die Matrosen suchten sich längs der Bordwand zu schützen.

»Gehen Sie hinunter, sagte John Clear zu Findling.

– Erlauben Sie mir, Kapitän...

– Nein, nein, hinunter, sag' ich, oder Sie werden von einer Sturzwelle mit hinausgespült.«

Findling gehorchte. Sehr beunruhigt kam er nach der Cabine, obwohl er weit weniger an sich selbst dachte. Nur seine Ladung lag ihm am Herzen. Sein ganzes Vermögen war jetzt an Bord eines Schiffes in Gefahr... und wenn er es einbüßte, mußte er auf alles, was er Gutes thun wollte, verzichten....

Die Lage wurde allmählich sehr ernst. Vergebens hatte der Kapitän versucht, die »Doris« dem Sturme gerade entgegenzustellen, um sich von der Küste zu entfernen, oder wenigstens nicht näher an dieselbe herangetrieben zu werden. Da wurde gegen ein Uhr nachts leider die Fock- und die Bugsprietstenge weggerissen und eine Stunde später brachen auch die Masten.

[402] Sofort neigte sich die »Doris« auf Steuerbord, und da die Fracht im Raum sich verschoben hatte, konnte sie sich nicht wieder aufrichten und kam in Gefahr, über die Regeling voll Wasser zu laufen.

Findling, der gegen die Wände der Cabine geschleudert worden war, kam, im Finstern umhertappend, mit Mühe wieder auf die Füße.

Da drang in einem ruhigeren Augenblicke lautes Geschrei bis zu ihm herab. Auf dem Verdeck entstand ein unerkennbares Geräusch, so daß man fast glauben konnte, es sei durch eine einstürzende Welle eingeschlagen worden.

Doch nein. Außer Stande, die Goëlette wieder emporzurichten und in der Befürchtung, daß sie untergehen werde, traf John Clear Vorbereitungen, sie zu verlassen. Trotz der Schwierigkeit, die das Schiefstehen des Schiffes mit sich brachte, hatte man bereits die Schaluppe ins Wasser niedergelassen, um sich sofort in diese zu retten. Findling begriff das, als er sich vom Kapitän durch die geöffnete Treppenkappe rufen hörte.

Ihm konnte es aber gar nicht in den Sinn kommen, die Goëlette und alles, was sie trug, zu verlassen. Wenn es nur eine einzige Aussicht auf Rettung gab, wollte er diese wahrnehmen. Er kannte ja die Seegesetze: wenn das Meer ein verlassenes Schiff nicht verschlingt, gehört es dem ersten, der an Bord desselben kommt. Das ist gesetzliche Bestimmung und wird in England buchstäblich so gehalten.

Das Schreien wurde lauter. John Clear rief auch noch immer nach Findling.

»Wo steckt er denn? wiederholte er.

– Wir sinken!... Wir sinken! riefen die Matrosen.

– Aber... der Knabe?...

– Wir können nicht warten...

– O, ich werde ihn finden!«

Der Kapitän kam die Treppe herunter.

Findling war nicht mehr in der Cabine.

Ohne darüber nachzudenken, mehr vom Instinct geleitet, hatte er sich, fest entschlossen, auf dem Schiffe auszuhalten, durch eine gebrochene Luke in den untern Raum geflüchtet.

»Wo ist er? Wo ist er? wiederholte der Kapitän ihn laut rufend.

– Er wird aufs Verdeck gekommen sein... meinte ein Matrose.

– Wird ins Meer gestürzt sein, setzte ein andrer hinzu.

[403] – Wir sinken!... Wir sinken!«

Diese Rufe kreuzten sich unter einem entsetzlichen Wirrwarr. Die »Doris« hatte sich in der That bei einer furchtbaren Rollbewegung so weit geneigt, daß man fürchten konnte, sie würde bald mit dem Kiel nach oben schwimmen.

Ein Zögern war nicht mehr möglich. Da Findling keine Antwort gab, war er sicherlich, bei der Finsterniß von keinem bemerkt, nach dem Verdeck hinausgekommen und über Bord geschwemmt worden.

Der Kapitän Clear erschien wieder, als die Goëlette unter zwei ungeheuern Wellenbergen fast verschwand. Seine Mannschaft und er sprangen in die Schaluppe, deren Taue sofort losgeworfen wurden. So wenig man hoffen konnte, daß das Boot dem wüthenden Meere werde Trotz bieten können, so gab es doch die letzte Aussicht auf Rettung, und unter kräftigem Ruderschlage entfernte es sich, um nicht in den Strudel des versinkenden Schooners hineingezogen zu werden.

Die »Doris« war nun ohne Kapitän, ohne Mannschaft; sie war aber kein verlassnes Fahrzeug, keine Seetrift, da Findling sich noch darauf befand.

Er war allein... allein... jeden Augenblick bedroht, in die Tiefe gerissen zu werden. Und doch verzweifelte er nicht; ein wunderbares Vertrauen hielt ihn aufrecht. Nach dem Deck emporgestiegen, glitt er bis zur Schanzkleidung unter dem Winde nach einer Stelle, wo das Wasser nicht durch Speigatten eindringen konnte. Doch wie drängten sich da die Gedanken in seinem Kopfe! Vielleicht war es zum letzten Male. daß er derer gedachte, die er liebte, der Mac Carthy's, der Familie, die er sich mit Grip, Sissy, Bob, Kat und O'Brien geschaffen hatte, und inbrünstig flehte er zu Gott, daß er ihn retten möchte um ihret-, wie um seiner selbst willen....

Die »Doris« beugte sich nicht weiter zur Seite, so daß eine unmittelbare Gefahr ausgeschlossen schien. Zum Glück hatte der feste Rumpf des Schiffes gut zusammengehalten und noch konnte kein Wasser in dessen Inneres dringen. Lag die Goëlette im Course eines andern Schiffes und machten deren Retter ein Eigenthumsrecht daran geltend, so würde Findling bei der Hand sein, seine unversehrt gebliebene Fracht zu beanspruchen, die von dem aufgeregten Meere ja nicht erreicht worden war.

Die Nacht verging. Mit dem ersten Morgenrothe verlor der Sturm an Stärke. Freilich dauerte der hohe Seegang noch immer fort.

Findling lugte ins Weite hinaus und in der Richtung nach dem Lande zu.

[404] Im Westen war nichts zu erkennen, keine Umrisse einer Küste in Sicht.

Jedenfalls hatte der nächtliche Sturm die »Doris« aus dem Nordcanal verschlagen und schwankte sie jetzt auf dem freien irischen Meere, vielleicht Dundalk oder Drogheda gegenüber... doch in welcher Entfernung von da?...

Draußen auf hoher See zeigte sich auch weder ein Schiff noch ein Fischerboot, und von einem solchen aus hätte man den schiefliegenden Rumpf, der immer und immer wieder von den Wellenbergen verdeckt wurde, kaum bemerken können.

Die einzige Hoffnung lag aber doch darin, bald aufgefunden zu werden. Wenn die »Doris« etwa wie der weiter nach Westen hintrieb, mußte sie noch auf den Klippen, die die Küste umgürten, elend zu Grunde gehen.

Leider erwies sich jeder Versuch, ihr eine bestimmte Richtung zu geben, ganz vergeblich, und vergeblich spannte Findling einen Fetzen Leinen zwischen zwei Tauen auf. Auf eigne Hilfe konnte er also nicht mehr rechnen – er war nur noch in der Hand Gottes.

Der Tag verstrich ohne Verschlimmerung der Lage. Findling fürchtete jetzt nicht mehr, daß die »Doris« untergehen könne, vorzüglich da auch ihre Neigung nach Steuerbord nicht weiter zugenommen hatte. Nun blieb ihm nur noch eins übrig: Ausschau zu halten, ob sich nicht ein Schiff in der Ferne zeige.

Inzwischen verzehrte der Knabe einen Imbiß, um wieder etwas zu Kräften zu kommen, und keinen Augenblick bemächtigte sich seiner, der die volle Herrschaft über seine geistigen Fähigkeiten behielt, die Verzweiflung. Er hatte nur das Eine im Auge: er vertheidigte hier sein ganzes Hab und Gut.

Um drei Uhr nachmittags wirbelte im Osten eine Rauchsäule in die Luft. Eine halbe Stunde später wurde ein großer Dampfer sichtbar, der in der Entfernung von fünf bis sechs Meilen von der »Doris« nach Norden zu steuerte.

Findling gab mit einer Flagge Nothzeichen... sie wurden nicht bemerkt.

Die außergewöhnliche Energie des Knaben ließ ihn auch jetzt den Muth noch nicht verlieren, wo er mit herangekommenem Abend auf eine weitere Begegung nicht mehr zählen durfte. Nichts deutete darauf hin, daß er sich nahe dem Lande befand. Die bewölkte, mondlose Nacht mußte ganz dunkel werden. Zum Glück schien wenigstens der Wind nicht wieder auffrischen zu wollen und das Meer hatte sich wesentlich beruhigt.

[405] Da es ziemlich kalt geworden war, schien es ihm am rathsamsten, in die Cabine hinunter zu gehen, denn vom Deck aus hätte er schon auf eine halbe Kabellänge hinaus doch nichts zu erkennen vermocht. Erschöpft von den langen Stunden der Angst und außer Stande, dem Schlafe zu widerstehen, zog Findling die Decke vom Lager, auf das er sich wegen der schiefen Haltung des Schiffes nicht hätte legen können, und nachdem er sich eingehüllt und neben der Wand hingestreckt hatte, fiel er bald in tiefen Schlummer.

Der Tag begann schon zu grauen, als er durch ein lautes Zanken draußen erweckt wurde. Er richtete sich auf und lauschte. Befand sich die »Doris« jetzt nahe der Küste?

War sie am frühen Morgen von einem andern Schiffe aufgefunden worden?

»Uns gehört es!... Wir waren zuerst daran! riefen einige Männerstimmen.

– Nein... uns!« antworteten andre.

Findling begriff sofort, was hier vorging. Irgendwelche Schiffsmannschaften hatten wettgeeifert, das Wrack anzulaufen, und stritten sich jetzt, wem es zufallen sollte. Jetzt hatten sie den Rumpf erklettert, waren auf das Verdeck gekommen und geriethen ins Handgemenge. Zwischen den Rettungsmannschaften hagelte es Schläge.

Findling hätte sich nur zu zeigen gebraucht, um die Kampfhähne zur Ruhe zu bringen. Dessen hütete er sich aber weislich. Die Leute hätten sich einfach gegen ihn gewendet und ihn jedenfalls über Bord geworfen, um jeder späteren Reclamation zu entgehen. Er mußte sich also ohne Säumen verstecken und brachte sich zwischen den Waarenballen im Schiffsraume in Sicherheit.

Einige Minuten später hatte der Tumult aufgehört – ein Beweis, daß die Leute Friede geschlossen hatten. Sie waren übereingekommen, das verlassene Schiff vereint nach dem nächsten Hafen zu bugsieren und dort ihre Beute zu theilen.

Zwei Fischerboote, die vor Tagesanbruch aus der Bai von Dublin abgesegelt waren, hatten den treibenden Schooner zwei bis drei Meilen seewärts entdeckt und sofort aus Leibeskräften darauf zugehalten, denn nach geltendem Gesetz und Recht gehörte die Trift dem, der zuerst die Hand daran legte. Die Boote waren jedoch zu gleicher Zeit herangekommen. Daraus entstand der Streit, das Handgemenge, die Prügelei, und schließlich der beiderseitige Beschluß, [406] die Beute zu theilen. Da hätten die saubern Küstenfischer freilich »einen schönen Fang« gemacht.

Kaum hatte Findling sich in den Frachtraum geflüchtet, als die Kerle auch schon die Treppe herabgepoltert kamen, um die Cabine zu untersuchen. Findling konnte sich wahrlich Glück wünschen, ein sichres Versteck aufgesucht zu haben, als er die Worte hörte:

»Es ist ein wahrer Segen, daß sich kein Mensch an Bord befindet!

– O, wenn's nur einer war, den hätten wir ja bald abgethan!«

Die rohen Patrone würden auch vor einem Verbrechen nicht zurückgeschreckt sein, um sich das Eigenthum an der Seetrift zu sichern.

Eine halbe Stunde später wurde der Rumpf der »Doris« von zwei Boten ins Schlepptau genommen, die mit Hilfe der Segel und der Ruder der Bai von Dublin zustrebten.

Um neuneinhalb Uhr befanden sie sich an deren Eingange. Da sie bei der herrschenden Ebbe die »Doris« aber nur schwierig hätten hineinlootsen können, wendeten sie sich nach Kingstown, wo sie am Bollwerke anlegten.

Hier warteten viele Leute. Da die Ankunft der »Doris« signalisiert worden war, hatten O'Brien, Grip und Sissy, Bob und Kat, die von deren Rettung erfuhren, sofort einen Zug nach Kingstown benutzt und befanden sich jetzt am Bollwerk.

Ihren Schmerz, als sie hörten, daß die Fischer nur ein verlassenes Wrack hereingeschleppt hätten, kann man sich wohl vorstellen. Findling war nicht mehr an Bord... er war also umgekommen. Grip und Sissy, Bob und Kat weinten heiße Zähren.

Da erschien der Hafenkapitän, dem die Untersuchung der Bergung oblag und der zu entscheiden hatte, wem Schiff und Ladung rechtlich zukam. Hier schienen die Bergungsmannschaften außergewöhnliches Glück gehabt zu haben.

Plötzlich tauchte durch die Treppenkappe ein Knabe auf. Da jubelten die Seinigen hoch auf vor Freude und murrten und schimpften die Fischer als Antwort.

Im nächsten Angenblick befand sich Findling auf dem Quai, wo ihn alle herzlich umarmten. Dann trat er auf den Hafenkapitän zu.

»Die »Doris« ist niemals verlassen gewesen, erklärte er mit fester Stimme, und die Fracht, die sie trägt, gehört mir!«

In der That hatte er die reiche Ladung nur durch sein Verbleiben an Bord gerettet.

[407] Jede Verhandlung erschien überflüssig. Findlings Anrecht war unbestreitbar, das Eigenthum an der Fracht wurde ihm zugesprochen, wie das an der »Doris« dem Kapitän Clear und seinen Leuten, die sich am Tage vorher zu retten vermocht hatten. Die Fischer mußten sich mit dem gesetzlich bestimmten Bergelohn begnügen.

Das war nun eine Freude, als alle eine Stunde später im Bazar »Zum kleinen Geldbeutel« wieder vereinigt waren. Die erste Seefahrt Findlings hatte sich leider gar zu gefährlich gestaltet. Und doch rief Bob immer:

»Ach, ich möchte mit Dir auf dem Schiffe gewesen sein!

– Auch unter diesen Verhältnissen, Bob?

– Ja, erst recht!«

15. Capitel
Fünfzehntes Capitel.
Und warum nicht?

Entschieden verfolgte das Glück geradezu Findling, seit er Trelingar-castle den Rücken gekehrt hatte, das Glück, Bob gerettet und zu sich genommen, Grip und Sissy wiedergefunden und sie miteinander vermählt zu haben, ohne von den erfolgreichen Geschäften zu reden, die der junge Chef des »Kleinen Geldbeutels« machte. Er ging mit Sicherheit in Folge seiner Intelligenz, sagen wir auch, seines Muthes, der Gewinnung eines beträchtlichen Vermögens entgegen. Sein Verhalten auf der »Doris« legte von seinem Muthe gewiß ein rühmliches Zeugniß ab.

Nur eines fehlte ihm, ohne das er nicht vollkommen glücklich sein konnte: der Familie Mac Carthy die Wohlthaten, die er von ihr genossen hatte, nicht haben vergelten zu können.

Jetzt erwartete er die Ankunft des »Queensland« mit größter Ungeduld, wenn er sich auch sagte, daß von Wind und Wetter abhängige Segler ja sehr häufig Verspätungen in ihrer Fahrt erleiden. Uebrigens hatte Findling nicht versäumt, nach Queenstown zu schreiben, damit die Rheder des »Queeasland« ihn sofort benachrichtigten, wenn das Schiff gemeldet wurde.


[408]
»Eine Depesche aus Queenstown!« (S. 411.)

Inzwischen legte man im Bazar »Zum kleinen Geldbeutel« die Hände nicht in den Schoß. Durch sein Abenteuer und sein muthiges Aushalten auf der »Doris« war Findling zu einem Helden geworden – einem Helden von fünfzehn Jahren, was ihm das Interesse der ganzen Stadt nur noch mehr sicherte. Die mit eigner Lebensgefahr vertheidigte Waarenladung brachte ihm über die maßen Glück. Der Zulauf im Laden wurde immer größer, denn [409] jedermann wollte Thee aus der »Doris«, Zucker aus der »Doris«, Gewürze und Wein... immer aus der »Doris« haben. Jetzt trat das Spielwaarengeschäft etwas zurück. Bob mußte deshalb Findling, Grip und noch zwei eingestellten Verkäufern helfen, während Sissy kaum mit dem Schreiben der Rechnungen fertig wurde. Nach O'Brien's Ansicht mußte sich das in jene Speculation gewagte Capital binnen wenigen Monaten vervierfacht, wenn nicht verfünffacht haben. Aus den dreitausend Pfund wurden voraussichtlich fünfzehntausend Pfund Sterling. Der Exkaufmann gab Findling bezüglich dieses Unternehmens gern allein die Ehre. Dabei zugeredet hatte er ihm wohl, den ersten Gedanken daran hatte aber Findling gehabt, als er die Anzeige in der »Shipping-Gazette« las, und der Leser weiß, mit welcher Energie er sein Vorhaben durchgeführt hatte.

So erscheint es als kein Wunder, daß der Bazar von Little Boy nicht allein der reichlichst ausgestattete, sondern auch der schönste in der Bedford-Street, ja im ganzen Stadtviertel wurde. Daß hier die Hand einer Frau eingriff, erkannte man an tausend Kleinigkeiten. Grip, der redlich half, fing auch allmählich an zu glauben, daß er deren Ehemann sei, vorzüglich als ihm die Ahnung kam, daß die Reihe seiner Vorfahren nicht mit ihm abschließen würde.

Alle fühlten sich glücklich und dankbar verpflichtet dem Knaben, der ihnen ein so schönes Los zu bereiten verstanden hatte – das heißt alle, die sich jetzt im Bazar »Zum kleinen Geldbeutel« um Findling vereinigt fanden.

Was aus den andern, die in seinem Leben eine mehr vorübergehende Rolle spielten, geworden wäre oder werden würde, darüber wollte sich Findling nicht den Kopf zerbrechen. Thornpipe zog wahrscheinlich noch im Lande umher und stellte seine etwas alt gewordenen Königspuppen zur Schau; O'Bodkins wurmte gewiß noch die freche Zerstörung seiner musterhaften Bücher; der Marquis und die Marquise Piborne lebten in der hochvornehmen Geistesbeschränktheit weiter, die ihr Sohn unverändert geerbt hatte; Scarlett verwaltete ohne Zweifel Trelingar-castle und was dazu gehörte zu seinem Vortheil weiter, und Miß Anna Walston.... starb jedenfalls fast Abend für Abend im fünften Acte. Von keinem der genannten war je etwas zu hören gewesen, außer daß sich – nach der Times – Lord Piborne doch einmal entschlossen hatte, im Oberhause eine Rede zu halten, welch löbliche Absicht nur deshalb nicht zur Ausführung kam, weil, als er das Wort ergreifen wollte, das künstliche Gebiß des hochedlen Herrn nicht nach Wunsch fungierte. Carker war zum Erstaunen Grips noch immer nicht gehenkt worden; er näherte sich dem Galgen aber jedenfalls mehr [410] und mehr, nachdem er unlängst in London bei einer polizeilichen Razzia mit einer ganzen Rotte seines Schlags hinter Schloß und Riegel gebracht worden war.

Nun blieben nur die Mac Carthy's übrig, an die Findling unausgesetzt dachte und deren Heimkehr er ungeduldig erwartete. In den Seenachrichten fand sich noch nichts vom »Queensland«. Erschien er binnen einigen Wochen noch nicht, so mußte man für ihn fürchten, denn in der letzten Zeit war der Atlantische Ocean von sehr heftigen Stürmen heimgesucht worden. Und noch immer traf keine Depesche von den Rhedern in Queenstown ein!

Am 5. April brachte diese endlich ein Telegraphenbote. Bob hatte sie in Empfang genommen und sofort ertönte seine Stimme:

»Eine Depesche aus Queenstown!... Ein Telegramm aus Queenstown!«

Endlich eine Nachricht über die Adoptiveltern Findlings, die also jedenfalls in Irland zurück waren... die erste, einzigste Nachricht über sie!

Alle liefen erwartungsvoll zusammen.

Die Depesche hatte folgenden Inhalt:


»Queeastown, 5. April 9,25,20.


»Findling, Little Boy and Co., Bedford-Street,

Dublin.
»Queensland« diesen Morgen eingelaufen. Familie Mac Carthy an Bord. Erwarten Ihre Ordres.

Benett«.


Findling war es, als ob er ersticken sollte. Sein Herz hatte einen Augenblick still gestanden. Reichliche Thränen brachten ihm Erleichterung und er begnügte sich, als er die Depesche in die Tasche steckte, zu sagen:

»Es ist gut.«

Weiterhin sprach er gar nicht mehr von den Mac Carthy's, was Herrn und Frau Grip, Bob, die Kat und O'Brien nicht wenig verwunderte. Er widmete sich vielmehr seiner Thätigkeit wie gewöhnlich. Balfour erhielt nur Auftrag, ihm einen Check von hundert Pfund auszufertigen, über dessen Verwendung der junge Chef sich nicht äußerte.

Vier Tage verstrichen, die letzten vier Tage der Charwoche, denn jenes Jahr fiel Ostern auf den 10. April.

Am Sonnabend Morgen rief Findling sein gesammtes Personal zusammen und verkündete:

[411] »Der Bazar bleibt bis nächsten Dienstag Abend geschlossen.«

Damit erhielten Balfour und die beiden Verkäufer Urlaub. Bob, Grip und Sissy beabsichtigten, die freie Zeit nach eignem Belieben auszunützen, als sie Findling fragte, ob sie nicht geneigt wären, während der drei Tage eine Reise zu machen.

»Eine Reise? rief Bob. Ich bin dabei. Wohin soll's denn gehen?

– Nach der Grafschaft Kerry, die ich einmal wiedersehen möchte,« erklärte Findling.

Sissy sah ihn fragend an.

»Und wir sollen Dich dahin begleiten?

– Es würde mir ein großes Vergnügen machen.

– Ich soll also auch dabei sein? fragte Grip.

– Selbstverständlich.

– Und Birk? setzte Bob hinzu.

– Birk ebenfalls.«

Das war also abgemacht. Der Bazar sollte unter Obhut der Kat bleiben und man beschäftigte sich mit den Vorbereitungen, die eine dreitägige Abwesenheit erheischt. Nachmittag um vier Uhr wollte man den Expreßzug benutzen, um elf Uhr würde die Gesellschaft in Tralee eintreffen, dort übernachten, und am nächsten Tage... nun, am nächsten Tage würde Findling das weitere Programm kund geben.

Um vier Uhr befanden sich alle auf dem Bahnhofe, Grip und Bob höchst vergnügt, Sissy aber etwas nachsinnend, da ihr Findling gar so unergründlich vorkam.

»Tralee, sagte sich die junge Frau, das ist doch ganz in der Nähe von Kerwan... Will er denn etwa in die Farm zurückkehren?«

Birk hätte ihr darauf vielleicht antworten können; dessen bekannte Discretion hielt sie aber ab, eine bezügliche Frage zu stellen.

Der Hund wurde im Packwagen untergebracht und von Bob der Sorgfalt des Packmeisters unter Hinzufügung eines vollwichtigen Schillings besonders empfohlen. Dann nahmen Findling und seine Begleiter ein Coupé erster Classe ein.

Die siebzig Meilen zwischen Dublin und Tralee wurden in sieben Stunden zurückgelegt. Von den durch den Zugführer ausgerufenen Stationsnamen machte besonders einer auf Findling einen eigenthümlichen Eindruck. Das war der Name Limerick. Er erinnerte ihn an sein Debut auf dem dortigen Theater in dem [412] Drama »Die Reue einer Mutter« und an die Scene, wo er sich so krampfhaft an die Herzogin von Kendall in der Person der Miß Anna Walston anklammerte.... Es war das aber nur eine Erinnerung, welche wie die flüchtigen Bilder eines Traumes wieder verschwand.

Findling führte seine Freunde in Tralee nach dem ersten Hôtel, wo sie gut zu Abend aßen und eine ruhige Nacht verbrachten.

Am nächsten Tage, dem Ostersonntage, stand Findling frühzeitig auf. Während Sissy noch Toilette machte, Grip bei seiner Frau blieb und Bob sich streckend erst die Augen öffnete, wanderte er durch die Straßen des Ortes. Leicht fand er den Gasthof wieder, wo Martin und Martine mit ihm einzukehren pflegten, den Marktplatz, wo er zuerst am Handel Geschmack gewonnen hatte, und auch die Apotheke, in der er einen Theil von seiner Guinee für die Großmutter hingegeben hatte, die er nicht wieder sehen sollte.

Um sieben Uhr hielt vor der Thür des Hotels ein Jaunting-car mit tüchtigem Pferde und gutem Kutscher, wofür der Wirth gutsagte. Dann wurde gewissenhaft der Preis festgestellt: so viel für den Wagen, so viel für das Zugthier, für den Kutscher, für Trinkgelder u. s. w., wie das in Irland üblich ist.

Nach frugalem Frühstück wurde die Fahrt um halb acht Uhr angetreten. Ein Sonntag ohne Regen – und heute schien die Sonne und wehte ein angenehmer Wind – gehört auf der Smaragdnen Insel zu den Ausnahmen. Dieses Jahr schien der Frühling zeitig einsetzen und die Bäume zum knospen bringen zu wollen.

Ein Dutzend Meilen trennt Tralee von dem Kirchspiele Silton. Wie oft hatte Findling diese Strecke im Wagen Mac Carthy's zurückgelegt! Das letzte Mal war er hier freilich allein gewesen... auf dem Heimwege von Tralee nach der Farm... er hatte sich hinter einem beschneiten Busch versteckt, als die Polizei-und Gerichtsdienerabtheilung vorüber kam. Das trat ihm jetzt lebhaft vor die Angen. Der Weg selbst sah ja noch ganz so aus wie damals. Da und dort lag ein Gasthof daran und begrenzten ihn Brachfelder. Paddy ist ein Feind der Veränderung; in Irland bleibt ja alles im Gleichen, selbst das Elend!...

Um zehn Uhr hielt der Wagen im Dorfe Silton. Es war die Stunde der Messe. Die Glocke ertönte. Da stand sie noch immer, die alte, bescheidne, windschiefe, englische Kirche, in der die Doppeltaufe Findlings und des Töchterchens [413] Murdochs stattgefunden hatte. Er trat mit den andern hinein. Weder der Geistliche, noch seine Assistenten oder ein andrer Kirchenbesucher erkannte ihn wieder. Während der Messe fragten sich die Leute, wer die Familie sei, von der kein Mitglied dem andern ähnelte.

Und während Findling seine Erinnerungen aus glücklicher und unglücklicher Zeit auffrischte, beteten Sissy, Grip und Bob dankbaren Herzens für den, dem sie so viel Lebensglück verdankten.

Nach einem Frühstück im besten Gasthofe von Silton rollte der Jauntingcar nach der drei Meilen entfernten Farm von Kerwan weiter.

Findling wurden die Augen feucht auf diesem Wege, den er des Sonntags so oft mit Martine und Kitty und auch mit der Großmutter, wenn diese es konnte, gegangen war. Welch traurigen Anblick bot das verlassene Land! Ueberall Ruinen... mit Gewalt hergestellte Ruinen, die den vertriebenen Insassen das letzte Obdach vereiteln sollten. Da und dort fanden sich Maueranschläge mit der Bekanntmachung, daß diese Farm, jene Hütte oder ein Feld zu verpachten oder zu verkaufen sei. Doch wer hätte hier kaufen oder pachten sollen, wo er sich nur das Unglück einhandeln konnte!

Endlich, gegen eineinhalb Uhr, wurde die Farm von Kerwan sichtbar. Findlings Brust entrang sich ein Seufzer.

»Hier stand sie!« murmelte er.

Doch welch entsetzlicher Anblick bot sich hier jetzt! Die Hecken niedergerissen, die Thür eingerammt, die Wirthschaftsgebäude in Trümmern, der Hof furchtbar verwildert – kurz, ein Bild trostlosester Zerstörung. Seit fünf Jahren hatten Regen, Schnee, Wind und Sonne ihr Werk gethan. Wie traurig sahen die kahlen Wände der Zimmer aus, und erst das, wo Findling in der Nähe der Großmutter geschlafen hatte.

»Ja, das ist Kerwan!« wiederholte er öfter, doch es sah aus, als wagte er gar nicht einzutreten.

Bob, Grip und Sissy hielten sich schweigend hinter ihm. Nur Birk lief unruhig hin und her und schnüffelte am Boden hin... in ihm erwachten gewiß auch Erinnerungen an vergangene Zeiten....

Plötzlich bleibt der Hund stehen und erhebt den Kopf, seine Augen leuchten und er wedelt mit dem Schweife.

Vor dem Thore steht eine Gruppe von Menschen – vier Männer, zwei Frauen und ein kleines Mädchen, alle in ärmlicher Kleidung. Der älteste tritt [414] heraus und nähert sich Grip, der seinem Alter nach die Hauptperson der Fremden zu sein scheint.

»Wir sind hierher, beginnt er, zu einem Zusammentreffen bestellt worden. Ohne Zweifel... waren Sie es...

– Ich? fällt Grip ein, der den Mann gar nicht kennt und ihn verwundert anstarrt.

– Ja. Als wir in Queenstown ans Land kamen, wurde uns eine Summe von hundert Pfund von der Rhederei ausgehändigt, die den Auftrag hatte, uns nach Tralee zu befördern....«

In diesem Augenblick schlug Birk mit lautem Freudengebell an und stürmte unter tausend Freundschaftsbezeugungen auf die ältere der Frauen zu.

»Ach, ruft diese, das ist ja Birk... unser Hund Birk! Ich erkenne ihn wieder....

– Und mich erkennen Sie nicht, meine liebste Mutter Martine, sagt Findling, mich erkennen Sie nicht mehr?

– Er!... Ach, unser Kind!«

Die Feder vermag die Scene nicht zu schildern, die sich nun abspielte. Martin, Murdock, Pat und Sim pressen Findling in ihre Arme und er bedeckt Martine und Kitty mit heißen Küssen. Dann hebt er das kleine Mädchen in die Höhe... er verzehrt sie fast mit seinen Küssen und stellt sie Bob, Sissy und Grip vor mit den Worten:

»Meine Jenny!... Mein Töchterchen!«

Nachher setzen sich alle auf die umherliegenden Trümmer. Die Mac Carthy's mußten ihre beklagenswerthe Geschichte erzählen. Nach der Austreibung hatte man sie nach Limerick gebracht, wo Murdock zu einigen Monaten Gefängniß verurtheilt wurde. Nach Ablauf seiner Strafzeit hatte sich Martin mit den Seinigen nach Belfast begeben, von wo sie ein Auswandrerschiff nach Australien beförderte. Pat, der seinen Beruf aufgab, war ihnen bald nachgekommen. Doch was hatten sie dann zu leiden gehabt, um schließlich... nichts zu erreichen! Nur zuweilen fanden sie, vereint oder auch einzeln, auf einer Farm, doch unter den schlechtesten Bedingungen, etwas Arbeit. Endlich, nach fünf Jahren, hatten sie jenes Land verlassen können, das gegen sie ebenso grausam gewesen war, wie der heimatliche Boden.

Findling betrachtete die armen Leeute mit tiefstem Seelenschmerz. Martin war stark gealtert, Murdock noch ebenso düster wie vorher, Pat und Sim [415] herabgekommen von Anstrengungen und Entbehrungen, Martine kaum ein Schattenbild der lebensfrischen Hausfrau vor wenigen Jahren, Kitty geschwächt durch ein Fieber, das sie nicht verließ, und Jenny verkümmert durch die Leiden, die sie schon in so jungen Jahren erduldet hatte. Es war zum Herz zerbrechen!


Ein Jaunting-car hielt vor der Thür des Hôtels. (S. 413.)

Sissy weinte mit den Frauen und dem Mägdlein und sachte sie zu trösten.

»Ihr Unglück hat nun ein Ende, Frau Martine, wie das unsrige schon lange... und Dank Ihrem Adoptivkinde...


»Erinnern Sie sich wohl, Herr Martin?« (S. 418.)

– Er? rief Martine verwundert. Was vermöchte er...?

– Du, mein Junge?« fragte auch Martin.

Findling war außer Stande zu antworten; ihm raubte die Erregung den Athem.

»Warum hast Du uns nach dieser Stelle verlangt, [416] die uns an die traurigste Vergangenheit mahnt? fragte Murdock. Was sollen wir hier, wo wir so lange und so schwer gelitten haben? Findling, warum erwecktest Du uns diese traurigen Erinnerungen?«

[417] Dieselbe Frage lag wohl auf aller Lippen, auch auf denen Sissys, Grips und Bobs.

»Warum? antwortete er, sich mühsam beherrschend. Kommt alle, mein Vater, meine Mutter, meine Brüder, kommt mit mir!«

Sie folgten ihm nach der Mitte des Hofes.

Hier erhob sich inmitten von wildem Gebüsch und Brombeergesträuch eine kleine grünende Tanne.

»Jenny, redete er das kleine Mädchen an, siehst Du diesen Baum?... Ihn hab' ich am Tage Deiner Geburt gepflanzt. Er ist jetzt, wie Du, acht Jahre alt.«

Kitty, die dabei an die Zeit dachte, wo sie so glücklich gewesen war und auf die Andauer dieses Glücks bauen zu können glaubte, schluchzte vor Schmerz.

»Jenny... mein liebes Kind, fuhr Findling fort, Du siehst auch dieses Messer...«

Er hatte dabei ein Messer aus seinem Gürtel gezogen.

»Das war das erste Geschenk, das mir Großmutter machte... Deine Urgroßmutter, die Du kaum gekannt hast....«

Bei Erwähnung dieses Namens hier inmitten der Trümmer wollte Martin, seiner Gattin und seinen Kindern fast das Herz zerspringen.

»Jenny, fuhr Findling fort, nun nimm dieses Messer und grabe damit die Erde am Fuße der Tanne auf.«

Ohne ihn ganz zu verstehen, kniete das Kind nieder, entfernte das Strauchwerk und höhlte ein Loch an der bezeichneten Stelle aus. Bald stieß das Messer auf einen harten Gegenstand.

Hier befand sich die Steinkruke, die unter der Erdschicht ganz gut erhalten war.

»Hebe das Gefäß heraus, Jenny, und öffne es!«

Das Mägdlein that, wie ihr geheißen, und alle sahen ihr in erwartungsvollem Schweigen zu.

Als die Kruke geöffnet war, bemerkte man darin eine Anzahl Kieselsteine, wie sie zahlreich im Bette des benachbarten Cashen lagen.

»Herr Martin, begann nun Findling, erinnern Sie sich wohl?... Jeden Abend, wenn Sie mit mir zufrieden gewesen waren, gaben Sie mir einen solchen Stein....

[418] – Ja, mein Sohn; es kam aber kein Tag, an dem Du keinen davon erhalten hättest.

– Sie geben die Zeit an, die ich in der Farm von Kerwan zugebracht habe. Jetzt zähle sie, Jenny. Du kannst doch zählen, nicht wahr?

– O, gewiß!« versicherte das kleine Mädchen.

Nach längerer Arbeit rief sie laut:

»Fünfzehnhundertundvierzig.

– Richtig, bestätigte Findling. Das ergiebt über vier Jahre, Jenny, die ich in Deiner Familie, die auch die meinige geworden war, zugebracht habe.

– Und diese Kieselsteine, ließ sich Martin, die Augen niederschlagend, vernehmen, sind der einzige Lohn, den Du je von mir erhalten hast... diese Steine, die ich einst in Schillinge umzuwechseln hoffte....

– Und die sich für Sie, mein guter Vater, in Guineen verwandeln sollen!«

Weder Martin noch einer der Seinigen konnten glauben, konnten begreifen, was sie eben hörten. Ein solches Vermögen! War Findling denn bei Sinnen?

Sissy erkannte diesen Gedanken ganz und sagte sogleich:

»Nein, liebe Freunde, sein Herz ist ebenso gesund wie sein Geist, und hier hat sein Herz gesprochen.

– Ach, mein Vater Martin, meine Mutter Martine, meine Brüder Murdock, Pat und Sim, und Du, Kitty, und Dein Töchterchen, ja, ich fühle mich hochbeglückt, Euch einen Theil des Guten, das Ihr mir erwiesen habt, zurückerstatten zu können. Dieser Grund und Boden ist zu verkaufen. Ihr werdet ihn erwerben und erbaut die Farm von neuem. An den nöthigen Mitteln soll es nicht fehlen. Später braucht Ihr keinen herzlosen Harbert mehr zu fürchten. Ihr wohnt dann auf eigner Scholle... seid Eure eignen Herren!«

Findling berichtete nun über sich selbst, seit dem Tage, wo er von der Farm von Kerwan weinend weggeschlichen war, und in welchen Verhältnissen er sich jetzt befände. Die Summe, die er der Familie Mac Carthy zur Verfügung stellte, diese Summe in Guineen – so viele wie Kieselsteine gezählt waren – belief sich auf fünfzehnhundertundvierzig Pfund Sterling – für arme Irländer ein großes Vermögen.

Vielleicht war es zum ersten Male, daß auf diesen so oft von Schmerzensthränen begossenen Erdboden warme Thränen der Freude und Dankbarkeit niederrieselten.

[419] – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Die Familie Mac Carthy verweilte die drei Osterfeiertage mit Findling, Bob, Sissy und Grip in Silton und nach rührendem Abschied kehrten die letzteren nach Dublin zurück, wo sich am Morgen des 11. April der Bazar wieder aufthat.

Ein Jahr verstrich, das Jahr 1887, das als eines der glücklichsten im Leben dieser kleinen Welt gelten konnte. Der junge Kaufmann war nun sechzehn Jahre alt. Sein Glück war gemacht. Der Erfolg der Speculation mit der »Doris« hatte selbst O'Brien's Erwartungen weit übertroffen, und das Capital von Little Boy and Co. belief sich jetzt auf zwanzigtausend Pfund. Ein Theil dieses Vermögens gehörte zwar dem Ehepaar Grip und ein Theil Bob, den Gesellschaftern der Firma »Zum kleinen Geldbeutel«, alle bildeten am Ende aber nur eine einzige Familie.

Die Mac Carthy's hatten, nach vortheilhafter Erwerbung von zweihundert Acres Land, die Farm wieder aufgebaut und eingerichtet, auch den Viehbestand aufs neue angeschafft. Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß sie mit der Behaglichkeit und dem unerwarteten Glück auch Kräfte und Gesundheit wieder erlangt hatten. Bei Irländern, die so lange unter der Geißel des Landlordismus geseufzt hatten und die jetzt nur für sich, nicht mehr für einen unerbittlichen Herrn schafften und wirkten, ist das ja kein Wunder zu nennen.

Findling aber vergißt nicht und wird es nicht vergessen, daß er ihr Adoptivkind ist, und es könnte sich eines Tages wohl ereignen, daß er sich mit ihnen noch durch engere, zartere Bande verknüpfte. Jenny geht in ihr zehntes Jahr, sie verspricht ein sehr hübsches Mädchen zu werden.... Doch sie ist ja so gut wie seine Tochter, wird der freundliche Leser einwerfen. Nun, doch nicht im strengen Sinne des Wortes; warum also nicht?...


Ende.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Verne, Jules. Romane. Der Findling. Der Findling. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-7552-C