Jules Verne
Die Kinder des Kapitän Grant


1. Theil

1. Capitel
Erstes Capitel
Ein Haifisch.

Am 26. Juli 1864 dampfte bei starkem Nordost eine prachtvolle Yacht über den Wogen des Nordcanals. An der Spitze ihres Hintermastes wehte die englische Flagge; am Ende des Hauptmastes las man auf einem blauen Stander in Gold gestickt mit einer Herzogskrone darüber die Buchstaben E. G. Diese Yacht hießDuncan; Besitzer derselben war Lord Glenarvan, einer der sechs schottischen Pairs, welche im Oberhause sitzen, und das ausgezeichnetste Mitglied des im ganzen Vereinigten Königreiche so berühmten »Royal-Thames-Yacht-Club«.

Lord Edward Glenarvan befand sich an Bord derselben nebst seiner jungen Frau, Lady Helena, und einem Vetter, dem Major Mac Nabbs.

Der Duncan war neu gebaut und machte eben seine erste Versuchsfahrt außerhalb des Golfs von Clyde. Im Begriff nach Glasgow zurückzukehren,[5] hatte er schon die Insel Arran im Angesicht, als der wachehabende Matrose einen ungeheuern Fisch in der Richtung der Yacht signalisirte. Der Kapitän John Mangles meldete es sogleich dem Lord Edward. Derselbe begab sich mit dem Major Mac Nabbs auf's Hinterverdeck und fragte den Kapitän, was er davon halte.

»Wahrhaftig, Ew. Herrlichkeit, erwiderte John Mangles, ich denke, es ist ein stattlicher Haifisch.

– Ein Hai in diesem Seestrich! rief Glenarvan.

– Ganz gewiß, entgegnete der Kapitän; der Fisch gehört einer Gattung an, die man in allen Meeren und unter allen Breitegraden antrifft.



Er heißt ›Schlägelfisch‹, und irre ich nicht sehr, so haben wir es mit so einem Kerl zu thun! Wenn Ew. Herrlichkeit es gestatten, und es der Lady Glenarvan beliebt, einem merkwürdigen Fang zuzuschauen, so werden wir bald wissen, wie wir mit ihm daran sind.

– Was meinen Sie, Mac Nabbs? sagte Lord Glenarvan zu dem Major; sollen wir das Abenteuer versuchen.

– Ich bin der Meinung, welche Ihnen beliebt, erwiderte ruhig der Major.

– Uebrigens, fuhr John Mangles fort, sollte man nicht genug hinter dem abscheulichen Gethier her sein. Benutzen wir die Gelegenheit, wenn es [6] Ew. Herrlichkeit beliebt, so wird es ein reizendes Schauspiel und zugleich eine gute Handlung sein.

– Ich bin es zufrieden, John«, sagte Lord Glenarvan.

Darauf ließ er es der Lady Helena melden; sie kam auf das Verdeck und hatte in der That große Lust zu dem reizenden Fischfang.

Das Meer war prachtvoll; man konnte an seiner Oberfläche die raschen Bewegungen des Thieres, das mit erstaunlicher Lebhaftigkeit untertauchte und wieder emporschnellte, leicht spüren. John Mangles ertheilte seine Befehle. Die Matrosen warfen über das linkseitige Geländer ein starkes Seil, woran ein Haken mit einem dicken Stück Speck als Köder befestigt war. Der Fisch, obwohl noch fünfzig Ellen weit entfernt, roch die seiner Gefräßigkeit dargebotene Lockspeise, und kam rasch heran. Man sah, wie seine Flossen, die unten schwarz, an den Spitzen grau waren, heftig die Wellen schlugen, während sein Schwanz ihn in schnurgerader Richtung hielt. So wie er näher kam, sah man seine großen vorspringenden Augen von Begierde entflammt, und seine ausgesperrten Kiefern ließen, wenn er sich umkehrte, eine vierfache Reihe von Zähnen erkennen. Sein Kopf war breit und wie ein doppelter Hammer am Ende eines Stiels gestaltet. John Mangles hatte sich nicht geirrt, es war das gefräßigste Musterexemplar von der Familie der Haifische, welche die Engländer Schlägelfisch, die Provenzalen Judenfisch nennen.

Die Passagiere und Matrosen folgten mit lebhafter Achtsamkeit den Bewegungen des Thieres. Nicht lange, so befand sich der Hai bei dem Köder, legte sich, um ihn besser zu schnappen, auf den Rücken, und der ungeheure Brocken verschwand in seinem weiten Schlund.

Alsbald hakte er mit einer starken Erschütterung des Taues sich selbst fest, und die Matrosen zogen das Ungeheuer vermittelst eines am Ende der Hauptraae befindlichen Zugwerkes heraus.

Der Hai zappelte gewaltig, als man ihn seinem natürlichen Element entzog; doch ward man seiner Meister. Ein Seil mit einer Schlinge faßte ihn beim Schwanz und hemmte seine Bewegungen. Nach einigen Augenblicken war er über das Geländer gehoben und lag auf dem Verdeck der Yacht. Augenblicklich trat ein Matrose, nicht ohne Vorsicht, zu ihm heran und schnitt mit einem kräftigen Beilhieb dem Thiere seinen fürchterlichen Schwanz ab.


Was! Eine Flasche aus einem Haifischmagen! (S. 9.)

So war der Fang gethan; es war von dem Unthier nichts mehr zu [7] fürchten; die Rache der Matrosen war befriedigt, nicht aber ihre Neugierde. Es ist in der That an Bord jedes Schiffes Brauch, den Magen der Haifische sorgfältig zu untersuchen. Die Matrosen, welche ihre gar nicht wählerische Gefräßigkeit kennen, sind auf einen Fund gespannt, und finden sich nicht immer getäuscht.

Lady Glenarvan hatte nicht Lust, dieser widerlichen Forschung beizuwohnen, und zog sich auf's Hinterverdeck zurück. Der Hai schnaufte noch; er war zehn Fuß lang und wog über sechs Centner. Diese Größe ist keine [8] außergewöhnliche; aber gehört der Schlägelfisch auch nicht zu den riesenmäßigen, so zählt er doch unter die fürchterlichsten der Gattung.

Nicht lange, so war der enorme Fisch mittels Beilhieben ohne Umstände ausgeweidet. Der Haken war bis in den vollständig leeren Magen gelangt; offenbar hatte das Thier schon lange gefastet, und die in ihrer Erwartung getäuschten Matrosen waren im Begriff die Reste in's Meer zu werfen, als sich die Aufmerksamkeit des Rüstmeisters auf einen ganz von Eingeweiden umwickelten plumpen Gegenstand richtete.

»Ei, was ist das? rief er aus.

– Es ist, erwiderte ein Matrose, ein Felsstück, welches das Thier als Ballast in sich genommen hat.

– Schön! entgegnete ein anderer, es ist nichts anderes als eine Kugel mit einem Stiel, die der Kerl in seinen Bauch gesteckt hat und noch nicht hat verdauen können.

– Schweigen Sie doch! versetzte Tom Austin, der Schiffslieutenant, sehen Sie denn nicht, daß das Thier ein Erztrunkenbold war, der, um keinen Tropfen zu verlieren, den Wein sammt der Flasche verschlang?

– Was! rief Lord Glenarvan, eine Flasche hat der Fisch im Magen!

– Eine wahrhaftige Flasche, erwiderte der Rüstmeister. Aber man sieht wohl, nicht so, wie sie aus dem Keller kam.

– Nun denn, Tom, versetzte Lord Edward, so nehmt sie vorsichtig heraus; Flaschen, die man im Meer sindet, enthalten oft kostbare Urkunden.

– Sie meinen? sagte der Major Mac Nabbs.

– Ich glaube, es ist wenigstens möglich.

– Ei, dem will ich nicht widersprechen, erwiderte der Major, und es steckt vielleicht ein Geheimniß darin.

– Das wird sich zeigen, sagte Glenarvan. Nun, Tom?

– Da ist sie, versetzte Tom, und zeigte einen unförmlichen Gegenstand, den er nicht ohne Mühe aus dem Magen des Fisches herausgenommen hatte.

– Gut, sprach Glenarvan, laßt den häßlichen Gegenstand abwaschen und auf das Hinterverdeck bringen.«

Tom gehorchte, und diese unter so besonderen Umständen aufgefundene Flasche wurde auf einen Tisch gelegt, um welchen herum Lord Glenarvan, der Major Mac Nabbs, der Kapitän John Mangles und Lady Helena Platz nahmen, denn eine Frau ist, sagt man, immer ein wenig neugierig.

[9] Auf der See erregt Alles Aufsehen. Einen Augenblick schwiegen Alle. Jeder untersuchte mit den Augen das zerbrechliche Strandgut. Enthielt dasselbe das Geheimniß eines Unglücks oder eine unbedeutende Mittheilung von Seiten eines müßigen Seefahrers?



Indessen, man mußte doch wissen, woran man war, und Glenarvan schritt unverzüglich zur Untersuchung der Flasche; er ergriff übrigens Alle in solchen Fällen üblichen Vorsichtsmaßregeln; man hätte ihn für einen Criminalbeamten halten können, der die besonderen Umstände eines verübten Verbrechens aufnimmt; und Glenarvan hatte Recht, denn das scheinbar unbedeutendste Anzeichen kann oft auf die Spur einer bedeutenden Entdeckung führen.

Ehe man das Innere der Flasche untersuchte, prüfte man das Aeußere derselben. Sie hatte einen engen Hals, an dessen starker Mündung sich noch das Ende eines verrosteten Eisendrathes befand; ihre starken Wände, welche den Druck einiger Atmosphären auszuhalten fähig waren, wiesen klar auf einen Ursprung aus der Champagne hin. Mit solchen Flaschen schlagen die Winzer zu Aï und Epernay Stuhlbeine entzwei, ohne daß sich nur eine Spur von Sprung zeigte. Diese hatte also unverletzt die Zufälligkeiten einer langen Reise aushalten können.

»Eine Flasche aus dem Hause Cliquot«, sagte einfach der Major.

Und da er sachverständig sein mußte, so wurde seine Behauptung ohne Widerspruch angenommen.

»Mein lieber Major, erwiderte Helena, es kommt wenig darauf an, was es für eine Flasche ist, wenn wir nur wissen, woher sie kommt.

[10] – Das wird sich zeigen, liebe Helena, sagte Lord Edward, und bereits kann man versichern, daß sie weit her kommt. Sehen Sie die versteinerten Stoffe, womit sie bedeckt ist, diese Substanzen, die unter der Einwirkung des Meerwassers so zu sagen mineralisirt wurden! Dieser Gegenstand hatte bereits lange sich im Meere aufgehalten, bevor er von einem Haifisch in seinen Bauch aufgenommen wurde.

– Es ist unmöglich, Ihre Ansicht nicht zu theilen, entgegnete der Major, und unter'm Schutz seiner versteinerten Umhüllung ist das zerbrechliche Gefäß im Stande gewesen, eine weite Reise zu machen.

– Aber woher kommt sie? fragte Lady Glenarvan.

– Warte, liebe Helena, warte; man muß mit den Flaschen Geduld haben. Irre ich nicht sehr, so wird diese selbst auf alle unsere Fragen antworten.«

Und mit diesen Worten machte Glenarvan sich daran, die harten Stoffe, welche die Mündung deckten, abzukratzen; bald kam der Korkstöpsel zum Vorschein, aber vom Meerwasser stark beschädigt.

»Ein schlimmer Umstand, sagte Glenarvan, denn wenn ein Papier darinnen ist, wird es in üblem Zustand sein.

– Das ist wohl zu besorgen, erwiderte der Major.

– Ich füge bei, fuhr Glenarvan fort, daß diese schlecht verwahrte Flasche bald untersinken mußte, und es war ein Glück, daß jener Fisch sie verschlungen hat, um sie uns an Bord des Duncan zu bringen.

– Ohne Zweifel, versetzte John Mangles, doch wäre es besser gewesen, man hätte sie auf offener See unter einem bestimmten Grad Länge und Breite aufgefischt. Dann hätte man durch Berechnung der Luft-und Meer-Strömungen herausbringen können, welchen Weg sie gemacht hat; aber bei einem Ueberbringer, wie dieser, bei diesen Haifischen, die gegen Wind und Strom schwimmen, weiß man nicht, woran man ist.

– Wir werden es bald sehen«, erwiderte Glenarvan.

Zugleich nahm er den Stöpsel höchst vorsichtig heraus, und ein starker Salzgeruch verbreitete sich auf dem Hinterverdeck.

»Nun? fragte Lady Helena mit echt weiblicher Ungeduld.

– Ja! sagte Glenarvan, ich irrte nicht! Da sind Papiere!

– Urkunden! Urkunden! rief Lady Helena.

– Nur, erwiderte Glenarvan, scheinen sie vom Wasser angefressen, und [11] man kann sie nicht herausbringen, weil sie an den Wänden der Flasche fest hängen.

– So schlagen wir sie entzwei, sagte Mac Nabbs.

– Ich möchte sie lieber unversehrt lassen, entgegnete Glenarvan.

– Ich auch, versetzte der Major.

– Allerdings, sagte Lady Helena, aber der Inhalt ist werthvoller als die Umhüllung, und man muß lieber diese jenem opfern.

– Wenn Ew. Herrlichkeit nur den Hals abschlagen, sagte John Mangles, wird man die Urkunde ohne Beschädigung herausnehmen können.

– Laß sehen, lieber Edward!« rief Lady Glenarvan.

Man konnte nicht leicht anders verfahren, und Lord Glenarvan entschloß sich, den Hals der kostbaren Flasche zu zerschlagen. Man mußte einen Hammer gebrauchen, weil die Umhüllung hart wie Granit war. Bald fielen die Stücke auf den Tisch, und man gewahrte einige Stücke Papier, die aneinander hingen. Glenarvan nahm sie vorsichtig heraus, löste sie von einander und breitete sie vor den Augen aus, während Lady Helena, der Major und der Kapitän sich um ihn drängten.

2. Capitel
Zweites Capitel.
Die drei Documente.

An den vom Meerwasser halb zerstörten Stückchen Papier konnte man nur einige Worte gewahren, unentzifferbare Reste fast völlig verwischter Zeilen. Lord Glenarvan untersuchte sie einige Minuten lang achtsam, kehrte sie um und herum, hielt sie gegen das Licht, betrachtete die geringsten Schriftspuren, welche vom Meere verschont waren, dann richtete er den Blick auf seine Freunde, die ihn mit gespannten Augen ansahen.

»Es sind hier, sagte er, drei verschiedene Documente, vermuthlich drei Copien desselben Stückes in dreifacher Uebersetzung, englisch, französisch und deutsch. Die wenigen Worte, welche noch vorhanden sind, lassen mir darüber keinen Zweifel.

[12] – Aber diese Worte enthalten doch wohl einen Sinn? fragte Lady Glenarvan.

– Es läßt sich nichts Bestimmtes darüber sagen, liebe Helena; die auf den Documenten stehenden Worte sind sehr verstümmelt.

– Vielleicht ergänzen sie sich gegenseitig? sagte der Major.

– So muß es wohl sein, erwiderte John Mangles; unmöglich hat das Seewasser diese Zeilen gerade an denselben Stellen angefressen, und wenn man die Reste der Worte neben einander hält, wird man am Ende einen verständlichen Sinn herausbekommen.

– Das wollen wir gleich thun, sagte Lord Glenarvan, aber gehen wir mit Methode zu Werke. Hier zuerst das englische Exemplar.«

Auf diesem Stück sah man die Worte folgendermaßen auf den Zeilen vertheilt:



»Das will nicht viel bedeuten, sagte der Major mit verdrießlicher Miene.

– Mag sein, erwiderte der Kapitän, aber es ist gut englisch.

– Kein Zweifel daran, sagte Lord Glenarvan, die Wörter sink, aland, that, and, lost sind vollständig 1;skipp weist offenbar auf skipper, und es ist die Rede von einem Herrn Gr ..., welcher wahrscheinlich der Kapitän eines gestrandeten Schiffes war.

– Fügen wir noch bei, sagte John Mangles, daß die Wörterreste monit und ssistance sich leicht ergänzen lassen.

[13] – Ja wohl! Das ist schon etwas, erwiderte Lady Helena.

– Leider, versetzte der Major, fehlen uns vollständige Zeilen. Wie läßt sich der Name des verlorenen Schiffes, die Stelle des Schiffbruches ausfindig machen?

– Wir werden es schon herausbekommen, sagte Lord Edward.

– Ohne Zweifel, versetzte der Major, der unveränderlich sich jeder Ansicht anschloß, aber in welcher Weise?

– Wenn man ein Document durch das andere ergänzt.

– So laßt es uns versuchen!« rief Lady Helena.

Das zweite Stück Papier, welches noch schadhafter als das vorige war, zeigte nur einzelne Wörter und Wortreste in folgender Stellung:



»Dies ist in deutscher Sprache, sagte John Mangles, als er einen Blick auf das Papier geworfen.

– Und Sie kennen diese Sprache, John? fragte Glenarvan.

– Vollkommen, Ew. Herrlichkeit.

– Nun, so sagen Sie uns, was diese Wörter bedeuten.«

Der Kapitän untersuchte das Stück genau, und sprach sich also aus:

»Erstlich bekommen wir ein Datum des Ereignisses, den 7. Juni, und verbinden wir dies mit den Ziffern 62 des englischen Exemplars, so bekommen wir vollständig: 7. Juni 1862.

– Vortrefflich, rief Lady Helena; fahren Sie fort, John.

– Auf derselben Zeile, fuhr der junge Kapitän fort, finde ich das Wortstücklein Glas, welches in Verbindung mit gow auf dem ersten Document Glasgow ergiebt. Offenbar fuhr das Schiff aus Glasgow ab.

– Das mein' ich auch, erwiderte der Major.

[14] – Die zweite Zeile des Documents fehlt gänzlich; aber auf der dritten stoße ich auf die wichtigen Wortezwei und (M)atrosen.

– Also, sagte Lady Helena, handelte sich es um einen Kapitän und zwei Matrosen?

– Vermuthlich, erwiderte Lord Glenarvan.

– Ich gestehe Ew. Herrlichkeit, fuhr der Kapitän fort, daß das folgende Wortstückchen graus mich in Verlegenheit bringt. So kann ich es nicht übersetzen. Vielleicht setzt uns das dritte Document dazu in Stand. Die zwei letzten Worte bringt ihnen bekommen durch das auf derselben Zeile stehende englische Wort (A)ssistance, d.h. Beist and, ihre Ergänzung.

– Ja wohl! sagte Glenarvan, aber wo befinden sich die Unglücklichen, um ihnen Beistand zu bringen? Ueber den Ort haben wir bis jetzt nicht eine einzige Angabe, der Schauplatz des Unglücks ist völlig unbekannt.

– So wollen wir hoffen, daß das französische Document uns näheren Aufschluß giebt, sagte Lady Helena.

– Sehen wir es an, erwiderte Glenarvan, wir können uns alle leicht darauf zurecht finden.«

Das genaue Facsimile desselben ist:



»Da findet sich ja eine Zahlangabe, rief Lady Helena. Sehen Sie, meine Herren, sehen Sie! ...


Glenarvan zieht die Documente aus der Flasche hervor. (S. 12.)

– Verfahren wir ordnungsmäßig, sagte Lord Glenarvan, und fangen mit dem Anfang an. Gestatten Sie mir, diese zerstreuten Wortstücke eins nach dem andern vorzunehmen. Da sehe ich gleich aus den ersten Buchstaben, troi ats, daß von einem Dreimaster – trois mâts – die Rede, dessen Name durch Verbindung mit einem Stückchen des englischen Exemplars sich vollständig [15] ergiebt, nämlich Britannia. Von den beiden letzten Worten verstehen wir nur das letztere – austral – vollständig.

– Das ist schon etwas Werthvolles, erwiderte John Mangles; der Schiffbruch fand auf der südlichen Hemisphäre statt.

– Das ist doch unbestimmt, sagte der Major.

– Ich fahre fort, versetzte Glenarvan. Hier das Wortstück abor deutet auf aborderanlanden. Die Unglücklichen sind irgendwo gelandet. Aber wo? contin heißt wohl auf einen Continent? cruel! ...

[16] – Cruel! rief John Mangles, da habe ich ja die Erklärung für das deutsche graus ..., denn cruel heißtgrausam!

– Weiter! Weiter! sagte Glenarvan, dessen Spannung um so höher stieg, je mehr sich der Sinn der verstümmelten Worte klar legte. Indi ..., bedeutet wohlIndien, wohin die Matrosen verschlagen worden waren? Was ist aber ongit? Ah! longitude! Da haben wir die geographische Länge, und in Ziffern dabei die Breite mit 37°11'. Schließlich doch eine genaue Angabe.

– Aber es fehlt noch die Länge, sagte Mac Nabbs.

– Man kann nicht immer Alles mit einander haben, lieber Major, erwiderte Glenarvan, und die genaue Breite-Angabe ist schon etwas werth. Das französische Exemplar ist entschieden das vollständigste. Offenbar war jedes eine buchstäbliche Uebersetzung des andern, denn sie haben die ganz gleiche Zeilenzahl. Nun müssen wir eine Zusammenstellung in einer einzigen Sprache machen und ihren muthmaßlichen. Sinn so logisch und deutlich wie möglich herauszubekommen suchen.

– In welcher Sprache soll die Uebersetzung sein?

– Ich denke in französischer, weil diese uns allen bekannt ist, und die meisten vollständigen Worte in derselben vorhanden sind. Ich will dieses Schriftstück abfassen, indem ich die Wortstücke und Phrasenreste zusammenstelle mit genauer Beachtung der Lücken, und mit Ergänzung der Worte, deren Sinn nicht zweifelhaft sein kann. Dann wollen wir vergleichen und urtheilen.«

Glenarvan ergriff eine Feder, und nach einigen Augenblicken legte er seinen Freunden ein Blatt Papier vor mit folgendermaßen ergänzten Zeilen:



Die deutsche Uebersetzung bringen wir nachher mit vollständiger Ergänzung des Sinnes.

[17] In diesem Augenblick meldete ein Matrose dem Kapitän, der Duncan laufe in den Golf von Clyde ein, und begehrte seine Weisung.

»Was beabsichtigen Ew. Herrlichkeit? fragte John Mangles den Lord Glenarvan.

– So rasch wie möglich nach Dumbarton zu kommen, John; dann eile ich, während Lady Helena nach Malcolm Castle zurückkehrt, nach London, um dies Document der Admiralität vorzulegen.«

John Mangles ertheilte demgemäß seine Befehle, welche der Matrose dem Schiffslieutenant überbrachte.

»Jetzt, meine Freunde, sagte Glenarvan, fahren wir fort in unserer Forschung. Wir sind einem großen Unglück auf der Spur. Das Leben einiger Menschen hängt von unserm Scharfsinn ab. Also strengen wir unsern Verstand an, um das Räthselhafte der Sache klar zu bekommen.

– Wir sind bereit, lieber Edward, erwiderte Lady Helena.

– Für's Erste, fuhr Glenarvan fort, muß man drei sehr verschiedene Dinge bei diesem Document in's Auge fassen: 1) Was man weiß; 2) Was man vermuthen kann; 3) Was man nicht weiß. Was wissen wir? Wir wissen, daß am 7. Juni 1862 ein Dreimaster, die Britannia aus Glasgow, Schiffbruch gelitten hat; daß zwei Matrosen und der Kapitän diese Urkunde in's Meer geworfen haben unter'm 37°11' Breite, und daß sie um Beistand rufen.

– Ganz richtig, versetzte der Major.

– Was können wir vermuthen? fuhr Glenarvan fort. Erstlich, daß der Schiffbruch in den Süd-Meeren stattfand, und ich will sogleich Ihre Aufmerksamkeit auf das Wortstück -gonie lenken. Zeigt sich uns darin nicht von selbst eine Angabe des Landes, worauf sich es bezieht?

– Patagonien! rief Lady Helena.

– Unstreitig.

– Aber zieht der siebenunddreißigste Breitegrad durch Patagonien? fragte der Major.

– Darüber können wir gleich in's Reine kommen, erwiderte John Mangles, und breitete eine Karte von Südamerika aus. Ganz richtig: Der siebenunddreißigste Breitegrad streift an Patagonien an. Er schneidet Araucanien ab, zieht quer durch die Pampas längs dem Norden der patagonischen Lande, und verliert sich im Atlantischen Meer.

[18] – Gut. Fahren wir fort zu vermuthen. Die beiden Matrosen und der Kapitän abor ... abordent, alsolanden, wo? contin ..., am Continent; merken wir, Festland, nicht Insel. Was ist aus ihnen geworden? Hier finden sich zwei verhängnißvolle Buchstabenpr ..., welche über ihr Schicksal belehren sollen. Die Unglücklichen sind in der That pris, gefangen. Von wem? Von grausamen Indianern – cruels Indiens. Sind Sie überzeugt? Springen nicht diese Worte von selbst ergänzend in die Lücken? Wird nicht das Document klar verständlich?«

Glenarvan sprach mit Ueberzeugung. Seine Augen erglänzten von unbedingter Zuversicht, und ihr Feuer theilte sich seinen Zuhörern mit. Sie riefen gleich ihm: »Es ist klar! Sonnenklar!«

Lord Edward fuhr nach einer kleinen Weile fort:

»Alle diese Vermuthungen, meine Freunde, scheinen mir äußerst wahrscheinlich; meiner Ansicht nach hat das Unglück an den Küsten Patagoniens stattgefunden. Uebrigens will ich zu Glasgow anfragen, für welchen Bestimmungsort die Britannia abfuhr, und wir werden erfahren, ob sie in jene Gegend verschlagen werden konnte.

– O! So weit brauchen wir nicht zu gehen um Auskunft, erwiderte John Mangles. Ich habe die Han dels- und Schifferzeitung in vollständiger Sammlung bei mir, die wird uns genaue Auskunft geben.

– Sehen wir, sehen wir!« sagte Lady Glenarvan.

John Mangles nahm also ein Bund Zeitungen von 1862 und durchblätterte sie rasch. Bald fand er schon, was er suchte, und las mit Befriedigung vor:

»30. Mai 1862. Peru! Callao! mit Ladung für Glasgow, Britannia, Kapitän Grant.

– Grant! rief Lady Glenarvan, der kühne Schotte, welcher im Stillen Ocean ein Neu-Schottland gründen wollte!

– Ja, erwiderte John Mangles, der nämliche, welcher im Jahr 1861 zu Glasgow auf der Britannia unter Segel ging und nichts mehr von sich hören ließ.

– Kein Zweifel mehr! sagte Glenarvan. Der ist's gewiß. Die Britannia war aus Callao am 30. Mai abgefahren, und am 7. Juni, acht Tage nach ihrer Abfahrt, ging sie an den Küsten Patagoniens zu Grunde. In den scheinbar nicht zu entziffernden Wortresten ist vollständig enthalten, was [19] ihr begegnet ist. Sie sehen, meine Freunde, daß wir doch einen hübschen Theil durch Vermuthung herausbekommen haben. Nur noch der Längegrad geht uns ab.

– Den brauchen wir gar nicht zu wissen, entgegnete John Mangles, weil das Land bekannt ist, und mit der Breite-Angabe allein nehme ich's auf mich, geraden Wegs auf den Schauplatz des Schiffbruchs hinzusteuern. – Also wissen wir Alles? sagte Lady Glenarvan.

– Alles, liebe Helena, und ich will die Lücken, welche sich auf dem Document befinden, ohne Schwierigkeit ausfüllen, als wenn mir es der Kapitän Grant dictirt hätte.«

Und sogleich ergriff Lord Glenarvan die Feder, und schrieb folgende Notiz, welche zu deutsch lautet:


Am 7. Juni 1862 scheiterte der Dreimaster Britannia aus Glasgow in der südlichen Erd hälfte an der Küste Patagoniens. Zwei Matrosen und der Kapitän Grant versuchen auf dem Continent zu landen, wo sie in die Gefangenschaft grausamer Indianer ge rathen werden. Sie haben dieses Document in's Meer geworfen unter'm ... Grad Länge, und 37°11' Breite. Kommt Ihnen zu Hilfe, sonst sind sie verloren.


»Gut! Gut! Lieber Edward, sagte Lady Helena, und wenn diese Unglücklichen wieder in ihre Heimat kommen, verdanken sie Dir dies Glück. – Und sie werden wieder zurück kommen, erwiderte Glenarvan. Dies Document ist zu deutlich, zu klar und zuverlässig, als daß England zaudern sollte, dreien seiner auf einer öden Küste verlassenen Kinder zu Hilfe zu kom men. Was es für Franklin und so viele Andere gethan hat, wird es auch jetzt für die Schiffbrüchigen der Britannia thun!

– Aber diese Unglücklichen, erwiderte Lady Helena, haben ohne Zweifel Familien, welche ihren Verlust beklagen. Vielleicht hat der arme Kapitän Grant eine Frau, Kinder ...

– Du hast Recht, liebe Lady, und ich übernehme es, sie wissen zu lassen, daß noch nicht alle Hoffnung verloren ist. Jetzt, meine Freunde, gehen wir wieder auf's Verdeck, denn wir sind am Eingang des Hafens.«



In der That, der Duncan war mit verstärktem Dampfe gefahren; eben [20] fuhr er längs den Ufern der Insel Bute und ließ Rothesay mit seinem reizenden Städtchen im fruchtbaren Thale rechts; nachher drang er in die engeren Fahrwasser des Golfs, machte vor Greenock eine Schwenkung und ankerte um sechs Uhr Abends am Fuß des Basaltfelsens von Dumbarton, der mit dem berühmten Schloß des schottischen Helden Wallace gekrönt ist.

Hier wartete eine Postchaise auf Lady Helena, um sie mit dem Major Nabbs nach Malcolm-Castle zurückzubringen. Darauf umarmte Lord Glenarvan seine junge Frau und eilte mit einem Expreßzug nach Glasgow.

Aber vor seiner Abreise hatte er auf noch rascherem Wege eine wichtige Notiz befördert. Der Telegraph überbrachte in einigen Minuten der »Times« und dem »Morning Chronicle« folgende Annonce:


»Um Auskunft über das Schicksal des Dreimasters Britannia aus Glasgow, Kapitän Grant, wende man sich an Lord Glenarvan, Malcolm- Castle, Luß, Grafschaft Dumbarton, Schottland.«

[21]
Fußnoten

1 Die Wörter sink, aland, that, and, lost bedeutenscheitern, am Land, dies, und, verloren. Skipper werden in England die Kapitäne der Handelsfahrzeuge genannt. Moniti[on] deutet sichKunde, Urkunde, und [a]ssistance heißtBeistand.

3. Capitel
Drittes Capitel.
Malcolm-Castle.

Das Schloß Malcolm, eines der poetischsten des Hochlands, liegt nächst dem Dorfe Luß, dessen hübsches Thal von ihm beherrscht wird.



Der Granit seiner Mauern ist von dem klaren Wasser des Loch Lomond bespült Seit unvordenklichen Zeiten gehört es der Familie Glenarvan, welche in der Heimat Rob Roys die gastlichen Gebräuche der alten Helden Walter Scott's bewahrt. Zur Zeit als in Schottland die große sociale Revolution sich vollzog, wurde eine große Menge Vasallen, welche den alten Clanhäuptern nicht hohes Pachtgeld zahlen konnten, ausgetrieben; einige derselben starben Hungers, andere wurden Fischer, wieder andere wanderten aus. Es war eine Zeit allgemeiner Verzweiflung. Nur allein die Glenarvan glaubten, daß die Pflicht der Treue Große wie Kleine binde, und sie hielten ihren Lehnsleuten[22] die Treue. Nicht ein einziger hatte das Haus, wo er geboren war, zu verlassen, keiner das Land, wo seine Vorfahren ruhten; alle blieben bei dem Clan ihrer alten Herren. Darum zählte denn auch damals die Familie Glenarvan im Schlosse Malcolm wie an Bord des Duncan nur Schotten; alle stammten von Vasallen Mac Gregor's, Mac Farlane's, Mac Nabbs, Mac Naughton's, d.h. sie waren Eingeborene der Grafschaften Stirling und Dumbarton, wackere Leute, mit Leib und Seele ihrem Herrn ergeben; Manche von ihnen redeten noch die altcaledonische Sprache.

Lord Glenarvan besaß ein unermeßliches Vermögen, das er reichlich zu Wohlthaten verwendete; seine Güte übertraf noch seinen Edelmuth. Der Erbherr von Luß, der »Laird« von Malcolm, vertrat seine Grafschaft im Hause der Lords. Aber wegen seiner jacobitischen Gesinnung, die wenig beflissen war dem Hause Hannover zu gefallen, war er bei den Staatsmännern Englands nicht wohl gelitten, zumal weil er an den alten Ueberlieferungen seiner Ahnen festhielt, und den politischen Eingriffen von Seiten des Südlands energisch widerstand.

Doch war Lord Edward Glenarvan keineswegs hinter seiner Zeit zurückgeblieben, noch ein Mann von kleinem Geist und schwacher Einsicht; vielmehr gönnte er dem Fortschritt in seiner Grafschaft weite Bahn, und dabei blieb er Schotte mit ganzer Seele, und für den Ruhm Schottlands betheiligte er sich bei den Wettfahrten des Royal-Thames-Yacht-Club.

Edward Glenarvan war dreißig Jahre alt, von hoher Statur und etwas strengen Zügen; aus seinen Augen sprach unendliche Güte, sein ganzes Auftreten trug den Stempel der Poesie des Hochlandes. Er galt für tapfer in hohem Grade, unternehmend, ritterlich, doch über alles gütig.

Lord Glenarvan war erst seit drei Monaten verheiratet. Seine Gemahlin war Miß Helena Tuffnel, eine Tochter des großen Reisenden William Tuffnel, eines der zahlreichen Opfer der Wissenschaft und seiner leidenschaftlichen Vorliebe für Entdeckungen.

Miß Helena gehörte nicht einer Adelsfamilie an, aber sie war Schottin, eine Eigenschaft, die in den Augen Lord Glenarvan's den ältesten Adel aufwog. Diese junge, reizende, muthige, hingebende Dame hatte der Herr von Luß zu seiner Lebensgefährtin erkoren. Er traf sie einst, eine vereinsamte Waise, fast ohne Vermögen, im Hause ihres Vaters zu Kilpatrik. Das Mädchen gefiel ihm, und da er überzeugt war, sie werde eine tüchtige Frau [23] sein, so heiratete er sie.


»Wir sind die Kinder des Kapitän Grant, Madame.« (S. 27).

Miß Helena war zweiundzwanzig Jahre alt, eine Blondine mit so blauen Augen, wie das Wasser der schottischen Seen an einem schönen Frühlingsmorgen. Ihre Liebe zu ihrem Gemahl ging noch über ihre Dankbarkeit. Sie liebte ihn, als wäre sie die reiche Erbin gewesen, und er die verlassene Waise. Ihre Pächter und Diener waren bereit, ihr Leben für die zu lassen, welche sie ihre »gute Dame von Luß« nannten.

Lord Glenarvan und Lady Helena lebten glücklich zu Malcolm-Castle, mitten in jener prachtvollen und wilden Natur der Hochlande. Hier wandelten [24] sie im düsteren Schatten von Kastanienbäumen und Sycomoren an den Ufern des Sees, wo man noch Kriegslieder aus der grauen Vorzeit vernahm, in den wilden Bergschluchten, wo die Geschichte Schottlands in Jahrhunderte alten Ruinen aufgezeichnet ist. Eines Tags schweiften sie in Birken- und Lärchengebüschen mitten in weiten Haidefeldern; eines andern klommen sie die steilen Höhen des Ben Lomond hinan, oder ritten durch einsame Thäler, wo sie die poetische Landschaft bewunderten, welche jetzt noch »das Land Rob Roy's« genannt wird, und alle die herrlichen Gegenden, welche von Walter Scott so kräftig geschildert wurden. Abends, wann die Nacht einbrach und »Mac Farlane's Leuchte« am Horizont flammte, gingen sie längs der Zinnen, einem alten Rundgang, der noch wie ein Halsband das Schloß Malcolm krönt, und hier weilten sie in Gedanken vertieft, die Welt vergessend, auf einem Steinblock sitzend, mitten im Schweigen der Natur unter des Mondes bleichen Strahlen – in Entzücken und die reine Begeisterung versenkt, welche nur liebende Herzen kennen.



So verliefen ihnen die ersten Wonnemonate der Ehe. Aber Lord Glenarvan gedachte, daß seine Frau die Tochter eines großen Reisenden war; er meinte, Lady Helena müsse alle hohen Strebungen ihres Vaters im Herzen haben, und er irrte nicht. Er ließ denDuncan bauen zu dem Zweck, Lord und Lady Glenarvan in die schönsten Länder der Welt zu tragen, am Mittelländischen Meer und auf den Inseln des Archipels. Welche Freude für Lady Helena, als ihr Gemahl den Duncan ihr zur Verfügung stellte.

[25] Inzwischen war Lord Glenarvan nach London gereist. Da es sich um die Rettung unglücklicher Schiffbrüchiger handelte, so empfand Lady Helena über diese kurze Trennung mehr Ungeduld als Betrübniß; am folgenden Morgen ließ eine Depesche ihres Mannes seine baldige Rückkehr hoffen; am Abend begehrte ein Brief längeren Urlaub; die Vorschläge Lord Glenarvan's waren auf Schwierigkeiten gestoßen; am dritten Tage machte ein Brief Lord Glenarvan's kein Hehl mehr aus seiner Unzufriedenheit mit der Admiralität.



Von jetzt an ward Lady Helena unruhig. Am Abend befand sie sich allein in ihrem Zimmer, als Herr Halbert, ihr Schloßvogt, anfragte, ob sie ein Mädchen und einen Knaben, welche Lord Glenarvan zu sprechen wünschten, empfangen wollte.

»Landeskinder? fragte Lady Helena.

– Nein, gnädige Frau, antwortete der Schloßvogt, denn ich kenne sie nicht. Sie sind mit der Eisenbahn nach Valloch gefahren, und von da nach Luß zu Fuß gegangen.

– Sie mögen herauskommen«, sagte die Lady.

Nach einer kleinen Weile wurden das Mädchen und der Knabe in das Zimmer der Lady Helena geführt. Es waren Geschwister, wie ihre Gesichtszüge zu erkennen gaben. Die Schwester war sechzehn Jahre alt; ihr hübsches Gesicht etwas abgespannt vor Ermüdung; ihre vom Weinen angegriffenen Augen, ihre Gesichtszüge voll Entsagung, aber nicht ohne Muth, ihr ärmlicher, aber reinlicher Anzug sprachen zu ihren Gunsten. Sie führte an der Hand [26] einen zwölfjährigen Knaben mit entschlossener Miene, der seine Schwester in Schutz zu nehmen schien. Wahrlich, wer diesem Mädchen etwas hätte zu Leide thun wollen, hätte es mit diesem kleinen Mann zu thun gehabt.

Die Schwester war in Gegenwart der Lady Helena ein wenig befangen. Diese ergriff schnell das Wort.

»Sie wünschen mich zu sprechen? sagte sie mit aufmunterndem Blick.

– Nein, erwiderte der Knabe mit entschiedenem Ton, nicht Sie, sondern Lord Glenarvan selbst.

– Entschuldigen Sie, gnädige Frau, sagte das Mädchen, und sah ihren Bruder an.

– Lord Glenarvan befindet sich nicht auf dem Schlosse, versetzte Lady Helena; aber ich bin seine Frau, und wenn ich bei Ihnen seine Stelle vertreten kann ...

– Sie sind Lady Glenarvan? sagte das Mädchen.

– Ja, Miß.

– Die Gemahlin des Lord Glenarvan zu Malcolm-Castle, welcher eine Anzeige in Betreff des Schiffbruchs der Britannia in der ›Times‹ veröffentlicht hat?

– Ja! ja! erwiderte Helena hastig, und Sie? ...

– Ich bin Miß Grant, gnädige Frau, und dies ist mein Bruder.

– Miß Grant! Miß Grant! rief Lady Helena aus, und zog das Mädchen zu sich, ergriff ihre Hände, und küßte den kleinen Mann auf seine freundlichen Wangen.

– Gnädige Frau, fuhr das Mädchen fort, was wissen Sie über den Schiffbruch meines Vaters? Ist er noch bei Leben? Werden wir ihn jemals wieder sehen? Reden Sie, ich bitte!

– Mein liebes Kind, sagte Lady Helena, Gott behüte mich, in einem solchen Falle leichthin zu reden; ich möchte Ihnen nicht ungegründete Hoffnung machen ...

– Reden Sie, gnädige Frau, reden Sie! Ich bin stark gegen den Schmerz, und kann Alles hören.

– Mein liebes Kind! erwiderte Lady Helena, es ist nur eine schwache Hoffnung vorhanden; aber mit Gottes allmächtigem Beistand ist's möglich, daß Sie einmal Ihren Vater wieder sehen.

[27] – Mein Gott! Mein Gott!« rief Miß Grant mit Thränen in den Augen, indeß Robert die Hände der Lady Glenarvan mit Küssen bedeckte.

Nach diesem ersten Erguß schmerzvoller Freude ward das Mädchen nicht fertig in zahllosen Fragen. Lady Helena erzählte ihr, wie das Document gefunden worden, wie die Britannia an den Küsten Patagoniens gescheitert sei; wie nach dem Schiffbruch der Kapitän mit zwei Matrosen an's Festland gelangt sein mußte; endlich, wie sie, auf diesem in drei Sprachen dem Meere preisgegebenen Document um Hilfe riefen.

Während dieser Erzählung sah Robert Grant mit gespannten Blicken die Lady an; seine kindliche Phantasie malte ihm fürchterliche Scenen vor, welchen sein Vater zum Opfer geworden war; er sah ihn auf dem Verdeck der Britannia, begleitete ihn durch die Meeresfluthen, erklimmte mit ihm die Felsen der Küste. Mehrmals entfuhren ihm während der Erzählung unwillkürliche Worte.

»Ach! Papa, mein armer Papa!« rief er, an seine Schwester sich schmiegend.

Miß Grant horchte zu, faltete die Hände, äußerte kein Wort, bis die Erzählung beendigt war, dann sprach sie:

»O! Gnädige Frau, das Document! Das Document!

– Ich habe es nicht mehr, liebes Kind, erwiderte Lady Helena.

– Sie haben es nicht mehr?

– Nein, Lord Glenarvan hat es mit nach London genommen, um für Deinen Vater zu wirken; aber ich habe Ihnen Wort für Wort seinen ganzen Inhalt mitgetheilt und habe Ihnen gesagt, wie es uns gelungen ist, den Sinn desselben genau heraus zu bekommen; unter den fast ausgetilgten Wortresten haben die Fluthen einige Zahlen verschont; leider ist die Länge ...

– O, die braucht man nicht zu wissen! rief der Knabe.

– Ja, Robert, erwiderte Helena lächelnd, als sie ihn so entschlossen sah. Also, Miß Grant, Sie wissen nun die geringsten Details, wie ich selbst.

– Ja, gnädige Frau, erwiderte das Mädchen, aber ich hätte gern die Handschrift meines Vaters gesehen.

– Nun, morgen wird Lord Glenarvan wohl wieder hier sein. Mein Mann hat dieses unbestreitbare Document den Commissären der Admiralität vor Augen legen wollen, um zu erwirken, daß sogleich ein Schiff zur Aufsuchung des Kapitän Grant ausgeschickt werde.

[28] – Ist es möglich, gnädige Frau! rief das Mädchen aus; das haben Sie für uns gethan?

– Ja, liebe Miß, und ich erwarte die Rückkunft Lord Glenarvan's jeden Augenblick.

– Gnädige Frau, sagte das Mädchen mit dem Ton innigster Dankbarkeit und warmer Frömmigkeit, der Himmel vergelte Ihnen und Lord Glenarvan die Wohlthat.

– Liebes Kind, erwiderte Lady Helena, jeder andere Mensch hätte an unserer Stelle ebenso gehandelt. Möchten die Hoffnungen, welche ich bei Ihnen angeregt habe, in Erfüllung gehen! Bleiben Sie bis zur Rückkunft Lord Glenarvan's bei mir auf dem Schloß ...

– Gnädige Frau, erwiderte das Mädchen, ich möchte die freundliche Güte, welche Sie Personen, die Ihnen fremd sind, erweisen, nicht mißbrauchen ...

– Fremd! Liebes Kind; weder Sie, noch Ihr Bruder sind unserm Hause fremd, und ich wünsche, daß Lord Glenarvan bei seiner Rückkehr den Kindern des Kapitän Grant mittheile, was man zur Rettung ihres Vaters thun wird.«

Ein so gütiges Anerbieten war nicht abzulehnen. Miß Grant und ihr Bruder warteten also zu Malcolm-Castle die Rückkehr des Lord Glenarvan ab.

4. Capitel
Viertes Capitel.
Ein Vorschlag der Lady Glenarvan.

Während dieser Unterredung hatte Lady Helena nicht von den Besorgnissen gesprochen, welche Lord Glenarvan in seinem Brief über die Aufnahme seines Gesuches von Seiten der Commissäre der Admiralität geäußert hatte. Ebensowenig in Betreff der vermuthlichen Gefangenschaft des Kapitän Grant bei den Indianern Süd-Amerikas. Vielmehr, nachdem sie alle Fragen der Miß Grant beantwortet hatte, fragte sie dieselbe ihrerseits über ihr Leben, [29] ihre Lage in der Welt, worin sie die einzige Beschützerin ihres Bruders zu sein schien.

Die einfache und rührende Erzählung des Mädchens vermehrte noch die freundliche Theilnahme der Lady Glenarvan für dasselbe.

Miß Mary und Robert Grant waren die einzigen Kinder des Kapitäns. Harry Grant hatte seine Frau bei der Geburt Robert's verloren, und während weiter Seefahrten seine Kinder der Pflege einer guten alten Cousine überlassen.

Der Kapitän Grant war ein kühner Seemann, der seinen Beruf wohl verstand, guter Schiffer und zugleich auch Kaufmann, vereinigte also einen doppelten Vorzug der Kapitäne von Kauffahrteischiffen. Er wohnte zu Dundee in der schottischen Grafschaft Perth, war ein eingeborenes Landeskind. Er hatte von seinem Vater, welcher Pfarrer der Katharinenkirche war, eine tüchtige Erziehung erhalten, was keinem Menschen, nicht einmal einem Schiffskapitän, nachtheilig ist.

Bei seinen ersten Seefahrten machte er gute Geschäfte, so daß er einige Jahre nach Robert's Geburt im Besitz eines hübschen Vermögens war.

Damals faßte er einen großartigen Plan, der seinen Namen in Schottland populär machte. Wie die Glenarvan und einige andere große Familien des Niederlands, war er, wenn auch nicht im Handeln, doch in der Gesinnung dem erobernden England feind. In seinen Augen konnten die Interessen seines Landes nicht mit denen der Angel-Sachsen zusammenstimmen, und um denselben eigenthümlich selbständige Entwickelung zu geben, beschloß er, auf einem der Länder Oceaniens eine große schottische Colonie zu gründen. Dachte er für die Zukunft dabei an die Unabhängigkeit, wovon die Vereinigten Staaten Amerikas das erste Beispiel gegeben hatten, und welche Indien und Australien einst unfehlbar erringen werden? Vielleicht. Vielleicht auch ließ er seine stillen Hoffnungen merken. Begreiflich, daß die Regierung nicht darauf einging, zu seinem Colonisationsproject die Hand zu bieten; sie bereitete sogar dem Kapitän Grant Schwierigkeiten, welche in jedem andern Lande ihren Mann vernichtet hätten. Aber Harry verlor den Muth nicht; er wendete sich an den Patriotismus seiner Landsleute, setzte sein Vermögen daran, ein Schiff zu bauen, und dann, als sich eine auserlesene Mannschaft mit ihm zusammenfand, vertraute er seine Kinder der Pflege seiner alten Cousine und segelte ab, um die großen Inseln der Südsee für seinen Zweck [30] zu durchforschen. Dies geschah im Jahre 1861. Ein Jahr lang, bis zum Mai 1862, erhielt man Nachrichten von ihm; aber seit seiner Abfahrt von Callao, im Juni desselben Jahres, hörte man kein Wort mehr von der Britannia, und die Seezeitung verstummte über das Schicksal des Kapitäns.

So war die Lage der Dinge, als die alte Cousine Harry Grant's starb, und nun fanden sich die beiden Kinder allein auf der Welt.

Mary Grant war damals vierzehn Jahre alt; ihre starke Seele erschrak nicht vor dem schweren Loose, das ihr zugefallen war, und sie widmete sich ganz ihrem Bruder, der noch Kind war. Ihr lag es nun ob, ihn zu erziehen, zu unterrichten. Mit Sparsamkeit, Klugheit und Anstrengung ihrer Geisteskraft, mit Arbeit bei Tag und Nacht widmete sie sich ihm ganz, versagte sich Alles: so ward die Schwester fähig, ihren Bruder zu erziehen, und sie erfüllte muthig diese mütterliche Pflicht.

Die beiden Kinder lebten also zu Dundee in dieser rührenden Lage einer Armuth, welche sie mit Edelmuth ertrugen, gegen die sie tapfer kämpften. Mary hatte keinen andern Gedanken, als an ihren Bruder, sann nur darauf, ihm eine glückliche Zukunft zu bereiten. Sie hielt die Britannia für hoffnungslos verloren, ihren Vater für zweifellos todt. Man denke also, mit welcher Gemüthsbewegung sie die Anzeige in der »Times« las, welche zufällig ihr vor Augen kam und sie plötzlich aus ihrer Hoffnungslosigkeit herausriß.

Jetzt galt es, nicht zu zögern; ihr Entschluß war rasch gefaßt. Sollte sie auch erfahren müssen, daß man den Leichnam des Kapitän Grant an einer öden Küste, auf dem Rumpfe eines gescheiterten Schiffes, aufgefunden habe, besser doch, als dieser unablässige Zweifel, diese ewige Qual eines unbekannten Schicksals.

Sie theilte es ihrem Bruder mit, und noch denselben Tag fuhren die beiden Kinder mit der Eisenbahn ab, und kamen Abends zu Malcolm-Castle an, wo Mary nach so vielem Kummer wieder Hoffnung faßte.

Diese Jammergeschichte erzählte Mary Grant der Lady Glenarvan in höchst einfacher Weise, ohne daran zu denken, daß sie sich bei alle diesem in der langen Prüfungszeit als ein heroisches Mädchen benommen hatte; aber Lady Helena dachte so an ihrer Statt, und schloß wiederholt, ohne ihre Thränen zurückzuhalten, die beiden Kinder des Kapitän Grant liebevoll in ihre Arme.

[31] Robert schien diese Geschichte zum ersten Male zu hören; er machte große Augen bei der Erzählung seiner Schwester; er begriff Alles, was sie gethan, gelitten hatte, endlich rief er aus, sie umarmend: »O! Mama! Liebe Mama!« Er konnte den Ausruf, der aus des Herzens Tiefe drang, nicht mehr zurückhalten.

Während dieser Unterredung war es völlig Nacht geworden. Lady Helena wollte, in Rücksicht auf die Ermüdung der beiden Kinder, diese Unterhaltung nicht länger fortsetzen. Mary und Robert Grant wurden in ihre Zimmer geführt und schliefen ein in Träumen an eine bessere Zukunft.



Als sie weggegangen waren, ließ Lady Helena den Major rufen und erzählte ihm Alles, was sich diesen Abend begeben hatte.

»Ein braves Mädchen, diese Mary Grant, sagte Mac Nabbs, als er die Erzählung seiner Cousine hörte.

– Wollte der Himmel, daß meinem Mann sein Vorhaben glückt! Denn die Lage dieser beiden Kinder würde erschrecklich sein.

– Er wird zum Ziel kommen, erwiderte Mac Nabbs, oder die Lords der Admiralität hätten Herzen, härter als das Gestein zu Portland.«

Trotz dieser Versicherung des Majors verbrachte Lady Helena diese Nacht in lebhaftester Besorgniß, ohne einen Augenblick zu schlafen.

Am folgenden Morgen standen Mary und ihr Bruder mit Tagesanbruch auf und wandelten in dem großen Schloßhof, als man Wagengeräusch vernahm. Lord Glenarvan kehrte in raschester Fahrt nach Malcolm-Castle zurück.

[32] Augenblicklich erschien Lady Helena in Begleitung des Majors im Hof und eilte ihrem Gemahl entgegen.

Dieser schien traurig, enttäuscht, entrüstet. Er schloß seine Gemahlin schweigend in die Arme.

»Nun, Edward, Edward? rief Lady Helena.

– Ja nun, liebe Helena, erwiderte Lord Glenarvan, die Leute haben kein Herz!

– Sie haben abgeschlagen? ...


»Mein Vater! Mein armer Vater!« rief Miß Grant. (S. 34.)

[33] – Ja! Sie haben mir ein Schiff verweigert! Sie sprachen von den Millionen, die vergeblich für die Aufsuchung Franklin's aufgewendet worden! Sie haben das Document für unklar, unlesbar erklärt! Sie sagten, es seien bereits zwei Jahre, daß diese Unglücklichen zu Grunde gegangen, und wenig Wahrscheinlichkeit vorhanden, sie wieder aufzufinden! Sie haben behauptet, seien sie von den Indianern gefangen worden, so habe man sie in's Innere geschleppt, und man könne nicht ganz Patagonien durchsuchen, um drei Menschen, – drei Schotten! – wieder zu bekommen. – Solch ein Aufsuchen würde vergeblich, und mit Gefahren verknüpft sein, es würde mehr Opfer kosten, als gerettet werden würden! Kurz, sie brachten alle möglichen seichten Gründe vor, um eben nur zu verweigern. Sie erinnerten sich an des Kapitäns Projecte, darum ist der arme Grant auf immer verloren!«

»Mein Vater! Mein armer Vater! rief Mary Grant, und stürzte dem Lord Glenarvan zu Füßen.

– Ihr Vater! Wie Miß ... sprach dieser überrascht, als er das Mädchen zu seinen Füßen sah.

– Ja, Edward, Miß Mary und ihr Bruder, erwiderte Lady Helena, die beiden Kinder des Kapitän Grant, welche die Admiralität zu Waisen machen will!

– Ach! Miß, fuhr Lord Glenarvan fort, indem er das Mädchen aufhob, hätte ich gewußt, daß Sie zugegen ...«

Er sprach kein Wort weiter! Peinliches Schweigen, mit Schluchzen vermischt, herrschte im Hofe. Niemand ließ ein Wort vernehmen, weder Lord Glenarvan, noch Lady Helena, noch der Major, noch die Diener des Schlosses, welche schweigend um ihre Herrschaft standen. Aber durch ihre Haltung protestirten alle diese Schotten gegen das Benehmen der englischen Regierung.

Nach einer Weile ergriff der Major das Wort und sprach zu Lord Glenarvan:

»Also, Sie haben keine Hoffnung?

– Keine.

– Nun, rief der junge Robert aus, ich will denn hin zu den Leuten, und ... wir werden sehen ...«

Robert sprach seine Drohung nicht aus, weil seine Schwester ihn hemmte; aber seine geballte Faust gab wenig friedliche Absichten zu erkennen.

[34] »Nein, Robert, sagte Mary Grant, nein! Danken wir diesen guten Menschen dafür, was sie für uns gethan haben; bleiben wir ihnen ewig dankbar, und gehen miteinander.

– Mary! rief Lady Helena.

– Miß, wo wollen Sie hin? sagte Lord Glenarvan.

– Ich will mich der Königin zu Füßen werfen, erwiderte das Mädchen, und wir werden sehen, ob sie taub ist gegen das Flehen zweier Kinder um das Leben ihres Vaters.«

Lord Glenarvan schüttelte den Kopf, nicht weil er am Herzen der huldvollen Majestät zweifelte, sondern weil er überzeugt war, daß Mary Grant nicht bis zu ihr würde dringen können. Die Flehenden gelangen sehr selten bis zu den Stufen eines Thrones, und es scheint, man hat an die Thore der königlichen Paläste geschrieben, was man auf dem Rade der Steuerruder englischer Schiffe liest:


»Die Passagiere werden gebeten mit dem Manne am Steuer nicht zu reden.«


Lady Helena hatte den Gedanken ihres Gemahls begriffen; sie wußte, daß das Mädchen einen vergeblichen Schritt thun würde; sie sah, in welch' verzweifelter Lage nun die beiden Kinder sich befinden würden. Da entstand in ihr ein großer, edler Gedanke.

»Mary Grant, rief sie aus, warte, mein Kind, und höre, was ich zu sagen habe.«

Das Mädchen war im Begriff, mit seinem Bruder an der Hand fortzugehen. Es blieb stehen.

Darauf trat Lady Helena, mit nassem Auge, aber fester Stimme und belebten Zügen, zu ihrem Gemahl:

»Edward, sprach sie, als der Kapitän Grant jenes Schreiben verfaßte und in's Meer warf, vertraute er es der Obhut Gottes. Gott hat es in unsere Hände geführt! Gewiß hat uns Gott die Rettung dieser Unglücklichen aufgetragen.

– Was meinst Du damit, Helena?« fragte Lord Glenarvan.

Tiefes Schweigen herrschte in der ganzen Versammlung.

»Ich meine damit, fuhr Lady Helena fort, daß man ein Glück darin finden soll, sein eheliches Leben mit einer guten That zu beginnen. Nun denn, [35] lieber Edward, Du hattest mir zu Gefallen eine Vergnügungsfahrt beschlossen! Welch Vergnügen aber kann echter, nützlicher sein, als Unglückliche zu retten, die von ihrem Lande im Stiche gelassen werden?

– Helena! rief Lord Glenarvan aus.

– Ja! Du verstehst mich, Edward! Der Duncan ist ein tüchtiges Schiff! Er kann auch dem Südmeer trotzen! Er kann die ganze Erde umsegeln, und nöthigenfalls wird er es thun. So wollen wir hin, Edward! Den Kapitän Grant aufsuchen!«

Bei diesen muthigen Worten umschloß Lord Glenarvan seine junge Frau mit den Armen, lächelte und drückte sie an sein Herz, während Mary und Robert ihre Hände küßten.

Und während dieser rührenden Scene ließen die Diener des Schlosses, in begeisterter Bewegung, aus ihrem Herzen den Ruf der Dankbarkeit vernehmen:

»Hurrah der Dame von Luß! Hurrah! Dreimal Hurrah dem Lord Edward und der Lady Glenarvan!«

5. Capitel
Fünftes Capitel.
Abfahrt des Duncan.

Lady Helena hatte, wie wir sahen, eine starke und edle Seele. Was sie soeben gethan, lieferte den unbestreitbaren Beweis. Lord Glenarvan hatte wohl Grund, auf diese edle Frau, die ihn zu begreifen, sich ihm anzuschließen fähig war, stolz zu sein. Die Idee, dem Kapitän Grant selbst zu Hilfe zu kommen, hatte sich seiner bereits bemeistert, als man ihm zu London sein Gesuch abschlug; nur der Gedanke, sich von Lady Helena trennen zu müssen, hatte ihn abgehalten, ihn derselben mitzutheilen. Da sie nun aber begehrte, selbst die Reise mit zu machen, so hatte er sich auch keinen Augenblick zu bedenken. Die Diener des Schlosses hatten ihren Vorschlag mit Beifall begrüßt; es handelte sich um die Rettung ihrer Brüder, die Schotten waren [36] wie sie, und Lord Glenarvan stimmte herzlich in das Hurrah ein, welches sie der Dame von Luß zuriefen.

Als die Fahrt beschlossen war, wurde auch keine Stunde versäumt. Noch an demselben Tage ließ Lord Glenarvan an John Mangles den Befehl ergehen, denDuncan nach Glasgow zu bringen, und Vorbereitungen zu einer Reise in die Südsee zu treffen, woraus leicht eine Weltumsegelung werden konnte. Uebrigens hatte Lady Helena, als sie den Vorschlag machte, dem Duncan nicht zuviel zugetraut; es war ein äußerst solid gebauter Schnelldampfer, der eine weite Reise ohne Gefahr aushalten konnte.

Es war ein Prachtstück von Dampf-Yacht, von zweihundertundzehn Tonnen, während die ersten Schiffe der Entdecker der neuen Welt, Columbus, Vespuelo, Pinzon, Magelhaens, weit geringeren Gehalt hatten. 1

Der Duncan hatte zwei Maste: einen Fockmast mit Segel, Goelette-Focksegel, kleinem Marssegel und kleinem Bramsegel; einen großen Mast mit Brigantine und Spitze; ferner einem Vorstagsegel, einem großen und kleinen Klüver und Stagsegeln. Sein Segelwerk war tüchtig, und er konnte den Wind wie ein einfacher Klipper benutzen; aber vor Allem, er konnte sich auf die Kraft der Maschine in seinem Schooße verlassen. Dieselbe hatte hundertundsechzig Pferdekraft und war nach einem neuen System gebaut, mit Vorrichtungen zum Ueberhitzen, wodurch der Dampf eine größere Spannkraft bekam; es war eine Hochdruckmaschine mit doppelter Schraube. Der Duncan konnte mit voller Dampfkraft jede bisher erzielte Schnelligkeit überbieten. In der That hatte er bei seiner Probefahrt im Golf des Clyde, nach Ausweis des Patent-Log 2, bis zu siebenzehn Meilen 3 in der Stunde zurückgelegt. Demnach war er tüchtig genug, ohne Weiteres abzufahren, die Reise um die Welt zu unternehmen. John Mangles brauchte nur noch für die Beschaffung der Vorräthe zu sorgen.

Vor allen Dingen ließ er die Vorrathskammern größer machen, um so viel Kohlen als möglich einzunehmen, denn während der Fahrt ist's nicht [37] leicht sein Brennmaterial zu erneuern. In gleicher Weise sorgte er für die Mundvorräthe, und John Mangles war vorsichtig genug, sich auf zwei Jahre mit Lebensmitteln zu versehen. An Geld fehlte es nicht, und es langte auch noch, eine Kanone anzuschaffen, die auf dem Vordercastell der Yacht angebracht wurde; man wußte nicht, was vorfallen konnte, und es ist immer gut, wenn man im Stande ist, einen Achtpfünder vier Meilen weit zu schleudern.

John Mangles, muß man gestehen, verstand sich auf sein Geschäft; hatte er auch nur eine Vergnügungs-Yacht zu commandiren, so war er doch einer der besten Kapitäne von Glasgow; er stand im dreißigsten Jahre, und hatte etwas derbe Züge, die jedoch von Muth und Güte zeugten. Er war im Schlosse geboren, von der Familie Glenarvan auferzogen und zum vortrefflichen Seemann gebildet. John Mangles hatte bei weiten Seefahrten schon öfters Beweise von Geschicklichkeit, Thatkraft und kaltem Blut gegeben. Als ihm Lord Glenarvan das Commando des Duncan anbot, nahm er es sehr gerne an, denn er liebte den Herrn von Malcolm-Castle wie einen Bruder, und suchte, obwohl er bisher noch nicht mit ihm zusammengetroffen, Gelegenheit, sich für ihn aufzuopfern.

Der Untercommandant, Tom Austin, war ein alter Seemann, der alles Vertrauen verdiente; die Bemannung des Duncan zählte mit Einschluß des Kapitäns und seines Stellvertreters fünfundzwanzig Köpfe. Sie gehörten alle der Grafschaft Dumbarton an, lauter erprobte Seeleute, Söhne von Lehnträgern der Familie, und bildeten an Bord des Schiffes einen echten altschottischen Stamm wackerer Leute, denen nicht einmal der herkömmliche Dudelsack fehlte. Lord Glenarvan hatte da eine Schaar guter Unterthanen bei sich, die ihres Gewerbes froh waren, ergeben, muthig, tüchtig in der Waffenführung und im Matrosendienst, und fähig, ihn bei den kühnsten Unternehmungen zu begleiten. Als die Mannschaft des Duncan erfuhr, wohin die Fahrt gerichtet war, konnte sie ihre freudige Bewegung nicht unterdrücken, und das Echo der Felsen von Dumbarton hallte von begeistertem Hurrahrufen wieder.

Während John Mangles in voller Beschäftigung war, sein Schiff auszurüsten und zu versorgen, vergaß er nicht, die Gemächer des Lords und der Lady Glenarvan für eine weite Fahrt einzurichten. Ebenso mußte er für die Kinder des Kapitän Grant Kämmerchen herrichten, denn die Lady hatte [38] Mary die Erlaubniß, sie an Bord des Duncan zu begleiten, nicht versagen können.

Was Robert betrifft, so wäre der lieber in den untersten Schiffsraum gekrochen, als daß er nicht mitgefahren wäre. Hätte er, wie Nelson und Franklin, als Schiffsjunge dienen müssen, er wäre auf dem Duncan mitgefahren. Solch einem Jungen konnte man nicht widerstehen. Man versuchte es auch nicht. Selbst das mußte man ihm nachgeben, daß er nicht als Passagier mitfuhr, denn er wollte Dienste verrichten, als Schiffsjunge, Lehrling oder Matrose. John Mangles wurde beauftragt, ihn das Seemannsgeschäft zu lehren.

»Gut, sagte Robert, und er verschone mich nicht mit der Peitsche, wenn ich es nicht recht mache!

– Laß das nur gut sein, lieber Junge«, erwiderte Glenarvan mit ernster Miene, und ohne beizufügen, daß die neunschwänzige Katze hier nicht Brauch, und an Bord des Duncan auch völlig überflüssig war.

Die Passagierliste vollständig zu geben, ist nur noch der Major Mac Nabbs zu nennen. Der Major war ein Fünfziger von ruhiger, gesetzter Haltung, der hinging, wo man's haben wollte, eine vortreffliche, tüchtige Natur, bescheiden, schweigsam, friedlich und sanft; stets einstimmig mit Jedem über jeden Gegenstand, widersprach er nicht, disputirte nicht, wurde nicht auffahrend; ebenso ruhig, wie die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf, betrat er die Böschung eines Walles, wenn Bresche geschossen wurde, ließ sich durch nichts in der Welt in Verlegenheit, niemals außer Fassung bringen, nicht einmal durch eine Kanonenkugel, und gewiß wird er noch bis zu seinem Tode nicht mehr in Zorn zu bringen sein. Dieser Mann besaß in hohem Grade nicht allein den gewöhnlichen Muth des Schlachtfeldes, die physische, nur auf Muskelstärke beruhende Tapferkeit, sondern mehr noch, moralischen Muth, d.h. Stärke der Seele. Hatte er einen Fehler, so bestand er darin, daß er von Kopf bis zu den Füßen durch und durch Schotte war, ein echter Caledonier, der hartnäckig an den alten Gebräuchen seines Landes hing. Darum wollte er auch nie in englischen Kriegsdienst treten, und erwarb sich seinen Majorsgrad im zweiundvierzigsten Regiment der schwarzen Garde-Hochländer, das nur aus schottischen Edelleuten bestand. Als Verwandter der Familie Glenarvan hatte Mac Nabbs seine Stelle im Schloß Malcolm, als Major fand er es ganz natürlich, daß er zu den Passagieren des Duncan gehörte.

[39] Diese Personen also befanden sich auf der Yacht, welche durch unvorhergesehene Umstände die Bestimmung erhielt, eine der merkwürdigsten Reisen der Neuzeit auszuführen. Seit ihrer Ankunft am Dampfboot-Quai zu Glasgow hatte sie die Neugierde des Publicums allein auf sich gezogen; täglich wurde sie von einer zahllosen Menge besucht; man hatte nur für sie Interesse, sprach nur von ihr, zu großem Aerger der andern Kapitäne im Hafen, unter anderm des Kapitäns Burton, Commandant des prachtvollen Dampfbootes »Scotia«, der neben dem Duncan ankerte und nach Calcutta zu fahren im Begriff war.


Einsegnung der Theilnehmer an der Fahrt. (S. 41.)

In Betracht seiner Größe konnte die Scotia den [40] Duncan wie ein bloßes Küstenboot ansehen. Dennoch zog die Yacht des Lord Glenarvan alles Interesse auf sich, welches täglich zunahm.

In der That rückte der Zeitpunkt der Abfahrt heran: Kapitän Mangles erwies sich rührig und geschickt. Einen Monat nach seiner Probefahrt im Golf des Clyde war der Duncan völlig hergerichtet, mit Vorräthen und Lebensmitteln versehen, im Stande in See zu gehen. Die Abfahrt wurde auf den 25. August gesetzt, wodurch es der Yacht möglich ward, gegen den Anfang des Frühlings in die südlichen Gegenden zu gelangen.

Es fehlte nicht, daß dem Lord Glenarvan, sobald sein Vorhaben bekannt wurde, manche Bemerkungen über die Beschwerden und Gefahren der Reise gemacht wurden; aber er beachtete sie nicht im Mindesten, und rüstete sich zur Abreise. Auch tadelten ihn Viele, welche ihn aufrichtig bewunderten. Doch die öffentliche Meinung erklärte sich unumwunden zu Gunsten des schottischen Lord, und alle Journale, mit Ausnahme der Regierungsorgane, tadelten einstimmig das Verhalten der Commissäre bei dieser Gelegenheit. Uebrigens war Lord Glenarvan für das Lob ebensowenig empfänglich, wie für den Tadel; er that seine Pflicht, und kümmerte sich sonst um nichts.

Am 24. August verließen Glenarvan, Lady Helena, der Major Mac Nabbs, Mary und Robert Grant, Mr. Olbinett, Proviantmeister der Yacht, und seine Frau Mrs. Olbinett, welche zur Bedienung der Lady Glenarvan gehörte, Malcolm-Castle nach rührendem Abschied von der Dienerschaft. Einige Stunden nachher waren sie an Bord eingerichtet. Die Bewohner Glasgows zollten Lady Helena, der jungen muthigen Frau, welche auf die ruhigen Freuden eines reichen Lebens verzichtete, um Schiffbrüchigen Beistand zu leisten, theilnehmende Bewunderung.

Die Gemächer Lord Glenarvan's und seiner Gemahlin nahmen im Hinterverdeck des Duncan den ganzen hinteren Raum ein; sie bestanden aus zwei Schlafzimmern, einem Salon und zwei Ankleidecabinetten; sodann befand sich darin ein gemeinsamer viereckiger Raum, umgeben von sechs Cabinen, von welchen fünf für Mary und Robert Grant, Herr und Frau Olbinett und den Major Mac Nabbs bestimmt waren. Die Cabinen John Mangles' und Tom Austin's befanden sich im Hintergrund und hatten einen Aufgang zum Oberverdeck. Die Mannschaft war im Zwischenverdeck untergebracht, und sehr bequem, denn die Yacht führte keine andere Ladung als Kohlen, Mundvorräthe [41] und Waffen. Es hatte daher dem Kapitän nicht an Platz gemangelt für die weiteren Vorräthe und Bedürfnisse; und John Mangles hatte ihn gut benutzt.

Die Abfahrt des Duncan war auf die Nacht vom 24. zum 25. August festgesetzt, beim Beginn der Ebbe um drei Uhr. Zuvor jedoch waren die Bewohner Glasgows Zeugen einer rührenden Ceremonie. Um acht Uhr Abends begaben sich Lord Glenarvan und seine Gäste, die gesammte Bemannung vom Heizer bis zum Kapitän, Alle, welche an dieser opferwilligen Reise sich betheiligen sollten, von der Yacht wieder an's Land in die Kathedrale Glasgows, zu St. Mungo. Diese uralte, zur Zeit der Reformation von Zerstörung verschonte Kirche, welche Walter Scott so wundervoll beschrieben hat, nahm die Passagiere und Seeleute des Duncan in ihren massiven Hallen auf. Eine zahllose Volksmenge fand sich ein. Hier im Hauptschiffe, das voll Gräber ist wie ein Kirchhof, flehte der ehrwürdige Morton den Segen des Himmels an, und empfahl die Unternehmung der Obhut der Vorsehung. Einen Augenblick vernahm man auch die Stimme der Mary Grant, welche in der alten Kirche sich zum Gebet erhob. Das Mädchen flehte für seine Wohlthäter und vergoß im Angesicht Gottes innige Thränen der Dankbarkeit. Darauf trennte sich die Versammlung, von tiefer Rührung ergriffen.

Um elf Uhr befand sich wieder ein Jeder an Bord. John Mangles traf mit seinen Leuten die letzten Vorbereitungen.

Um zwölf Uhr wurden die Feuer angezündet; der Kapitän befahl tüchtig zu heizen, und bald sah man schwarze Rauchsäulen emporsteigen, um sich mit dem nächtlichen Nebel zu vermischen. Die Segel des Duncan hatte man in der leinenen Umhüllung, welche sie gegen den Kohlenschmutz verwahren sollten, sorgfältig befestigt, denn der wehende Südwest war der Fahrt nicht förderlich.

Um zwei Uhr fing der Duncan an beim Sieden der Kessel zu zischen; das Manometer zeigte einen Druck von vier Atmosphären; der überflüssige Dampf zischte pfeifend durch die Klappen; die Fluth war auf ihrem Höhestand; man konnte schon im Tageslicht das Fahrwasser des Clyde zwischen den Baken und Biggings 4 erkennen, deren Leuchtfeuer beim Tagesgrauen allmälig erloschen. Alles war zur Abfahrt fertig.

[42] John Mangles meldete es Lord Glenarvan, der sogleich auf's Verdeck kam.

Alsbald wurde die Ebbe merklich; der Duncan pfiff mächtig in die Lüfte, lichtete die Anker und machte sich von den Schiffen der Umgebung los; die Schraubenwinde wurde in Bewegung gesetzt und brachte die Yacht in's Fahrwasser des Flusses. John hatte sich keinen Lootsen genommen, und kein erfahrener Pilot hätte sein Schiff besser geführt. Er gab das Zeichen, und die Yacht setzte sich in Bewegung; schweigend und sicher, die Linke am Steuerruder, gab er mit der Rechten der Maschine seine Befehle. Bald sah man statt der letzten Hüttenwerke die hier und da auf den Hügeln längs des Flusses emporragenden Villen, und das Geräusch der Stadt verlor sich in der Entfernung.



Eine Stunde nachher fuhr der Duncan bei den Felsen von Dumbarton vorüber; zwei Stunden später befand er sich im Golf des Clyde; um sechs Uhr früh umfuhr er das Vorgebirge von Cantyre, verließ den Nord-Canal und segelte auf dem offenen Ocean.

[43]
Fußnoten

1 Chr. Columbus unternahm seine vierte Fahrt mit vier Schiffen. Das größte, die Kapitänscaravelle, worauf Columbus fuhr, hielt siebenzig Tonnen, das kleinste nur fünfzig. Es waren in der That nur Küstenfahrzeuge.

2 So nennt man ein Instrument, das mittels Zeigern auf einem in Grade eingetheilten Kreis die Schnelligkeit des Fahrzeuges angiebt.

3 17 Meilen oder Knoten. Da die Seemeile 1852 Meter enthält, so betragen 17 Meilen 8 franz. Meilen (lieues), von 4 Kilometer.

4 Kleine Steinhügel zur Bezeichnung des Fahrwassers.

6. Capitel.
Sechstes Capitel.
Der Passagier der Cabine Nr. 6.

Während dieses ersten Tages der Fahrt ging die See etwas hohl, und Abends erhob sich ein frischer Wind; der Duncan wurde stark geschüttelt; die Damen erschienen daher auch nicht auf dem Verdeck, sondern blieben in ihren Cabinen gelagert, und thaten wohl daran.

Aber am folgenden Tage drehte sich der Wind ein wenig; der Kapitän John ließ das Focksegel, die Brigantine und das Marssegel aufziehen; so bekam der Duncan mehr Stütze gegen die Wogen und wurde weniger den Schwankungen auf die Seiten oder nach der Länge unterworfen. Lady Helena und Mary Grant konnten schon vom frühen Morgen an auf dem Verdeck erscheinen, um die Gesellschaft Glenarvan's, des Majors und des Kapitäns zu theilen.. Der Sonnenaufgang war prachtvoll. Das Tagesgestirn erhob sich gleich einer von Ruolz vergoldeten Scheibe aus dem Ocean wie aus einem unermeßlichen voltaischen Bad empor. Der Duncan glitt in glänzender Bestrahlung dahin, und man konnte in Wahrheit sagen, daß seine Segel unter'm Beistand der Sonnenstrahlen gespannt wurden.

Die Passagiere der Yacht waren in stille Betrachtung der Erscheinung des strahlenden Gestirns versunken.

»Welch wunderbarer Anblick! sagte endlich Lady Helena. Das giebt einen schönen Tag. Wenn nur der Wind günstig bleibt, um den Lauf des Duncan zu fördern.

– Einen besseren könnte man sich nicht wünschen, liebe Helena, erwiderte Lord Glenarvan, und wir haben uns nicht über diesen Anfang der Reise zu beklagen.

– Wird die Ueberfahrt lange dauern, lieber Edward?

– Die Antwort darauf hat Kapitän John zu geben. Fahren wir gut, John? Sind Sie mit Ihrem Schiff zufrieden?

– Sehr wohl, Ew. Herrlichkeit, erwiderte John; es ist vortrefflich gebaut, und das fühlt ein Seemann gerne unter seinen Füßen. Nirgends findet man Rumpf und Maschine in besserem Verhältniß; auch sehen Sie, wie flach das Kielwasser der Yacht ist, und wie leicht sie über die Wogen gleitet. Wir [44] fahren siebenzehn Meilen die Stunde. Wenn diese Schnelligkeit andauert, so werden wir binnen zehn Tagen die Linie passiren, und vor Ablauf von fünf Wochen werden wir das Cap Horn umfahren haben.

– Sie hören, Mary, fuhr Lady Helena fort, vor Ablauf von fünf Wochen!

– Ja, gnädige Frau, erwiderte das Mädchen, ich habe es gehört, und mein Herz klopfte sehr bei den Worten des Kapitäns.

– Und wie vertragen Sie die Seefahrt, Miß Mary? fragte Lord Glenarvan.

– Ziemlich gut, Mylord, und ohne viel Beschwerden. Uebrigens werde ich mich rasch daran gewöhnen.

– Und unser junger Robert?

– O! Robert, erwiderte John Mangles, steckt der nicht in der Maschine, so hockt er auf einem Mastbaum. Ich glaube, der Junge macht sich lustig über die Seekrankheit. Und sehen Sie! Dort oben?«

Auf eine Handbewegung des Kapitäns wendeten sich alle Blicke nach dem Fockmast, und jeder konnte sehen, wie der Junge an den Toppenanten der Bramstange hing, hundert Fuß in der Luft. Mary fuhr unwillkürlich zusammen.

»O! Beruhigen Sie sich, Miß, sagte John Mangles, ich stehe für ihn, und ich verspreche Ihnen, in Kurzem dem Kapitän Grant ihn als einen famosen Schiffsjungen vorzustellen, und wir werden ihn auffinden, den würdigen Kapitän!

– Der Himmel erhöre Sie, Herr John! erwiderte das Mädchen.

– Mein liebes Kind, fuhr Lord Glenarvan fort, bei alledem ist etwas von göttlicher Fügung, das muß uns Zuversicht geben. Wir bestimmen nicht die Fahrt, man leitet uns. Wir suchen nicht, man führt uns. Und dann, sehen Sie alle diese wackeren Leute, die für eine so schöne Sache in Dienst getreten sind. Wir werden nicht allein den Zweck unserer Unternehmung erreichen, sondern ohne Schwierigkeit sie vollführen. Ich habe Lady Helena eine Vergnügungsreise versprochen, und irre ich nicht sehr, so werd' ich mein Wort halten.

– Edward, sagte Lady Glenarvan, Du bist unter den Männern der trefflichste.

– Durchaus nicht, sondern ich habe die trefflichste Mannschaft auf [45] dem trefflichsten Schiffe. Bewundern Sie nicht unsern Duncan, Miß Mary?

– Gewiß, Mylord, entgegnete das Mädchen, bewundere ich ihn, weil ich mich darauf verstehe.

– Ei! Wirklich!

– Als kleines Kind hab' ich auf den Schiffen meines Vaters gespielt; er hätte einen Seemann aus mir machen sollen, und im Nothfall wäre ich vielleicht nicht in Verlegenheit, wenn ich ein Reef zu binden oder ein Bindseil zu flechten hätte.

– Ei! Miß, was sagen Sie da? rief John Mangles.

– Wenn Sie so sprechen, fuhr Lord Glenarvan fort, so werden Sie bald den Kapitän Mangles zum großen Freund haben, denn er hält auf nichts in der Welt soviel, als auf den Seemannsstand, selbst bei einer Frau! Nicht wahr, John?

– Ganz gewiß, Ew. Herrlichkeit, erwiderte der junge Kapitän, doch gestehe ich zu, daß Miß Grant auf dem Hinterverdeck mehr an ihrem Platz ist, als wenn sie Segel an die Masten zu binden hätte; darum ist mir es aber doch sehr schmeichelhaft, so reden zu hören.

– Und zumal, wenn sie den Duncan bewundert, erwiderte Glenarvan.

– Der es auch wohl verdient, erwiderte John Mangles.

– Wahrhaftig, sagte Lady Helena, weil Sie so stolz auf Ihre Yacht sind, machen Sie mir Lust, sie bis auf den untersten Raum zu besuchen, und zu sehen, wie unsere braven Matrosen im Zwischendeck eingerichtet sind.

– Ganz vortrefflich, erwiderte John; sie sind da wie zu Hause.

– Und sie sind auch in Wahrheit da zu Hause, liebe Helena, sagte Lord Glenarvan. Diese Yacht gehört zu unserm Alt-Caledonien! Sie ist ein abgetrenntes Stück der Grafschaft Dumbarton, das durch besondere Fügung dahin schwimmt, so daß wir unsere Heimat gar nicht verlassen haben! Der Duncan ist das Schloß Malcolm, der Ocean ist der Lomondsee.

– Nun denn, lieber Edward, besehen wir das Schloß, erwiderte Lady Helena.

– Zu Ihrem Befehl, Madame, sagte Glenarvan, aber zuvor muß ich doch mit Olbinett sprechen.«

Der Proviantmeister der Yacht war ein ausgezeichneter Haushofmeister, [46] ein Schotte, der seiner Tüchtigkeit wegen verdiente Franzose zu sein; übrigens wartete er seines Dienstes mit Eifer und Einsicht. Er erschien auf seines Herrn Befehl.

»Olbinett, wir wollen vor dem Frühstück einen Gang machen, sagte Glenarvan, als handelte sich es um einen Spaziergang nach Tarbet oder an den See Katrine; ich hoffe, wir finden bei unserer Rückkehr die Tafel gedeckt.«

Olbinett verbeugte sich mit Würde.

»Begleiten Sie uns, Major; sagte Lady Helena.

– Wenn Sie befehlen, erwiderte Mac Nabbs.

– O! sagte Lord Glenarvan, der Major ist von den Wolken seiner Cigarre umhüllt; denen muß man ihn nicht entreißen; denn, Miß Mary, ich versichere Sie, er ist ein unermüdlicher Raucher. Er raucht selbst im Schlaf.«

Der Major machte ein Zeichen der Zustimmung, und Lord Glenarvan's Gäste begaben sich in's Zwischendeck.

Mac Nabbs blieb also allein und sprach mit sich selbst, hüllte sich, nach seiner Gewohnheit, worin er sich nie widersprach, in noch dichtere Wolken; unbeweglich blickte er rückwärts in das Kielwasser der Yacht.

Nachdem er es einige Minuten stumm angeschaut, wendete er sich um, und sah sich einer unbekannten Person gegenüber. Hätte ihn je etwas in Staunen versetzen können, so wäre der Major über diese unerwartete Erscheinung betroffen geworden, denn es war ein durchaus fremder Passagier.

Dieser große, dürre und magere Mann mochte etwa vierzig Jahre alt sein; er glich einem langen Nagel mit großem Kopf; sein Kopf war in der That breit und stark, mit hoher Stirn, langer Nase, großem Mund. Seine Augen waren durch eine große runde Brille verdeckt, und sein Blick schien die den Tagblinden eigenthümliche Unsicherheit zu haben. Seine Gesichtszüge ließen einen verständig gebildeten, heiteren Mann erkennen; er hatte nicht die unfreundliche Miene jener würdigen Personen, die aus Grundsatz nie lachen, und deren Leerheit sich mit einer ernsten Maske deckt. Gar nichts von dem. Das Gehenlassen, die liebenswürdige Ungezwungenheit dieses Unbekannten gaben klar zu erkennen, daß er Menschen und Dinge von ihrer guten Seite zu nehmen verstand. Aber ohne daß er sprach, merkte man, daß er gerne sprach, und überaus zerstreut war, wie Leute, die nicht sehen, was [47] sie anschauen, und nicht auf das merken, was sie hören.


Der große, dürre, hagere Mann von etwa vierzig Jahren. (S. 47.)

Seine Kopfbedeckung bestand in einer Reisekappe, seine Fußbekleidung in starken, gelben Halbstiefeln und ledernen Gamaschen; er trug kastanienbraune, sammtne Hosen, und von gleichem Stoff eine Jacke, deren zahlreiche Taschen mit Gedenkbüchern, Auszügen, Verzeichnissen, Brieftaschen und tausend so hinderlichen wie unnützen Dingen vollgestopft waren, zu geschweigen ein Fernrohr, das er an einem Bandgehänge über den Schultern trug.



Die Beweglichkeit dieses Unbekannten stach merkwürdig gegen die ruhige [48] Behaglichkeit des Majors ab; er machte sich um Mac Nabbs herum zu schaffen, sah ihn an, fragte ihn mit den Augen, ohne daß es diesen kümmerte, zu wissen, woher er kam, wohin er ging, weshalb er sich an Bord des Duncan befand.

Als dieser räthselhafte Mann seine Bemühungen am Phlegma des Majors scheitern sah, nahm er sein Fernrohr, das, wenn man es völlig auseinanderzog, vier Fuß lang war, und richtete es, unbeweglich, mit gespreizten Beinen, gleich einem Wegweiser an der Landstraße, auf die Linie des Horizonts, wo Himmel und Wasser aneinander grenzen; nachdem er fünf Minuten Untersuchungen angestellt, senkte er seinen Tubus mit dem einen Ende auf den Boden, und stützte sich darauf, als sei es ein Bambusstock; aber alsbald schoben sich die Abtheilungen über einander zusammen, und der neue Passagier, dem plötzlich der Stützpunkt gebrach, wäre beinahe der Länge nach neben dem Hauptmast zu Boden gefallen.

An des Majors Stelle hätte ein Anderer wenigstens gelächelt.

Der Major verzog keine Miene. Der Unbekannte faßte es anders an.

[49] »Stewart«, rief er mit einem Ton, woran der Ausländer zu erkennen war. Er wartete. Niemand erschien.

»Stewart«, rief er abermals, noch lauter.

In dem Augenblicke ging Herr Olbinett vorüber, indem er sich in die Küche begab, die unter dem Vordercastell lag. Er erstaunte höchlich, daß der große Mensch, den er gar nicht kannte, ihn so anrief.

»Wo kommt diese Person her? sprach er bei sich. Unmöglich ist es ein Freund des Lord Glenarvan.«

Doch begab er sich auf's Hinterdeck und trat zu dem Fremden.

»Sie sind der Stewart des Schiffes? fragte dieser.

– Ja, mein Herr, erwiderte Olbinett, aber ich habe nicht die Ehre ...

– Ich bin der Passagier aus der Cabine Nummer 6.

– Nummer 6? wiederholte der Stewart.

– Ja wohl. Und wie heißen Sie? ...

– Olbinett.

– Nun denn, mein Freund Olbinett, erwiderte der Fremde aus der Cabine Nr. 6, ich muß an's Frühstück denken, und zwar lebhaft. Seit sechsunddreißig Stunden hab' ich nicht gegessen, ja nicht einmal geschlafen, was einem Menschen nachzusehen ist, der in einem Zug von Paris nach Glasgow gereist ist. Um wieviel Uhr kann man frühstücken, wenn's beliebt?

– Um neun«, erwiderte Olbinett mechanisch.

Der Fremde wollte auf seine Uhr sehen, aber das kostete geraume Zeit, denn sie fand sich erst in seiner neunten Tasche.

»Gut, sagte er, es ist noch nicht acht. Nun denn, Olbinett, ein Zwieback und ein Glas Sherry, um abzuwarten, denn ich bin erschöpft zum Hinsinken.«

Olbinett hörte, verstand ihn aber nicht; übrigens sprach der Fremde in einem fort und sprang mit größter Gewandtheit von einem Gegenstand auf auf den andern über.

»Ei, wo ist denn der Kapitän? Noch nicht aufgestanden! Und sein Stellvertreter? Schläft er ebenfalls noch? Es ist zum Glück gutes Wetter, der Wind günstig, und das Schiff kann allein fahren ...«

Eben, bei diesen Worten, erschien John Mangles auf der Treppe des Hinterverdecks.

»Hier ist der Kapitän, sagte Olbinett.

[50] – Ah! Freut mich unendlich! rief der Unbekannte, unendlich, Kapitän Burton, Ihre Bekanntschaft zu machen!«

Ward je ein Mensch betroffen, so war's gewiß John Mangles, nicht allein, daß man ihn Kapitän Burton nannte, sondern daß er diesen Fremden an seinem Bord sah.

Der Andere fuhr lebhaft fort:

»Erlauben Sie mir, Ihre Hand zu drücken, und wenn ich's nicht gestern Abend that, geschah's, weil man im Moment der Abfahrt Niemand stören darf. Aber heute, Kapitän, bin ich herzlich froh, mit Ihnen bekannt zu werden.«

John Mangles machte große Augen, indem er bald Olbinett, bald den neuen Ankömmling ansah.

»Nun, fuhr jener fort, bin ich Ihnen vorgestellt, lieber Kapitän, und wir sind gute Freunde. Plaudern wir, und sagen Sie mir, ob Sie mit der Scotia zufrieden sind?

– Was meinen Sie mit der Scotia? sagte endlich John Mangles.

– Ei, die Scotia, auf welcher wir fahren, ist ein gutes Schiff, dessen physische Vorzüge man mir ebenso gerühmt hat, wie die moralischen seines Commandanten, des wackeren Kapitän Burton. Sind Sie vielleicht mit dem großen Afrika-Reisenden dieses Namens verwandt? Ein kühner Mann. Meinen Gruß also!

– Mein Herr, fuhr John Mangles fort, ich bin nicht nur nicht ein Verwandter des Reisenden Burton, sondern auch nicht der Kapitän Burton.

– Ei! sagte der Unbekannte, so hab' ich mich also an dessen Stellvertreter, Herrn Burdneß, gewendet?

– Herr Burdneß?« erwiderte John Mangles, indem er zu ahnen ansing, wie sich die Sache verhielt. Nur stellte er sich die Frage, ob er es mit einem Narren oder einem Tölpel zu thun habe, und er war im Begriff, sich darüber kategorisch auszusprechen, als Lord Glenarvan, seine Gemahlin und Miß Grant auf das Verdeck zurückkamen.

Der Fremde rief, als er sie gewahrte:

»Ei! Passagiere! Passagiere! Vortrefflich. Ich hoffe, Herr Burdneß, Sie werden mich vorstellen.«

Und ohne John Mangles Vermittlung abzuwarten, trat er ganz ungenirt vor und sprach:

[51] »Madame zu Miß Grant, Miß zu Lady Helena, mein Herr zu Lord Glenarvan ...

– Lord Glenarvan, sagte John Mangles.

– Mylord, fuhr der Unbekannte fort, ich bitte um Verzeihung, daß ich mich selbst vorstellte; aber auf der See muß man es wohl mit der Etikette nicht so genau nehmen; ich hoffe, wir werden schnell bekannt werden, und in Gesellschaft dieser Damen wird die Fahrt auf der Scotia uns so kurz, wie angenehm vorkommen.«

Lady Helena und Miß Grant konnten kein Wort zur Antwort finden. Sie verstanden keine Sylbe von dem, was der Eindringling sprach.

»Mein Herr, sagte darauf Lord Glenarvan, mit wem hab' ich die Ehre zu sprechen?

– Mit Jakob Eliacin Franz Maria Paganel, Secretär der geographischen Gesellschaft zu Paris, correspondirendem Mitglied der Gesellschaften zu Berlin, Bombay, Darmstadt, Leipzig, London, Petersburg, Wien, New-York, Ehrenmitglied des königlichen geographischen und ethnographischen Instituts für Ostindien; nachdem ich zwanzig Jahre lang Geographie im Zimmer studirt habe, wollte ich sie im Leben treiben, und bin ich auf dem Weg nach Indien, um daselbst die Arbeiten der großen Reisenden mit einander zu verknüpfen.«

7. Capitel
Siebentes Capitel.
Woher kommt und wohin geht Jakob Paganel.

Der Secretär der geographischen Gesellschaft mußte wohl eine liebenswürdige Person sein, denn dies Alles wurde mit viel Grazie gesprochen. Lord Glenarvan wußte übrigens genau, mit wem er es zu thun hatte; der Name und die Verdienste J. Paganel's waren ihm wohl bekannt; durch seine geographischen Arbeiten, seine in den Zeitschriften der Gesellschaft veröffentlichten Berichte über die neuesten Entdeckungen, seine Correspondenz mit der ganzen Welt, war er einer der ausgezeichnetsten Gelehrten Frankreichs. Darum reichte auch Glenarvan seinem unerwarteten Gast herzlich die Hand.

[52] »Und jetzt, da wir einander vorgestellt sind, fügte er hinzu, gestatten Sie mir, Herr Paganel, eine Frage an Sie zu richten.

– Zwanzig Fragen, Mylord, erwiderte Jakob Paganel; es wird mir stets ein Vergnügen sein, mich mit Ihnen zu unterhalten.

– Vorgestern Abend sind Sie an Bord dieses Schiffes gekommen?

– Ja, Mylord, vorgestern Abend um acht Uhr. Ich bin in einem Cab von der Caledonischen Eisenbahn hergeeilt, und flugs aus dem Cab in die Scotia, wo ich mir zu Paris die Cabine Nr. 6 bestellt hatte. Es war dunkle Nacht, und ich sah Niemand an Bord. Da ich nun von der dreißigstündigen Reise ermüdet war, und gehört hatte, um die Seekrankheit zu vermeiden, sei es gut, bei der Ankunft auf dem Schiffe sogleich zu Bette zu gehen und die ersten Tage der Reise nicht aufzustehen; so begab ich mich augenblicklich zu Bette, und habe sechsunddreißig Stunden gewissenhaft geschlafen, das bitte ich zu glauben.«

Nun wußten Jakob Paganel's Zuhörer, wie er an Bord gekommen war.

Der französische Reisende hatte sich in Hinsicht des Schiffes geirrt, und war, während die Mannschaft des Duncan der Ceremonie zu Sanct-Mungo beiwohnte, an Bord gekommen. Jetzt war Alles klar. Aber was hatte nun der gelehrte Geograph zu sagen, als er den Namen und die Bestimmung des Schiffes erfuhr, dessen Passagier er war?

»Also, Herr Paganel, sagte Glenarvan, Sie haben Calcutta zum Ausgangspunkt Ihrer Reisen bestimmt?

– Ja, Mylord. Indien zu sehen, ist mein Lebtag mein Lieblingsgedanke gewesen; der schönste Traum meines Lebens, der sich endlich in der Heimat der Elephanten verwirklichen soll.

– Dann, Herr Paganel, wäre es Ihnen nicht gleichgiltig, in ein anderes Land zu kommen?

– Nein, Mylord, es wäre mir sogar unangenehm, denn ich habe Empfehlungen an den General-Gouverneur von Indien, Lord Sommerset, und habe einen Auftrag von der geographischen Gesellschaft zu erfüllen.

– Ah! Einen Auftrag haben Sie?

– Ja, eine nützliche und merkwürdige Reise zu versuchen, nach der Vorschrift meines gelehrten Freundes und Collegen, des Herrn Vivian de Saint-Martin. Es handelt sich in der That, dem Beispiel der Brüder Schlagintweit zu folgen, des Obersten Waugh, Web's, Hodgson's, der Missionäre Hug und [53] Gabet, Moorcroft's, Jules Remy's und so mancher anderer berühmter Reisender. Ich will da, wo der Missionär Krick im Jahre 1846 unglücklicherweise scheiterte, zum Ziel kommen, kurz, den Lauf des Yaorn-Dzangbo-Tchou, welcher fünfzehnhundert Kilometer weit am Fuße des nördlichen Himalaya durch Tibet fließt, erforschen, daß man endlich weiß, ob nicht dieser Fluß im Nordosten Assams sich mit dem Brahmaputra vereinigt. Die goldene Medaille, Mylord, ist dem Reisenden zugesagt, dem es gelingt, so eine der wichtigsten geographischen Fragen Indiens zu lösen.«

Paganel strahlte. Er sprach mit prachtvoller Belebtheit. Er ließ sich auf raschen Flügeln der Phantasie davon tragen. Man hätte ihn ebenso wenig einhalten können, als den Rhein bei Schaffhausen.



»Herr J. Paganel, sagte nach einer kleinen Pause Lord Glenarvan, das ist gewiß eine schöne Reise, und die Wissenschaft wird Ihnen dafür sehr dankbar sein; aber ich will Sie nicht länger in Ihrem Irrthum lassen, denn Sie müssen, für den Augenblick wenigstens, auf das Vergnügen, Indien zu sehen, verzichten.

– Verzichten? Und warum?

– Weil Sie der Indischen Halbinsel den Rücken zukehren.

– Wie! Der Kapitän Burton ...

– Ich bin nicht der Kapitän Burton, erwiderte John Mangles.

[54] – Aber die Scotia?

– Dies Fahrzeug ist nicht die Scotia!«



Paganel's Erstaunen ging über alle Beschreibung. Er sah nach einander Lord Glenarvan an, der stets ernst blieb, Lady Helena und Mary Grant, deren Züge betrübte Theilnahme erkennen ließen, John Mangles, der lächelte, und den Major, der keinen Zug änderte; dann hob er die Schultern; rückte seine Brille von der Stirn vor die Augen und rief:

»Welch ein Scherz!«

Aber in dem Augenblick fiel sein Blick auf das Rad des Steuers, worauf die Inschrift: Duncan – Glasgow – stand.

»Der Duncan! der Duncan!« rief er in wahrer Verzweiflung aus. Darauf purzelte er die Treppe hinab und eilte auf seine Cabine zu.

Sowie der unglückliche Gelehrte das Hinterverdeck verlassen hatte, blieb kein Mensch an Bord, den Major ausgenommen, ernst; bis auf die Matrosen lachten Alle. Den Bahnzug verwechseln! Gut! Nach Edinburgh anstatt nach Dumbarton zu reisen, geht noch an! Aber auf ein falsches Schiff gerathen, [55] nach Chili zu segeln, wenn man nach Indien will, das ist doch ein arges Stück von Zerstreuung.

»Uebrigens wundert's mich nicht von Seiten J. Paganel's, sagte Glenarvan; man kennt mehr Beispiele solches Mißgeschicks von ihm. Einmal hat er eine berühmte Karte von Amerika veröffentlicht, worauf sich Japan fand. Darum ist er aber doch ein ausgezeichneter Gelehrter, und einer der besten Geographen Frankreichs.

– Aber was werden wir mit dem armen Herrn anfangen? sagte Lady Helena. Wir können ihn doch nicht nach Patagonien mitnehmen.

– Warum nicht? erwiderte ernst Mac Nabbs; wir sind für seine Zerstreutheiten nicht verantwortlich. Nehmen Sie an, er befinde sich auf der Eisenbahn in einem Zuge, würde man ihn anhalten?

– Nein, aber auf der nächsten Station würde er aussteigen, erwiderte Lady Helena.

– Nun, das kann er thun, sagte Glenarvan, wenn's ihm beliebt, bei unserm ersten Anhalt.«

In dem Augenblick kam Paganel in kläglicher Beschämung wieder auf das Hinterverdeck, nachdem er sich überzeugt hatte, daß sein Gepäck sich an Bord befand. Unaufhörlich wiederholte er die klagenden Worte: der Duncan! der Duncan! Es fand sich kein anderes in seinem Wörterbuch. Er ging hin und her, besah sich die Masten, befragte den stummen Horizont der offenen See. Endlich kam er wieder zu Lord Glenarvan.

»Und dieser Duncan fährt? ...

– Nach Amerika, Herr Paganel.

– Und speciell? ...

– Nach Concepcion.

– Nach Chili! Chili! rief der unglückselige Geograph. Und mein Auftrag ist nach Indien! Was werden dazu sagen die Herren Quatrefages, Präsident der Centralcommission! Herr d'Avezac! Herr Cortambert! Herr de Saint-Martin! Wie kann ich wieder in die Sitzungen der Gesellschaft kommen!

– Sehen wir, Herr Paganel, erwiderte Glenarvan, nur nicht verzweifelt! Es läßt sich Alles machen, daß Sie nur eine verhältnißmäßig unbedeutende Zögerung erfahren. Der Yaron-Dzangbo-Tchou wird in den Bergen Tibets [56] stets auf Sie warten.


Paganel sprach mit köstlicher Belebtheit. (S. 54.)

Wir werden bald zu Madeira anlegen, wo Sie ein Fahrzeug treffen, das Sie wieder nach Europa zurückbringen wird.

– Ich dank' Ihnen, Mylord, ich werde mich wohl darein ergeben müssen. Aber, man muß sagen, das ist doch ein außerordentliches Abenteuer, und nur mir passiren solche Dinge. Und meine Cabine ist an Bord der Scotia genommen!

– Ei, auf die Scotia, rath' ich Ihnen, vorläufig zu verzichten.

– Aber, sagte Paganel, nachdem er von Neuem das Fahrzeug gemustert, der Duncan ist eine Vergnügungs-Yacht?

[57] – Ja, mein Herr, erwiderte John Mangles, und gehört Sr. Herrlichkeit dem Lord Glenarvan.

– Der Sie bittet, von seiner Gastfreundschaft reichlich Gebrauch zu machen, sagte Glenarvan.

– Tausend Dank, Mylord, entgegnete Paganel; ich bin Ihnen für Ihre Höflichkeit herzlich verbunden; aber gestatten Sie mir eine einfache Bemerkung: Indien ist ein schönes Land; bietet den Reisenden wunderbare Ueberraschungen; diesen Damen ist's ohne Zweifel nicht bekannt ... Nun, der Steuermann brauchte nur das Rad herumzudrehen, und der Duncan würde ebenso leicht nach Calcutta fahren, wie nach Concepcion; da er doch nur eine Vergnügungsreise macht ....«

Das Kopfschütteln, womit Paganel's Vorschlag aufgenommen wurde, gestattete ihm nicht, denselben weiter zu entwickeln. Er brach daher plötzlich ab.

»Herr Paganel, sagte darauf Lady Helena, handelte sich's nur um eine Vergnügungsreise, so würde ich Ihnen antworten: Wir wollen zusammen nach Ostindien fahren, und Lord Glenarvan würde seine Zustimmung nicht versagen. Aber der Duncan beabsichtigt, verlassene Schiffbrüchige von der Küste Patagoniens wieder in ihre Heimat zu bringen, und einen solchen Zweck der Menschenliebe kann er nicht aufgeben ...«

In einigen Minuten hatte der französische Reisende Kenntniß von der Lage der Dinge; er vernahm nicht ohne Rührung, wie die Vorsehung es gefügt, daß die Documente gefunden wurden, die Geschichte des Kapitän Grant, den edelmüthigen Vorschlag der Lady Helena.

»Madame, sagte er, gestatten Sie mir, Ihr Verhalten bei alle diesem zu bewundern, rückhaltlos zu bewundern. Ihre Yacht möge ununterbrochen die Fahrt fortsetzen; ich würde mir Vorwürfe machen, sie um einen einzigen Tag aufzuhalten.

– Wollen Sie sich uns zugesellen beim Aufsuchen? fragte Lady Helena.

– Unmöglich, Madame. Ich muß meinen Auftrag erfüllen. Ich werde bei Ihrem ersten Anhaltepunkt aussteigen ...

– Zu Madeira also, sagte John Mangles.

– Zu Madeira, gut. Da bin ich nur hundertachtzig Meilen von Lissabon, und warte da die Mittel zur Ueberfahrt ab.

– Nun, Herr Paganel, sagte Glenarvan, es soll nach Ihrem Wunsch geschehen, und ich meines Theils schätze mich glücklich, Ihnen einige Tage lang [58] auf meinem Schiffe Gastfreundschaft bieten zu können. Lassen Sie sich unsere Gesellschaft nicht langweilig werden!

– O! Mylord, rief der Gelehrte, ich fühle mich glücklich, auf so angenehme Weise mich geirrt zu haben. Demungeachtet ist's eine lächerliche Lage, sich nach Indien einzuschiffen, und nach Amerika zu fahren!«

Trotz dieser traurigen Bemerkung fand sich Paganel in die unvermeidliche Verzögerung. Er zeigte sich liebenswürdig, munter und selbst zerstreut; er bezauberte die Damen durch seine gute Laune; noch vor dem Abend war er Aller Freund. Auf seine Bitte wurde ihm das merkwürdige Document vorgelegt. Er studirte es sorgfältig lange, bis in's Kleinste. Es schien ihm keine andere Auslegung möglich. An Mary Grant und ihrem Bruder nahm er den lebhaftesten Antheil. Er machte ihnen viel Hoffnung. Seine Art, wie er die Ereignisse ansah, und dem Duncan unbestreitbaren Erfolg voraussagte, entlockte dem Mädchen ein Lächeln. Wahrhaftig, hätte er nicht den Auftrag gehabt, er hätte sich mit Eifer der Aufsuchung des Kapitäns angeschlossen!

Als er nun gar hörte, daß Lady Helena eine Tochter William Tuffnel's war, konnte er nicht fertig werden, sie zu bewundern. Er war mit ihrem Vater persönlich bekannt. Was für ein kühner Gelehrter! Sie hatten Briefe gewechselt, als Tuffnel correspondirendes Mitglied der Gesellschaft wurde! Er selbst hatte ihn Herrn Malte-Brun vorgestellt! Welch' eine Fügung, und welches Vergnügen, mit der Tochter William Tuffnel's zu reisen!

Endlich bat er Lady Helena um die Erlaubniß, sie zu umarmen. Lady Helena gestattete es, obschon es vielleicht etwas unpassend war.

8. Capitel
Achtes Capitel.
Ein wackerer Mann mehr an Bord des Duncan.

Unterdessen fuhr die Yacht, vom Nordwind begünstigt, mit reißender Schnelligkeit dem Aequator zu. Am 30. August bekam man die Madeiragruppe [59] in Sicht. Glenarvan bot, seinem Versprechen gemäß, seinem neuen Gast an, zu halten, um ihn aussteigen zu lassen.

»Mein lieber Lord, erwiderte Paganel, ich will bei Ihnen unumwunden reden. Hatten Sie, ehe ich an Bord gekommen, die Absicht, zu Madeira anzulegen?

– Nein, sagte Glenarvan.

– Nun denn, gestatten Sie mir, aus den Folgen meiner unglückseligen Zerstreuung Nutzen zu ziehen. Madeira ist eine allbekannte Insel. Sie bietet einem Geographen nichts Interessantes dar. Man hat über diese Gruppe Alles gesagt und geschrieben; zudem ist sie in Hinsicht des Weinbaues herabgekommen. Denken Sie, es giebt fast keinen Weinbau mehr zu Madeira. Die Weinernte, welche im Jahre 181322,000 Pipen 1 betrug, war im Jahre 1845 auf 2669 herabgesunken; und gegenwärtig beläuft sie sich kaum auf fünfhundert! Das ist eine traurige Erscheinung. Wenn es Ihnen daher gleichviel ist, bei den Canarien anzulegen ...

– So legen wir bei den Canarien an, erwiderte Glenarvan. Sie liegen auf unserer Fahrt.

– Ich weiß es, mein lieber Lord. Da sind, sehen Sie, drei Gruppen zu studiren, ohne vom Pic Teneriffa zu reden, den ich stets zu sehen wünschte. Bei der Gelegenheit kann es geschehen. Während ich ein Schiff abwarte, das mich nach Europa zurück bringt, will ich diesen berühmten Berg besteigen.

– Nach Ihrem Belieben, mein lieber Paganel«, erwiderte Lord Glenarvan, der sich des Lächelns nicht erwehren konnte, und mit Recht. Denn die Canarien sind gar nicht weit von Madeira entfernt, kaum zweihundertundfünfzig Meilen; ein Abstand, der für einen Segler wie der Duncan wenig ausmacht.

Am 31. August, Nachmittags um zwei Uhr, spazierten John Mangles und Paganel auf dem Hinterverdeck. Der Franzose befragte seinen Genossen lebhaft über Chili; plötzlich unterbrach ihn der Kapitän, und zeigte im Süden auf einen Punkt am Horizont.

»Herr Paganel? sprach er.

[60] – Lieber Kapitän, erwiderte der Gelehrte.

– Richten Sie doch Ihre Blicke dorthin. Sehen Sie nichts? ...

– Nichts.

– Sie schauen nicht an die rechte Stelle. Nicht am Horizont ist's, sondern darüber, in den Wolken.

– In den Wolken? Ich mag suchen, wie ich will ...

– Sehen Sie, jetzt, am äußeren Ende des Bugspriet.

– Ich sehe nichts.

– Sie wollen nichts sehen. Wie dem auch sei, und sind wir auch noch vierzig Meilen entfernt, Sie verstehen mich, der Pic von Teneriffa ist über dem Horizont vollkommen sichtbar.«



Mochte Paganel sehen wollen, oder nicht, einige Stunden später mußte er den Augenschein anerkennen, wollte er sich nicht für blind erklären.

»Sie erkennen ihn endlich? sagte John Mangles.

– Ja, ja, vollständig, erwiderte Paganel; und das ist also, fügte er in perächtlichem Ton bei, das ist, was man den Pic von Teneriffa nennt?

– Ja wohl.

– Er scheint nicht sehr hoch zu sein.

– Doch immer ragt er elftausend Fuß über die Meeresfläche.

– Dem Montblanc kommt das nicht gleich.

– Möglich, aber sollten Sie ihn besteigen, würden Sie ihn vielleicht hoch genug finden.

[61] – O, ihn besteigen, lieber Kapitän! Zu welchem Zweck, bitte ich, nach Humboldt und Bonpland? Der Humboldt war doch ein großes Genie! Er hat den Berg bestiegen, und davon eine Beschreibung geliefert, die nichts zu wünschen übrig läßt; er hat auf ihm die fünf Zonen erkannt, die des Weins, des Lorbeers, der Fichten, der Alpengewächse, und endlich die unfruchtbare Zone. Auf die Spitze seines Kegels hat er sogar seinen Fuß gesetzt und hatte da nicht einmal Platz sich niederzusetzen. Von der Spitze des Berges hatte er einen Gesichtskreis so groß wie ein Viertheil von Spanien. Hernach hat er den Vulkan bis in sein Innerstes besucht, ist zur Zeit, da sein Krater erloschen war, bis in den Grund desselben hinabgestiegen. Was soll ich nach einem so großen Manne noch dort thun, frag' ich Sie?

– Wirklich, erwiderte John Mangles, da giebt's nicht einmal eine Nachlese zu halten. Das ist schade, denn Sie würden beim Abwarten eines Schiffes sehr Langeweile spüren. Viele Zerstreuungen darf man zu Teneriffa nicht erwarten.

– Ausgenommen die meinigen, sagte Paganel mit Lachen. Aber, lieber Mangles, giebt es auf den Capverdischen Inseln keinen erheblichen Anlegepunkt?

– Ja wohl. Nichts leichter als zu Villa Praïa zu landen.

– Ohne von einem Vortheil zu reden, der nicht zu unterschätzen ist, versetzte Paganel, nämlich daß diese Inseln nicht weit vom Senegal entfernt sind, wo ich Landsleute finden kann. Man sagt zwar, diese Gruppe sei wenig interessant, wild und ungesund; aber in den Augen des Geographen ist Alles merkwürdig. Man muß zu sehen verstehen. Das verstehen Manche nicht, und reisen dann mit so wenig Verstand, wie ein Schaalthier. Glauben Sie wohl, zu diesen gehöre ich nicht.

– Nach Belieben, Herr Paganel, erwiderte John Mangles; ich bin überzeugt, die Wissenschaft der Geographie wird durch Ihren Aufenthalt auf den Capverdischen Inseln bereichert werden. Wir müssen dort anlegen, um Kohlen einzunehmen. Ihr Aussteigen wird uns daher keine Verzögerung veranlassen.«

Hierauf richtete er den Lauf so, daß man westlich von den Canarien vorüber fuhr; der berühmte Pic wurde links gelassen, und der eiligst weiter segelnde Duncan durchschnitt am 2. September, um fünf Uhr früh, den Wendekreis des Krebses. Darauf änderte sich die Witterung. Es trat die [62] Regenzeit ein mit ihrer schweren, feuchten Luft, eine Zeit, die den Reisenden unangenehm, aber den Bewohnern der afrikanischen Inseln nützlich ist, denn sie haben Mangel an Bäumen, und folglich auch an Wasser. Das sehr unruhige Meer verhinderte die Passagiere, sich auf dem Verdeck aufzuhalten; aber die Unterhaltungen im gemeinschaftlichen Zimmer waren sehr belebt.

Am 3. September bereitete Paganel sein Gepäck zum baldigen Aussteigen vor. Der Duncan fuhr zwischen den Capverdischen Inseln durch, vor der Salzinsel vorüber, die eine wahre Salzgrube, unfruchtbar und öde ist, längs ungeheuern Korallenbänken, ließ die Insel San-Jago quer, welche von Norden nach Süden von einer Kette Basalthügel durchzogen ist, die mit zwei hohen Spitzen endigt. Darauf lief John Mangles in die Bai von Villa Praïa ein, und ankerte bald vor der Stadt bei acht Faden Tiefe. Es war entsetzliche Witterung und der Wellenschlag am Ufer äußerst heftig, obwohl die Bai gegen die Winde von der Seite her geschützt war. Der Regen fiel in Strömen, und gestattete kaum die Stadt zu sehen, welche auf einer terrassenförmigen Ebene lag, die sich an Strebepfeiler vulkanischer, dreihundert Fuß hoher Felsen lehnt. Der Anblick der Insel durch diesen dichten Vorhang von Regen war entsetzlich.

Lady Helena mußte ihr Vorhaben, die Stadt zu sehen, aufgeben; das Einnehmen der Kohlen ging nur mit großen Schwierigkeiten vor sich. Die Passagiere des Duncan waren innerhalb des Hinterverdecks eingeschlossen, während Meer und Himmel ihre Gewässer in unaussprechlicher Verwirrung mischten. Die Witterung war natürlich an Bord der Hauptgegenstand der Unterhaltung. Jeder äußerte seine Meinung mit Ausnahme des Majors, welcher mit vollständiger Gleichgiltigkeit einer allgemeinen Ueberschwemmung zugesehen hätte. Paganel ging mit Kopfschütteln ab und zu.

»Es ist eine ausdrückliche Thatsache, sprach er.

– Ganz gewiß, erwiderte Glenarvan, haben sich die Elemente wider sie verschworen.

– Doch werde ich ihrer Meister werden.

– Einem solchen Regen können Sie nicht Trotz bieten.

– Ich für meine Person, Madame, gewiß. Ich bin nur für mein Gepäck und die Instrumente besorgt. Alles wird zu Grunde gehen.

– Nur das Ausschiffen ist zu fürchten, fuhr Glenarvan fort. Sind Sie einmal zu Villa Praïa, so sind Sie da nicht übel aufgehoben; etwas unreinlich [63] freilich: in Gesellschaft mit Affen und Schweinen, mit denen man nicht immer gern in Berührung kommt. Aber ein Reisender macht sich nicht viel daraus. Uebrigens steht zu hoffen, daß Sie in sieben bis acht Monaten sich nach Europa einschiffen können.


Die Cap Verdi'schen Inseln bei Regenwetter. (S. 63.)

– Sieben bis acht Monate! rief Paganel.

– Zum Mindesten. Zur Regenzeit werden die Capverdischen Inseln nicht stark besucht. Aber Sie können ihre Zeit nützlich hinbringen. Diese [64] Inselgruppe ist noch wenig bekannt; in Topographie, Klimatologie, Ethnographie, Hypsometrie ist da noch viel zu thun.

– Da können Sie Flüsse erforschen, sagte Lady Helena.

– Es giebt da keine, Madame, erwiderte Paganel.

– Nun dann, Bäche?

– Die giebt's auch nicht.

– Den Lauf der Gewässer also?

– Ebensowenig.

– Gut, sagte der Major, so machen Sie sich an die Wälder.

– Um Wälder zu haben, bedarf's der Bäume, aber Bäume giebt's da nicht.

– Ein hübsches Land, versetzte der Major.



– Trösten Sie sich, lieber Paganel, sagte darauf Glenarvan; Sie werden wenigstens Berge haben.

– O, die sind nicht hoch und wenig interessant, Mylord. Und übrigens ist darin nichts mehr zu thun.

– Nichts zu thun! sagte Glenarvan.

– Nein, und so geht's mir aber stets. Auf den Canarien hatte ich Humboldt's Arbeiten mir zuvor; hier ist mir ein Geologe Charles Sainte-Claire Déville zuvorgekommen!

– Nicht möglich!

– Ganz gewiß, erwiderte Paganel mit klagendem Ton. Dieser Gelehrte befand sich an Bord der Staatscorvette La Decidée; während sie bei den Capverdischen Inseln sich aufhielt, hat er den interessantesten Gipfel der Gruppe besucht, den Vulkan der Insel Fogo. Was soll ich nach ihm noch machen?

[65] – Das ist in der That sehr zu bedauern, erwiderte Lady Helena. Was wird dann aus Ihnen werden, Herr Paganel?«

Paganel schwieg eine kleine Weile.

»Ganz gewiß, fuhr Glenarvan fort, hätten Sie besser gethan, auf Madeira zu landen, obschon es da keinen Wein mehr giebt!«

Abermalige Pause des gelehrten Secretärs der Geographischen Gesellschaft.

»Ich würde es abwarten, sagte der Major, gerade als sagte er: Ich würde es nicht abwarten.

– Lieber Glenarvan, fuhr dann Paganel fort, wo denken Sie hernach anzulegen?

– O, nicht eher als zu Concepcion.

– Teufel, das bringt mich weit von Indien weg.

– Im Gegentheil, so wie Sie Cap Horn hinter sich haben, kommen Sie ihm immer näher.

– Ich vermuthe wohl.

– Uebrigens, fuhr Glenarvan mit dem größten Ernst fort, will man nach Indien, so liegt am Ende wenig daran, ob es Ost- oder West-Indien ist.

– Wie so?

– Ohne in Anschlag zu bringen, daß die Bewohner der Pampas in Patagonien ebenso wohl Indier sind, als die Eingeborenen des Pendjab.

– Ei, der Tausend, Mylord, rief Paganel, das ist ein Grund, der mir nie in den Sinn gekommen wäre!

– Und dann, lieber Paganel, man kann überall die goldene Medaille sich verdienen; überall ist noch etwas zu thun, zu forschen, zu entdecken, in den Cordilleren, wie in den Gebirgen Tibets.

– Aber der Lauf des Yaron-Dzangbo-Tchou?

– Gut! Den tauschen Sie mit dem Rio Colorado! Dieser Fluß ist noch wenig gekannt, und auf den Karten fließt er etwas nach der Phantasie der Geographen.

– Ich weiß es, lieber Lord, es giebt da manche erhebliche Irrthümer. O! ich zweifle nicht, daß auf mein Ersuchen die Geographische Gesellschaft mich ebenso wohl nach Patagonien, als nach Indien geschickt haben würde. Aber ich hab' nicht daran gedacht.

[66] – Weil Sie stets zerstreut sind.

– Sehen Sie, Herr Paganel, mögen Sie uns nicht begleiten? sagte Lady Helena mit ihrem herzgewinnenden Ton.

– Madame, und mein Auftrag?

– Ich sage Ihnen, daß wir durch die Magelhaen'sche Straße fahren werden, fuhr Glenarvan fort.

– Mylord, Sie bringen mich in Versuchung.

– Ich füge bei, daß wir Port Famine besuchen werden!

– Port Famine, rief der Franzose, dieser in den Annalen der Geographie so berühmte Hafen!

– Bedenken Sie auch, Herr Paganel, fuhr Lady Helena fort, daß Sie bei dieser Unternehmung berechtigt wären, den Namen Frankreichs dem Schottlands zuzugesellen!

– Ja, ohne Zweifel!

– Ein Geograph kann unserer Unternehmung nützen, und was giebt's Schöneres, als die Wissenschaft der Humanität zu Gebot zu stellen?

– Das war ein schöner Gedanke, Madame.

– Glauben Sie mir. Lassen Sie den Zufall walten, oder vielmehr die Vorsehung. Folgen Sie unserem Beispiel. Sie hat uns jenes Document zugesendet, und wir sind abgereist. Sie hat Sie an Bord des Duncan sich verirren lassen, nun verlassen Sie ihn nicht.

– Soll ich's Ihnen sagen, meine wackeren Freunde? fuhr dann Paganel fort, es wird Ihnen lieb sein, wenn ich bleibe!

– Und Sie, Paganel, erwiderte Glenarvan, haben große Lust zu bleiben.

– Das weiß Gott! rief der gelehrte Geograph, aber ich besorgte unbescheiden zu sein.«

[67]
Fußnoten

1 Ein Faß von 416,37 Liter.

9. Capitel
Neuntes Capitel.
Die Magelhaen'sche Meerenge.

Es herrschte allgemeine Freude an Bord, als man Paganel's Entschluß vernahm. Der junge Robert fiel ihm mit den lebhaftesten Aeußerungen um den Hals. Der würdige Secretär wäre beinahe zu Boden gefallen.



»Ein derber Junge, sagte er, ich will ihn Geographie lehren.«

Da nun John Mangles es übernommen hatte, ihn zum Seemann zu machen, Glenarvan zu einem Manne von Herz, der Major ihn Kaltblütigkeit lehrte, Lady Helena Güte und Edelmuth, Mary Grant Dankbarkeit gegen solche Lehrer, so war es klar, daß Robert dereinst ein vollendeter Gentleman werden mußte.

Der Duncan nahm rasch seine Ladung Kohlen ein, verließ dann diese traurigen Gegenden, gewann die Strömung nach der brasilianischen Küste, und gelangte am 7. September mit der Gunst eines Nordwindes über den Aequator in die südliche Hemisphäre.

[68] Die Ueberfahrt geschah also ohne Schwierigkeit. Jeder hegte die beste Hoffnung. Bei dieser Fahrt zur Aufsuchung des Kapitän Grant schien die Wahrscheinlichkeit täglich zu steigen. Einer der zuversichtlichsten an Bord war der Kapitän. Dieses Vertrauen gründete sich hauptsächlich auf den Wunsch, der ihn beseelte, Miß Mary glücklich und getröstet zu sehen. Er fühlte ganz besondere Theilnahme an diesem Mädchen, und er verbarg dieses Gefühl so wohl, daß, Mary Grant und ihn ausgenommen, ein Jeder an Bord des Duncan es bemerkte.

Der gelehrte Geograph war vielleicht der glücklichste Mensch auf der südlichen Erdhälfte; er brachte seine Tage hin, die Karten zu studiren, womit er den Tisch des Versammlungszimmers bedeckte, so daß es täglich mit Olbinett Zwist gab, weil er den Tisch nicht decken konnte. Aber Paganel hatte alle Gäste auf seiner Seite, den Major ausgenommen, der für Geographie wenig Interesse hatte, zumal zur Essenszeit.

Dazu noch hatte er im Koffer des Unterbefehlshabers eine Anzahl vereinzelter Bücher entdeckt, worunter sich auch spanische befanden. Paganel entschloß sich daher, die Sprache des Cervantes zu lernen, welche Niemand an Bord verstand. Das mußte seinen Untersuchungen im Uferland von Chili förderlich sein. Da er viel Sprachverständniß hatte, so zweifelte er nicht, daß er bei der Ankunft zu Concepcion geläufig werde sprechen können. Daher studirte er mit ausdauerndem Eifer, und man hörte ihn beständig fremdartige Sylben murmeln.

Während dieser Mußestudien unterließ er nicht, dem jungen Robert praktische Belehrung zu ertheilen, und unterwies ihn in der Geschichte dieser Gegenden, welchen der Duncan so schnell zufuhr.

Man befand sich am 10. September unter 5°37' Breite und 31°15' Länge, als Glenarvan Kenntniß von etwas bekam, was vielleicht die Gelehrtesten nicht wissen. Paganel erzählte die Geschichte Amerikas, und ging dabei bis auf Christoph Columbus zurück; zuletzt sagte er, der berühmte Genuese sei gestorben, ohne zu wissen, daß er eine neue Welt entdeckt habe.

Alle Zuhörer schrieen auf. Paganel blieb bei seiner Behauptung.

»Es ist so gewiß, als irgend Etwas, fuhr er fort. Ich will des Columbus Ruhm nicht herabsetzen, aber die Thatsache ist ausgemacht. Am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts waren die Geister nur auf das eine Ziel gespannt: den Verkehr mit Asien zu erleichtern, und durch die Westfahrten den Orient [69] zu suchen, mit einem Wort, den kürzesten Weg in's ›Land der Gewürze‹. Nach diesem Ziel trachtete Columbus. Auf seinen vier Reisen berührte er Amerika an den Küsten von Cumana, Honduras, Moskitos, Nicaragua, Veragua, Costa-Rica, Panama, welche er für Theile von China und Japan nahm, und er starb, ohne von der Existenz des großen Continents Kenntniß zu haben, auf den er nicht einmal seinen Namen vererben sollte!

– Ich will's Ihnen glauben, lieber Paganel, erwiderte Glenarvan, doch erlauben Sie mir, daß ich überrascht bin und Sie frage, welche Seefahrer haben das Richtige in Hinsicht der Entdeckungen des Columbus erkannt?

– Seine Nachfolger, Ojeda, der ihn schon auf seinen Fahrten begleitet hatte, so wie Vincent Pinzon, Vespuelo, Mendoza, Bastidas, Cabral, Solis, Balboa. Diese Seefahrer befuhren die Ostküsten Amerikas; sie bestimmten ihre Grenzen, indem sie weiter nach Süden drangen, von derselben Strömung getragen, welche jetzt, nach dreihundertundsechzig Jahren, uns fortreißt! Sehen Sie, meine Freunde, wir haben jetzt den Aequator an derselben Stelle durchschnitten, wo Pinzon im letzten Jahre des fünfzehnten Jahrhunderts ihn durchschnitt, und wir nähern uns dem achten Grad südlicher Breite, unter welchem er an Brasilien landete. Ein Jahr hernach gelangte Cabral bis zum Hafen Seguro. Darauf kam Vespuelo bei seiner dritten Fahrt, im Jahre 1502, noch weiter nach Süden. 1508 traten Vincent Pinzon und Solis in Verbindung, zur gemeinsamen Erforschung der Gestade Amerikas, und im Jahre 1514 entdeckte Solis die Mündung des Rio de la Plata, wo er von den Eingeborenen aufgefressen wurde, und mußte Magelhaen den Ruhm zukommen lassen, die Grenzen des Festlands zu finden. Dieser große Seefahrer fuhr im Jahre 1519 mit fünf Fahrzeugen ab, den Küsten Patagoniens entlang, entdeckte den Hafen Désiré, den Hafen San-Julian, wo er sich lange Zeit aufhielt, fand unter'm zweiundfünfzigsten Breitegrad die Enge der elftausend Jungfrauen, welche hernach seinen Namen bekam, und gelangte am 28. November in den Stillen Ocean. Ach, wie mußte er sich freuen, wie schlug ihm das Herz, als er am Horizont ein neues Meer im Sonnenschein funkeln sah!

– Ja, Herr Paganel, rief Robert Grant, begeistert von den Worten des Geographen, ich hätte dabei sein mögen!

– Ich auch, lieber Junge, und ich hätte die Gelegenheit nicht versäumt, wenn mich der Himmel hätte drei Jahrhunderte früher leben lassen!

[70] – Das wäre für uns sehr zu bedauern, Herr Paganel, erwiderte Lady Helena, denn da könnten Sie uns hier die Geschichte nicht erzählen.

– Das hätte dann ein Anderer statt meiner gethan, Madame, und hätte hinzugefügt, daß man die Entdeckung der Westküsten den Brüdern Pizarro verdankt. Diese kühnen Abenteurer waren große Städtegründer. Cusco, Quito, Lima, Santiago, Villarica, Valparaiso und Concepcion, wohin wir jetzt fahren, sind von ihnen angelegt worden. Zu dieser Zeit schlossen sich Pizarro's Entdeckungen an die Magelhaen's an, und die amerikanischen Küsten erschienen zur großen Befriedigung der Gelehrten der alten Welt auf den Landkarten.

– Ei, ich, sagte Robert, wäre damit noch nicht befriedigt gewesen.

– Warum denn? erwiderte Mary, und sah ihren Bruder an, der an der Geschichte dieser Entdeckungen eine leidenschaftliche Freude hatte.

– Ja, lieber Junge, warum? fragte Lord Glenarvan mit aufmunterndem Lächeln.

– Weil ich hätte wissen mögen, was für Land noch über der Magelhaen'schen Straße hinaus lag.

– Bravo, mein Freund, entgegnete Paganel, ich hätte auch wissen mögen, ob sich das feste Land bis zum Pol erstrecke, oder ob da ein freies Meer sei, wie Drake, Ihr Landsmann, Mylord, vermuthete. Es ist also ausgemacht, daß, wenn Robert Grant und Jakob Paganel im sechzehnten Jahrhundert gelebt hätten, sie mit Schouten und Lemaire zu Schiffe gegangen wären, zwei Holländern, welche dieses geographische Räthsel zu lösen beflissen waren.

– Waren es Gelehrte, fragte Lady Helena.

– Nein, aber kühne Kaufleute, welchen an wissenschaftlichen Entdeckungen sehr wenig lag. Es bestand damals eine holländisch-ostindische Handelsgesellschaft, welche den ganzen Handel, der durch die Magelhaen'sche Straße getrieben wurde, unbedingt beherrschte. Da nun damals noch kein anderer Weg bekannt war, um auf einer Ostfahrt nach Indien zu kommen, so lag in jenem Vorrecht ein wahrer Alleinhandel. Daher entschlossen sich einige Kaufleute, durch Entdeckung einer anderen Straße jenes Monopol zu bekämpfen; unter ihnen befand sich ein gewisser Isaak Lemaire, ein einsichtsvoller und unterrichteter Mann. Er bestritt die Kosten einer Fahrt, welche von seinem Neffen, Jakob Lemaire, und Schouten, einem trefflichen Seemann aus Horn, unternommen wurde. Diese kühnen Seefahrer fuhren im Juni 1615 ab, [71] beinahe hundert Jahre nach Magelhaen, und entdeckten die Straße Lemaire, zwischen dem Feuerland und Staatenland, und am 12. Februar 1616 fuhren sie um das berühmte Cap Horn, welches mit mehr Recht, als das Cap der guten Hoffnung den Namen ›Vorgebirge der Stürme‹ verdiente!

– Ja gewiß, wär' ich nur dabei gewesen! rief Robert aus.

– Und Du hättest da lebhafte Befriedigung gefunden, lieber Junge, fuhr Paganel mit Eifer fort. Es giebt in der That keine echtere Freude, als die Befriedigung des Seefahrers, der seine Entdeckungen auf die Karte zeichnet. Er sieht unter seinen Augen die Länder, Insel bei Insel, Vorgebirg bei Vorgebirg, allmälig Gestalt gewinnen und sozusagen aus den Wogen auftauchen. Anfangs sind die umgrenzenden Linien unbestimmt, stückweise und unterbrochen, hier ein vereinzeltes Cap, dort eine abgetrennte Bucht, weiter ein Golf, der sich hinauszieht. Hernach ergänzen sich die Entdeckungen, die Linien rücken zusammen, die Pünktchen werden zu Strichen; die Baien weiten sich aus zu Gestaden, die Caps stützen sich auf ein bestimmtes Uferland; endlich entfaltet sich das neue Festland mit seinen Seen, Strömen und Flüssen, seinen Gebirgen, Thälern und Ebenen, seinen Dörfern, Flecken und Städten auf der Erdkugel in seinem vollen Glanze! Ach, meine Freunde, ein Landentdecker ist ein wahrer Erfinder! Es giebt da freudige Ueberraschungen! Aber gegenwärtig ist diese Fundgrube fast ausgebeutet! Man hat Alles, was es von Festland und neuen Welten giebt, gesehen, untersucht, ergründet, und es bleibt uns, die wir zuletzt kommen, in der Geographie nichts mehr zu thun übrig!

– Und doch, lieber Paganel, erwiderte Glenarvan.

– Was denn?

– Das, was wir jetzt vorhaben!«

Unterdessen segelte der Duncan auf dieser Straße des Vespuelo und Magelhaen mit wunderbarer Schnelligkeit weiter. Am 15. September durchschnitt er den Wendekreis des Steinbocks, und sein Vordertheil ward schon der Einfahrt in die berühmte Meerenge zugekehrt. Mitunter wurden schon die flachen Küsten Patagoniens sichtbar, aber als ein am Horizont kaum sichtbarer Streifen; man fuhr über zehn Meilen davon entfernt hin, und Paganel's Fernrohr gab ihm nur einen unbestimmten Begriff von diesen amerikanischen Gestaden.

Am 25. September befand sich der Duncan auf der Höhe der Magelhaen'schen [72] Straße, und fuhr ohne Zaudern in dieselbe ein. Die Dampfschiffe, welche sich in den Stillen Ocean begeben, ziehen im Allgemeinen diesen Weg vor. Seine Länge beträgt genau nur 525 Kilometer; die Fahrzeuge vom stärksten Tonnengehalt finden da stets tiefes Wasser, selbst dicht an seinen Ufern, vortrefflichen Ankergrund, zahlreiche Wasserplätze, fischreiche Flüsse, Wälder voll Wild, an zwanzig Stellen sichere und leicht zugängliche Landeplätze, kurz, unzählige Hilfsmittel, welche der Straße Lemaire und dem fürchterlichen Felsen des Cap Horn abgehen, die von Orkanen und Stürmen beständig heimgesucht werden.


Der Duncan in der Magelhaen-Straße. (S. 74.)

[73] Während der ersten Stunden der Fahrt, d.h. in einer Länge von sechzig bis achtzig Meilen, bis zum Cap Gregory, sind die Küsten niedrig und sandig. Jakob Paganel wollte keine Ansicht, keinen Punkt der Enge verlieren. Die Durchfahrt dauerte kaum sechsunddreißig Stunden, und dies bewegliche Panorama beider Ufer verlohnte wohl der Mühe, sich den Strahlen der Südsonne auszusetzen, um es zu bewundern. An der nördlichen Küste zeigte sich kein Bewohner, und an den dürren Felsen der Feuerlande schweiften nur einige kümmerliche Gestalten.

Paganel mußte daher darauf verzichten, Patagonier zu sehen, worüber er zum Ergötzen seiner Reisegefährten ärgerlich war.

»Ein Patagonien ohne Patagonier, sagte er, ist kein Patagonien mehr.

– Geduld, mein würdiger Geograph, erwiderte Glenarvan, wir werden noch Patagonier zu sehen bekommen.

– Ich bin dessen nicht gewiß.

– Aber es giebt doch welche, sagte Lady Helena.

– Ich zweifle stark daran, weil, ich keine sehe.

– Kurz, der Name Patagonier, was im Spanischen ›Großsüße‹ bedeutet, ist doch nicht eingebildeten Wesen gegeben worden.

– O! Der Name macht nichts aus, erwiderte Paganel, der, um das Gespräch zu beleben, auf seinem Satz beharrte, und übrigens, die Wahrheit zu sagen, man weiß gar nicht, wie sie heißen!

– Das wäre! rief Glenarvan. Wußten Sie das, Major?

– Nein, entgegnete Mac Nabbs, und ich gebe auch nicht ein schottisch Pfund darum, es zu wissen.

– Doch sollen Sie es erfahren, gleichgiltiger Major, fuhr Paganel fort. Während Magelhaen die Eingeborenen dieser Gegenden Patagonier benannte, hießen sie bei den Feuerländern Tiremenen, bei den Chilesen Caucathues, bei den Auracanen Huiliches; Bougainville nannte sie Chaouha, Falkner Tehuelhets! Sie selbst gaben sich die allgemeine Benennung Inaken! Ich frage, wie soll man sich dabei auskennen, und kann man von einem Volk von so vielen Benennungen sagen, daß es existirt?

– Das ist ein rechter Grund! erwiderte Lady Helena.

– Räumen wir es ein, fuhr Glenarvan fort; aber unser Freund Paganel wird doch zugeben, denk ich, daß, wenn auch der Name Patagonier nicht fest steht, wenigstens über ihren hohen Wuchs kein Zweifel ist!

[74] – Etwas so Absonderliches gebe ich nicht zu, entgegnete Paganel.

– Sie sind groß, sagte Glenarvan.

– Das weiß ich nicht.

– Klein? fragte Lady Helena.

– Das kann Niemand behaupten.

– Also mittelmäßig? sagte Mac Nabbs, um zu vereinbaren.

– Ich weiß es ebensowenig.

– Das ist ein wenig stark, rief Glenarvan; die Reisenden, welche sie sahen ...

– Die Reisenden, welche sie gesehen haben, erwiderte der Geograph, stimmen keineswegs mit einander überein. Magelhaen sagte, sein Kopf reiche kaum an ihren Gürtel!

– Nun denn!

– Ja, aber Drake behauptet, die Engländer seien größer, als der größte Patagonier!

– Ja! Die Engländer; möglich, erwiderte verächtlich der Major; aber wenn von Schotten die Rede wäre.

– Cavendish versichert, sie seien groß und stark, fuhr Paganel fort. Hawkings macht sie zu Riesen. Lemaire und Schouten geben ihnen elf Fuß Höhe.

– Gut, das sind ja glaubwürdige Leute, sagte Glenarvan.

– Ja, ganz ebenso glaubwürdig, wie Wood, Narborough und Falkner, welche sie von mittlerer Größe fanden. Zwar behaupten Byron, La Giraudais, Bougainville, Wallis und Carteret, die Patagonier mäßen sechs Fuß und sechs Zoll, dagegen d'Orbigny, der am genauesten diese Gegenden kennt, legt ihnen eine Größe von durchschnittlich fünf Fuß und vier Zoll bei.

– Aber, sagte Lady Helena, was ist denn bei so viel Widersprüchen das Richtige?

– Das Richtige, Madame, erwiderte Paganel, will ich Ihnen sagen, besteht darin: die Patagonier haben kurze Beine, aber einen großen Rumpf. Darum kann man sagen, diese Leute sind sechs Fuß groß, wenn sie sitzen, aber nur fünf, wenn sie stehen.

– Bravo, lieber Gelehrter! erwiderte Glenarvan. Vortrefflich gesagt!

– Es sei denn, fuhr Paganel fort, daß sie gar nicht existiren, dann würde auch die Streitfrage aufhören. Aber schließlich, meine Freunde, will ich noch zum Trost beifügen: die Magelhaen'sche Straße ist prachtvoll, auch ohne Patagonier!«

[75] In diesem Augenblick fuhr der Duncan um die Halbinsel Braunschweig zwischen zwei prachtvollen Panoramen. Siebenzig Meilen hinter dem Cap Gregory ließ er rechts das Kloster Punta Arena; man sah einen Augenblick zwischen den Bäumen die Flagge Chili's und den Kirchthurm. Dann zieht sich die Enge zwischen imponirenden Granitmassen hin; die Gebirge hatten ihren Fuß in ungeheurer Waldung und ihr mit ewigem Schnee bedecktes Haupt in den Wolken geborgen; südwestlich erhob sich der Tarn 6500 Fuß hoch in die Lüfte; auf lange Dämmerung folgte Nacht; das Licht zerfloß allmälig in sanften Nuancen; der Himmel ward mit glänzenden Sternen besäet, und das Kreuz im Süden bezeichnete dem Blick der Seefahrer die Richtung des Südpols.



Inmitten dieses erleuchteten Dunkels, bei dem hellen Schein dieser Gestirne, welche die Leuchtthürme civilisirter Küsten vertreten können, fuhr die Yacht kühn weiter, ohne in den leicht zugänglichen Baien des Ufers Anker zu werfen; oft streiften die Raaen an den Zweigen südländischer Buchen, welche auf die Wogen herabhingen; oft auch scheuchte der Wellenschlag ihrer Schraube an der Mündung großer Flüsse die Gänse, Enten, Schnepfen, Kriechenten und die ganze befiederte Welt der Sumpfgegend auf. Bald zeigten sich Ruinen und einige Trümmer, die in der Nacht einen großartigen Anblick darboten, traurige Reste einer aufgegebenen Colonie, deren Name ewig gegen die Fruchtbarkeit dieser Küsten und den Reichthum an Gewild in dieser Waldung protestiren wird. Der Duncan fuhr bei Port-Famine vorüber.

An diesen Ort kam im Jahre 1581 der Spanier Sarmiento mit vierhundert [76] Flüchtlingen, um sich anzusiedeln. Er gründete daselbst die Stadt Sanct Philipp; äußerst strenge Kälte raffte einen großen Theil der Colonisten weg, der Hunger rieb auf, was die Kälte verschont hatte, und im Jahre 1587 fand der Corsar Cavendish den letzten der vierhundert Unglücklichen, der auf den Ruinen einer sechshundertjährigen Stadt nach sechsjährigem Bestehen den Hungertod starb.

An diesem verlassenen Gestade segelte nun der Duncan vorüber; bei Tagesanbruch fuhr er durch enge Pässe zwischen Buchen-, Eschen- und Birken-Wäldern, aus deren Schooße grüne Dome sich hervorhoben, mit lebhaftem Stechpalmengrün bewachsene Hügel, und steil zugespitzte Gipfel, worunter der Obelisk von Buckland am höchsten emporragte; dann bei der Mündung der Bai Sanct Nikolas vorüber, die von Bougainville so benannt wurde; in der Ferne ergötzten sich Heerden von Robben und ungeheuern Wallfischen, wie man aus ihren vier Meilen weit sichtbaren Wasserstrahlen abnehmen konnte. Endlich umfuhr er das Cap Froward, welches noch vom letzten Wintereis bedeckt war. Auf der andern Seite der Enge erhob sich der 6000 Fuß hohe Sarmiento, ein ungeheurer Haufen vereinzelter Felsen zwischen Wolkenstreifen, so daß der Himmel einem Archipel in der Luft gleich aussah.

Am Cap Froward endigt eigentlich das Festland Amerikas, denn Cap Horn ist nur ein in's Meer verlaufender Felsen unter'm sechsundfünfzigsten Breitegrade.

Ueber diesen Punkt hinaus zieht sich die Enge zusammen zwischen der Halbinsel Braunschweig und dem Land der Trostlosigkeit, einer langen Insel zwischen unzähligen Inselchen gleich einem ungeheuern Wallfisch, der mitten im Strandgestein scheiterte. Wie verschieden ist dieses ausgezackte Ende Amerikas von den freien und klaren Spitzen Afrikas, Australiens oder Ostindiens! Welche unbekannte Fluth hat dies ungeheure Vorgebirge so zersplittert zwischen die beiden Oceane geschleudert?

An diese fruchtbaren Gestade schließt sich eine Reihe öder Küstenstrecken von wildem Aussehen, die sich in tausend Windungen labyrinthartig ausschweifen. Der Duncan folgte unbehindert und ohne Anstoß den launenhaften Krümmungen, indem er seine Rauchwirbel mit dem von Felsen durchbrochenen Nebel mischte. Er kam, ohne langsamer zu fahren, vor einigen Factoreien vorüber, welche die Spanier an diesen verlassenen Gestaden errichtet haben. Am Cap Tamar wird die Straße wieder weiter, die Yacht konnte [77] Raum gewinnen, um die steile Küste der Narborough Inseln zu umfahren, und hielt sich in der Nähe des südlichen Gestades. Endlich, sechsunddreißig Stunden nach der Einfahrt in die Straße, sah sie den Felsen des Cap Pilares an der äußersten Spitze des Landes der Trostlosigkeit emporragen. Ein unermeßliches offenes Meer breitete sich funkelnd vor ihm aus, und Jakob Paganel, der es mit einer begeisterten Handbewegung begrüßte, empfand eine Gemüthsbewegung, wie einst Fernan Magelhaen selbst, als die Seeluft des Stillen Oceans dem Trinidad, auf welchem Magelhaen sich befand, entgegenwehte.

10. Capitel
Zehntes Capitel.
Der siebenunddreißigste Breitegrad.

Acht Tage nach der Umschiffung des Cap Pilares fuhr der Duncan mit voller Dampfkraft in die Bai Talcahuano, eine prächtige Untiefe, zwölf Meilen lang und neun breit. Das Wetter war zum Bewundern. Vom November bis zum März ist in diesem Lande der Himmel völlig wolkenlos, und es herrscht unveränderlich Südwind längs dieser von der Andenkette geschützten Küsten. John Mangles war auf Edward Glenarvan's Befehl dicht an dem Chiloe-Archipel und den unzähligen Trümmern dieses amerikanischen Festlandes hingefahren. Irgend ein verlorenes Trümmerstück, ein von Menschenhand bearbeitetes Brett konnte den Duncan auf die Spur der Schiffbrüchigen leiten; aber man konnte nichts gewahren, die Yacht fuhr weiter und ankerte in dem Hafen Talcahuano, zweiundvierzig Tage, nachdem sie die nebeligen Gewässer des Clyde verlassen hatte.

Glenarvan ließ sogleich sein Boot in's Meer bringen und sich in Begleitung Paganel's neben der Umpfählung an's Land setzen. Der gelehrte Geograph wollte die Gelegenheit benutzen, sein so ernstlich studirtes Spanisch anzuwenden; aber zu seinem großen Erstaunen verstand man ihm kein Wort.

»Der Accent geht mir ab, sagte er.

– Gehen wir zur Zollstätte«, erwiderte Glenarvan.



[78] Hier erfuhr er, mit Hilfe einiger englischen Worte, die er mit verständlichen Bewegungen begleitete, daß der britannische Consul zu Concepcion, nur eine Stunde entfernt, wohnte. Glenarvan bekam leicht zwei rasch laufende Pferde, und nicht lange, so fuhr er mit Paganel in die Mauern dieser großen Stadt ein, die dem unternehmenden Geiste Valdivia's, des tapferen Genossen Pizarro's, ihren Ursprung verdankt.

Wie war sie von ihrem früheren Glanz herabgesunken! Ost von den Eingeborenen geplündert, im Jahre 1819 in Brand gesteckt, verödet, voll Trümmer, ihre Mauern noch von den verheerenden Flammen geschwärzt, bereits von Talcahuano in Schatten gestellt, zählte sie kaum noch achttausend Seelen. Unter den trägen Füßen ihrer Bewohner verwandelten sich die Straßen in Wiesen. Kein Handel, keine Thätigkeit, Geschäfte unmöglich. Von jedem Balcon hörte man die Mandoline; schmachtende Gesänge durch die Jalousieen der Fenster; die alte Männerstadt war ein Dorf von Frauen und Kindern geworden.

Glenarvan zeigte wenig Verlangen, nach den Ursachen dieses Verfalls zu [79] forschen, obwohl Jakob Paganel es an seiner Stelle that; er begab sich zu J. R. Bentock, Esq., Ihrer britischen Majestät Consul:

Dieser Mann empfing ihn sehr freundlich, und übernahm es, als er die Geschichte des Kapitän Grant vernommen, an dem ganzen Küstenlande Nachforschungen anzustellen.

Die Frage, ob der Dreimaster Britannia unter dem 37. Breitegrad an der Küste von Chili oder Araucanien gescheitert sei, entschied sich verneinend. Ueber ein Ereigniß der Art war weder an den Consul, noch an einen seiner Collegen anderer Nationen ein Bericht gelangt. Glenarvan ließ sich nicht entmuthigen. Er begab sich wieder nach Talcahuano und sparte weder Mühe, noch Sorge, noch Geld, schickte Agenten an die Küsten. Vergeblich. Die genauesten, bei den Uferbewohnern angestellten Untersuchungen lieferten kein Ergebniß. Man mußte annehmen, daß von dem Schiffbruch der Britannia keine Spur geblieben sei.

Glenarvan setzte darauf seine Gefährten von der Erfolglosigkeit seiner Schritte in Kenntniß. Mary Grant und ihr Bruder konnten den Ausdruck ihres Schmerzes nicht zurückhalten. Es war am sechsten Tage nach Ankunft des Duncan zu Talcahuano. Seine Passagiere waren im Inneren des Hinterverdecks beisammen. Lady Helena tröstete, nicht durch Worte – was hätte sie auch sagen können? – sondern durch Zärtlichkeit die beiden Kinder des Kapitäns. Jakob Paganel hatte das Document wieder in die Hand genommen und betrachtete es mit tiefer Achtsamkeit, als wollte er ihm neue Geheimnisse entlocken. Seit einer Stunde war er in diese Prüfung versenkt, als Lord Glenarvan ihn anredete mit den Worten:

»Paganel! ich wende mich an Ihren Scharfsinn. Ist unsere Auslegung dieses Documents vielleicht irrig? Steht der Sinn dieser Worte nicht logisch fest?«

Paganel antwortete nicht; er sann nach.

»Irren wir vielleicht in Hinsicht des vermutheten Schauplatzes der Katastrophe? fuhr Glenarvan fort. Springt der Name Patagonien nicht von selbst in die Augen?«

Paganel schwieg fortwährend.

»Endlich, sagte Glenarvan, giebt nicht auch das Wort Indianer einen Grund dafür?

– Ganz richtig, erwiderte Mac Nabbs.


Tom Austin, Wilson und Mulrady. (S. 85).

– Und ferner, ist's nicht klar, daß die Schiffbrüchi [80] gen, als sie diese Zeilen schrieben, sich gefaßt hielten, in Gefangenschaft der Indianer zu gerathen?

– Bleiben wir einmal bei diesem Punkt, lieber Lord, erwiderte endlich Paganel. Erkenne ich auch Ihre übrigen Folgerungen als richtig an, so scheint mir diese letztere wenigstens nicht ganz begründet.

– Was meinen Sie damit? fragte Lady Helena, während alle Blicke sich auf den Geographen wendeten.

[81] – Ich meine, versetzte Paganel mit Betonung dieser Worte, der Kapitän Grant sei jetzt Gefangener der Indianer, und führe an, daß das Document dieses nicht in Zweifel läßt.

– Sprechen Sie sich näher aus, mein Herr, sagte Miß Grant.

– Sehr leicht, liebe Mary; anstatt auf dem Document zu lesen: werden Gefangene sein, lesen wir, sind Gefangene, und alles wird klar.

– Aber das ist unmöglich, erwiderte Glenarvan.

– Unmöglich! Weshalb, fragte Paganel lächelnd.

– Weil die Flasche nur im Augenblick des Scheiterns konnte ausgeworfen werden. Die Bestimmung des Länge- und Breitegrades paßt nur für den Ort des Schiffbruches.

– Dafür sehe ich keinen Beweis, entgegnete Paganel lebhaft, und ich sehe nicht ab, weshalb die Schiffbrüchigen, nachdem sie von den Indianern in's Innere des Landes geschleppt worden, nicht sollten getrachtet haben, vermittelst dieser Flasche den Ort ihrer Gefangenschaft kund zu geben.

– Ganz einfach, lieber Paganel, weil, um eine Flasche in's Meer zu werfen, das Meer zur Stelle sein muß.

– Oder in dessen Ermangelung, erwiderte Paganel, Flüsse, welche in dasselbe abfließen!«

Staunendes Schweigen folgte auf diese unerwartete Antwort, die übrigens zulässig war. Paganel begriff aus dem Glanz, der aus Aller Augen strahlte, daß sich eine neue Hoffnung daran knüpfte. Lady Helena ergriff zuerst das Wort:

»Was für eine Idee! rief sie aus.

– Und was für eine gute, fügte naiv der Geograph hinzu.

– Und dann, was rathen Sie? ... fragte Glenarvan.

– Mein Rath geht dahin, man soll den siebenunddreißigsten Parallelkreis von da an, wo er die amerikanische Küste berührt, bis zum Atlantischen Meer verfolgen, ohne nur um einen halben Grad von demselben sich zu entfernen. Vielleicht finden wir auf dieser Linie eine Spur der Schiffbrüchigen.

– Schwache Aussicht! versetzte der Major.

– So schwach sie auch sein mag, fuhr Paganel fort, wir dürfen sie nicht unberücksichtigt lassen. Ein Blick auf die Karte kann uns zeigen, daß es da nicht an Strömen und Flüssen fehlt, welche die Flasche in's Meer führen konnten. Und schmachten da unsere Freunde irgendwo in Gefangenschaft und [82] hoffen auf Befreiung daraus, dürfen wir diese Hoffnung täuschen? Stimmen Sie nicht Alle mir bei, daß wir dafür Alles aufbieten müssen?«

Diese mit edler Begeisterung gesprochenen Worte verfehlten nicht, eine tiefe Rührung hervorzurufen. Alle standen auf und drückten ihm die Hand.

»Ja! Mein Vater ist da! rief Robert Grant, und seine Augen wollten die Karte verschlingen.

– Und wo er auch sein mag, fuhr Glenarvan fort, wir werden ihn aufzufinden wissen, lieber Junge! Wir wollen unverzüglich den von unserem Freunde Paganel vorgeschlagenen Weg einschlagen.

– Sehr wohl! sagte John Mangles, und dieser Querzug durch's amerikanische Festland wird keine Schwierigkeiten haben.

– Weder Schwierigkeiten noch Gefahren, versicherte Paganel. Schon Viele vor uns haben mit Glück diesen Ausflug gemacht. Uebrigens ist das Klima, unter gleichem Breitegrad, wie Spanien und Griechenland auf der anderen Halbkugel, vortrefflich.

– Herr Paganel, fragte darauf Lady Helena, Sie denken also, daß, wenn die Schiffbrüchigen in die Hände der Indianer gefallen sind, man ihres Lebens geschont hat?

– Ob ich das denke, Madame! Die Indianer sind durchaus keine Menschenfresser! Einer meiner Landsleute, Guinnard, ist drei Jahre lang bei den Indianern der Pampas in Gefangenschaft gewesen. Er hatte zu leiden, wurde sehr mißhandelt, hat aber endlich die Prüfung überwunden. Ein Europäer ist in jenen Gegenden ein nützliches Geschöpf; das wissen die Indianer zu schätzen, und sind für ihn besorgt, wie für ein werthvolles Hausthier.

– Nun, so ist nicht mehr zu zaudern, sagte Glenarvan, wir müssen unverzüglich abreisen. Welchen Weg sollen wir einschlagen?

– Einen leichten und angenehmen, erwiderte Paganel. Im Anfang etwas Gebirge, nachher ein sanfter Gebirgsabfall auf der Ostseite der Anden, und endlich eine Ebene mit Wiesen- und Sandflächen, ein wahrer Garten.

– Sehen wir auf die Karte, sagte der Major.

– Hier, mein lieber Mac Nabbs. Wir finden das Ende des siebenunddreißigsten Breitegrades an der Küste von Chili zwischen der Spitze Rumena und der Bai Carnero. Wir gehen an der Hauptstadt von Araucanien durch den Paß Antuco, indem wir den Vulkan südlich lassen, über die Cordilleren; [83] darauf kommen wir sanft abwärts über die weithin abfallenden Gebirgsabhänge, setzen über den Neuquem, den Colorado, und gelangen in die Pampas, zu dem Fluß Guamini, zur Sierra Tapalquen. Da sind schon die Grenzen des Gebietes von Buenos-Ayres. Wir betreten dieses, besteigen die Sierra Tandil und setzen unsere Nachforschungen fort bis zur Spitze Medano am atlantischen Gestade. Also, meine Freunde, es ist ein schnurgerader Weg. Wir legen ihn binnen dreißig Tagen zurück und kommen noch vor dem Duncan auf der Ostküste an, mindestens wenn ungünstiger Wind seine Fahrt aufhält.

– Also soll der Duncan, sagte John Mangles, zwischen Cap Corrientes und dem Cap Sanct-Antonio kreuzen?

– Richtig!

– Und aus welchen Personen soll der Zug bestehen, fragte Glenarvan.

– Aus sehr wenigen. Es handelt sich nur darum, die Lage des Kapitän Grant kennen zu lernen, nicht mit den Indianern Krieg zu führen. Ich glaube, daß Lord Glenarvan, unser natürliches Haupt, der Major, welcher seinen Platz nicht wird abtreten wollen, Ihr Diener Jakob Paganel ...

– Und ich! rief der junge Grant.

– Robert! Robert! sagte Mary.

– Und warum nicht, erwiderte Paganel. Reisen bilden die Jugend. Also wir vier und drei Matrosen des Duncan ...

– Wie, sagte John Mangles, Ew. Herrlichkeit nimmt mich nicht in Anspruch?

– Mein lieber John, erwiderte Glenarvan, was uns das Theuerste auf der Welt ist, bleibt an Bord. Unter wessen Obhut stehen diese Passagiere besser, als der des ergebenen Kapitäns?

– Also können wir Euch nicht begleiten? sagte Lady Helena, die Augen von Betrübniß umwölkt.

– Liebe Helena, erwiderte Glenarvan, unsere Reise geht ganz besonders rasch vor sich; unsere Trennung wird nicht lange dauern, und ...

– Ja, Lieber, ich begreife, entgegnete Lady Helena, geht nur, und habt Glück auf dem Weg!

– Uebrigens ist es gar nicht eine Reise zu nennen, sagte Paganel.

– Und wie denn? fragte Lady Helena.

– Ein Ausflug, nichts weiter.«

[84] Hiermit schloß die Unterredung. Die Vorbereitungen begannen noch denselben Tag. Man beschloß, den Zug geheim zu halten, um nicht die Indianer besorgt zu machen.

Der 14. October wurde zur Abreise festgesetzt. Alle Matrosen wollten theilnehmen, und Lord Glenarvan ließ das Loos entscheiden, um keinem der wackeren Leute wehe zu thun. Der Unterbefehlshaber Tom Austin, Wilson, ein kräftiger Bursche, und Mulrady, der es mit dem ersten Boxer zu London aufnahm, kamen dabei nicht zu kurz.

Am festgesetzten Tage war Alles bereit. Wetteifernd mit Glenarvan war John Mangles bedacht, zu gleicher Zeit abzufahren, um wo möglich noch vor seinem Herrn an der Ostküste anzulangen. Zur festgesetzten Stunde versammelten sich die Passagiere im gemeinschaftlichen Salon. Glenarvan, Paganel, Mac Nabbs, Robert Grant, Tom Austin, Wilson, Mulrady, mit Carabinern und Revolvern bewaffnet, machten sich fertig, das Schiff zu verlassen. Führer und Maulthiere erwarteten sie am Strande.

»Nun ist es Zeit, sagte endlich Lord Glenarvan.

– Nun so fahrt mit Gott«, erwiderte Lady Helena, ihre Bewegung unterdrückend.

Lord Glenarvan drückte sie an sein Herz, und Robert umarmte Mary Grant.

»Und nun, liebe Gefährten, sagte Jakob Paganel, einen letzten Handschlag.«

Man begab sich wieder auf's Verdeck, die Reisenden verließen den Duncan, und als sie am Quai waren, näherte sich die Yacht auf halbe Kabellänge.

Lady Helena rief zum letzten Mal: »Mit Gott, meine Freunde!

– Und er wird unser Beistand sein, Madame, erwiderte Paganel, denn, glauben Sie doch, wir werden uns selbst nicht im Stiche lassen!

– Vorwärts! rief John Mangles seinem Maschinisten zu.

– Marsch!« sagte Lord Glenarvan.

Und zu derselben Zeit, als die Reisenden längs dem Ufer abritten, stach der Duncan mit voller Dampfkraft in See.

[85]
11. Capitel
Elftes Capitel.
Ritt durch Chili.

Die Truppe von Eingeborenen, welche Glenarvan mitnahm, bestand aus drei Mann und einem Buben. An der Spitze ein Maulthierhalter, der ein Engländer von Geburt, seit zwanzig Jahren dort einheimisch, sich damit abgab, den Reisenden Maulthiere zu vermiethen, und ihnen beim Uebergang über die Cordilleren als Führer zu dienen; dann übergab er sie einem argentinischen Führer, »Baqueano«, der mit dem Wege durch die Pampas vertraut war.



Jener Engländer hatte im Umgang mit den Maulthieren und Indianern seine Muttersprache nicht ganz vergessen. Glenarvan benutzte diesen Umstand, sich mit ihm zu verständigen, denn Paganel hatte es noch nicht dahin gebracht, daß man ihn verstand.

Diesem Maulthierpfleger, »Catapaz« im Chilesischen genannt, waren zum Beistand zwei eingeborene Bauern – »Péon« – gegeben, und ein zwölfjähriger Bube. Die ersteren überwachten die Thiere, welche das Gepäck trugen, und letzterer führte die »Madrina«, eine kleine Stute, welche mit Schellen und Glöcklein behangen, den nachfolgenden zehn Maulthieren Führerin war. Auf sieben derselben ritten die Reisenden, der Catapaz auf einem, die [86] beiden anderen trugen Lebensmittel und einige Rollen Stoffe, womit man den guten Willen der Kaziken der Ebene gewinnen wollte. Die Bauern gingen, wie gewohnt, zu Fuß. Dies ist, in Hinsicht auf Sicherheit und Schnelligkeit die beste Art, wie man in Süd-Amerika durch das Land reist.

Der Uebergang über die Andenkette ist keine gewöhnliche Reise. Man bedarf dafür starker Maulthiere, wie die besten von argentinischer Abkunft sind. Die trefflichen Thiere haben in diesem Lande bedeutende Vorzüge vor ihrer ursprünglichen Race gewonnen. Sie sind in Hinsicht auf Nahrung nicht sehr wählerisch, trinken nur einmal täglich, machen leicht zehn französische Meilen in acht Stunden, und tragen unverdrossen eine Last von vierzehn Arroben. 1

Wirthshäuser giebt's auf diesem Wege von einem Ocean zum anderen nicht. Zur Nahrung dienen getrocknetes Fleisch, mit Piment gewürzter Reis und Wild, das man unterwegs erlegen kann: seinen Trunk schöpft man aus den Bächen des Gebirges, aus den Flüssen der Ebene, und macht ihn durch einige Tropfen Rum schmackhaft, wovon jeder in einem Ochsenhorn, »Chiffle« geheißen, eine Portion bei sich trägt. Doch muß man sich hüten, in den Gegenden, wo das Nervensystem des Menschen ganz besonders reizbar ist, zu viel Getränk mit Alkohol zu nehmen. Was man als Bett braucht, ist vollständig in dem hier gebräuchlichen Sattel, Recado genannt, enthalten, der aus halbgegerbten, auf der einen Seite wolligen Hammelfellen, »Pelion«, gemacht ist und mit schön umbordeten Gurten befestigt wird. In solcher warmen Umhüllung kann man den feuchten Nächten trotzen und schläft dabei vortrefflich.

Glenarvan, der zu reisen und den Gebräuchen der Länder sich anzubequemen verstand, hatte mit seinen Leuten die chilenische Tracht angenommen. Paganel und Robert freuten sich kindisch, als sie ihren Kopf durch den nationalen Puncho, einen wollenen Ueberwurf mit einem Loch in der Mitte, steckten und mit den Beinen in die Stiefeln schlüpften, die aus den Hinterfüßen eines jungen Pferdes gemacht waren. Man hätte sie sehen sollen auf ihrem reich aufgeschirrten Maulthier mit dem arabischen Gebiß, dem langen Zaum von geflochtenem Leder, der zugleich als Peitsche diente, dem Hauptgestell mit metallener Verzierung, und den »Alforjas«, einem Quersack von[87] bunter Leinwand mit den Lebensmitteln für den Tag. Paganel, stets zerstreut, hätte beim Aufsteigen beinahe einige Tritte von seinem trefflichen Thiere bekommen. Wie er einmal im Sattel war, mit seinem unvermeidlichen Fernrohr behangen, die Füße fest in den Steigbügeln, vertraute er dem Verstand seines Thieres, und that wohl daran. Robert zeigte bei seinem ersten Ritt hervorstechende Anlagen, ein trefflicher Reiter zu werden.

Man machte sich auf den Weg. Es war prächtiges Wetter, der Himmel völlig klar und die Luft trotz der Sonnenhitze durch die Seewinde ziemlich abgekühlt. Die Truppe ritt rasch längs dem buchtigen Gestade der Bai von Talcahuano, um dreißig Meilen südlich an's Ende des Parallelkreises zu gelangen. Am ersten Tag ging's durch das Schilf ausgetrockneter Sümpfe. Dabei sprach man wenig. Der Abschied hatte auf die Gemüther tiefen Eindruck gemacht. Man gewahrte noch den Rauch des Duncan am fernen Horizont. Alle schwiegen, Paganel ausgenommen, der sich im Spanischen übte, indem er sich Fragen stellte und selbst beantwortete.



Der Catapaz war zudem ein ziemlich schweigsamer Mann, den sein Geschäft auch nicht eben redselig machte. Mit seinen Péons sprach er kaum ein Wort. Diese verstanden ihren Dienst wohl. Blieb ein Maulthier stehen, so trieben sie's an mit einem Zuruf aus der Kehle; half das nicht, so diente ein treffender Stein, seinen Eigensinn zu brechen. Löste sich ein Gurt auf, kam das Gebiß in Unordnung, so nahm der Péon seinen Puncho ab und [88] warf ihn dem Thiere über den Kopf; sobald er den Uebelstand gebessert, ging's dann weiter.


Durch den Rio Tubal. (S. 91.)

Die Maulthiertreiber pflegen sich morgens um acht Uhr nach dem Frühstück auf den Weg zu machen, und so in einem Zug zu bleiben, bis man um vier Uhr Nachmittags zum Lagern Halt macht. Glenarvan blieb bei diesem Brauch, und gerade als der Catapaz Halt machte, war man, ohne sich vom schaurigen Gestade zu entfernen, bei der Stadt Arauco angekommen, die am Südende der Bai lag. Um zum äußersten Ende der Gradlinie zu [89] kommen, hätte man noch zwanzig Meilen weiter westlich gehen müssen. Aber Glenarvan's Agenten hatten diese Strecke schon untersucht. Deshalb nahm man Arauco als den Punkt, von welchem aus man sich in gerader Linie östlich wendete.

Der Staat Araucanien, dessen Hauptstadt Arauco, ist hundertundfünfzig französische Meilen lang, dreißig breit, von den Moluchen, den älteren Abkömmlingen der chilenischen Race, bewohnt. Es ist ein stolzer und starker Menschenschlag, der einzige Stamm in Nord- und Südamerika, der niemals einer Fremdherrschaft unterworfen war. Gehörte Arauco zwar den Spaniern, so unterwarf sich wenigstens die Bevölkerung nicht; sie widerstand damals, wie sie noch heut zu Tage den Eroberungsplänen der Chilenen widersteht, und ihre unabhängige Flagge weht noch unangetastet auf dem Gipfel eines befestigten Hügels, unter dessen Schutz die Stadt liegt.

Die kleine Truppe nahm ihr Nachtlager im offenen Hof eines ziemlich unbehaglichen Wirthshauses der Stadt. Während die Abendmahlzeit bereitet wurde, machten Glenarvan, Paganel und der Catapaz einen Gang zwischen den mit Stroh gedeckten Häusern. Außer einer Kirche und den Trümmern eines Franciscanerklosters zeigte sich nichts Merkwürdiges. Glenarvan bemühte sich vergeblich, einige Erkundigungen einzuziehen. Paganel war trostlos, daß er sich nicht verständlich machen konnte; da aber hier araucanisch gesprochen wurde, eine Ursprache, die bis zur Magelhaen'schen Straße herrscht, so konnte ihm sein Spanisch nichts helfen. Er suchte also für seine Augen Beschäftigung in Beobachtung der Grundgestalten der araucanischen Race. Die Männer waren von hohem Wuchs, hatten ein plattes Gesicht, Kupferfarbe, bartloses Kinn, mißtrauischen Blick, einen breiten Kopf mit starkem schwarzen Haarwuchs. Ihre Frauen, von jämmerlichem Aussehen, doch muthig, haben die mühevollsten Hausarbeiten zu verrichten, die Pferde zu besorgen, die Waffen zu putzen, das Feld zu bestellen; sie gingen für ihre Herren auf die Jagd, und fanden noch Zeit, die türkisenblauen Punchos zu fertigen, welche zwei Jahre Zeit erfordern und mindestens um hundert Dollars verkauft werden. Kurz, diese Moluchen sind ein ziemlich rohes Volk, das gegen die einzige Tugend des Unabhängigkeitssinns fast alle menschlichen Fehler besitzt.

»Echte Spartaner«, sagte Paganel beim Abendessen, mit etwas Uebertreibung; dann erzählte er, wie einmal einer seiner Landsleute, ein Advocat [90] aus Perigueux, den Thron von Araucanien inne gehabt, aber dabei erfahren mußte, was entthronte Könige »Undankbarkeit der Unterthanen« nennen. Sie lachten und tranken etwas Chicha 2 auf die Gesundheit des Exkönigs Anton I. von Araucanien. Darauf sanken die Reisenden in ihren Puncho gehüllt in tiefen Schlaf.

Am folgenden Morgen um acht Uhr schlugen sie ihren Weg in gerader Richtung nach Osten ein. Derselbe führte Anfangs noch durch das fruchtbare von Weinbergen und Heerden gesegnete Araucanien. Aber allmälig ward das Land öde. Kaum sah man, meilenweit von einander entfernt, einzelne Hütten eingeborener Pferdebändiger, »Rastreadores«. Hier und da ein verlassener Pferdewechselort, der den in der Ebene schweifenden Eingeborenen zum Zufluchtsort dient. Zwei Flüsse versperrten ihnen den Weg, der Raque und Tubal. Aber der Catapaz kannte Fährten, um hinüber zu gelangen. Am Horizont sah man die Andenkette, nordwärts mit hohen runden Gipfeln und vielen Pics. Es waren das nur niedrige Ausläufer des ungeheuern Bergrückens, welcher das Gerüste des ganzen Continents bildet.

Um vier Uhr Nachmittags, nachdem man fünfunddreißig englische Meilen zurückgelegt hatte, wurde auf offenem Felde unter einem Buschwerk von Riesenmyrthen gerastet. Die Maulthiere, von ihrem Gebiß befreit, weideten im dichten Gras. Die Alforjas spendeten Fleisch und Reis. Die auf den Boden gebreiteten Schafpelze dienten als Decke, die Sättel zu Kopfkissen, und jeder genoß auf diesem improvisirten Lager eine erquickende Ruhe, während der Catapaz und die Péons abwechselnd Wache hielten.

Weil das Wetter so günstig blieb, weil alle Reisenden, Robert nicht ausgenommen, sich vollkommen wohl befanden, weil endlich die Reise so glücklichen Anfang hatte, mußte man die günstigen Umstände benützen und rastlos weiter gehen. Am folgenden Tage setzte man ohne Unfall über den reißenden Bell, und als man Abends am Ufer des Rio Biobio, welcher das spanische Chili vom unabhängigen scheidet, lagerte, konnte Glenarvan abermals fünfunddreißig Meilen als zurückgelegt aufzeichnen. Das Land war unverändert ergiebig, reich an Amaryllis, baumartigen Veilchen, Stechäpfeln und gelbblühendem Cactus. Im Buschwerk lauerten geduckt verschiedene Thiere, darunter Pantherkatzen. Ein Reiher, ein Käuzlein, Drosseln und Silbertaucher [91] waren die einzigen Vertreter des Federviehs. Aber einheimische Bewohner gewahrte man wenig. Kaum einige »Guassos«, entartete Abkömmlinge von Indianern und Spaniern, sah man auf Rossen, welche mit riesigen Sporen, die sie am nackten Fuß trugen, blutig gestachelt waren, gleich Schatten vorüber galopiren. Man stieß auf Niemand, mit dem man hätte reden können, und man konnte also auch keine Auskunft einziehen. Glenarvan wußte, was er davon zu halten hatte. Er sagte sich, der Kapitän Grant habe als Gefangener wohl über die Andenkette geschleppt werden müssen. Die Nachforschungen konnten erst in den Pampas, nicht diesseits, von Erfolg sein. Man mußte sich also gedulden und unablässig rasch weiter dringen.

Von jetzt an kam man in die Nähe des Gebirges, und man stieß öfter auf Gewässer, die sich nicht auf der Karte fanden; Paganel war eifrig bei der Hand, ihnen Namen zu geben. Ueber seine Kenntniß der Gegend staunte der Catapaz. Man stieß auf eine Straße, die quer den Weg durchschnitt. Als Glenarvan nach ihrem Namen fragte, antwortete Paganel rasch: »Sie führt von Yumbel nach Los Angeles.«

Glenarvan sah den Catapaz an.

»Ganz richtig, erwiderte dieser. Aber, fragte er den Geographen, Sie sind also schon durch das Land gekommen?

– Das mein' ich! erwiderte Paganel ernst.

– Auf einem Maulthier?

– Nein, in einem Lehnsessel.«

Der Catapaz begriff es nicht, zuckte die Achseln.

Um fünf Uhr machte er in einer kleinen Schlucht halt, einige Meilen oberhalb des Städtchens Loja, und man lagerte diese Nacht am Fuße einer Sierra, welche die erste Stufe der großen Cordillerenkette bildete.

[92]
Fußnoten

1 Eine Arrobe = elf ein halb Kilogramm.

2 Branntwein aus Mais.

12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Zwölftausend Fuß hoch in den Lüften.

Bisher hatte die Reise durch Chili keine besondere Schwierigkeit gehabt. Nun aber stellten sich die Hindernisse und Gefahren, welche eine Gebirgsreise mit sich bringt, mit einander entgegen. Nun sollte der Kampf mit den Schwierigkeiten der Natur recht beginnen.

Zuerst fragte sich's, durch welchen Paß man über die Andenkette gelangen könne, ohne sich von der vorgezeichneten Linie zu weit zu entfernen. Man fragte den Catapaz.

»Ich kenne nur zwei gangbare Wege, erwiderte derselbe, in dieser Gegend der Cordilleren.

– Gewiß den Paß Arica, sagte Paganel, den Valdivia Mendoza entdeckte?

– Richtig.

– Und den von Villarica, im Süden des Nevado dieses Namens?

– So ist es.

– Nun aber, mein Freund, diese beiden Pässe führen uns zu weit nördlich oder südlich von unserer Reiselinie ab.

– Können Sie uns einen anderen vorschlagen? fragte der Major.

– O ja, erwiderte Paganel, den Paß Antuco, auf dem vulkanischen Abhang, der sich nur einen halben Grad von unserer Linie entfernt. Er ist nur tausend Toisen hoch und wurde von Zamudio de Cuz aufgefunden.

– Gut, sagte Glenarvan; aber, Catapaz, ist dieser Ihnen bekannt?

– Ja, Mylord, ich bin ihn schon gegangen; aber ich habe ihn nicht vorgeschlagen, weil er höchstens ein Weg für das Vieh ist, dessen sich die eingeborenen Hirten des östlichen Gebirgsabhanges bedienen.

– Ei, mein Freund, erwiderte Glenarvan, wo die Rinderheerden, die Schafe und Ochsen der Pehuenschen gehen können, werden wir auch gehen können. Und weil der Paß Antuco uns den geraden Weg führt, wollen wir ihn gehen.«

Man brach auf und drang in das Thal Lejas, zwischen zwei großen Kalksteinmassen. Es ging aufwärts längs einem fast unmerklichen Abhang.

[93] Gegen elf Uhr mußte man um einen kleinen See gehen, ein malerisches, natürliches Becken aller Bäche der Umgebung, die sich da in ruhiger Klarheit mischten. Oberhalb des Sees breiteten sich ausgedehnte »Llanos« aus, grasige Hochebenen, wo die Heerden der Eingeborenen weideten. Dann stieß man auf einen südlich und nördlich abfließenden Sumpf. Um ein Uhr sah man das Fort Ballenare auf einem zugespitzten Felsen, den es mit seinen verfallenen Wällen krönte. Man zog daran vorüber. Nun wurden die Abhänge schon steil, voll Steine, und die von den Hufen der Maulthiere lose gewordenen Kiesel rollten unter ihren Füßen und bildeten lärmendes Steingerölle. Um drei Uhr abermals malerische Ruinen eines bei der Erhebung im Jahre 1770 zerstörten Forts.

Von hier an wurde der Weg schwierig, ja gefährlich; der Steigungswinkel wurde weiter, fürchterliche Abgründe klafften. Die Maulthiere schritten vorsichtig voran, mit der Nase auf der Erde den Weg witternd. Man ging eins hinter dem andern. Manchmal, bei einer plötzlichen Krümmung, wurde das leitende Thier unsichtbar und die kleine Karawane folgte dem entfernten Ton der Schelle. Ost auch gerieth die Colonne durch launige Krümmungen des Weges auf zwei parallele Linien, und der Catapaz konnte mit den Péons sprechen, während eine zwei Toisen breite, aber zweihundert tiefe Spalte einen klaffenden Abgrund zwischen ihnen bildete.

Die Pflanzenvegetation rang indessen noch mit der überhand nehmenden Herrschaft des Gesteins, doch merkte man überall die Spuren des Kampfes der beiden Reiche. Man erkannte die Nähe des Vulkans Antuco an einigen Lavastreifen von Rostfarbe, woraus gelbe Krystalle in Form von Nadeln emporstarrten. Die allen Gesetzen des Gleichgewichts zum Trotz auf einander gethürmten Felsen drohten herabzufallen. Offenbar mußten Erderschütterungen ihnen leicht ein anderes Aussehen geben, und man konnte leicht sehen, daß für diese Berggegend die Zeit der letzten Schichtung noch nicht gekommen war.

Unter diesen Umständen war es schwierig, die Straße wieder zu erkennen. Die häufigen Erschütterungen veränderten den Bauriß der Anden, und die Merkzeichen fanden sich nicht mehr an ihrer Stelle. Daher stutzte der Catapaz, stand stille, blickte um sich, untersuchte die Gestalt der Felsen, forschte nach Spuren der Indianer. Es war nicht möglich, sich zurecht zu finden.

Glenarvan folgte seinem Führer Schritt für Schritt; er merkte und [94] begriff, wie mit den Schwierigkeiten des Weges seine Verlegenheit wuchs; er wagte ihn nicht zu fragen und dachte, vielleicht nicht ohne Grund, es sei mit dem Instinct der Maulthiertreiber wie mit dem ihrer Thiere, und man müsse sich darauf verlassen.

Noch eine Stunde lang ging der Catapaz so auf gut Glück weiter, immer in höhere Region vordringend. Endlich sah er sich genöthigt plötzlich Halt zu machen. Man befand sich im tiefen Grund eines schmalen Thales, dessen Ausgang von einer steil emporstarrenden Felswand verschlossen war. Der Catapaz stieg ab, kreuzte die Arme und wartete. Glenarvan kam her bei.



»Ihr habt Euch irre gegangen? fragte er.

– Nein, Mylord.

– Doch, wir sind nicht auf der Straße Antuco.

– Wir befinden uns auf derselben.

– Irren Sie sich nicht?

– Nein. Hier sind die Reste eines von Indianern angemachten Feuers, und dort die Spuren von Rinder-und Schafheerden.

– Nun, so ist man diesen Weg gegangen!

[95] – Ja, aber nun kann man ihn nicht mehr gehen. Das neuerliche Erdbeben hat es unmöglich gemacht ...

– Für Maulthiere, erwiderte der Major, nicht für Menschen.

– Ei! Das ist Ihre Sache, erwiderte der Catapaz, ich habe gethan, was mir möglich war. Ich bin mit meinen Maulthieren bereit umzukehren, wenn Sie belieben, den Weg zurückzugehen und einen der anderen Wege über die Cordilleren einzuschlagen.

– Und das wird dauern? ...

– Drei Tage mindestens.«

Glenarvan hörte ihn schweigend an. Derselbe hielt sich offenbar an seine Uebereinkunft. Seine Thiere konnten nicht weiter. Doch als der Vorschlag kam, denselben Weg rückwärts zu machen, wendete sich Lord Glenarvan zu seinen Begleitern, und sprach:

»Sind Sie dabei, dennoch weiter zu gehen?

– Wir folgen Ihnen, erwiderte Tom Austin.

– Wir gehen Ihnen selbst voran, setzte Paganel hinzu. Warum handelt sich's denn dabei? Ueber eine Bergkette zu steigen, deren jenseitigen Abhang hinabzusteigen weit leichter ist! Nachher finden wir argentinische Baqueanos, die uns durch die Pampas führen werden, und rüstige Pferde, welche über die Ebenen zu galopiren pflegen. Also vorwärts, ohne Zaudern.

– Vorwärts, riefen Glenarvan's Gefährten.

– Sie wollen nicht mit uns? fragte er den Catapaz.

– Ich bin Maulthierführer, erwiderte dieser.

– Nach Belieben.


Siebentausendfünfhundert Fuß über dem Meere. (S. 98.)

– Man kann ihn schon entbehren, sagte Paganel; auf der anderen Seite dieser Felswand kommen wir wieder auf die Pfade von Antuco, und ich bin im Stande, Sie so gerade das Gebirge hinabzugeleiten, wie der beste Führer in den Cordilleren.«

Glenarvan machte also mit dem Catapaz Rechnung und entließ ihn sammt seinen Thieren und Péons. Die Waffen, Instrumente und der Rest von Lebensmitteln wurden den sieben Genossen zugetheilt. Man war darüber einig, sogleich die Besteigung fortzusetzen und nöthigenfalls einen Theil der Nacht über weiter zu reisen. Ueber den Abhang links schlängelte sich ein steiler Pfad, welchen die Thiere nicht hätten hinan klimmen können. Es waren große Schwierigkeiten, aber nach zweistündigen Beschwerden und Umwegen [96] befanden sich Glenarvan und seine Genossen wieder auf dem Wege von Antuco.

Sie befanden sich damals in der eigentlich sogenannten Andengegend, nicht weit von dem oberen Kamm der Cordilleren; aber von gebahntem Wege, einem bestimmten Pfade keine Spur. Durch das letzte Erdbeben war diese ganze Gegend überschüttet worden, und man mußte sich allmälig zu den Gipfeln der Kette emporarbeiten. Paganel war etwas bestürzt, daß er die Straße nicht frei fand, und er machte sich auf arge Mühseligkeiten gefaßt, um [97] den Gipfel der Anden zu erreichen, denn ihre mittlere Höhe beträgt 11,000 bis 12,600 Fuß. Zum Glück war das Wetter ruhig, der Himmel rein, die Jahreszeit günstig; denn zur Winterzeit, vom Mai bis zum October, wäre diese Besteigung gar nicht ausführbar gewesen; die Reisenden erliegen rasch der argen Kälte, und wen diese verschont, entgeht wenigstens nicht den heftigen Stürmen, welche in diesen Gegenden einheimisch sind und alljährlich die Schluchten der Cordilleren mit Leichen füllen.

Die ganze Nacht hindurch stieg man noch aufwärts; man erklimmte mit den Händen fast unzugängliche Hochplatten; sprang über weite und tiefe Klüfte; in Ermangelung von Stricken reichte man sich die Hände, und die Schultern dienten als Staffeln. Damals ergab sich für Mulrady's Kraft und Wilson's Gewandtheit tausendfache Gelegenheit sich zu zeigen; manchmal hätte ohne ihren Muth und ihre Hingebung die kleine Truppe keinen Schritt weiter gekonnt. Glenarvan verlor den jungen Robert, der aus Jugend und Lebhaftigkeit unvorsichtig war, keinen Augenblick aus den Augen. Paganel drang mit ganz französischem Ungestüm voran. Der Major rührte sich nicht mehr, als nöthig war, und kam mit kaum merklicher Bewegung aufwärts.

Um fünf Uhr früh hatten die Reisenden eine Höhe erreicht, die nach Angabe des Barometers 7500 Fuß betrug. Sie befanden sich damals auf der zweiten Stufe des Hochlandes, der äußersten Grenze des Baumwuchses. Da sprangen verschiedene Thiere, die einem Jäger Freude gemacht hätten; sie flohen von weitem, als die Männer sich näherten. Man sah hier das treffliche Lama, das auf den Berghöhen Schaf, Rind und Pferd ersetzt, und noch da fortkommt, wo Maulthiere nicht mehr bestehen; das kleine, furchtsame Nagethier Chinchille mit reichlichem Pelz, das dem Hafen und Kaninchen gleicht und auf seinen Hinterfüßen dem Känguru ähnlich ist. Es ist ein reizender Anblick, das gewandte Thierchen gleich einem Eichhörnchen über die Wipfel der Bäume laufen zu sehen.

Doch waren diese Thiere nicht die höchsten Bergbewohner. Nahe an der Grenze des ewigen Schnees, 9000 Fuß hoch, lebten, und zwar truppweise, Wiederkäuer von unvergleichlicher Schönheit, das Alpaka mit langem seidenartigen Fell, dann jene eingehörnte, zierliche und stolze Ziege mit seiner Wolle, von den Naturforschern Vigogna genannt. Aber es war kein Gedanke, ihnen nahe zu kommen, kaum glückte es, sie zu Gesicht zu bekommen, denn sie flohen so rasch wie im Fluge.

[98] Jetzt änderte sich der Anblick der Gegend völlig. Auf allen Seiten sah man aufgeschichtete Eisblöcke von bläulicher Farbe die ersten Strahlen des Tageslichtes widerstrahlen. Das Hinansteigen wurde nun recht gefährlich. Man wagte keinen Schritt weiter, ohne achtsam zu forschen, ob nicht eine Spalte im Boden sei. Wilson stellte sich an die Spitze der Reihe und untersuchte mit dem Fuß den Gletscherboden. Seine Gefährten gingen ganz genau auf der Spur seiner Tritte und hüteten sich selbst laut zu sprechen, um nicht durch die Erschütterung der bewegten Luft ein Herabfallen der Schneemassen zu veranlassen, welche sieben- bis achthundert Fuß über ihren Köpfen hingen.



Sie waren in die Region der Gesträuche gekommen, welche bei zweihundertundfünfzig Toisen Höhe den Gräsern und Cactus Platz machten. Mit 11,000 Fuß verschwanden auch diese Pflanzen vom öden Boden, und es zeigte sich keine Spur von Vegetation mehr.

Die Reisenden hatten nur ein einziges Mal, um acht Uhr, Halt gemacht, um durch ein einfaches Mahl ihre Kräfte wieder zu stärken, und setzten dann mit übermenschlichem Muth die Ersteigung fort, den stets wachsenden Gefahren Trotz bietend; an manchen Stellen bezeichneten hölzerne Kreuze vorgekommene Unglücksfälle. Um zwei Uhr kam man an eine ungeheure Hochebene ohne Spur von Vegetation, die sich zwischen dürren Felsen hinzog. Die Luft war trocken, der Himmel grell blau; in dieser Höhe giebt's keinen Regen, die Dünste lösen sich zu Schnee oder Hagel auf.

[99] Unterdessen gingen der kleinen Truppe, trotz ihres Muthes, die Kräfte aus. Glenarvan bereute, so weit in's Gebirge vorgedrungen zu sein. Der junge Robert hielt sich standhaft bei der Ermüdung, aber konnte kaum weiter.

Um drei Uhr machte Glenarvan Halt.

»Wir müssen wohl ausruhen, sagte er, denn sonst Niemand machte den Vorschlag.

– Ausruhen? entgegnete Paganel, aber es fehlt an Schutz.

– Doch dürfen wir's nicht unterlassen, sei's auch nur um Robert's willen.

– Nein, Mylord, erwiderte der muthige Knabe, ich kann noch weiter gehen ... Machen Sie nicht Halt ...

– Man wird Dich tragen, lieber Junge, entgegnete Paganel; man muß um jeden Preis zum jenseitigen Abhang gelangen. Dort finden wir vielleicht zum Schutz eine Hütte. Nur noch zwei Stunden bedarf's.

– Stimmen Sie alle bei? fragte Glenarvan.

– Ja«, erwiderten seine Gefährten.

Und Mulrady fügte bei: »Ich trage den Jungen.«

Man stieg weiter in östlicher Richtung: es dauerte noch zwei fürchterliche Stunden. Immer aufwärts suchte man die äußersten Höhen des Gebirges zu erreichen. Die zunehmende Dünne der Luft verursachte die schmerzliche Beklemmung, welche man »Puna« nennt. Das Blut drang aus Lippen und Zahnfleisch. Man mußte, um den Blutumlauf zu fördern, häufiger einathmen, und dies ermüdete ebenso, wie das Rückprallen der Sonnenstrahlen auf den Schneeflächen. Trotz aller Willensstärke der muthigen Männer wurden doch endlich auch die stärksten schwach, und der Schwindel brach nicht blos die physische, sondern auch moralische Kraft. Sie fielen öfters zu Boden, und schleppten sich dann nur mühsam auf den Knieen fort.

Die Erschöpfung drohte bereits der allzu lange fortgesetzten Besteigung ein Ziel zu setzen, und Glenarvan erwog nun mit Schrecken den unermeßlichen Schnee, die alles durchdringende Kälte und den Mangel eines Obdachs während der Nacht.

Da blieb der Major stehen, und sagte ruhig: »Eine Hütte!«

[100]
13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Herabsteigen von den Cordilleren.

Jeder Andere als Mac Nabbs wäre an dieser Hütte vorbei, um sie herum, ja über dieselbe hinausgegangen, ohne zu ahnen, was es war. Nur durch eine Erhöhung der Schneedecke unterschied sie sich kaum von den sie umgebenden Felsen. Man mußte sie erst abkehren. Nach halbstündiger Arbeit hatten Wilson und Mulrady den Eingang der Hütte frei gemacht, und die kleine Truppe drängte sich eifrig herzu.



Diese Hütte war von Eingeborenen aus getrockneten Ziegelsteinen errichtet, in Gestalt eines Würfels von zwölf Fuß im Gevierte, und befand sich oben auf einem Basaltblock. Eine steinerne Treppe führte zu dem Eingang, der einzigen Oeffnung an derselben, und so enge sie war, so war sie doch zur Zeit der entfesselten Winterstürme dem Schnee, Hagel und Wind nicht unzugänglich.

Zehn Personen fanden leicht in derselben Platz, und wenn ihre Wände auch zur Regenzeit nicht ganz wasserdicht waren, so schützten sie doch damals einigermaßen gegen eine starke Kälte, welche das Thermometer auf zehn Grad unter Null angab. Uebrigens gewährte ein Heerd mit einem aus schlecht zusammengefügten Ziegelsteinen aufgebauten Rauchfang die Möglichkeit, die Kälte durch ein angemachtes Feuer zu bewältigen.

[101] »Das ist ja ein Nachtlager, sagte Glenarvan, das genügen kann, wenn es auch keine Bequemlichkeiten hat. Die Vorsehung hat uns dahin geführt, und wir können ihr nur dafür danken.

– Ei, ei! erwiderte Paganel, es ist ja ein Palast. Da sind wir trefflich aufgehoben.

– Zumal wenn ein tüchtiges Feuer darin brennt, sagte Tom Austin; mir wenigstens würde ein Reiserbündel mehr Freude machen, als ein Stück Wildpret.

– Nun, Tom, erwiderte Paganel, so wird man sich bemühen, Brennmaterial zu finden.

– Brennmaterial auf dem Gipfel der Cordilleren! sagte Mulrady mit Kopfschütteln.

– Da man in der Hütte einen Kamin errichtet hat, entgegnete der Major, so ist's auch wahrscheinlich, daß man etwas zum Brennen finden werde.

– Freund Nabbs hat Recht, sagte Glenarvan; bereitet nur Alles zum Nachtessen vor; ich will die Stelle des Holzmachers übernehmen.

– Ich begleite Sie nebst Wilson, versetzte Paganel.

– Können Sie mich brauchen? ... sagte Robert, und stand auf.

– Ruhe Dich aus, lieber Junge, entgegnete Glenarvan. Du wirst ein Mann sein in einem Alter, wo Andere noch Kinder sind!«

Glenarvan, Paganel und Wilson verließen die Hütte. Es war sechs Uhr Abends. Trotz völliger Windstille war es sehr kalt. Der blaue Himmel wurde schon düster, und die Sonne warf ihre letzten Strahlen auf die Pics der Hochflächen. Paganel stellte mit dem Barometer seine Beobachtung an und fand, daß die Höhe 11700 Fuß betrug. Diese Region der Cordilleren war also 910 Meter niedriger, als der Montblanc. Hätten diese Gebirge dieselben Schwierigkeiten dargeboten, wie der schweizer Riese, oder hätten seine Stürme getobt, so hätte keiner der Reisenden die Kette zu übersteigen vermocht.

Als Glenarvan und Paganel auf einem Porphyrhügel ankamen, blickten sie nach allen Seiten des Horizonts umher. Sie befanden sich auf einem Schneegipfel der Cordilleren, der einen Raum von vierzig Quadratmeilen beherrschte. Der östliche Abfall des Gebirges senkte sich in allmäliger Abstufung von Abhängen, auf welchen die Péons mehrere hundert Klafter weit [102] hinabzurutschen pflegen. In der Entfernung sah man lange Streifen von Steingerölle und zerstreute Felsblöcke, die von den Gletschern fortgedrängt ungeheure Schutthaufen bildeten. Das Thal des Colorado lag in Folge der herabsinkenden Sonne bereits in zunehmendem Schatten, die daraus hervortretenden noch beleuchteten Punkte und Spitzen verloschen nach und nach, und allmälig sank der ganze östliche Abhang der Anden in Dunkel. Im Westen lag der allmälig ansteigende Abhang in Beleuchtung, eine Bergkette, welche der steilabfallenden östlichen Gebirgswand eine Widerlage, gewissermaßen eine Strebemauer bildete. Es war zum Blenden, wenn man die Gletscher und Felsen in dieser Bestrahlung sah. Nach Norden zu verlor sich eine Reihe von Gipfeln unmerklich zu einer wellenförmigen Linie. Im Süden dagegen ergab sich ein prachtvoller Anblick, der mit Anbruch der Nacht erhabene Verhältnisse annahm. In der That, warf man den Blick in das wilde Torbidothal, so traf er auf den Antuco, dessen klaffender Krater zwei Meilen von da sich öffnete. Der Vulkan brüllte wie ein Ungeheuer und spie glühenden Rauch aus, vermischt mit Strömen rußiger Flammen; Hagel von glühenden Steinen, Wolken von röthlichem Dampf, Raketen von Lava bildeten funkelnde Garben. Während die Sonne im Dunkel des Horizonts verschwand, erhob sich ein ungeheurer, stets wachsender Glanz, der den weiten Umkreis mit grellem Widerschein erfüllte.

Paganel und Glenarvan hätten lange bei diesem prachtvollen Anblick verweilt; aber Wilson erinnerte sie an die Lage, worin man sich befand. Zwar mangelte es an Holz; aber zum Glück waren die Felsen mit trockenen Flechten bekleidet, und die Wurzeln einer Pflanze, »Llaretta« genannt, boten auch einen genügenden Brennstoff. Man brachte einen gehörigen Vorrath des schätzbaren Materials in die Hütte und zündete auf dem Heerd ein Feuer an, das aber schwierig zu unterhalten war, weil, wie wenigstens der Major sagte, die dünne Luft zu wenig Sauerstoff darbot.

»Dagegen, fuhr er fort, braucht auch das Wasser keine hundert Grad zum Sieden, und der Kaffee ist eher fertig.«

Richtig, das Thermometer weist im siedenden Wasser 1 nur siebenundachtzig Grad nach. Jeder schlürfte mit Behagen seinen heißen Kaffee. Aber das Dürrfleisch wollte Paganel nicht zusagen und er wünschte ein Stück [103] Lammbraten. Der Major warf ihm zwar Ungenügsamkeit vor, verstand sich aber doch dazu, trotz der Kälte, auf den Anstand zu gehen.

Seine Gefährten hatten noch nicht Zeit, ihm für seine Gefälligkeit zu danken, als man in der Ferne ein dumpfes Getöse vernahm: es war nicht ein Geschrei einzelner Thiere, sondern es schienen wirre Töne einer reißend schnell herannahenden Heerde. Wollte die Vorsehung zu dem Obdach noch die Mahlzeit gewähren? meinte der Geograph. Aber Glenarvan bemerkte, daß die Vierfüßler der Cordilleren doch nie zu einer so hohen Zone hinan kommen.

»Woher kommt denn aber das Getöse? sagte Tom Austin. Hören Sie, wie es näher kommt!

– Eine Lawine? sagte Mulrady.

– Unmöglich! Es sind wirklich belebte Töne, erwiderte Paganel.

– Wir werden sehen, sagte Glenarvan.

– Und mit dem Carabiner in der Hand«, entgegnete der Major.

Alle eilten zur Hütte hinaus. Es war Nacht geworden, düster, aber sternhell. Des Mondes letztes Viertel war noch nicht aufgegangen. Im Norden und Osten verschwanden die Gipfel im Dunkel, und die Blicke konnten nur den phantastischen Umriß einiger hervorragender Felsen gewahren. Das Geheul – ein Geheul aufgescheuchter Thiere, wiederholte sich. Es kam von der dunkeln Seite der Cordilleren her. Was gab's da? Plötzlich kam eine wüthende Lawine heran, eine Lawine lebender, vor Schrecken toller Geschöpfe. Die ganze Hochebene schien in Bewegung. Von diesen Thieren kamen Hunderte, Tausende vielleicht, und machten, trotz der dünnen Luft, ein betäubendes Getöse. War's Rothwild aus den Pampas oder nur eine Heerde Lamas und Vigognas? Glenarvan, Mac Nabbs, Robert, Austin, die beiden Matrosen hatten nur noch Zeit sich auf den Boden zu werfen, während dieser lebendige Strudel einige Fuß über ihnen her ging. Paganel, der als Nachtsichtiger, um besser zu schauen, stehen blieb, wurde im Nu zu Boden geworfen.

In dem Augenblick hörte man einen Schuß. Der Major hatte auf's Geradewohl gefeuert. Es kam ihm vor, als falle ein Thier einige Schritte vor ihm nieder, während die ganze Rotte, mit unwiderstehlichem Ungestüm und verdoppeltem Geschrei fortstürmte und über die vom Widerschein des Vulkans erhellten Abhänge hin verschwand.

[104] »Ah! da hab ich sie, sagte eine Stimme – es war Paganel's.

– Und was haben Sie? fragte Glenarvan.

– Meine Brille, wahrhaftig! Die Brille zu verlieren, ist wohl das geringste Ungemach bei solch' einem Getümmel!

– Sie sind doch nicht verwundet? ...

– Nein, ein wenig getreten. Aber von wem?

– Von dem da«, erwiderte der Major, indem er das erlegte Thier herbeischleppte.


Ein Bergsturz mit Eilzuggeschwindigkeit. (S. 108).

[105] Man eilte um die Wette wieder in die Hütte, um bei dem Scheine des Heerdfeuers den Schuß Mac Nabbs zu untersuchen.

Es war ein hübsches Thier, ähnlich einem kleinen Kameel ohne Buckel, mit seinem Kopf, flachem Körper, langen und schlanken Beinen, seinen Haaren von einer Farbe, wie Kaffee mit Milch; der Leib war unten weiß gefleckt. Als Paganel es erblickte, rief er aus:

»Ein Guanaco!

– Was ist der Guanaco für ein Thier? fragte Glenarvan.

– Ein eßbares Thier, erwiderte Paganel.

– Ist's gut?

– Schmackhaft. Ein Gericht, wie im Olymp. Ich wußte doch, daß wir noch einen Braten zum Abendtisch bekommen würden! Und was für ein Braten! Aber wer wird das Thier ausweiden?

– Ich, sagte Wilson.

– Gut, ich übernehme es zu braten, erwiderte Paganel.

– So sind Sie auch ein Koch, Herr Paganel? fragte Robert.

– Wahrhaftig, lieber Junge, und zwar als Franzose! In jedem Franzosen steckt ein Koch.«

Fünf Minuten nachher legte Paganel große Schnitten Wildbraten auf die Kohlen der Llarettawurzel. Zehn Minuten später legte er seinen Gefährten dieses sehr appetitliche Fleisch unter dem Namen »Mürbbraten von Guanaco« vor. Niemand machte Umstände, man biß tapfer ein.

»Das ist ja abscheulich! sagte der Eine.

– Nicht zum Essen!« erwiderte der Andere.

Der arme Gelehrte mußte zugeben, daß dieser Rostbraten selbst für Ausgehungerte ungenießbar war. Man fing an, einige Scherze über sein olympisches Gericht zu machen, die er übrigens gut verstand; er forschte nach dem Grunde, weshalb dieses Guanacofleisch, das sonst gut und sehr geschätzt ist, unter seinen Händen so abscheulich geworden war. Ein Gedanke fuhr ihm durch den Kopf:

»Jetzt weiß ich's, rief er aus; wahrhaftig! Ich hab's gefunden!

– Ist das Fleisch vielleicht schon zu weit voran? fragte ruhig Mac Nabbs.

[106] – Nein, aber zu sehr in Aufregung! Wie konnt' ich das nur unbeachtet lassen?

– Was meinen Sie damit, Herr Paganel, fragte Tom Austin.

– Ich will sagen, das Guanaco hätte müssen in ruhigem Zustande getödtet werden; ein zu sehr abgehetztes Wild ist nicht genießbar. Daraus kann ich abnehmen, daß die Heerde schon weit her gerannt ist.

– Ist das gewiß, sagte Glenarvan.

– Ganz gewiß.

– Aber welches Naturereigniß war im Stande, diese Thiere so in Schrecken zu setzen zu einer Zeit, da sie sonst ruhig auf ihrem Lager schlafen.

– Hierauf, lieber Glenarvan, sagte Paganel, kann ich nicht antworten. Wenn Sie mir folgen, so gehen wir jetzt zur Ruhe, ohne weiter zu forschen. Ich meinestheils bin todtmüde. Sind Sie dabei, Major?

– Ja, wir wollen schlafen.«

Darauf hüllte sich jeder in seinen Poncho, man schürte das Feuer und gab ihm Brennstoff für die ganze Nacht, und bald hörte man furchtbar schnarchen in allen Tonarten und Weisen; der Baß des gelehrten Geographen stützte die Harmonie der Stimmen.

Glenarvan allein schlief nicht. Geheime Unruhe hielt ihn in schlaflosem Zustande. Unwillkürlich quälte ihn der Gedanke an die gemeinsam flüchtende Heerde und ihren unerklärlichen Schrecken. Es konnte dies nicht von einer Verfolgung durch Raubthiere herrühren. In dieser Höhe giebt's deren keine, noch weniger Jäger. Woher rührte nun der Schrecken, welcher die Thiere den Abgründen des Antuco zutrieb? Es ahnte ihm eine nahe Gefahr.

Doch beruhigte er sich im halben Schlummer ein wenig, und die Hoffnung gewann die Oberhand über die Besorgnisse. Er befand sich in Gedanken bereits am Morgen auf der Ebene der Anden. Da mußten erst recht seine Forschungen anfangen, und vielleicht war der Erfolg schon nahe. Er dachte an die Befreiung des Kapitäns Grant und der beiden Matrosen aus harter Sclaverei. Solche Gedanken flogen durch seinen Geist, dann kamen ihm seine schlimmen Ahnungen nur verstärkt wieder.

Einmal glaubte er in der Ferne ein dumpfes, drohendes Getöse zu vernehmen, gleich einem Donnergeroll, das nicht von oben kam. Es konnte nur von einem Gewitter herrühren, das einige tausend Fuß unterhalb im Gebirge [107] ausgebrochen war. Glenarvan ging hinaus, um sich darüber in's Klare zu setzen.

Es ging eben der Mond auf. Die Luft war klar und ruhig. Kein Wölkchen, weder am Himmel, noch im Thalgrund. Hier und da ein leichter Widerschein der Flammen des Antuco. Kein Gewitter, kein Blitz; zahllose Sterne funkelten. Und doch dauerte das Getöse fort; es schien näher zu kommen und quer über die Andenkette zu laufen. Glenarvan begab sich nur unruhiger wieder zurück, fragte sich nach dem Zusammenhang zwischen dem unterirdischen Getöse und der Flucht der Guanacos. Es war zwei Uhr Morgens. Jedoch weckte er seine Genossen nicht, die aus Ermüdung in tiefem Schlaf lagen, und fiel selbst einige Stunden lang in unüberwindlichen Schlummer.

Plötzlich schreckte ihn ein entsetzliches Getöse wieder auf. Es war ein betäubendes Gepolter, gleich dem stoßweisen Rollen unzähliger Munitionskarren über hallendes Pflaster. Auf einmal fühlte er den Boden unter seinen Füßen wanken; er bemerkte, wie die Hütte wankte und klaffte.

»Aufgewacht!« rief er seinen Gefährten zu.

Diese wurden, sowie sie die Augen öffneten, durch einander gerüttelt und auf einen jähen Abhang hinunter geschleudert.

Der Tag graute eben, es war eine entsetzliche Scene. Die Gestalt der Gebirge änderte sich plötzlich; die Kegel wurden stumpf, die wackelnden Spitzen verschwanden wie in eine Fallthür hinein. Eine mehrere Meilen starke Felsmasse löste sich ab und rutschte der Ebene zu.

»Ein Erdbeben!« schrie Paganel.

Er irrte sich nicht. Es sind solche in dem gebirgigen Küstenland Chili nicht selten, zumal in dieser Gegend, wo Copiapo zweimal zerstört wurde, und Sanct Jago viermal binnen vierzehn Jahren. Die unterirdischen Feuer sind dort stets in Thätigkeit, und die Vulkane dieser Gebirgskette neueren Ursprungs haben nicht genug Oeffnungen, um die unterirdischen Dünste herauszulassen. Daher diese unaufhörlichen Erschütterungen, welche man Erdbeben nennt.

Inzwischen rutschte die Hochebene, worauf die sieben Männer, von Schrecken betäubt, sich an Büscheln Flechte festzuklammern suchten, so rasch wie ein Eilzug, d.h. fünfzig Meilen in der Stunde, hinab. Es war nicht möglich zu [108] schreien, nur eine Bewegung zu machen, um sich festzuhalten oder zu fliehen. Man hätte sich auch nicht verständlich machen können vor dem unterirdischen Rollen, dem Getöse der Lawinen, dem Herabsturz der Granit- und Basaltmassen, den Staubwirbeln, welche alle gegenseitige Mittheilung unmöglich machten. Bald rutschte der Block ohne Anstoß weiter, bald streifte er, gerüttelt und geschüttelt wie das Verdeck eines Schiffes von den Wogen der See, an Abgründen vorbei, in welche Bergstücke hinabfielen, und sichelte Jahrhunderte alte Bäume und alle Unebenheiten des östlichen Abhangs wie eine Sense hinweg. Man denke auch, was eine Masse vom Tonnengewicht einiger Milliarden in stets wachsender Schnelligkeit unter einem Winkel von fünfzig Grad herabstürzend für eine Wucht haben muß!



Wie lange dieser unbeschreibliche Sturz dauerte, konnte Niemand ermessen. In welchen Abgrund er führen würde, war nicht zu ersehen. Ob Alle noch am Leben waren, oder Einer in einem Abgrunde lag, konnte man nicht sagen. Athemlos durch die Schnelligkeit des Rutschens, von Eiskälte durchdrungen, konnten sie vor'm Schneegewirbel nicht sehen, keuchten fast leblos und klammerten sich instinctmäßig an den Felsen fest.

Auf einmal wurden sie durch einen Stoß mit unglaublicher Gewalt losgerissen und fortgeschleudert und rollten über die letzten Gebirgsstufen.

Einige Minuten lang lagen sie regungslos. Endlich richtete sich einer auf, zwar sinnbetäubt, aber noch festen Fußes – es war der Major. Er [109] schüttelte den Staub von den Augen und blickte um sich. Seine Gefährten lagen gleich abgeschossenen Flintenkugeln um ihn herum übereinander.

Der Major zählte sie. Bis auf einen lagen sie auf dem Boden. Es fehlte Robert Grant.

Fußnoten

1 Der Siedepunkt des Wassers sinkt mit je 324 Meter der Höhe um einen Grad herab.

14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Ein rettender Schuß.

Die östliche Abdachung der Andenkette besteht aus weithin sich erstreckenden Flächen, die allmälig auf die Ebene abfallen, wo ein Theil der Bergmasse plötzlich Halt gemacht hatte. Diese Landschaft ist mit fetten Weiden voll prächtiger Bäume bedeckt, darunter zahllose Obstbäume mit goldglänzenden Früchten, die, zur Zeit der Eroberung angepflanzt, ganze Waldungen bilden, ein prangendes Stück Normandie im Gebiet des La Plata; unter anderen Umständen hätte das Auge des Reisenden über den plötzlichen Uebergang aus öder Wüste in die Oase lachenden Wiesenlandes, des Winters in den Sommer gestaunt.

Uebrigens war das Erdbeben vorüber, der Boden fest, die unterirdischen Kräfte äußerten wohl nun anderwärts ihre zerstörende Wirkung, denn die Andenkette ist stets irgendwo in einer gewissen Erschütterung. Dieses Mal war sie äußerst heftig gewesen. Die Gebirgsformen hatten sich völlig geändert, am blauen Himmel zeigte sich ein neues Panorama von Berg-Gipfeln, Bergkämmen und Spitzen, und der Pampaführer hätte sich da nicht mehr zurecht gefunden.

Ein herrlicher Tag war angebrochen. Die Sonne stieg aus dem einen Ocean empor, und ihre Strahlen schimmerten bereits auf den Wogen des anderen. Es war acht Uhr Morgens.

Lord Glenarvan und seine Gefährten kamen durch des Majors Pflege wieder zu sich, und erholten sich allmälig von der erschrecklichen Betäubung; sonst hatten sie keinen Schaden erlitten. Die rasche Beförderung die Cordilleren [110] herab auf Kosten der Natur konnte ihnen erwünscht sein, hätte nicht der arme Robert Grant gefehlt.

Jeder liebte den muthigen Jungen, besonders Paganel, auch der Major trotz seiner Kälte, vor Allen Glenarvan. Dieser gerieth in Verzweiflung, als er sein Verschwinden vernahm.

»Freunde, Freunde! rief er mit kaum zurückgehaltenen Thränen, wir müssen ihn suchen, müssen ihn finden! So können wir ihn nicht im Stich lassen! Jedes Thal, jede Schlucht, jeder Abgrund muß bis auf den Boden durchsucht werden! Man binde mir ein Seil um den Leib, lasse mich hinab! Gebe der Himmel, daß Robert noch am Leben ist! Wie könnten wir ohne ihn seinem Vater unter die Augen treten? Dürfte mit dem Leben des Sohnes die Rettung des Vaters erkauft werden?«

Schweigend hörten seine Gefährten Lord Glenarvan zu.

»Nun, fuhr Glenarvan fort, Sie haben mich gehört, und schweigen? Sie haben keine Hoffnung, keine mehr!«

Nach einer kleinen Weile ergriff Mac Nabbs das Wort:

»Wer von Euch, meine Freunde, erinnert sich, in welchem Augenblicke Robert Grant verschwunden ist?«

Es erfolgte keine Antwort.

»Wenigstens, fuhr der Major fort, können Sie mir sagen, an wessen Seite der Knabe während des Herabsteigens sich befand.

– In meiner Nähe, erwiderte Wilson.

– Nun, bis zu welchem Zeitpunkt hast Du ihn in Deiner Nähe gesehen? Besinne Dich. Sprich.

– Alles, worauf ich mich besinnen kann, versetzte Wilson, besteht in Folgendem. Robert Grant befand sich, festgeklammert an ein Flechtenbüschel, einige Minuten vor dem letzten Stoß noch an meiner Seite.

– Zwei Minuten zuvor! Achte wohl darauf, Wilson, die Minuten sind Dir wohl lange vorgekommen! Irrst Du nicht?

– Ich glaube mich nicht zu irren ... Ja wohl ... keine zwei Minuten zuvor.

– Gut! sagte Mac Nabbs. Und befand sich Robert rechts oder links.

– Zu meiner Linken. Ich erinnere mich, daß sein Puncho mir in's Gesicht schlug.

– Und Du im Verhältniß zu uns? ...


Ein Condor trägt Robert mit in die Luft. (S. 116).

– Ebenfalls zur Linken.

– Also konnte Robert nur dort verschwinden, sagte der Major, indem er rechts nach dem Gebirge zeigte. Ich bemerke weiter, daß, wenn man die seit seinem Verschwinden verflossene Zeit in Anschlag bringt, der Knabe auf den Theil des Gebirges zwischen dem [111] Fuß und zweitausend Fuß Höhe gefallen sein muß. Dort muß man ihn suchen, und da werden wir ihn auch wieder finden.«


Der Patagonier Thalcave. (S. 118).

Ohne ein Wort weiter zu reden, stiegen die sechs Mann die Abhänge des [112] Gebirges hinan, und begannen auf dem Rücken desselben, in gewissen Entfernungen an verschiedene Höhepunkte vertheilt, ihre Nachforschungen. Sie hielten sich dabei beständig rechts von der Linie, wo sie herabgekommen waren, durchsuchten die geringsten Spalten, stiegen in die Tiefen der Abgründe, die zum Theil mit Trümmern bedeckt waren, mit Lebensgefahr hinab, und kamen mitunter mit zerfetzten Kleidern, blutigen Händen und Füßen wieder heraus. Diese ganze Strecke der Anden, einige unzugängliche Höhepunkte ausgenommen, wurde auf's Sorgfältigste durchsucht, ohne daß sich die [113] wackeren Leute Ruhe und Rast gönnten. Alles vergebens. Der Knabe mußte nicht allein den Tod, sondern auch sein Grab zwischen den Felsblöcken gefunden haben.

Gegen ein Uhr fanden sich Glenarvan und seine Genossen erschöpft und wie vernichtet wieder im Thale zusammen. Glenarvan, vom heftigsten Schmerz übermannt, konnte kaum reden, nur einzelne Worte und Seufzer fielen von seinen Lippen.

»Nein, ich gehe nicht weg, nicht weg von hier!«

Jeder begriff und achtete die zur fixen Idee gewordene Hartnäckigkeit.

»Warten wir, sagte Paganel zum Major und Tom Austin. Ruhen wir etwas aus, unsere Kräfte zu ersetzen. Wir bedürfen's, sei's zur Fortsetzung unserer Untersuchungen oder unserer Reise.

– Ja wohl, erwiderte Mac Nabbs; aber worauf hofft denn Edward.

– Gott weiß es, sagte Tom Austin.

– Armer Robert!« jammerte Paganel mit Thränen in den Augen.

Das Thal war reich an Bäumen. Der Major wählte eine Gruppe, um einen provisorischen Lagerplatz darunter einzurichten. Einige Decken, die Waffen, ein wenig Dürrfleisch und Reis, das war Alles, was die Reisenden noch hatten. Ein Bach in der Nähe lieferte nur ein getrübtes Wasser. Mulrady zündete ein Feuer an, und konnte bald seinem Herrn einen warmen, erquickenden Trank darbieten. Aber Glenarvan nahm ihn nicht an, und blieb in tiefer Niedergeschlagenheit auf seinen Puncho gelagert.

So verfloß der Tag. Die Nacht war ruhig und windstill, wie die vorige. Glenarvan stieg, während seine Gefährten schlaflos dalagen, die Cordillerenabhänge wieder hinan. Er lauschte, stets in Hoffnung, daß ein Hilferuf zu seinen Ohren dringen werde, die er mit bangem Herzklopfen an den Boden hielt. Dann rief er wieder mit jammerndem Ton.

Die ganze Nacht hindurch streifte der arme Lord im Gebirge umher, bald von Paganel, bald von dem Major gefolgt, um ihm beizustehen, wann ein unvorsichtiger Schritt ihn in Gefahr brächte. Aber alles war vergebens, und dem tausendfachen Ruf: Robert! antwortete nur das Echo.

Der Tag brach an. Man mußte Glenarvan auffer nen Höhen aufsuchen und, so hart es ihm auch ward, zurückführen. Bei seiner Verzweiflung konnte man nicht von Abreise reden. Doch die Lebensmittel gingen aus. Nicht weit von da mußte man argentinische Maulthiertreiber treffen, sowie [114] die für den Zug über die Pampas erforderlichen Pferde. Rückwärts zu gehen war schwieriger, als weiter vorwärts zu dringen. Zudem war am Atlantischen Ocean das Zusammentreffen mit dem Duncan verabredet. Alle diese schwer wiegenden Gründe sprachen gegen längeres Verweilen, und im Interesse Aller durfte die Abreise nicht verschoben werden.

Mac Nabbs versuchte Glenarvan seinem Schmerz zu entreißen. Er sprach lange, ohne daß sein Freund es zu hören schien. Glenarvan schüttelte mit dem Kopf; nur einige Worte entfuhren seinen Lippen.

»Abreisen? sagte er.

– Ja, abreisen.

– Nur noch eine Stunde!

– Ja, eine Stunde noch«, erwiderte der würdige Major.

Und als die Stunde vorüber war, bat Glenarvan, ihm noch eine weitere zu vergönnen. So ging's bis zu Mittag etwa. Dann erklärte Mac Nabbs im Namen Aller, man dürfe nicht länger zaudern, das Leben Aller stehe auf einer raschen Entschließung.

»Ja! ja! erwiderte Glenarvan. So reisen wir ab!«

Bei diesen Worten richtete er den Blick zum Himmel. Hier fesselte ihn ein schwarzer Punkt. Plötzlich hob er die Hand auf und wies unverwandt darauf hin.

»Dort, dort, sehen Sie nur!«

Aller Augen richteten sich dahin. Der schwarze Punkt ward merklich größer.

»Ein Condor, sagte Paganel.

– Ja, ein Condor, erwiderte Glenarvan. Wer weiß? Er kommt herab! Geben wir Acht!«

Paganel hatte sich nicht geirrt; jeden Augenblick wurde der Condor kenntlicher. Dieser prachtvolle Vogel erreicht in jenen Gegenden eine außerordentliche Größe und erstaunliche Stärke: er vermag Ochsen, in die Abgründe zu stoßen, und Hammel, Kälber, Ziegen hoch in die Lüfte zu heben. Er schwebt mitunter in einer Höhe von 20,000 Fuß, wo der Mensch ihn nicht erreichen kann, und von da herab dringt sein scharfer Blick und vermag zum Staunen der Naturforscher die kleinsten Gegenstände zu unterscheiden.

Hatte dieser Condor vielleicht Robert's Leichnam erblickt? »Wer weiß?« sagte Glenarvan wiederholt und unverwandten Blickes. Der ungeheure Vogel [115] kam näher, beschrieb weite Kreise, man konnte ihn genau erkennen mit seiner Flügelweite von mehr als fünfzehn Fuß.

Der Major und Wilson griffen nach ihrem Gewehr. Glenarvan mahnte sie mit einem Wink ab. Der Condor umkreiste in wiederholtem Flug eine unzugängliche Hochfläche, die eine Viertelmeile hoch auf dem Abhang der Cordilleren lag. Er drehte sich mit schwindelhafter Schnelligkeit, öffnete und schloß seine fürchterlichen Krallen.

»Dort! dort!« rief Glenarvan.



Da fuhr ein Gedanke plötzlich durch seinen Geist.

»Wenn Robert noch am Leben ist! rief er mit fürchterlichem Ton, dieser Vogel ... Feuer! liebe Freunde, Feuer!«

Aber es war schon zu spät, der Condor war hinter einen hohen Felsenvorsprung geschlüpft. Nach einer Secunde kam der Riesenvogel wieder zum Vorschein, mit einer schweren Last emporfliegend. Ein Schrei des Entsetzens entfuhr den Schauenden. Man sah in den Krallen des Condor Robert Grant's Körper entseelt hin und her geschüttelt. Der Vogel hatte ihn bei den Kleidern gefaßt und wiegte sich in den Lüften, mindestens hundertundfünfzig [116] Fuß hoch über der Lagerstätte. Als er die Reisenden sah, trachtete er mit seiner Beute zu entfliehen.

»Ach! rief Glenarvan, lieber zerschmettere Robert's Leichnam an den Felsen –«, ohne auszureden ergriff er Wilson's Carabiner, versuchte auf den Condor anzulegen; aber sein Arm zitterte, seine Augen wurden trübe.

»Lassen Sie mich schießen«, sagte der Major.

Und ruhigen Blickes, mit sicherer Hand, unbewegtem Körper, zielte er auf den Vogel, der schon dreihundert Fuß über ihnen schwebte.

Aber er hatte noch nicht den Hahn losgedrückt, als im Grund des Thales ein Schuß fiel, und der Condor, am Kopf getroffen, sank langsam im Kreise sich drehend, indem seine ausgebreiteten Flügel als Fallschirm dienten. Er ließ seine Beute nicht los und senkte sich langsam zum Boden, zehn Schritte weit vom Uferrand des Baches.



»Herbei! herbei!« rief Glenarvan.

Und ohne zu fragen, woher der rettende Schuß kam, stürzte er auf den Condor. Seine Genossen eilten ihm nach.

Als sie ankamen, war der Vogel bereits todt, und Robert's Körper war von den weiten Flügeln bedeckt. Glenarvan warf sich über den Leichnam des Knaben, machte ihn von des Vogels Krallen los, legte ihn auf's Gras und lauschte mit dem Ohr an der Brust des unbelebten Körpers.

Allgemeiner Jubel begrüßte den Ruf Glenarvan's:

»Noch bei Leben!«

[117] Im Nu ward Robert entkleidet, sein Gesicht mit frischem Wasser besprengt. Er bewegte sich, schlug die Augen auf, blickte um sich. Seine ersten Worte waren:

»Ah! Sie, Mylord ... mein Vater! ...«

Glenarvan vermochte keine Antwort vorzubringen, so war er von Rührung erstickt, und knieend weinte er neben dem so wunderbar geretteten Knaben.

15. Capitel
Fünfzehntes Capitel.
Wie Jacques Paganel Spanisch lernte.

Nach der ungeheuren Gefahr, der er glücklich entronnen war, drohte Robert eine kaum minder große, nämlich die, von Liebesbezeugungen erstickt zu werden. Obgleich er noch sehr schwach war, konnte sich doch Keiner von den guten Leuten enthalten, ihn an's Herz zu drücken.

Nach dem Geretteten dachte man erst an den Retter, und natürlich war es zuerst der Major, der sich anschickte, umher zu blicken. Gegen fünfzig Schritt vom Flusse stand ein sehr großer Mann unbeweglich auf einer der ersten Stufen des Bergabhangs. Eine lange Flinte hatte er neben sich. Dieser so plötzlich aufgetauchte Mann war breitschulterig und hatte lange, mit Lederriemen zurückgebundene Haare. Er war über sechs Fuß hoch; sein bronzefarbenes Gesicht war nur zwischen den Augen und dem Munde roth, am untern Augenlide schwarz und an der Stirne weiß gefärbt. Sein Anzug glich dem der Patagonier an der Grenze. Er trug einen prächtigen Mantel, der mit rothen aus dem Halse und den Beinen eines Guanaco verfertigten Arabesken geziert, mit Sehnen vom Strauß genäht war und seine seidenartige Wolle nach Außen gekehrt hatte. Unter dem Mantel hatte er noch ein von Fuchsfellen gearbeitetes, eng an den Leib anschließendes Kleid, das sich nach vorn in einer Spitze endigte. Am Gürtel hing ein kleiner Beutel, der die ihm zur Bemalung des Gesichtes erforderlichen Farben enthielt. [118] Seine Fußbekleidung bestand aus einem Stück Ochsenleder, und war um den Knöchel mit regelrecht gekreuzten Riemen befestigt.

Die Gesichtszüge des Patagoniers waren stolz und zeigten wirkliche Einsicht, trotz seiner buntscheckigen Bemalung. Er wartete in einer Haltung voller Würde. Wenn man ihn so unbeweglich und würdevoll auf dem Felsen stehen sah, hätte man ihn für eine Statue der Kaltblütigkeit halten können.

Sobald der Major denselben bemerkte, machte er Glenarvan auf ihn aufmerksam, und dieser eilte zu ihm. Der Patagonier trat zwei Schritte vor. Glenarvan ergriff seine Hand und drückte sie. In den Blicken des Lord, in dem Ausdrucke seines Gesichts und seinem ganzen Aeußern, sprach sich das Gefühl der Erkenntlichkeit, der Ausdruck des Dankes so unzweifelhaft aus, daß der Eingeborene sich nicht darüber täuschen konnte. Er neigte den Kopf ein wenig und sprach einige Worte, die aber weder der Major, noch sein Freund verstand.

Nach aufmerksamer Betrachtung der Fremden bediente sich der Patagonier einer andern Sprache; aber das neue Idiom wurde nicht besser verstanden. Doch fielen Glenarvan einige Ausdrücke, die der Eingeborene gebrauchte, auf; sie schienen ihm der spanischen Sprache anzugehören, von der er die gewöhnlichsten Worte kannte.

»Español?« sagte er.

Der Patagonier nickte mit dem Kopfe, ein bei allen Völkern gleichmäßiges Zeichen der Bestätigung.

»Gut, sagte der Major, das ist Etwas für unsern Freund Paganel. Es war doch gut, daß er auf den Gedanken kam, das Spanische zu lernen.«

Paganel wurde gerufen. Er kam sogleich herbei und begrüßte den Patagonier mit ganz französischem Anstand, von dem dieser voraussichtlich Nichts verstand. Der gelehrte Geograph verständigte sich bald über die Lage der Dinge.

»Ganz recht!« erwiderte er.

Dann sagte er, den Mund weit öffnend, um deutlicher auszusprechen:

»Vos sois um homem de bem 1

Der Eingeborene spitzte das Ohr, aber antwortete nicht.

»Er versteht es nicht, sagte der Geograph.

[119] – Sind Sie auch sicher, richtig zu betonen? versetzte der Major.

– Sie haben Recht. Der verteufelte Accent!«

Paganel wiederholte seine höfliche Anrede, aber nur mit dem nämlichen Erfolge.

»So will ich etwas Anderes sagen«, erklärte er, und sprach mit der Langsamkeit eines Schulmeisters die Worte:

»Sem duvida, um Patagâo?« 2

Der Andere blieb stumm, wie zuvor.

»Dizeime!« 3 setzte Paganel hinzu.

Der Patagonier erwiderte noch immer Nichts.

»Vos compriendeis?« 4 schrie Paganel so laut, daß er sich beinahe die Stimmbänder zerrissen hätte.

Offenbar verstand ihn der Patagonier nicht, denn er antwortete, aber in spanischer Sprache:

»No comprendo.« 5

Jetzt war die Reihe an Paganel, erstaunt zu sein; wie ein durch Neckereien Gereizter schob er die Brille von der Stirn sich vor die Augen.

»Ich will mich hängen lassen, sagte er, wenn ich ein Wort von diesem teuflischen Kauderwälsch verstehe. Das ist araucanisch, ganz gewiß!

– Nein doch, entgegnete Glenarvan, der Mann hat unzweifelhaft spanisch geantwortet.«

Und sich wieder an den Patagonier wendend, fragte er nochmals:

»Español?

– Ja wohl«, erwiderte der Eingeborene.

Paganel war bis zur Bestürzung erstaunt. Der Major und Glenarvan sahen sich schielend einander an.

»Aha, mein gelehrter Freund, sagte der Major, während schon ein verstecktes Lächeln auf seinen Lippen spielte, sollte hier nicht wieder eine jener Zerstreutheiten vorliegen, auf die Sie ein Patent zu haben scheinen?

– Was! rief der Geograph und horchte gespannt.

– Nun ja, es ist doch unzweifelhaft, daß der Patagonier spanisch spricht.

[120] – Wie, er sollte? ...

– Ja, gewiß. Und hätten Sie vielleicht zufällig eine andere Sprache studirt, und glaubten ...«

Mac Nabbs konnte seine Worte nicht beenden. Ein nachdrückliches »Oho!« von Seiten des Gelehrten, begleitet mit Achselzucken, schnitt sie ihm ab.

»Major, Sie gehen etwas zu weit! sagte Paganel mit trockener Stimme.

– Ei nun, da Sie ihn nicht verstehen! erwiderte Mac Nabbs.

– Ich verstehe ihn nicht, weil dieser Eingeborene schlecht spricht! entgegnete der Geograph, dem nun die Geduld ausging.

– Das heißt, er spricht wohl schlecht, weil Sie ihn nicht verstehen, meinte sehr ruhig der Major.

– Mac Nabbs, sagte da Glenarvan, das ist doch wohl eine unzulässige Annahme. So zerstreut auch unser Freund Paganel sein mag, so ist doch kaum zu glauben, daß er darin so weit ging, eine Sprache statt einer andern zu lernen.

– Nun, mein lieber Edward, oder vielmehr Sie, mein braver Paganel, so erklären Sie mir, was hier vorliegt.

– Ich erkläre nicht, sagte Paganel, ich beweise. Hier ist das Buch, in dem ich mich täglich in den Schwierigkeiten der spanischen Sprache übe. Betrachten Sie es selbst, Major, und Sie werden ja sehen, ob ich Unrecht habe oder nicht!«

Bei diesen Worten suchte Paganel in seinen Taschen; nach wenigen Minuten zog er einen in sehr schlechtem Zustande befindlichen Band hervor und reichte ihn zuversichtlich hin. Der Major nahm das Buch und sah ihn an:

»Nun, was ist das für ein Buch? fragte er.

– Das ist ›Die Lusiade‹, erwiderte Paganel, ein herrliches Heldengedicht, welches ...

– Die Lusiade, rief erstaunt Glenarvan.

– Ja wohl, mein Freund, die Lusiade von dem großen Camoëns, nichts mehr, nichts weniger!

– Camoëns, wiederholte Lord Edward, aber, Sie unglücklicher guter Freund, Camoëns war – ein Portugiese! Portugiesisch haben Sie seit sechs Wochen getrieben!

– Camoëns! Lusiade! Portugiesisch! ...«

[121] Paganel konnte nichts weiter vorbringen. Unter der Brille trübten sich seine Augen, während ihm ein homerisches Gelächter in die Ohren schallte, denn alle seine Genossen hatten sich um ihn versammelt.

Der Patagonier verzog nicht die Miene; er erwartete geduldig die Aufklärung eines Zwischenfalles, der ihm ganz unverständlich war.

»O, ich Gedankenloser! Ich Narr! sagte endlich Paganel. Wie? Es ist also wirklich so und die Geschichte nicht blos zum Scherz erfunden? Ich habe das gethan? Ich? Das ist ja eine Sprachenverwirrung wie die zu Babel. Ach, Freunde, meine lieben Freunde! Nach Indien abzureisen und in Chili anzukommen! Spanisch lernen und Portugiesisch sprechen, das ist doch zu stark, und wenn das so fortgeht, werf' ich mich einmal selbst, statt meiner Cigarre, zum Fenster hinaus.«

Wenn man hörte, wie Paganel sein Unglück auffaßte, wenn man sah, wie komisch er sich in seinem Mißgeschick benahm, war es unmöglich, ernsthaft zu bleiben. Uebrigens ging er selbst mit gutem Beispiele voran.

»Lacht nur, Freunde, sagte er; lacht aus vollem Herzen; Niemand kann mich so sehr verlachen, als ich selbst.«

Dazu ließ er ein so furchtbares Gelächter erschallen, wie es niemals aus dem Munde eines Gelehrten gekommen ist.

»Jedenfalls haben wir nun keinen Dolmetscher, sagte der Major.

– O, darüber seien Sie außer Sorge, erwiderte Paganel; das Portugiesische und das Spanische ähneln sich ebenso sehr, als ich mich vorher geirrt habe; aber diese Aehnlichkeit soll mir helfen, meinen Irrthum wieder gut zu machen, und bald werd' ich im Stande sein, dem würdigen Patagonier in der Sprache, die er so gut spricht, zu danken.«

Paganel hatte Recht, denn bald konnte er mit dem Eingeborenen einige Worte wechseln. Er hörte, daß der Patagonier Thalcave hieß, ein Wort, welches in der araucanischen Sprache soviel wie »Der Donnerer« bedeutet.

Diesen Beinamen verdankte er gewiß seiner Geschicklichkeit in Handhabung der Feuerwaffen.

Am meisten erfreute es aber Glenarvan zu hören, daß der Patagonier seines Zeichens Führer, und zwar Führer in den Pampas sei. Dieses Zusammentreffen erschien so von der Vorsehung gefügt, daß ihnen der Erfolg ihres Unternehmens schon zur Thatsache wurde und Keiner mehr in die Rettung des Kapitän Grant einen Zweifel setzte.

[122] Indessen kehrten die Reisenden nebst dem Patagonier zu Robert zurück. Dieser streckte seine Hände dem Eingeborenen entgegen, welcher ihm ohne ein Wort zu sprechen, die Hand auf den Kopf legte. Er untersuchte das Kind und befühlte dessen schmerzende Gliedmaßen. Dann pflückte er lächelnd an dem Flußufer einige Hände voll wilden Sellerie und frottirte damit den Körper des Kranken. Unter dieser mit unendlicher Zartheit ausgeführten Operation fühlte der Knabe seine Kräfte wiederkehren, und es war offenbar, daß einige Stunden Ruhe hinreichen wurden, sie ganz wieder herzustellen.



Man beschloß also, diesen Tag und die folgende Nacht zu lagern. Es waren auch noch zwei wichtige Fragen zu entscheiden, betreffs der Nahrungsmittel und ihres Transportes. Es fehlte an Lebensmitteln wie an Mauleseln gleichmäßig. Zum Glück war nun Thalcave da. Dieser Führer, gewohnt die Reisenden längs der patagonischen Grenzen hin zu geleiten und einer der intelligentesten Baqueanos des Landes, machte sich anheischig, Alles zu beschaffen, was Glenarvan und seiner kleinen Gesellschaft fehlte. Er erbot sich, sie nach einer kaum vier Meilen entfernten indianischen »Tolderia« zu geleiten, wo sie alles für die Expedition Nothwendige finden würden. Dieser Vorschlag wurde halb mittels Gesten gemacht und halb durch spanische Worte, welche Paganel zu verstehen begann. Sofort nahmen Glenarvan und sein gelehrter Freund von den Uebrigen Abschied und gingen unter Führung des Patagoniers wieder stromaufwärts.

Einundeinhalbe Stunde gingen sie ziemlich schnell dahin und mußten [123] große Schritte machen, um dem Riesen Thalcave folgen zu können. Diese ganze Gegend der Anden ist sehr schön und äußerst fruchtbar. Fette Weideplätze folgten einer auf den anderen, und hätten hingereicht, ein Heer von 100,000 Wiederkäuern zu ernähren. Große Teiche, die mit einander durch ein Netz von Nebenflüssen verbunden waren, lieferten diesen Ebenen eine befruchtende Feuchtigkeit. Schwarzköpfige Schwäne erlustigten sich darauf mit launischem Behagen, und machten zahlreichen Straußen, die drollig über die Llanos sprangen, die Herrschaft über das Gewässer streitig. Die Vogelwelt war sehr farbenschön, sehr lärmend, aber auch von bewundernswerther Mannigfaltigkeit. Isacas, schlanke grauliche Turteltauben mit weißgestreiftem Gefieder, und gelbe Cardinäle schaukelten sich auf den Zweigen der Bäume, wie lebende Blumen; und das ganze gefiederte Volk der Sperlingsarten, »Chingolos«, »Hilgueros« und »Monjitas« verfolgte sich in schnellem Fluge und erfüllte die Luft mit seinem durchdringenden Geschrei.



Jacques Paganel fiel von einer Bewunderung in die andere; unaufhörliche Ausrufe entströmten seinen Lippen, sehr zur Verwunderung des Patagoniers, der es ganz natürlich fand, daß Vögel in den Lüften, Schwäne auf den Weihern und Gras auf den Wiesengründen war. Der Gelehrte hatte keine Ursache, diesen Weg zu bedauern, noch sich über seine Länge zu beklagen. Er glaubte kaum aufgebrochen zu sein, als sich auch schon das indianische Lager vor seinen Augen entfaltete.

Diese Tolderia befand sich im Grunde eines zwischen den Bergabhängen [124] der Anden eingeklemmten Thales. Dort lebten unter Hütten von Gezweig einige dreißig nomadisirende Indianer, welche große Heerden Milchkühe, Schafe, Ochsen und Pferde weideten. Sie zogen von einem Weidegrund zum andern und fanden den Tisch für ihre vierfüßigen Gäste immer gedeckt.

Der Mischlingstypus des Menschenschlags von Araucanien, der Pehuenchem und Aucas, jene olivenfarbigen Ando-Peruaner von mittlerem Wuchs, kernhaften Formen, niedriger Stirn, fast kreisrundem Gesicht, schmalen Lippen, hervorspringenden Backenknochen, weibischen Zügen und kalter Physiognomie, konnten den Blicken eines Anthropologen unmöglich als eine reine Race erscheinen. Im Allgemeinen boten diese Eingeborenen sehr wenig Interesse. Aber Glenarvan hatte es auf ihre Thiere abgesehen, nicht auf sie selbst. Sobald sie nur Ochsen und Pferde hatten, verlangte er von ihnen nichts weiter.

Thalcave unterzog sich der Unterhandlung, welche nicht lange währte. Für sieben kleine argentinische Pferde mit voller Ausrüstung, hundert Pfund Charqui oder getrocknetes Fleisch, einige Maß Reis und mehrere Lederschläuche für das Wasser, erhielten die Indianer, statt Wein oder Rum, den sie freilich weit lieber gehabt hätten, zwanzig Unzen Gold 6, deren Werth sie vollkommen kannten. Glenarvan wollte noch ein achtes Pferd für den Patagonier kaufen, was dieser aber als unnöthig abwies.

Nach Abschluß des Handels nahm Glenarvan von seinen neuen »Lieferanten«, wie Paganel sich ausdrückte, Abschied und gelangte in kaum einer halben Stunde nach dem Lagerplatze zurück. Mit Freudenrufen ward seine Rückkehr begrüßt, doch galten diese im Grunde den Lebensmitteln und den Reitpferden. Alle aßen mit gutem Appetit; Robert nahm auch Etwas zu sich; seine Kräfte waren schon fast ganz wiedergekehrt.

Der Rest des Tages verging in vollkommener Ruhe. Man plauderte von allerlei, von den theuren Abwesenden, vom »Duncan«, vom Kapitän John Mangles, seiner braven Mannschaft und von Harry Grant, der vielleicht nicht fern war.

Paganel für seine Person wich dem Indianer nicht mehr von der Seite. Doch fühlte er sich nicht behaglich bei einem echten Patagonier, neben dem er für einen Zwerg gelten konnte. Dann marterte er den ernsthaften [125] Indianer mit spanischen Redensarten, und dieser ließ ihn gewähren. Diesmal studirte der Geograph ohne Hilfe eines Buches. Immer hörte man ihn mit Hilfe der Kehle, der Zunge und der Kinnlade lautschallende Worte articuliren.

»Wenn ich den Accent nicht richtig treffe, wiederholte er dem Major, so möge man mir's nicht verdenken. Wer hätte auch vorausgesagt, daß mich einmal ein Patagonier Spanisch lehren sollte?«

Fußnoten

1 Sie sind ein braver Mann.

2 Ohne Zweifel ein Patagonier.

3 Antworten Sie.

4 Verstehen Sie mich?

5 Ich verstehe nicht.

6 1304 Mark = 652 fl. S. ö. W.

16. Capitel
Sechzehntes Capitel.
Der Rio Colorado.

Um acht Uhr früh am 22. October gab Thalcave das Zeichen zur Abreise. Zwischen dem zweiundzwanzigsten und dem zweiundvierzigsten Breitengrade senkt sich der Boden Argentina's von Westen nach Osten. Bis zum Meere hin hatten die Reisenden nur einen sanften Abhang niederzusteigen.

Da der Patagonier das Pferd, welches ihm Glenarvan anbot, ablehnte, glaubte Letzterer, er wolle, wie viele Führer zu thun pflegen, lieber zu Fuße gehen, und gewiß mußten seine langen Beine ihm das Gehen sehr erleichtern.

Doch Glenarvan täuschte sich.

Als man aufbrechen wollte, pfiff Thalcave auf eigenthümliche Weise. Sofort sprang ein prächtiges argentinisches Pferd von herrlichem Wuchse aus einem kleinen Gebüsch in der Nähe, und stellte sich auf den Zuruf seines Herrn. Das Thier war von vollkommener Schönheit; braun von Farbe, zeigte es sich als ein stolzes, muthiges und lebendiges Thier; es hatte einen seinen Kopf, den es gefällig trug, die Nüstern weit offen, glänzende Augen, breite Häcksen, wohlausgebildeten Widerrist und lange Fesseln, d.h. alle Eigenschaften der Kraft und der Gewandtheit. Der Major, ein vollkommener Kenner, bewunderte ohne Rückhalt dieses Musterexemplar der Pamparace, bei dem er gewisse Aehnlichkeiten mit dem englischen »Hunter« herausfand. Dieses [126] schöne Thier hieß »Thaouka«, was in patagonischer Sprache »Vogel« bedeutet, und diesen Namen verdiente es in der That.

Sobald Thalcave im Sattel war, sprang sein Pferd in die Höhe. Der Patagonier, ein vollendeter Bereiter, war stattlich anzusehen. Sein Pferdegeschirr enthielt auch die beiden in der argentinischen Ebene gebräuchlichen Jagdgeräthe, die »Bolas« und den »Lazo«. Der Bolas besteht aus drei durch einen Lederriemen verbundenen Kugeln, der vorn am Recado befestigt ist.

Der Indianer schleudert sie oft auf hundert Schritte weit nach dem Thiere oder dem Feinde, welche er verfolgt, und das mit solcher Sicherheit, daß sie sich ihnen um die Füße wickeln und sie auf der Stelle niederstrecken. Es ist das in seinen Händen also ein furchtbares Hilfsmittel, und er handhabte es auch mit erstaunlicher Gewandtheit. Der Lazo dagegen verläßt nie ganz die Hand, welche ihn schleudert. Er besteht nur aus einem gegen dreißig Fuß langen Strick, der aus zwei sorgfältig geflochtenen Lederstreifen hergestellt ist, und endigt mit einer beweglichen Schlinge, die durch einen eisernen Ring gleitet. Diese bewegliche Schlinge wird mit der rechten Hand geschleudert, während die Linke das andere Ende des Lazo hält, das übrigens fest an das Sattelzeug geknüpft ist. Ein langer umgehängter Carabiner vervollständigte die Angriffswaffen des Patagoniers.

Thalcave setzte sich, ohne die Bewunderung zu bemerken, welche seine natürliche Grazie, seine Ungezwungenheit und sein zwangloser Stolz hervorriefen, an die Spitze, und so ging es einmal im Galop und dann wieder im Schritt vorwärts, da die Pferde das Traben gar nicht gewöhnt zu sein schienen. Robert ritt mit großer Kühnheit und beruhigte Glenarvan bald vollständig über seine Sattelfestigkeit.

Gleich am Fuße der Cordilleren beginnt die Ebene der Pampas. Sie läßt sich in drei Theile theilen. Der erste erstreckt sich von der Kette der Anden an über einen Raum von zweihundertundfünfzig Meilen, und ist mit niedrigen Bäumen und Buschwerk besetzt. Der zweite, vierhundertfünfzig Meilen weit mit prächtigem Graswuchs bedeckt, zieht sich bis hundertvierundzwanzig Meilen vor Buenos-Ayres. Von da aus bis zum Meere durchschreitet der Wanderer ungeheure Wiesenflächen voll Luzerneklee und Disteln; dies ist der dritte Theil der Pampas.

Beim Austritt aus den Schluchten der Cordillerenkette stieß Glenarvan's [127] Gesellschaft zunächst auf eine große Menge sandiger Dünen, welche »Medanos« genannt werden und wirklich Wogen gleichen, welche der Wind unaufhörlich hin und her bewegt, wenn sie nicht durch Pflanzenwurzeln am Boden festgehalten werden.



Dieser Sand ist äußerst sein; so sah man ihn sich schon beim geringsten Windhauch in leichten dünnen Säulchen erheben, aber auch wirkliche Tromben von beträchtlicher Höhe bilden, ein Schauspiel, das den Reisenden ebensoviel Vergnügen als Unannehmlichkeiten bereitete; Vergnügen, da es höchst merkwürdig aussah, wenn diese Tromben über die Ebene liefen, scheinbar gegen einander stritten, sich verschmolzen, zusammenbrachen und sich auch ohne alle Ordnung wieder erhoben; Unannehmlichkeiten, denn aus diesen unzähligen Medanos löste sich ein kaum fühlbarer Staub ab, der noch zwischen die Augenlider eindrang, wenn sie auch fest geschlossen waren.


Straße von Carmen nach Mendoza. (S. 132.)

Unter der Herrschaft des Nordwindes dauerte diese Erscheinung den größten Theil des Tages hindurch fort. Dennoch kam man schnell vorwärts und gegen sechs Uhr Abends boten die etwa vierzig Meilen entfernten Cordilleren ein dunkles Bild, das sich schon in dem Nebel des Abends verlor.

Die Reisenden waren durch ihren wohl achtunddreißig Meilen betragenden Ritt doch etwas ermüdet, und sahen schon die Stunde zum Schlafen herannahen. An den Ufern des reißenden Neuquem, einem brausenden Strom voll trüben Wassers, der zwischen steile, röthliche Uferwände eingezwängt ist,

[128] Der Neuquem, den andere Geographen auch Ramid und Comoe nennen, entspringt aus Seen, welche nur den Indianern bekannt sind.

Die Nacht und der darauf folgende Tag boten nichts irgendwie bemerkenswerthes. Schnell und bequem ging es weiter; ein gleichmäßiger Boden und eine erträgliche Temperatur unterstützten die Reise. Gegen Mittag jedoch war die Sonne mit heißen Strahlen gar verschwenderisch, und am Abend thürmte sich am südwestlichen Horizonte eine Wolkenwand auf, ein sicheres Anzeichen für einen Wechsel der Witterung. Der Patagonier wußte das [129] sehr wohl und wies den Geographen mit dem Finger auf die westliche Himmelsgegend.

»Gut! Ich verstehe, sagte Paganel und fügte zu seinen Begleitern gewendet hinzu: da vollzieht sich eben ein Umschlag des Wetters. Wir werden einen tüchtigen Pampero auszuhalten haben.«

Er erklärte ferner, dieser Pampero sei in den argentinischen Ebenen nicht gerade selten. Es ist das ein sehr trockener Südwestwind. Thalcave hatte sich nicht getäuscht; denn während der Nacht, welche für Leute, die nur in einen Puncho gehüllt waren, sehr peinlich war, wehte der Pampero mit großer Gewalt. Die Pferde legten sich auf den Boden und die Menschen streckten sich neben ihnen in dichter Gruppe aus.

Glenarvan fürchtete schon, durch diesen Sturm, wenn er lange andauere, zurückgehalten zu werden, doch beruhigte ihn Paganel, nachdem er sein Barometer zu Rathe gezogen hatte.

»Gewöhnlich verursacht der Pampero, sagte derselbe, einen dreitägigen Sturm, der durch das Fallen der Quecksilbersäule sehr sicher angezeigt wird. Wenn das Barometer dagegen – und das ist jetzt der Fall – wieder steigt, so legt er sich meist nach einigen Stunden heftiger Windstöße wieder. Beruhigen Sie sich also, bester Freund; bei Tagesanbruch wird der Himmel seine gewöhnliche Reinheit wieder haben.

– Sie sprechen wie ein Buch, Paganel, antwortete Glenarvan.

– Darin bin ich auch eins, erwiderte Paganel. Blättern Sie gefälligst ganz nach Belieben darin.«

Das Buch täuschte sich nicht. Gegen ein Uhr Morgens legte sich plötzlich der Wind, und Alle konnten durch den Schlaf neue Kräfte sammeln. Am andern Morgen stand man frisch und munter auf, vorzüglich Paganel, der alle Glieder knacken ließ und sich wie ein junger Hund streckte.

Es war nun der 24. October, der zehnte Tag seit der Abreise von Talcahuano. Dreiundneunzig Meilen (das sind einhundertundfünfzig Kilometer) trennten die Reisenden noch von demjenigen Punkte, wo der See Colorado den siebenunddreißigsten Parallelkreis schneidet. Während dieses Zugs durch den südamerikanischen Continent lauerte Lord Glenarvan mit großer Spannung auf eine Begegnung mit Eingeborenen. Er wollte sie durch Vermittlung des Patagoniers, mit dem sich Paganel jetzt schon hinreichend zu verständigen vermochte, bezüglich des Kapitän Grant ausfragen. Man verfolgte jedoch [130] eine von Indianern weniger berührte Linie, denn die Straßen der Pampa, welche von der argentinischen Republik nach den Cordilleren führen, liegen weit nördlicher. Daher traf man auch nicht auf herumschweifende Indianer oder seßhafte Stämme unter der Herrschaft von Kaziken. Wenn zufällig einmal ein nomadisirender Reiter in Sicht kam, entfloh er schnell, und schien wenig Lust zu haben, mit Unbekannten in Verbindung zu treten. Ein Trupp der Art mußte wohl Jedem, der einsam durch die Ebenen streifte, verdächtig vorkommen, dem Räuber, den die Klugheit gegenüber acht wohlbewaffneten und berittenen Männern zurückhielt, und dem Reisenden in diesen verlassenen Landstrichen, der in ihnen selbst Leute mit bösen Absichten erkennen mochte. Daher war es auch durchaus unmöglich, weder mit ehrlichen Leuten, noch mit Räubern sich zu unterhalten. Es war fast bedauerlich, sich niemals einer Bande »Rastreadores« 1 gegenüber zu befinden, und hätte man auch die Unterhaltung mit Flintenschüssen einleiten sollen.

Wenn aber Glenarvan auch im Interesse seiner Nachforschungen das gänzliche Fehlen der Indianer zu bedauern hatte, so trug sich ein kleines Ereigniß zu, welches die Auslegung des Documentes sehr wesentlich bestätigte.

Mehrmals kreuzte nämlich der Weg der kleinen Expedition verschiedene Fußpfade der Pampa, unter anderen einen ziemlich bedeutenden, – den von Carmen nach Mendoza – der an den Knochenresten von Hausthieren, Mauleseln, Pferden, Schafen und Rindern kenntlich war, welche ihn bezeichneten, abgenagt von den Schnäbeln der Raubvögel und gebleicht durch die entfärbende Einwirkung der Luft. Zu Tausenden lagen diese umher und sicher mischte sich der Staub manches menschlichen Skelettes mit dem der niedersten Thiere.

Bis jetzt hatte Thalcave noch nie eine Bemerkung über die streng eingehaltene Wegesrichtung fallen lassen. Doch war ihm klar, daß man, da man keinem Wege in den Pampas folgte, auch nicht auf Städte, Dörfer oder Niederlassungen in den argentinischen Provinzen treffen könne. An jedem Morgen ging man der aufgehenden Sonne entgegen und wich nicht von dieser geraden Linie, so daß sich die untergehende Sonne jeden Tag direct hinter ihnen befand. In seiner Eigenschaft als Führer verwunderte sich Thalcave[131] doch, daß er viel weniger führte als vielmehr geführt wurde. Sein Erstaunen barg er aber unter der natürlichen Zurückhaltung der Indianer, und da bis hierher nur unbedeutende Fußpfade vernachlässigt worden waren, machte er eben keine Bemerkung darüber. Aber heute, als der erwähnte Verbindungsweg erreicht war, hielt er doch das Pferd an, und sagte zu Paganel gewendet:

»Der Weg von Carmen.

– Ja wohl, mein braver Patagonier, erwiderte der Geograph in seinem reinsten Spanisch, der Weg von Carmen nach Mendoza.

– Schlagen wir den nicht ein? fragte Thalcave.

– Nein, antwortete Paganel.

– Und wohin gehen wir?

– Immer nach Osten.

– Das heißt: nirgendshin.

– Wer weiß es?«

– Thalcave schwieg und sah den Gelehrten mit höchst verwundertem Gesichte an. Er konnte nicht annehmen, daß Paganel nur im Geringsten scherze. Ein Indianer, der immer ernsthaft ist, kann sich gar nicht einbilden, daß Jemand nicht ernsthaft spreche.

»Sie gehen also nicht nach Carmen? fragte er nach einer kleinen Pause.

– Nein, erwiderte Paganel.

– Noch nach Mendoza?

– Ebensowenig.«

In diesem Augenblicke kam Glenarvan zu Paganel und fragte, was Thalcave gesagt, und warum er sein Pferd angehalten habe.

»Er hat mich gefragt, ob wir nach Carmen oder nach Mendoza gingen, und war höchst erstaunt, als ich beide Fragen verneinte.

– Freilich muß ihm unser Weg ziemlich sonderbar erscheinen, meinte Glenarvan.

– Ich glaube es. Er sagte, wir gingen nirgendshin.

– Nun, Paganel, könnten Sie ihn nicht über den Zweck unserer Expedition aufklären, und über das Interesse, welches wir daran haben, immer nur nach Osten zu gehen?

Das wird sehr schwer sein, entgegnete Paganel, denn ein Indianer versteht [132] Nichts von den Erdgraden und die Geschichte des Documentes würde für ihn eine Phantasie sein.

– Nun, sagte sehr ernsthaft der Major, würde er die Geschichte nicht verstehen oder den Erzähler?

– O, Mac Nabbs, versetzte Paganel, Sie zweifeln doch immer noch an meinem Spanisch.

– Nun, so versuchen Sie es, mein werther Freund.

– Gut, ich werde es versuchen.«

Paganel wandte sich zu dem Patagonier zurück und fing eine Erzählung an, die oft genug durch das Fehlen einzelner Worte unterbrochen wurde, ebenso wie durch die Schwierigkeit, gewisse Eigenthümlichkeiten zu übersetzen und einem fast ganz unwissenden Indianer Einzelheiten zu erklären, die für ihn nur wenig verständlich waren. Der Gelehrte war ergötzlich anzusehen. Er gesticulirte, articulirte, bewegte sich auf hunderterlei Weise hin und her und Schweißtropfen fielen ihm reichlich von der Stirne auf die Brust. Wenn die Zunge nicht ausreichte, kamen ihm die Arme zu Hilfe. Paganel stieg vom Pferde und zeichnete im Sande eine geographische Karte, auf der sich die Breiten- und Längengrade kreuzten und die beiden Oceane sichtbar waren, zu denen sich die Straße von Carmen erstreckte. Niemals war ein Professor in größerer Verlegenheit. Thalcave beobachtete sein Verfahren mit ruhigem Blicke, aus dem man nicht erkennen konnte, ob er etwas davon verstand, oder nicht.

Fast eine halbe Stunde währte diese Unterweisung des Geographen. Dann schwieg er, trocknete sein überschwemmtes Gesicht ab und sah den Patagonier an.

»Hat er Sie verstanden? fragte Glenarvan.

– Wir werden es gleich sehen, erwiderte Paganel, aber wenn es nicht der Fall ist, verzichte ich auf weitere Versuche.«

Thalcave wich nicht von der Stelle. Er sprach nicht mehr. Seine Augen hafteten auf den im Sande gezeichneten Figuren, die der Wind allmälig verwischte.

»Nun?« fragte ihn Paganel.

Thalcave schien ihn nicht zu verstehen. Paganel sah schon ein ironisches Lächeln auf den Lippen des Majors, und um seine Ehre zu retten, wollte er [133] eben mit neuer Energie seine geographischen Erklärungen wieder aufnehmen, als der Patagonier ihn durch eine Handbewegung unterbrach.

»Ihr sucht einen Gefangenen, sagte er.

– Ja, antwortete Paganel.

– Und genau auf dieser Linie zwischen der aufgehenden und untergehenden Sonne, sagte Thalcave, der durch eine Umschreibung nach Indianerart den Weg von Westen nach Osten bezeichnete.

– Ja wohl! So ist es!

– Und Euer Gott hat den Fluthen des unermeßlichen Meeres das Geheimniß des Gefangenen anvertraut?

– Ja, Gott selbst.

– So möge sich sein Wille erfüllen, sagte Thalcave mit einer gewissen Feierlichkeit, wir ziehen gen Osten, und wäre es bis zum Aufgange der Sonne!«

Paganel übersetzte, triumphirend über seinen gelehrigen Schüler, seinen Genossen sofort die Worte des Indianers.

»Welch' intelligente Race! sagte er. Von zwanzig Bauern in unserer Heimat hätten neunzehn von meinen Erklärungen Nichts verstanden!«

Glenarvan veranlaßte Paganel, den Patagonier zu fragen, ob er nicht davon gehört habe, daß Fremde den Indianern der Pampas in die Hände gefallen seien.

Paganel stellte diese Frage und erwartete die Antwort.

»Kann sein«, sagte der Patagonier.

Kaum war dies Wort übersetzt, als Thalcave auch von den sieben Reisenden umringt war; man fragte ihn mit den Blicken.

Paganel, der vor Erregung kaum die Worte fand, fuhr in der so interessanten Fragestellung fort, während seine auf den so ernsthaften Indianer gerichteten Augen die Antwort schon zu erspähen suchten, bevor sie Jenem über die Lippen kam.

Jedes spanische Wort des Patagoniers wiederholte er englisch, so daß seine Genossen gleichsam in ihrer Muttersprache reden hörten.

»Und dieser Gefangene? fragte Paganel.

– War ein Fremder, antwortete Thalcave; ein Europäer.

– Ihr habt ihn gesehen?

[134] – Nein, aber in den Berichten der Indianer wurde er erwähnt. Es war ein tapferer Mann! Er hatte das Herz des Büffels!

– Das Herz des Büffels! wiederholte Paganel. O, die prächtige Sprache der Patagonier. Sie verstehen es, meine Freunde – ein muthiger Mann!

– Mein Vater!« rief Robert Grant.

Dann wendete er sich an Paganel und fragte:

»Wie heißt: ›Das ist mein Vater‹ auf Spanisch?

– Es mio padre«, erwiderte der Geograph.

Sogleich ergriff Robert Thalcave's Hände und sprach mit sanfter Stimme:

»Es mio padre!

– Suo padre«! 2 antwortete der Patagonier, dessen Augen aufleuchteten.

– Er nahm den Knaben in die Arme, hob ihn von seinem Pferde und betrachtete ihn mit forschender Theilnahme. In seinem verständigen Gesicht prägte sich eine friedliche Gemüthsbewegung aus.

Doch Paganel hatte seine Fragen noch nicht beendet. Wo war jener Gefangene? Wie erging es ihm? Wann hatte Thalcave von ihm reden hören? Alle diese Fragen drängten sich zugleich in ihm auf.

Die Antworten ließen nicht auf sich warten, und so vernahm er, daß der Europäer als Sclave bei einem der Indianerstämme sei, welche zwischen dem Colorado und dem Rio Negro das Land durchstreifen.

»Aber wo befand er sich zuletzt? fragte Paganel.

– Bei dem Kaziken Calsneura, antwortete Thalcave.

– In der Richtung, welche wir bis jetzt verfolgt haben?

– Ja.

– Und was ist dieser Kazike?

– Der Häuptling der Poyuches-Indianer, ein Mann mit zwei Zungen und mit zwei Herzen.

– Das heißt also, falsch mit dem Wort und falsch mit der That, sagte Paganel, nachdem er seinen Begleitern dieses schöne Bild der Patagoniersprache übersetzt hatte. – Und werden wir unsern Freund befreien können? fügte er hinzu.

– Vielleicht; wenn er noch in den Händen der Indianer ist.

– Und wann habt Ihr von ihm sprechen hören?

[135] – Das ist lange Zeit her, und seitdem hat die Sonne schon zwei Sommer über den Himmel der Pampas geführt!«

Glenarvan's Freude war unbeschreiblich. Diese Antwort stimmte genau mit den Angaben des Documentes überein. Aber eine Frage an Thalcave war noch übrig. Paganel stellte sie sofort.

»Ihr sprecht immer von einem einzigen Gefangenen, sagte er; waren es denn nicht deren drei?

– Das weiß ich nicht, antwortete Thalcave.

– Und Ihr wißt Nichts von ihrer thatsächlichen Lage?

– Nichts.«

Dieses letzte Wort schloß die Unterhaltung. Es war möglich, daß die drei Gefangenen schon seit langer Zeit getrennt waren. Aus den Angaben des Patagoniers ging aber doch hervor, daß die Indianer von einem Europäer sprachen, der in ihre Gewalt gefallen sei. Das Datum seiner Gefangennahme, der Ort, wo er sich befinden sollte, Alles, bis auf die von dem Patagonier gebrauchte Redensart, um seinen Muth zu bezeichnen, bezog sich offenbar auf Kapitän Harry Grant.

Am nächsten Tage, den 25. October, brachen die Reisenden mit frischer Zuversicht nach Osten hin auf. Die traurige, einförmige Ebene bildete eine jener Strecken ohne Ende, die in der Landessprache »Travesias« genannt werden. Der dem Einfluß der Winde preisgegebene thonige Boden war vollkommen eben; kein Gestein, kaum ein Kiesel fand sich, außer in einigen unfruchtbaren und ausgetrockneten Höhlungen oder am Rande von den Indianern künstlich hergestellter Wasserlachen. In langen Zwischenräumen erschienen niedrige Wälder mit dunkeln Baumwipfeln, hier und da überragt von weißlichen Johannisbrodbäumen, deren Schotenfrucht einen zuckerhaltigen, angenehmen und erfrischenden Saft enthält; ferner einige Gruppen Terpentinbäume, »Chañaren«, wilder Ginster und allerlei stachlige Baumarten, deren Dürre schon die Unfruchtbarkeit des Bodens verrieth.

Der 26. October war ein sehr anstrengender Tag. Es galt, den Rio Colorado zu erreichen. Die von ihren Reitern angetriebenen Pferde entwickelten aber eine solche Schnelligkeit, daß man an demselben Abende, unter 69°45' der Länge, den schönen Strom der Pamparegionen erreichte. Sein indischer Name, der »Cobu Leubu«, heißt so viel wie »großer Fluß«, und nach einem langen Laufe mündet er im Atlantischen Ocean. Nahe seiner [136] Mündung zeigt er die merkwürdige Eigenschaft, daß seine Wassermenge mit der Annäherung an das Meer sich vermindert, entweder durch Einsaugung, oder durch Verdunstung; doch ist die Ursache dieser Erscheinung noch nicht vollkommen aufgehellt.

Bei der Ankunft am Colorado war es Paganel's erstes Streben, sich in seinem durch röthliche Thonerde gefärbten Wasser »geographisch« zu baden. Er war erstaunt, dasselbe so tief zu finden, was übrigens nur vom Schmelzen des Schnees durch die beginnende Sommersonne herrührte. Dabei hatte der Fluß auch eine so beträchtliche Breite, daß ihn die Pferde nicht durchschwimmen konnten. Zum Glück fand sich etwa tausend Schritte stromaufwärts eine aus Flechtwerk bestehende Brücke, die durch Lederriemen unterstützt und auf indianische Art aufgehangen war. So konnte die kleine Gesellschaft über den Strom setzen und an seinem linken Ufer lagern.



Noch vor dem Einschlafen wollte Paganel eine genaue Aufnahme des Colorado ausführen, den er mit größter Sorgfalt in seine Karte einzeichnete, statt des Yaron-Dzangbo-Tchou, der ohne ihn in den Gebirgen von Tibet dahinfloß.

Während der beiden folgenden Tage, d.h. am 27. und 28. October, ging die Reise ohne Zwischenfälle von statten. Dieselbe Eintönigkeit und Unfruchtbarkeit des Bodens. Nirgends möchte es eine so wechsellose Landschaft, ein so wenig charakterisirtes Panorama geben. Der Boden wurde nur allmälig feuchter. Man mußte »Canadas«, d.h. überschwemmte Untiefen, [137] und »Esteros«, das sind permanente Wasserflächen, die mit Sumpfpflanzen angefüllt sind, passiren. Abends hielten die Pferde am Ufer eines großen, sehr salzhaltigen Sees, des Ure Lanquem, der von den Indianern der »bittre See« genannt wird und im Jahre 1862 Zeuge der grausamen Repressalien der argentinischen Truppen war.

Man lagerte sich in gewohnter Art und Weise, und ohne die Anwesenheit vieler Affen, Allouaten und wilder Hunde wäre die Nacht ganz gut gewesen. Diese lärmenden Thiere führten aber, vielleicht als Ehrenbezeigung, jedenfalls aber zur Qual für jedes europäische Ohr, eine jener Natursymphonien auf, die nur ein »Zukunftsmusiker« gewiß nicht mißbilligt hätte.

Fußnoten

1 Räuber in den Ebenen. Siehe oben S. 91.

2 Sein Vater.

17. Capitel
Siebenzehntes Capitel.
Die Pampas.

Die argentinischen Pampas erstrecken sich vom vierunddreißigsten bis zum vierzigsten Grade östlicher Länge. Das Wort »Pampa« ist araucanischen Ursprungs und bezeichnet »voll Gras und Kräuter«, so daß es für diese Gegenden vollkommen paßt. Die baumartigen Mimosen der Westseite und die Kräuter der Ostseite verleihen ihnen ein eigenthümliches Aussehen. Diese Vegetation wurzelt in einer Erdschicht, welche den röthlichen oder gelben, thonigsandigen Boden bedeckt. Ein Geolog würde reiche Ausbeute haben, wenn er diese der Tertiärperiode angehörigen Landstrecken durchforschte. Darunter liegt eine unendliche Menge antediluvianischer Knochen, welche die Indianer von sehr großen, ausgestorbenen Tatus herleiten, und unter jener Decke von Pflanzen liegt die Urgeschichte jener Gegenden begraben.

Die südamerikanische Pampa ist eine geographische Eigenthümlichkeit, gleich den Savannen bei den »Großen Seen« oder den Steppen Sibiriens. Ihr Klima weist höhere Wärme und strengere Kälte auf und hat also mehr continentalen Charakter, als das der Provinz Buenos-Ayres. Denn, wie Paganel erläuterte, die vom Ocean aufgesaugte und in demselben gleichsam aufgespeicherte Sonnenwärme giebt dieser im Winter langsam an die Atmosphäre [138] zurück. Eine Folge davon ist, daß Inseln immer eine gleichmäßigere Temperatur zeigen, als das Innere der Continente. 1 So hat auch der westliche Strich des Pampa-Landes nicht jene Gleichmäßigkeit, welche die Küsten, Dank der Nachbarschaft des Atlantischen Oceans, darbieten. Es unterliegt vielmehr grellen Aenderungen, welche die Quecksilbersäule des Thermometers unaufhörlich von einem Grade zum andern treiben. Während der Monate April und Mai giebt es häufige und heftige Regen. In der damaligen Jahreszeit dagegen war die Witterung sehr trocken und die Wärme sehr hoch.

Mit dem Aufgang der Sonne brach man auf, nachdem die Richtung des Weges festgestellt war. Der von niedrigen Bäumen und Strauchwerk eingefaßte Boden war ganz gleichmäßig fest; keine Medanos zeigten sich mehr, noch der Sand, der sie bildete, noch endlich jener seine Staub, den der Wind in der Luft schwebend erhielt.

Die Pferde hielten einen guten Schritt zwischen den Büschen von »Pajabrava«, dem specifischen Pampagrase, welches den Indianern bei Orkanen als Schutz dient. In gewissen Zwischenräumen, die aber immer größer wurden, wuchsen in feuchten Niederungen einige Weidenbäume und eine gewisse Pflanzenart, Gignerium argenteum, das die Nachbarschaft süßen Wassers liebt. Die Pferde erquickten sich dann nach Herzenslust und schienen den Durst gleich für die Zukunft zu löschen, indem sie das Gute nahmen, wo es sich eben fand. Thalcave war voraus und klopfte auf die Büsche. Damit verscheuchte er die »Cholinas«, eine sehr gefährliche Vipernart, deren Biß einen Ochsen in weniger als einer Stunde zu tödten vermag. Die gewandte Thaouka sprang über die niedrigen Gebüsche hin und half so ihrem Herrn den nachfolgenden Pferden den Weg bahnen.

Die Reise über die flachen und geraden Ebenen ging leicht und schnell vor sich. In der Natur des Wiesengrundes trat kein Wechsel ein; kein Stein, kein Kiesel fand sich auf hundert Meilen in der Runde. Nirgends traf man wieder eine solche Einförmigkeit von so hartnäckiger Ausdehnung. Von Landschaft, von Zwischenfällen, natürlichen Ueberraschungen – keine Spur! Um an den Einzelheiten des Weges Interesse zu finden, dazu gehörte ein Paganel, einer jener Schwärmer für die Wissenschaft, die da Etwas sehen, wo Nichts zu sehen ist. Dafür genügte schon ein Strauch, etwa auch ein Grashalm, [139] um seine unerschöpfliche Beredtsamkeit zu reizen und Robert zu belehren, der ihm gerne zuhörte.

Während dieses Tages, am 29. October, erstreckte sich die durchzogene Ebene vor den Reisenden mit unbegrenzter Eintönigkeit weiter. Gegen zwei Uhr fanden sich weithin unter den Hufen der Pferde Spuren und Reste von Thieren. Es waren die Knochenreste einer unzählbaren Büffelheerde aufgehäuft und gebleicht. Diese Trümmer lagen nicht in langer, gebogener Linie, wie man sie von Thieren findet, die aus Entkräftung nach und nach auf dem Wege fallen. Niemand vermochte sich diese Ansammlung von Skeletten auf diesem verhältnißmäßig beschränkten Raume zu erklären, und Paganel, trotz seiner Kenntnisse, so wenig wie die Andern. Er befragte also Thalcave, der um die Antwort gar nicht verlegen war.

Ein »Unmöglich!« von Seiten des Gelehrten und eine klar sprechende Handbewegung des Patagoniers machten die Genossen neugierig.

»Was giebt es denn? fragten diese.

– Das Feuer vom Himmel, erwiderte der Geograph.

– Wie! Der Blitz sollte eine derartige Verheerung angerichtet haben, sagte Tom Austin; eine Heerde von fünfhundert Köpfen niederzuschmettern?

– Thalcave sagt es und Thalcave irrt sich nicht. Uebrigens glaube ich es auch, denn die Unwetter in den Pampas zeichnen sich vor allen durch ihre Heftigkeit aus. Wenn wir nur nicht einmal selbst ein solches auszuhalten haben!

– Nun, es ist sehr heiß, meinte Wilson.

– Das Thermometer, bemerkte Paganel, wird dreißig Grad im Schatten zeigen.

– Mich verwundert das nicht, sagte Glenarvan, ich fühle die Wirkung der Elektricität in meinem ganzen Wesen. Hoffentlich hält diese Temperatur nicht an.

– O, fiel Paganel ein, auf einen Witterungswechsel ist jetzt nicht zu rechnen, da der Horizont ganz dunstfrei ist.

– Desto schlimmer, setzte Glenarvan hinzu, denn unsere Pferde sind von der Gluth sehr angegriffen. Ist es Dir nicht zu heiß, mein Sohn? wendete er sich an Robert.

– Nein, Mylord, antwortete der Knabe, ich liebe die Wärme, sie ist ein schönes Ding.

[140] – Vorzüglich im Winter«, bemerkte verständig der Major, indem er den Rauch seiner Cigarre in die Höhe blies.

Abends rastete man an einem verlassenen »Rancho«, einem Zweiggeslechte, das mit Koth verkittet und mit Stroh bedeckt war; diese Hütte stieß an einen mit halbverfaulten Pfählen umschlossenen Raum, der den Pferden während der Nacht immerhin genügend Schutz gegen einen Ueberfall der Füchse bot. Nicht für jene selbst hatten sie zwar von diesen Thieren zu fürchten, aber die schlauen Geschöpfe zernagen gern die Halftern der Pferde, so daß dann diese leicht davonlaufen.

Einige Schritte von dem Rancho befand sich auch ein ausgegrabenes Loch, das zur Küche gedient hatte und noch einige erkaltete Asche enthielt.



In demselben befand sich eine Bank, ein Lager von Büffelfellen, ein Fleischtopf, ein Bratspieß und ein Siedekessel zum Maisabkochen. Der Mais liefert ein in Süd-Amerika sehr gebräuchliches Getränk. Es ist der Thee der Indianer. Er besteht in einem heißen Aufguß auf getrocknete Blätter, den man, wie bei amerikanischen Getränken gewöhnlich, durch einen Strohhalm aufsaugt. Auf Paganel's Aufforderung bereitete Thalcave einige Tassen dieses Trankes, der zu dem gewöhnlichen Nahrungsmittel recht gut zu passen schien und für ausgezeichnet erklärt wurde.

Am anderen Tage, dem 30. October, erhob sich die Sonne aus glühendem Morgennebel und sandte ihre heißesten Strahlen herab. Die Hitze dieses Tages war wirklich ganz übermäßig, und zum Unglück bot die Ebene nirgends [141] irgend welchen Schutz. Dennoch setzte man unverdrossen den Weg nach Osten weiter fort. Oefters stieß die Gesellschaft auch auf ungeheure Viehheerden, die nicht im Stande waren, bei der ungeheuren Hitze zu weiden und die einfach hingestreckt liegen blieben. Von Wächtern, oder vielmehr Viehhütern, war keine Rede. Hunde, welche die Gewohnheit haben, wenn der Durst sie quält, den Schafen ihre Milch auszusaugen, bewachten allein diese zahlreichen Haufen von Milchkühen, Stieren und Ochsen. Uebrigens sind diese Thiere von weit sanfterer Natur, und haben auch nicht jenen instinctiven Abscheu vor der rothen Farbe, wie ihre europäischen Stammesgenossen.

»Das kommt ohne Zweifel daher, daß sie die Wiesen einer Republik weiden!« sagte Paganel, der über seinen Scherz, von vielleicht etwas zu stark französischem Geschmacke, ganz erfreut war.

Gegen Mittag änderte sich das Ansehen der Pampas dergestalt, daß es den durch die ewige Eintönigkeit ermüdeten Augen nicht entgehen konnte. Die grasartigen Gewächse wurden seltener. Sie machten mageren Kletten Platz und riesigen, bis neun Fuß hohen Disteln, woran sich alle Esel der Erde hätten erquicken können. Hier und dort sproßten dunkelgrüne Stachelgebüsche empor, die den trockenen Gegenden eigen sind. Bis hierher hatte eine gewisse Feuchtigkeit, welche in dem Lehmboden der Prairie enthalten war, den Weideplätzen Nahrung gegeben; der Rasenteppich war fett und üppig. Weiterhin zeigten aber einzelne Stellen, wo dieser Sammt abgenutzt oder ganz herausgerissen war, den Einschlag und die Armseligkeit des Erdbodens. Die Anzeichen einer zunehmenden Dürre waren unverkennbar, und Thalcave machte auch darauf aufmerksam.

»Diese Abwechslung ist mir gar nicht unleidlich, sagte Tom Austin, immer Gras und ewig Gras, das wirkt doch auf die Dauer sehr langweilig.

– Ja, aber man hat dann auch immer Gras, immer Wasser, warf der Major ein.

– O, so schlimm sind wir nicht daran, sagte Wilson, wir werden auf unserem Wege mehr als einmal einem Flusse begegnen.«

Hätte Paganel diese Antwort gehört, so würde er gewiß ausgesprochen haben, daß Flüsse zwischen dem Colorado und den Sierras der Provinz Argentina sehr selten vorkommen; in diesem Augenblicke erklärte er aber Glenarvan irgend Etwas, worauf dieser seine Aufmerksamkeit gelenkt hatte.

Einige Zeit schon schien in der Luft ein Rauchgeruch verbreitet. Doch [142] war rings am Horizonte kein Feuer zu sehen und keine Rauchwolke verrieth eine entfernte Feuersbrunst. Dennoch mußte diese Erscheinung eine natürliche Ursache haben. Bald verstärkte sich dieser Geruch verbrannten Grases dermaßen, daß er alle Reisenden, außer Paganel und Thalcave, in Verwunderung setzte. Der Geograph, der niemals um die Erklärung irgend eines Ereignisses verlegen war, sagte zu seinen Begleitern:

»Das Feuer sehen wir zwar nicht, aber wir bemerken doch den Rauch. Das Sprichwort: ›Ohne Feuer ist kein Rauch‹, ist in Amerika nicht minder zutreffend, als in Europa. Irgendwo muß also doch ein Feuer sein. Diese Pampas aber sind so eben, daß Nichts die Luftströmung ablenkt und man den Geruch von verbrennendem Grase oft auf eine Entfernung von dreihundert Kilometer noch verspürt.

– Dreihundert Kilometer? wiederholte der Major mit dem Tone leisen Zweifels.

– Ganz so weit, versicherte Paganel. Ich bemerke noch, daß die Feuersbrünste sich oft äußerst schnell weiter verbreiten und sich sehr weit ausdehnen.

– Wer legt aber Feuer an die Prairien? fragte Robert.

– Manchmal thut es der Blitz, wenn das Gras durch die Hitze sehr ausgetrocknet ist; manchmal auch die Hand der Indianer.

– Aber aus welchem Grunde?

– Sie nehmen an, – ich weiß zwar nicht, in wie weit diese Annahme berechtigt ist –, daß das Gras nach einem Prairiebrande desto besser wachse. Es sollte also das Verbrennen ein Mittel sein, den Boden durch den Einfluß der Asche zu kräftigen. Ich für meinen Theil glaube vielmehr, daß diese Brände zur Vernichtung der Milliarden von Ixoden dienen, einer Art parasitischer Insecten, welche vorzüglich die Heerden belästigen.

– Aber dieses energische Mittel, sagte der Major, wird auch manchem Stück Vieh in der Ebene das Leben kosten.

– Ja wohl; es verbrennen manche, aber was thut das gegenüber ihrer Anzahl?

– Nun, ich trete nicht für diese ein, erwiderte Mac Nabbs, das ist eben ihre Sache, aber für die Menschen, welche durch die Pampas reisen. Kann es nicht vorkommen, daß diese überrascht und von den Flammen eingeschlossen werden?

[143] – Ei doch! rief Paganel mit sichtbarer Befriedigung, das kommt manchmal vor, und es würde mir nicht unangenehm sein, einem solchen Schauspiel beizuwohnen.

– Da seht einmal unseren Weisen, fiel Glenarvan ein, er treibt die Liebe zur Wissenschaft so weit, daß er sich lebendig verbrennen ließe.

– O nein, mein lieber Glenarvan; aber man hat seinen Cooper gelesen, und Bas de Cuir lehrt das Mittel, sich die Flammen vom Leibe zu halten, indem man einige Toisen weit rings um sich das Gras ausreißt. Es giebt [144] ja nichts Einfacheres. Uebrigens zweifle ich nicht, daß sich uns ein Prairiebrand nähert, und ich wünsche ihn von ganzem Herzen herbei!«


Die Pferde gingen einen guten Schritt. (S. 139.)

Paganel's Wunsch sollte jedoch nicht in Erfüllung gehen, und wenn er doch halb gebraten wurde, so geschah das nur durch die Hitze der Sonnenstrahlen, welche eine unerträgliche Gluth verbreiteten. Die Pferde keuchten unter dem Drucke dieser Temperatur. Auf Schatten war nirgends zu rechnen, wenn ihn nicht dann und wann einmal eine Wolke spendete, die die flammende Scheibe verhüllte; dann eilte ein Schatten auf dem ebenen Boden hin, und die Reiter, welche ihre Thiere anspornten, versuchten Schritt zu halten mit der schattigeren Stelle, die der Westwind vor ihnen hertrieb. Aber die Pferde, welche nicht Schritt halten konnten, blieben zurück, und das unverhüllte Gestirn goß einen neuen Feuerregen über das verkalkte Terrain der Pampas.

Wenn Wilson aber behauptet hatte, es werde an Trinkwasser nicht fehlen, so brachte er nicht den unauslöschlichen Durst in Anschlag, welcher seine Begleiter während dieses Tages verzehrte, und indem er hinzufügte, man werde unterwegs einen Fluß finden, hatte er zu viel versprochen. In Wirklichkeit fehlten nicht nur Flüsse, denen die vollständige Ebenheit des Bodens kein geeignetes Bett bot, gänzlich, sondern auch die von den Händen der Indianer künstlich ausgegrabenen Wasserlachen waren vollständig vertrocknet. Als Paganel diese Anzeichen von Meile zu Meile zunehmender Trockenheit sah, machte er gegen Thalcave einige Bemerkungen darüber, und fragte ihn, wo er Wasser zu finden hoffe.

»Am See Salinas, erwiderte der Indianer.

– Und wann kommen wir da an?

– Morgen Abend.«

Gewöhnlich graben die Argentiner, wenn sie die Pampas bereisen, Brunnen aus und treffen nur wenige Toisen unter dem Erdboden auf Wasser. Unsere Reisenden aber, denen die hierzu nöthigen Werkzeuge fehlten, mußten diese Hilfsquelle entbehren. Man mußte sich also auf gewisse Rationen beschränken, und wenn auch Niemand von quälendem Durst ganz und gar zu leiden hatte, so konnte doch auch Keiner denselben vollständig stillen.

Am Abend machte man Halt, nachdem man dreißig Meilen in einem Zug zurückgelegt hatte. Jedermann rechnete auf eine ruhige Nacht, um sich von den Strapazen des Tages zu erholen, und gerade diese wurde durch eine [145] sehr lästige Wolke von Mosquitos und Schnaken gestört. Ihre Anwesenheit deutete auf eine Aenderung des Windes, der wirklich mit einer Drehung um ein Viertheil nach Norden umschlug. Diese verwünschten Insecten verschwinden nämlich bei Süd- oder Südwestwind sogleich.

Wenn der Major selbst bei den kleinen Unannehmlichkeiten des Lebens seine Ruhe bewahrte, so war dagegen Paganel über die kleinen Nadelstiche des Geschicks sehr ungehalten. Er wünschte die Mosquitos und Schnaken zum Teufel und bedauerte sehr, kein gesäuertes Wasser zur Hand zu haben, um damit das Brennen der Tausende von Stichen zu mildern. Wenn ihm auch der Major den Trost einzureden suchte, sie könnten sich glücklich schätzen, daß sie es nur mit zwei Arten von den 300,000 Insectenarten, welche die Naturforscher aufzählen, zu thun hätten, so stand dieser doch mit sehr übler Laune auf.

Dennoch ließ er sich nicht lange bitten, mit der Morgenröthe wieder aufzubrechen, denn es handelte sich darum, noch an dem nämlichen Tage den See Salinas zu erreichen. Die Pferde waren sehr erschöpft; sie kamen vor Durst fast um, und wenn sich die Reiter auch um ihretwillen selbst einschränkten, so fiel doch ihr Antheil an Wasser sehr knapp aus. Die Trockenheit nahm noch mehr zu und die Hitze war bei dem staubigen Nordwinde, jenem Samum der Pampas, nicht weniger unerträglich.

An diesem Tage wurde die Einförmigkeit des Zuges auf einen Augenblick unterbrochen. Mulrady, welcher vorausritt, kehrte plötzlich um, und meldete die Annäherung einer Anzahl Indianer. Diese Begegnung wurde sehr verschieden aufgenommen. Glenarvan dachte dabei an die Nachrichten, welche ihm diese Eingeborenen über die Schiffbrüchigen von der »Britannia« mittheilen könnten. Thalcave war seinerseits weniger erfreut, auf seinem Wege nomadisirende Prairie-Indianer zu finden; er hielt sie für Räuber und Diebe, und suchte sie möglichst zu vermeiden. Nach seinen Anordnungen zog sich die kleine Gesellschaft dicht zusammen und setzte die Waffen in Bereitschaft. Man mußte eben auf jeden Fall gerüstet sein.

Bald kam ihnen die Indianertruppe zu Gesicht. Sie bestand nur aus etwa zehn Eingeborenen, was den Patagonier wieder beruhigte. Die Indianer kamen bis auf hundert Schritte nahe. Man konnte sie leicht unterscheiden. Sie gehörten jener Pamparace an, welche General Rosas im Jahre 1833 zu Paaren trieb; ihre hohe und gewölbte Stirn, ihr mächtiger Wuchs und ihre [146] Olivenfarbe machten sie zu schönen Typen des Indianerstammes. Sie waren mit den Fellen von Guanacos oder Stinkthieren bekleidet und führten eine zwanzig Fuß lange Lanze, Messer, Schleudern, Bolas und Lassos bei sich. Ihre Geschicklichkeit in der Behandlung der Pferde verrieth die geübten Reiter.

Auf hundert Schritt Entfernung hielten sie an und schienen schreiend und gesticulirend zu berathen. Glenarvan bewegte sich auf sie zu. Kaum war er aber sechs Schritte vorwärts, als sie auf einmal umkehrten und mit unglaublicher Schnelligkeit verschwanden. Die abgetriebenen Pferde der Reisenden hätten sie nie zu erreichen vermocht.

»Diese Feiglinge! rief Paganel.

– Für ehrliche Leute nehmen sie zu schnell Reiß aus, sagte Mac Nabbs.



– Was sind das für Indianer, fragte Paganel Thalcave.

– Gauchos, erwiderte der Patagonier.

– Gauchos! wiederholte Paganel, sich an seine Gefährten wendend, Gauchos! Da hatten wir nicht nöthig, soviel Vorsichtsmaßregeln zu treffen; da war Nichts zu fürchten.

– In wiefern? fragte der Major.

– Weil die Gauchos ganz friedliche Landleute sind.

– Das glauben Sie, Paganel?

– Ganz gewiß. Die da haben uns für Räuber gehalten und sind deshalb entflohen.

[147] – Ich glaube vielmehr, daß sie nicht wagten, uns anzugreifen, antwortete Glenarvan, der sehr ärgerlich war, daß er mit den Eingeborenen, sie mochten nun sein, wie sie wollten, nicht hatte in Verkehr treten können.

– Das ist auch meine Ansicht, meinte der Major, denn wenn ich mich nicht täusche, sind die Gauchos, weit entfernt, harmloser Natur zu sein, freche Räuber, die man zu fürchten hat.

– Das wäre arg!« rief Paganel.

Er ging sogleich auf eine lebhafte Besprechung dieser ethnologischen Frage ein, auf eine so lebhafte Weise, daß er dadurch den Major völlig in Aufregung brachte, und sich die in den Besprechungen Mac Nabbs' nicht eben gewöhnliche Antwort zuzog:

»Ich glaube, Sie haben Unrecht, Paganel.

– Unrecht? versetzte der Gelehrte.

– Ja. Thalcave selbst hat diese Indianer für Diebe gehalten, und er weiß gewiß, worauf er seine Ansicht stützt.

– Nun, so hat sich Thalcave diesmal geirrt, entgegnete offenbar ärgerlich Paganel. Die Gauchos sind Ackerbauer, Hirten, sonst nichts, und ich selbst habe das in einer Aufsehen erregenden Broschüre über die Ureinwohner der Pampas geschrieben.

– Nun wohl, so haben Sie einen Irrthum begangen, Herr Paganel.

– Ich? Einen Irrthum, Herr Mac Nabbs?

– Aus Zerstreuung, wenn Sie wollen, entgegnete auf seiner Meinung bestehend der Major, und Sie werden gut thun, wenn Sie in der nächsten Ausgabe einige Irrthümer verbessern.«

Paganel, sehr gekränkt, über seine geographischen Kenntnisse streiten und gar scherzen zu hören, fühlte, wie ihm die Galle überlief.

»Wissen Sie, mein Herr, sagte er, daß meine Bücher derartiger Fehlerverzeichnisse nicht bedürfen.

– Gewiß! Aber wenigstens bei dieser Gelegenheit, versetzte Mac Nabbs, der seinerseits eigensinnig darauf beharrte.

– Mein Herr, ich finde Sie heute sehr starrköpfig, erwiderte Paganel.

– Und ich Sie sehr mürrisch!« antwortete der Major.

Die Discussion nahm offenbar einen unerwarteten Fortgang, und das über einen Gegenstand, der nicht der Mühe werth war. Glenarvan hielt es an der Zeit, sich in's Mittel zu schlagen.

[148] »Sicher spricht hier, sagte er, auf einer Seite der Eigensinn, auf der andern der Unmuth, was mich bei Ihnen beiderseits Wunder nimmt.«

Der Patagonier hatte, ohne die Ursache des Wortwechsels zu kennen, doch verstanden, daß beide Freunde in Streit waren. Er begann zu lachen und sagte ruhig:

»Das macht der Nordwind.

– Der Nordwind, fuhr Paganel auf, was hat der Nordwind mit alledem zu thun?

– Ja wohl, so ist's, erwiderte Glenarvan, der Nordwind ist die Ursache Ihrer üblen Stimmung! Ich habe sagen hören, daß er in Süd-Amerika das Nervensystem ganz besonders aufrege.

– Beim heiligen Patrick, Edward, Sie haben Recht«, sagte der Major und brach in helles Lachen aus.

Paganel aber, der einmal in der Stimmung war, wollte von der Auseinandersetzung nicht ablassen, wandte sich an Glenarvan, dessen Zwischentreten ihm etwas unbescheiden erschien.

»Ja wirklich, Mylord, sagte er, ich habe ein erregtes Nervensystem, nicht wahr?

– Ja, Paganel, das macht der Nordwind, ein Wind, unter dessen Einfluß in den Pampas viele Vergehen vorkommen, wie unter dem der Tramontana in der römischen Campagna.

– Vergehen! wiederholte der Gelehrte, ich habe wohl das Aussehen eines Menschen, der zu Vergehungen geneigt ist?

– Das will ich nicht gerade sagen.

– Sagen Sie doch schnell, daß ich fähig wäre, Sie umzubringen!

– O, erwiderte Glenarvan, welcher das Lachen nicht unterdrücken konnte, davor fürchte ich mich. Glücklicher Weise hält der Nordwind nur einen Tag lang an!«

Alle Anwesenden zollten dieser Antwort Glenarvan's lauten Beifall. Nun gab sich Paganel und ging, seine üble Laune verrauchen zu lassen, von dannen. Eine Viertelstunde nachher dachte er nicht mehr daran.

So trat der gute Charakter des Gelehrten zwar einen Augenblick in Schatten, doch mußte das, wie Glenarvan ganz richtig gesagt hatte, auf eine äußere Ursache zurückgeführt werden.

Um acht Uhr Abends meldete Thalcave, der ein Stück vorausgeritten war, [149] daß er die Bodensenkung des herbeigesehnten Sees wahrnehme. Eine Viertelstunde später stieg die kleine Gesellschaft den Uferrand des Salinas hinab. Aber dort wartete ihrer eine große Enttäuschung; – der See war ausgetrocknet.

Fußnoten

1 Die Winter Islands sind aus diesem Grunde milder, als die der lombardischen Ebene.

18. Capitel
Achtzehntes Capitel.
Beim Suchen nach Wasser.

Der See Salinas beendigt jene Reihe von Lagunen, welche sich bis zu den Sierras Ventana und Guamini erstrecken. Früher wurden von Buenos-Ayres aus viele Züge hierher veranstaltet, um Salz zu holen, denn seine Gewässer enthielten Chlornatrium in beträchtlicher Menge. Jetzt aber hatte sich aus dem durch die Hitze verflüchtigten Wasser alles früher darin gelöste Salz niedergeschlagen und der See bildete nur noch einen großen widerstrahlenden Spiegel.

Als Thalcave gesagt hatte, es sei trinkbares Wasser am See Salinas vorhanden, so bezog sich dies auf Zuflüsse süßen Wassers, die sich an manchen Stellen in denselben ergießen. Jetzt waren diese aber ausgetrocknet, wie jener selbst. Die brennende Sonne hatte Alles aufgesaugt. Daher diese allgemeine Bestürzung, als die verdurstete Gesellschaft an den ausgetrockneten Ufern des Salinas ankam.

Ein Entschluß mußte gefaßt werden. Das wenige noch in den Schläuchen befindliche Wasser war halb verdorben. Es vermochte den Durst nicht zu löschen, der sich nun peinigend fühlbar machte. Hunger und Anstrengung bedeuteten nichts gegen dieses zwingende Bedürfniß. Ein »Roukah«, d.i. eine Art Zelt aus Leder, das in einer Bodensenkung aufgeschlagen und von Eingeborenen zurückgelassen war, diente den erschöpften Reisenden als Zuflucht, während ihre Pferde an den schlammigen Ufern des Sees nur mit Widerwillen die Seepflanzen und das trockene Schilf zermalmten.

Als Alle in dem Roukah Platz genommen hatten, fragte Paganel Thalcave [150] um seine Ansicht, was nun zu thun sei. Zwischen dem Geographen und dem Indianer entwickelte sich eine schnell geführte Unterhaltung, von der Glenarvan dennoch einige Worte auffaßte. Thalcave sprach sehr ruhig; Paganel gesticulirte für Zwei. Dies Gespräch dauerte nur einige Minuten, und der Patagonier kreuzte seine Arme.

»Was hat er gesagt? fragte Glenarvan. Ich glaubte zu verstehen, daß er anrieth, uns zu theilen.

– Ja, und zwar in zwei Gruppen, antwortete Paganel. Diejenigen von uns, deren von Anstrengung und Durst erschöpfte Pferde kaum noch einen Fuß vor den andern setzen können, sollen so gut es eben geht, ihren Weg dem siebenunddreißigsten Breitengrade entlang fortsetzen. Die besser Berittenen dagegen sollen auf demselben Wege vorausgehen, und den Fluß Guamini, der sich einunddreißig Meilen 1 von hier in den See San Lucas ergießt, zu erreichen suchen. Findet sich dort hinreichend Wasser, so erwarten Sie die Uebrigen am Ufer des Guamini; fehlt es dagegen, so kommen Sie ihnen wieder entgegen, um Jenen einen nutzlosen Weg zu ersparen.

– Nun, und dann? fragte Tom Austin.

– Dann werden wir uns entschließen müssen, fünfundsiebenzig Meilen gen Süden hinabzureisen, bis zu den ersten Verzweigungen der Sierra Ventana, wo es zahlreiche Flüsse giebt.

– Dieser Rath ist gut, bemerkte Glenarvan, und wir wollen ihn ohne Zaudern befolgen. Mein Pferd hat aus Mangel an Wasser noch nicht zu sehr gelitten, und so erbiete ich mich, Thalcave zu begleiten.

– O, Mylord, nehmen Sie mich mit, bat Robert, als ob es sich um einen Ausflug zum Vergnügen handelte.

– Aber wirst Du uns folgen können, mein Kind?

– Ja wohl! Ich habe ein braves Thier, das nichts mehr verlangt, als vorwärts zu gehen. Gestatten Sie's, Mylord? ... O, ich bitte!

– So sei es, mein Knabe, sagte Glenarvan, selbst erfreut, sich nicht von Robert trennen zu müssen. Wir drei, fügte er hinzu, müßten doch sehr ungeschickt sein, wenn wir keinen frischen und klaren Wasservorrath entdecken sollten.

– Nun, und ich? fragte Paganel.

[151] – O, Sie, mein lieber Paganel, erwiderte der Major, Sie bleiben bei der Reserve-Abtheilung. Sie kennen den siebenunddreißigsten Parallelkreis, den Guaminifuß und die ganzen Pampas viel zu genau, um uns zu verlassen. Weder Mulrady, Wilson noch ich selbst, Keiner würde im Stande sein, Thalcave an dem verabredeten Punkte wieder aufzufinden, während wir voller Vertrauen unter dem Banner des braven Jacques Paganel marschiren werden.

– Ich verzichte also, antwortete der Geograph, dem es schmeichelte, eine Art Obercommando zu übernehmen.

– Aber keine Zerstreutheiten, muß ich bitten, setzte der Major hinzu. Führen Sie uns nicht dahin, wo wir Nichts zu schaffen haben, und bringen Sie uns nicht etwa nach den Küsten des Stillen Oceans zurück.

– Sie verdienten es eigentlich, Sie unausstehlicher Major, erwiderte Paganel lachend. Indessen, lieber Glenarvan, sagen Sie mir, wie denken Sie sich mit Thalcave zu verständigen?

– Ich denke, daß der Patagonier und ich nicht viele Veranlassung zum Plaudern haben werden. Mit den paar spanischen Worten, die ich inne habe, werde ich übrigens bei dringender Veranlassung wohl im Stande sein, ihm meine Gedanken auszudrücken und die seinigen zu verstehen.

– So ziehen Sie hin, mein werther Freund, antwortete Paganel.

– Zunächst wollen wir zu Abend essen und wenn möglich bis zur Stunde der Abfahrt schlafen.«

Die Gesellschaft nahm ihr Abendessen ohne dazu zu trinken ein, was wenig erquickend erschien, und schlief, da sie nichts Besseres zu thun hatte. Paganel träumte von Gießbächen, von Flüssen, Strömen, Teichen, Bächen, von gefüllten Caraffen, kurz von Allem, was gewöhnlich trinkbares Wasser enthält. Es war ein wahres Alpdrücken.

Am andern Morgen wurden um sechs Uhr die Pferde Thalcave's, Glenarvan's und Robert Grant's gesattelt; sie erhielten die letzte Ration Wasser, die sie mit mehr Begierde als Befriedigung verzehrten, denn sie war fast ekelerregend. Dann saßen die drei Reiter auf.

»Auf Wiedersehen! riefen der Major, Austin, Wilson und Mulrady.

– Und vor Allem, seht zu, daß Ihr nicht wieder zurück kommt!« fügte Paganel hinzu.

Bald verloren der Patagonier, Glenarvan und Robert, nicht ohne eine [152] gewisse Beklemmung zu fühlen, die der Klugheit des Geographen anvertraute Truppe aus den Augen.

Die »Desertio de las Salinas«, durch welche sie kamen, ist eine thoniglehmige Ebene, bedeckt mit verkrüppeltem, zehn Fuß hohem Gesträuch kleiner Mimosenarten, welche die Indianer »Curra-Mammel« nennen, und mit »Jumes«, einem buschigen, salzreichen Strauche. Da und dort spiegelten große Bodenstrecken die Strahlen der Sonne mit erstaunlicher Stärke zurück.


Robert ergriff des Lords Hand und küßte sie. (S. 156.)

Das Auge konnte diese »Barreros«, das sind mit Salz durchsetzte Landstrecken [153] leicht mit Eisflächen, die von strenger Kälte herrührten, verwechseln, hätte nicht der Sonnenbrand ihm sofort diese Täuschung benommen. Immerhin verlieh dieser Gegensatz zwischen dem trockenen und verbrannten Boden und jenen blinkenden Stellen der Wüstenei ein ganz besonderes Aussehen, das den Blick interessirte.

Dagegen bot diese Sierra Ventana, achtzig Meilen nach Süden zu, wohin die etwaige Trockenheit des Guamini die Reisenden vielleicht zu gehen zwingen konnte, einen sehr verschiedenen Anblick. Dieses im Jahre 1835 durch den Kapitän Fitz-Roy, der damals die Expedition des Beagle befehligte, aufgeschlossene Land ist von ausnehmender Fruchtbarkeit. Dort gedeihen in einer Fülle ohne Gleichen die besten Weideplätze des indianischen Territoriums. Der nordwestliche Abhang der Sierras ist da mit üppigen Gräsern bedeckt und mit Wäldern, welche reich an köstlichen Baumarten sind. Dort sieht man den »Algarrobo«, eine Art Johannisbrodbaum, dessen getrocknete und gemahlene Früchte ein von den Indianern sehr geschätztes Brod liefern; den »weißen Quebracho«, mit langen biegsamen Zweigen, wie bei der europäischen Trauerweide; den »rothen Quebracho«, mit unzerstörbarem Holze; den »Naudubay«, der sich so sehr leicht entzündet, und nicht selten furchtbare Feuersbrünste veranlaßt; den »Viraro«, dessen violette Blüthen sich pyramidenförmig aufbauen, und endlich den »Timbo«, der seine ungeheure sonnenschirmartige Krone bis achtzig Fuß in die Luft erhebt, und unter dem sich ganze Heerden vor den Strahlen der Sonne schützen können. Die Argentiner haben schon oft versucht, dieses reiche Land zu colonisiren, haben aber die Feindseligkeit der Indianer noch nicht zu überwinden vermocht.

Ohne Zweifel war die Annahme gestattet, daß zahlreiche Bergwässer von den Höhen der Sierra herabfließen müßten, um das bei so großer Fruchtbarkeit nothwendige Wasser zu liefern, und wirklich hat auch das trockenste Wetter diese Flüsse noch niemals ganz verdunsten lassen; um diese aber zu erreichen, hätte man gegen hundertdreißig Meilen 2 nach Süden vordringen müssen. Thalcave that also recht daran, sich zunächst gegen den Guamini zu wenden, der, ohne eine Abweichung von der einmal eingehaltenen Richtung zu bedingen, in weit größerer Nähe angetroffen werden mußte.

Die Pferde galopirten mit Feuer. Die prächtigen Thiere fühlten offenbar [154] aus Instinct, wohin ihre Herren sie führten. Vor Allen zeigte Thaouka eine Munterkeit, die weder Anstrengungen noch Mangel zu mindern vermochte. Wie ein Vogel flog das Thier über die ausgetrockneten Rohrteiche und die Curra-Mammel-Büsche, indem es wie zu guter Vorbedeutung dabei wieherte. Glenarvan's und Robert's Pferde, die zwar etwas schwerfälliger waren, folgten ihm doch muthig, von seinem Beispiele getrieben. Thalcave, der unbeweglich im Sattel saß, gab seinen Gefährten dasselbe Beispiel, wie Thaouka den seinigen. Oefters wandte der Patagonier den Kopf zurück, um nach Robert Grant zu sehen.

Wenn er so den Knaben sah, sattelfest und gut sitzend, den Rücken geschmeidig, die Schultern zurückgezogen, die Beine in natürlicher Lage, die Knie wohl geschlossen, so bezeugte er seine Befriedigung durch einen ermunternden Zuruf. In der That wurde Robert ein ausgezeichneter Reiter und verdiente die aufmunternden Belobungen des Indianers.

»Bravo, Robert, sagte dann Glenarvan, Thalcave scheint Dich zu beglückwünschen! Er spendet Dir seinen Beifall, mein Knabe.

– Und in welcher Beziehung, Mylord.

– Wegen der guten Haltung, mit der Du reitest.

– O, ich halte mich nur fest, das ist Alles, erwiderte Robert, der doch vor Vergnügen, sich loben zu hören, erröthete.

– Das ist zwar die Hauptsache, Robert, meinte Glenarvan, aber Du bist zu bescheiden, und ich sage Dir voraus, es kann gar nicht ausbleiben, daß Du ein vollendeter Sportsman wirst.

– Herrlich, sagte Robert lachend, und was wird Papa, der einen Seemann aus mir machen will, dazu sagen?

– Das Eine schließt das Andere nicht aus. Wenn auch nicht alle Reiter gute Seeleute abgeben mögen, so sind doch alle Seeleute im Stande, gute Reiter zu werden. Beim Reiten auf den Raaen lernt man sich fest halten. Was dann das Zusammennehmen des Pferdes betrifft, oder die Ausführung der Bewegungen seitwärts oder im Kreise, das lernt sich, da es etwas ganz Natürliches ist, ganz von selbst.

– Der arme Vater! fiel Robert ein, o, wie wird er Ihnen für seine Rettung danken!

– Du liebst ihn wohl sehr, Robert?

– Ja, Mylord. Er war so gut gegen meine Schwester und mich. Er [155] dachte nur an uns! Von jeder Reise brachte er uns ein Andenken aus den Ländern, die er besucht hatte, mit, und mehr noch, zarte Liebkosungen und süße Schmeichelworte. Ach, Sie, Sie werden ihn auch lieben, wenn Sie ihn erst kennen! Mary ist ihm ähnlich. Er hat eine ebenso weiche Stimme als sie. Bei einem Seemann ist das auffallend, nicht wahr?

– Ja, sehr auffallend, Robert, antwortete Glenarvan.

– Ich sehe ihn noch immer, fuhr das Kind, wie im Selbstgespräch, fort. Du guter, braver Vater! Ich schlief auf seinen Knieen ein, als ich noch klein war, und er sang immer leise ein altes schottisches Lied, welches die Seen unseres Heimatlandes verherrlicht. Manchmal komme ich auf die Melodie, aber nicht genau, Mary auch. O, Mylord, wie liebten wir ihn! Ich glaube, man muß noch klein sein, um seinen Vater zu lieben.

– Und groß, um ihn zu verehren, mein Kind«, erwiderte Glenarvan, ganz bewegt von den Worten, die dem jungen Herzen entquollen.

Während dieses Gesprächs hatten die Pferde zu laufen nachgelassen und gingen im Schritt.

»Wir werden ihn wiederfinden, nicht wahr? fragte Robert nach einigen Minuten des Stillschweigens.

– Ja, wir finden ihn wieder. Thalcave hat uns auf seine Spuren gebracht, und ich habe Zutrauen zu ihm.

– Ein braver Indianer, der Thalcave, sagte das Kind.

– Ganz gewiß.

– Wissen Sie Etwas, Mylord?

– Sprich Dich aus, ich werde Dir antworten.

– Nun, es sind nur lauter gute Menschen mit uns. Madame Helena, die ich so sehr liebe; der Major, mit seiner ruhigen Miene, der Kapitän Mangles, sammt Herrn Paganel und die Matrosen vom Duncan, die eben so muthig als ergeben sind.

– Ja, das weiß ich, mein Sohn.

– Und wissen Sie, wer von Allen der Beste ist?

– Nein, das weiß ich gerade nicht.

– Nun, dann müssen Sie es wissen lernen, Mylord«, entgegnete Robert, der des Lords Hand ergriff und sie an seine Lippen führte.

Glenarvan senkte langsam das Haupt, und wenn das Gespräch nicht weiter ging, so geschah es, weil eine Handbewegung Thalcave's die Nachzügler [156] antrieb. Sie waren zurückgeblieben, und mußten doch die Zeit zu Rathe halten und an Diejenigen denken, welche noch hinter ihnen waren.

Man setzte sich also wieder in schnellern Gang; es zeigte sich aber bald, daß die Pferde, außer Thaouka, diesen nicht lange aushalten würden. Gegen Mittag mußte man ihnen eine Stunde Rast gönnen. Sie konnten nicht mehr fort und verschmähten es, Alsasaresbüschel, nämlich eine Art magern und jetzt von der Sonne gedörrten Klees, zu verzehren.

Glenarvan ward unruhig. Die Zeichen der Unfruchtbarkeit wurden nicht geringer, und der Mangel an Wasser konnte für sie von sehr verderblichen Folgen sein. Thalcave sagte Nichts; er dachte wahrscheinlich, daß es Zeit zum Verzweifeln wäre, wenn der Guamini sich als wasserlos auswies; ein Indianerherz hört überhaupt eigentlich nie die Stunde der Verzweiflung schlagen.

Der Weg wurde also wohl oder übel fortgesetzt, und die Pferde mußten mit Peitsche und Sporen getrieben werden, gingen aber nur im Schritt; sie konnten nicht anders.

Thalcave wäre gern vorausgeritten, denn Thaouka hätte ihn in wenigen Stunden an das Ufer des Bergflusses bringen können. Er dachte sicher daran; aber gewiß wollte er auch seine zwei Begleiter nicht allein mitten in der Wüste verlassen, und so zwang er, um ihnen nicht vorauszukommen, Thaouka, ihre Schritte zu mäßigen.

Ohne Widerstand, ohne sich aufzubäumen und heftig zu wiehern, ließ sich aber Thaouka nicht bewegen, Schritt zu halten; dennoch bedurfte es dazu weniger der Körperkraft ihres Herrn, als vielmehr seiner Worte. Thalcave sprach eigentlich mit seinem Pferde, und wenn dieses auch nicht antwortete, so verstand es ihn doch gewiß. Der Patagonier mußte ihm durchschlagende Gründe beigebracht haben, denn nachdem es einige Zeit Einwendungen gemacht, fügte es sich seinen Gründen und gehorchte, aber nicht ohne die Zügel zu beißen.

Wenn aber Thaouka Thalcave verstand, so verstand Thalcave nicht minder Thaouka. Das mit sehr scharfen Sinnen ausgestattete Thier spürte einige Feuchtigkeit in der Luft. Es zog ganz rasend den Athem ein und schnalzte mit der Zunge, als wenn sie in eine erquickende Flüssigkeit getaucht wäre. Der Patagonier konnte das nicht mißverstehen: Wasser war nicht mehr fern.

[157] Er trieb also seine Gefährten an, indem er ihnen Thaouka's Ungeduld zu erklären suchte, welche die beiden anderen Pferde auch bald verstanden. Mit äußerster Anstrengung galopirten sie dicht hinter dem Indianer her.

Gegen drei Uhr zeigte sich ein heller Streifen in einem Erdeinschnitte. Er glitzerte in den Strahlen der Sonne.

»Wasser! sagte Glenarvan.

– Wasser! Ja, das ist Wasser!« rief Robert.

Jetzt brauchten sie die Pferde nicht mehr zu treiben; die armen Thiere, deren Kräfte neubelebt schienen, jagten mit unzähmbarer Gewalt vorwärts.



In wenigen Minuten hatten sie den Rio Guamini erreicht, und ganz gesattelt, wie sie waren, stürzten sie bis an die Brust in seine wohlthuenden Wellen.

Natürlich nahmen auch die Reiter mit ihnen ein unfreiwilliges Bad, über das sie sich aber nicht beklagten.

»Ah, wie ist das schön! jubelte Robert, der seinen Durst mitten im Fluß löschte.

– Mäßige Dich, mein Sohn«, sagte Glenarvan, der aber selbst nicht mit gutem Beispiele voranging.

Thalcave für seine Person trank langsam, ohne sich zu übernehmen, in kleinen Schlucken, aber »lang', wie ein Lasso«, wie die Patagonier sagen.

»Endlich, sagte Glenarvan, werden unsere Freunde doch in ihrer [158] Hoffnung nicht getäuscht werden; sie sind sicher, wenn sie am Guamini anlangen, ein klares und reichliches Wasser zu finden, wenn Thalcave Etwas davon übrig läßt.



– Sollten wir ihnen nicht entgegengehen? meinte Robert; wir würden ihnen einige Stunden Ungewißheit und Leiden ersparen.

– Gewiß, mein Kind, aber wie sollten wir das Wasser fortbringen? Die Schläuche sind in Wilson's Händen geblieben. Nein, es ist besser, zu warten, wie verabredet war. Berechnet man die nothwendige Zeit und nimmt auch darauf Rücksicht, daß ihre Pferde nur im Schritt gehen können, so werden unsere Freunde in der Nacht hier sein. Wir wollen ihnen ein gutes Lager und eine gute Mahlzeit besorgen.«

Thalcave hatte Glenarvan's Ansicht gar nicht abgewartet und sich schon aufgemacht, eine Lagerstätte zu suchen. Glücklicher Weise entdeckte er am Flußufer eine »Ramada«, einen mit weiter Umpfählung von drei Seiten umschlossenen Raum, um Heerden sicher unterzubringen. Die Stätte war ganz herrlich geeignet, sich darin einzurichten, wenn man sich nicht scheute, unter freiem Himmel zu schlafen, und das war für Thalcave's Begleiter der geringste Kummer. Sie suchten den Ort gar nicht besser und streckten sich in der vollen Sonne aus, ihre durchnäßten Kleider zu trocknen.

[159] »Nun, da das Lager zur Hand ist, sagte Glenarvan, so denken wir an's Essen. Unsere Freunde sollen mit den Quartiermachern, welche sie vorausgeschickt haben, zufrieden sein, und irre ich nicht, so werden sie keinen Grund zur Klage haben. Eine Stunde Jagd wird keine verschwendete Zeit sein. Bist Du bereit, Robert?

– Ja, Mylord,« antwortete der junge Knabe und sprang auf, das Gewehr in der Hand.

Glenarvan kam auf diesen Gedanken dadurch, daß die Ufer des Guamini das Stelldichein alles Wildes aus den benachbarten Ebenen zu sein schienen. Rottenweis sah man da »Tinamous«, eine den Pampas eigenthümliche Art Rebhühner, schwarze Birkhühner, eine Art Regenpfeifer, »Teru-Teru« genannt, gelbe Wiesenläufer und Wasserhühner von prachtvoll grüner Farbe.

Vierfüßige Thiere kamen zunächst nicht zum Vorschein; Thalcave gab aber zu verstehen, daß diese sich in den hohen Gräsern und dichten Gehauen verborgen hielten. Die Reisenden hatten nur wenige Schritte bis zum reichsten Jagdreviere der Welt.

Sie begaben sich also auf die Jagd, und da sie zunächst die Feder gegenüber dem Felle geringschätzten, richteten sich ihre ersten Schüsse auf das Hochwild der Pampas. Bald erhoben sich vor ihnen hundertweise Rehe und Guanacos, ähnlich denen, welche auf dem Rücken der Cordilleren so heftig gegen sie anstürmten; aber diese sehr furchtsamen Thiere entflohen so schnell, daß es unmöglich war, ihnen auf Schußweite nahe zu kommen. Die Jäger beschränkten sich demnach auf ein minder flüchtiges Wild, welches dennoch rücksichtlich seines Nahrungswerthes Nichts zu wünschen übrig ließ. Ein Dutzend Rebhühner und Wiesenläufer wurden erlegt, auch tödtete Glenarvan sehr gewandt ein Bisamschwein, »Tay-Tetre«, einen Dickhäuter mit falbem Felle und schmackhaftem Fleisch, durch einen Flintenschuß.

In weniger als einer halben Stunde hatten die Jäger ohne Anstrengung soviel Wild, als sie brauchten, erlegt; Robert seinerseits bemächtigte sich eines wunderbaren, zu den Wiederkäuern gehörenden Thieres, eines »Armadillo«, eine Art Gürtelthier, dessen Rückenschild mit knochigen, beweglichen Platten bedeckt ist, und dessen Länge anderthalb Fuß betrug. Es war sehr fett und versprach eine ausgezeichnete Schüssel zu liefern, wie der Patagonier wenigstens sagte. Robert war sehr stolz auf seinen Erfolg.

Thalcave endlich gewährte seinen Begleitern das Schauspiel einer Jagd [160] auf einen »Nandon«, eine den Pampas eigenthümliche Straußenart, deren Schnelligkeit ganz zum Erstaunen ist.

Der Indianer versuchte gar nicht erst, das so schnellfüßige Thier zu überlisten; dicht bei ihm setzte er Thaouka in Galop, um es sogleich zu fangen, denn wenn der erste Angriff fehlschlug, hätte der Nandon Roß und Reiter durch vielfach verschlungene Wendungen ermüdet. Als Thalcave ihm in geeigneter Entfernung nahe war, schleuderte er mit kräftiger Hand seine Bolas, und das so geschickt, daß sie sich dem Strauße um die Beine schlangen und alle seine Anstrengungen vereitelten. In wenigen Secunden lag er schon zu Boden.

Der Indianer fing ihn auch nicht aus bloßer Jägerlust; das Fleisch des Nandon ist sehr geschätzt, und Thalcave wollte doch auch seine Schüssel zu der allgemeinen Mahlzeit beitragen.

Man brachte also nach der Ramada die Rebhühner, den Strauß Thalcave's, das Bisamschwein Glenarvan's und das Gürtelthier Robert's.

Der Strauß und das Bisamschwein wurden sogleich zugerichtet, d.h. ihre zähen Körperdecken abgezogen und das Fleisch in dünne Schnitten zerlegt. Der Tatou ist ein köstliches Thier, das seine Bratpfanne gleich mit sich trägt, und so schob man es in seiner eigenen Schale auf die glühenden Kohlen.

Die drei Jäger aßen nur die Rebhühner zu Abend und verwahrten die übrigen Stücke noch für ihre Freunde. Getrunken wurde zur Mahlzeit nur klares Wasser, das man jetzt höher schätzte, als alle Portweine der Welt, und selbst jenem berühmten »Usquebaugh« 3 vorzog, der in den schottischen Hochlanden so verehrt wird.

Die Pferde waren nicht vergessen worden. Ein großer Vorrath trockenen Futters, der in der Ramada aufgehäuft war, diente ihnen zur Nahrung und zum Lager.

Als Alles vorgerichtet war, wickelten sich Glenarvan, Robert und der Indianer in ihre Punchos und streckten sich auf ein Dunenlager von Alfafares, dem gewöhnlichen Bette der Pampajäger.

[161]
Fußnoten

1 Fünfzig Kilometer.

2 Mehr als hundert Stunden.

3 Ein Branntwein aus gegohrener Gerste.

19. Capitel
Neunzehntes Capitel.
Die rothen Wölfe.

Die Nacht sank herab. Es war eine Neumondsnacht, während welcher das nächtliche Gestirn allen Erdbewohnern unsichtbar bleiben mußte. Der unbestimmte Schimmer der Sterne erleuchtete allein die Ebene. Am Horizonte verschwammen die Sternbilder des Thierkreises in dunkleren Dünsten. Die Wasser des Guamini flossen ohne alles Gemurmel dahin, wie ein langer Streifen Oel, der auf einer Marmorplatte hingleitet. Vögel, Säugethiere und Reptilien ruhten von den Anstrengungen des Tages aus, und das Schweigen der Wüste lagerte über den ungeheuren Landstrecken der Pampas.

Glenarvan, Robert und Thalcave waren dem allgemeinen Gesetze erlegen. Auf dickem Kleelager hingestreckt, ruhten sie in tiefem Schlummer. Die Pferde hatten sich ermattet auf die Erde niedergelegt. Nur Thaouka, ein wahres Vollblutpferd, schlief im Stehen, die vier Beine senkrecht aufgestemmt, stolz in Ruhe wie in Thätigkeit, und bereit auf den ersten Wink seines Herrn davon zu sprengen. Eine vollkommene Ruhe herrschte im Innern der Umzäunung, und die Kohlen des nächtlichen Heerdes, der langsam verlöschte, warfen ihre letzten Strahlen durch das schweigende Dunkel.

Ungefähr um zehn Uhr erwachte jedoch der Indianer nach kurzem Schlafe. Unter seinen herabgezogenen Brauen schienen sich die Augen auf einen Punkt zu heften und sein Ohr richtete sich nach der Ebene zu. Offenbar suchte er sich über ein unbestimmtes Geräusch klar zu werden. Bald zeigte sich auf seinem sonst so ruhigen Angesicht eine merkliche Unruhe. Bemerkte er die Annäherung räuberischer Indianer oder das Herankommen von Jaguaren, Wassertigern oder anderen furchtbaren Thieren, welche in der Nachbarschaft der Ufer und Gestade nicht selten sind? Die letztere Annahme schien ihm ohne Zweifel einige Wahrscheinlichkeit zu haben, denn er warf einen schnellen Blick auf die in der Viehstätte aufgehäuften brennbaren Stoffe, und seine Unruhe nahm noch zu. Wirklich mußte alle diese Lagerstreu von trockenem Alsasareskraute bald aufgezehrt sein, und konnte kühnere Raubthiere nicht lange aufhalten.

Unter diesen Umständen konnte Thalcave eben nur abwarten, was da kommen würde, und er wartete, halb liegend, den Kopf in den Händen und [162] die Ellbogen auf die Kniee gestützt, in der Haltung eines Menschen, dem eine plötzliche Angst den Schlaf geraubt hat.

Eine Stunde verging so. Jeder Andere, als Thalcave, hätte sich, beruhigt durch die Stille draußen, wie der niedergelegt. Aber wo ein Fremder gar keinen Verdacht geschöpft hätte, da witterten die überreizten Sinne und der natürliche Instinct des Indianers eine kommende Gefahr.

Während er so horchte und auslugte, ließ Thaouka ein dumpfes Wiehern hören, die Nase des Thieres streckte sich nach dem Eingange der Ramada. Sogleich richtete sich der Patagonier auf.

»Thaouka wittert einen Feind«, sagte er.

Er stand auf und durchspähte aufmerksam die Ebene.

Stillschweigen herrschte dort noch, aber keine Ruhe. Thalcave sah, wie sich Schatten geräuschlos durch die Curra-Mammel-Büschel bewegten. Da und dort funkelten leuchtende Punkte, die sich in jeder Richtung kreuzten, und abwechselnd verloschen und wieder aufblitzten. Man hätte dabei an einen Tanz phantastischer Irrlichter auf dem Spiegel eines ungeheuren Sumpfes denken können. Mancher Fremde würde die umherfliegenden Funken gewiß für phosphorescirende Insecten gehalten haben, welche nach Einbruch der Nacht an manchen Stellen der Pampagegenden leuchten. Doch Thalcave täuschte sich damit nicht. Er wußte, mit welchen Feinden er zu thun hatte, er lud seinen Carabiner und stellte sich zur Beobachtung an einem der ersten Pfähle der Umzäunung auf.

Er hatte nicht lange zu warten. Ein seltsames Geschrei, ein Gemisch von Heulen und Bellen, hallte in den Pampas wieder. Ein Schuß des Carabiners war die Antwort, worauf hundertfaches schreckliches Gebrüll folgte.

Glenarvan und Robert, welche plötzlich erwachten, sprangen vom Lager auf.

»Was giebt's? fragte der junge Grant.

– Indianer etwa? sagte Glenarvan.

– Nein, erwiderte Thalcave, ›Aguaras‹.«

Robert sah Glenarvan an.

»Aguaras? fragte er.

– Ja, antwortete Glenarvan, die rothen Wölfe der Pampas.«

Beide ergriffen ihre Waffen und stellten sich neben den Indianer. Dieser wies auf die Ebene hin, woher das entsetzliche Geheul sich erhob.

Unwillkürlich that Robert einen Schritt rückwärts.

[163] »Du hast keine Furcht vor Wölfen, mein Sohn? sagte Glenarvan zu ihm.

– Nein, Mylord, erwiderte Robert mit fester Stimme. Neben Ihnen fürchte ich mich vor gar Nichts.

– Desto besser. Diese Aguaras sind wenig zu fürchtende Thiere, und wären sie nicht in so großer Anzahl da, so würden sie mich gar nicht sehr kümmern.

– Was thut das! antwortete Robert. Wir sind gut bewaffnet, sie mögen nur herankommen.

– Sie werden gut empfangen werden!«

Indem Glenarvan so sprach, wollte er den Knaben beruhigen, aber er dachte nicht ohne heimliches Schaudern an die Legion jener in der Nacht so frechen Fleischfresser. Vielleicht waren sie zu Hunderten da, und drei noch so gut bewaffnete Menschen konnten doch nicht mit Erfolg gegen eine solche Menge Thiere kämpfen.

Als der Patagonier das Wort »Aguara« aussprach, verstand Glenarvan sogleich den Namen, womit die Pampa-Indianer die rothen Wölfe bezeichnen. Dieses Raubthier, der »Canis jubatus« der Naturforscher, hat die Natur eines großen Hundes und den Kopf des Fuchses; seine Hauthaare sind zimmtroth und auf seinem Rücken starrt eine schwarze Mähne, welche über das ganze Rückgrath hinabläuft. Dieses Thier ist sehr gewandt und stark; es bewohnt gewöhnlich sumpfige Orte und verfolgt die Wasserthiere schwimmend. Die Nacht treibt dasselbe aus seinem Bau, in dem es während des Tages schläft; vorzüglich fürchtet man dasselbe in den Viehzuchtanstalten, denn sobald es nur etwas von Hunger gereizt ist, greift es auch großes Vieh an und verursacht beträchtliche Verheerungen.

Einzeln ist der Aguara nicht zu fürchten, so ist's aber nicht bei einer großen Anzahl dieser Thiere, wenn sie ausgehungert sind; da ist es noch besser, es mit einem Kuguar oder Jaguar zu thun zu haben, den man Auge in Auge angreifen kann.

Bei dem Geheul, von dem die Pampa wiederhallte, und bei der Menge der Schattengestalten, die auf der Ebene hin- und hersprangen, konnte sich nun Glenarvan über die Menge der rothen Wölfe, die sich am Ufer des Guamini gesammelt hatten, nicht täuschen; sie hatten dort eine sichere Beute, ob Pferdefleisch, ob Menschenfleisch, aufgespürt, und keiner von ihnen mochte [164] wohl in sein Lager zurückkehren, ohne seinen Antheil zu haben. Die Lage war also sehr beunruhigend.

Indessen zog sich der Kreis der Thiere nach und nach enger zusammen. Die erwachten Pferde gaben Zeichen des äußersten Schreckens. Thaouka allein stampfte den Boden und suchte die Halfter zu zerreißen, um sich hinauszustürzen. Sein Herr konnte sie nur durch fortwährendes Pfeifen beschwichtigen.

Glenarvan und Robert hatten sich so gestellt, um den Eingang zu vertheidigen. Ihre Carabiner waren geladen und sie waren schon im Begriff, auf die vorderste Reihe der Aguaras Feuer zu geben, als Thalcave mit der Hand ihre schon angelegten Gewehre in die Höhe hob.

»Was will Thalcave? fragte Robert.

– Er will nicht, daß wir schießen! erwiderte Glenarvan.

– Warum?

– Wahrscheinlich hält er den Augenblick noch nicht für gelegen.«

Das war aber nicht die Ursache, welche den Indianer so zu handeln veranlaßte, sondern ein weit gewichtigerer Grund, und Glenarvan verstand ihn, als Thalcave, sein Pulverhorn aufhebend und umdrehend, zeigte, daß es fast ganz leer war.

»Nun? sagte Robert.

– Ei nun, wir müssen unsere Munition schonen. Unsere heutige Jagd hat uns zuviel davon gekostet, und wir haben nur noch wenig Pulver und Blei. Kaum zwanzig Schuß bleiben uns abzugeben!«

Der Knabe erwiderte Nichts.

»Du hast keine Furcht, Robert?

– Nein, Mylord!

– Brav, mein Sohn.«

In diesem Augenblicke krachte wieder ein Schuß; Thalcave hatte einen der verwegensten Feinde zu Boden gestreckt. Die Wölfe, welche in gedrängter Reihe vorwärts gingen, wichen zurück und sammelten sich gegen hundert Schritte von der Umzäunung. Sofort nahm Glenarvan auf einen Wink des Indianers dessen Stelle ein; dieser raffte die Lagerstreu, die Kräuter, mit einem Worte alles Brennbare zusammen, häufte es vor dem Eingange der Ramada auf und warf, um es anzuzünden, eine brennende Kohle hinein. Bald loderte ein Vorhang von Flammen vor dem dunkeln Hintergrund [165] des Himmels empor, und durch seine Lücken sah man die Ebene hell im flackernden Widerschein erleuchtet. Glenarvan konnte nun die unzählbare Menge Thiere beurtheilen, welchen es zu widerstehen galt. Die Feuerwand, die ihnen Thalcave entgegengesetzt hatte, reizte nur ihren Zorn, da sie sich so plötzlich aufgehalten sahen. Dennoch kamen einige, gedrängt durch die hinteren Reihen, bis an den Heerd des Feuers heran und verbrannten sich dabei die Tatzen.

Von Zeit zu Zeit wurde ein Gewehrschuß nöthig, um die heulende Heerde abzuhalten und nach Verlauf einer Stunde bedeckten wohl fünfzehn Cadaver die Prairie.

Noch befanden sich die Belagerten in minder gefahrvoller Lage; so lange der Schießbedarf ausreichte, so lange die Schranke des Feuers sich noch vor dem Eingange zur Ramada erhob, war ein Ansturm nicht zu fürchten. Aber später – was sollte geschehen, wenn all' diese Mittel, die Wolfsbande abzuhalten, ihnen abgingen?

Glenarvan sah Robert an und fühlte, wie sein Herz sich zusammenkrampfte. Er vergaß sich, er selbst, um an den armen Knaben zu denken, welcher einen Muth über sein Alter zeigte. Robert war blaß; aber seine Hand ließ die Waffe nicht los, und er erwartete festen Fußes den Angriff der gereizten Wölfe.

Indeß beschloß Glenarvan, nachdem er ihre Lage kaltblütig bedacht hatte, dieselbe zu beenden.

»In einer Stunde, sagte er, werden wir weder Pulver, noch Blei oder Feuer mehr haben. Nun wohl, so wollen wir diesen Augenblick nicht erst abwarten, um zu einem Entschlusse zu kommen.«

Er wendete sich also gegen Thalcave, sammelte die wenigen spanischen Worte, die ihm sein Gedächtniß bewahrt hatte, und begann mit dem Indianer ein Gespräch, das häufig durch einen Gewehrschuß unterbrochen wurde.

Nur schwierig kamen die beiden Männer dazu, sich zu verständigen. Glenarvan kannte zum Glück die Art und Weise der rothen Wölfe. Ohne diesen Umstand hätte er schwerlich die Worte und Gesten des Patagoniers verstehen können.

Nichtsdestoweniger verging eine Viertelstunde, bevor er Robert Thalcave's Antwort übersetzen konnte. Glenarvan hatte den Indianer über die gegenwärtige verzweifelte Lage befragt.

[166] »Und was hat er erwidert? fragte Robert Grant.

– Er meinte, daß wir uns, es koste was es wolle, bis zum Anbruch des Tages halten müßten. Der Aguara streift nur in der Nacht herum, wenn der Morgen graut, zieht er sich in seine Höhle zurück Er ist der Wolf der Finsterniß, ein feiges Thier, das den hellen Tag scheut, eine vierfüßige Eule!

– Nun gut, so werden wir uns bis zum Tage vertheidigen.

– Ja wohl, mein Sohn, und das mit Messerstichen, wenn wir es nicht mehr mit Flintenschüssen thun können.«



Schon hatte Thalcave dafür das Beispiel gegeben, und allemal, wenn ein Wolf sich dem Feuer näherte, fuhr der lange bewaffnete Arm des Patagoniers schnell durch die Flammen und kam roth von Blut zurück.

Indessen, die Vertheidigungsmittel gingen zur Neige. Gegen zwei Uhr Morgens warf Thalcave den letzten Arm voll Brennmaterial in's Feuer, auch blieben den Belagerten nur noch fünf Schuß abzugeben.

Glenarvan sah mit schmerzlichem Blicke umher.


Die rothen Wölfe bei der Verfolgung. (S. 171.)

Er gedachte dieses Kindes, welches anwesend war, seiner Freunde, aller derer, die er liebte. Robert sprach gar nicht. Vielleicht erschien seiner vertrauensvollen Einbildung die Gefahr nicht so drohend. Aber Glenarvan dachte für ihn daran und vergegenwärtigte sich die schreckliche, jetzt fast unvermeidliche Aus sicht, lebendig gefressen zu werden! Er war nicht mehr Herr seiner Gemüthsbewegung; er zog das Kind an seine Brust, drückte es an sein [167] Herz und heftete ihm seine Lippen auf die Stirne, während seinen Augen unwillkürlich Thränen entrannen.

Robert sah ihn lächelnd an.

»Ich habe keine Furcht! sagte er.

– Nein, mein Kind, nein, erwiderte Glenarvan, und Du hast Recht damit. In zwei Stunden bricht der Tag an, und wir werden gerettet sein! – Sehr gut, Thalcave, sehr gut, mein wackerer Patagonier!« rief er in dem Augenblicke, als der Indianer zwei sehr große Thiere, die über die feurige Barrière hinüberzukommen versuchten, mit Kolbenschlägen tödtete.

[168] In diesem Augenblick aber zeigten ihm die ersterbenden Flammen des Heerdes auch die ganze Bande der Aguaras, welche in dichten Reihen wie zum Sturme auf die Ramada heranrückte.

Die Lösung des blutigen Dramas näherte sich; das Feuer fiel nach und nach aus Mangel an Brennstoffen zusammen; die Flamme wurde kleiner; die bis jetzt beleuchtete Ebene ward wieder dunkel, und in dieser Dunkelheit blitzten die leuchtenden Augen der rothen Wölfe wieder auf. Noch einige Minuten, und die ganze Heerde mußte sich voraussichtlich in die Umzäunung hineinstürzen.

Zum letzten Male drückte Thalcave seinen Carabiner ab und streckte einen Feind zu Boden, dann aber, als seine Munition zu Ende war, kreuzte er die Arme. Sein Haupt sank auf die Brust herab. Er schien schweigend zu überlegen. Suchte er nach irgend welchem kühnen, unmöglichen, thörichten Mittel, diese wüthende Bande zurückzutreiben? Glenarvan wagte nicht, ihn darum zu fragen.

Jetzt vollzog sich auch plötzlich eine Aenderung in der Angriffsweise der Wölfe. Sie schienen sich zu entfernen, und ihr Geheul, das eben noch so betäubend gewesen war, verstummte. Ein dumpfes Schweigen lagerte über der Ebene.

»Sie gehen davon! sagte Robert.

– Vielleicht«, antwortete Glenarvan, der gespannt auf jedes Geräusch von außen horchte.

Thalcave aber, der jenen Gedanken errieth, schüttelte den Kopf. Er wußte zu gut, daß die Thiere von einer sicheren Beute nicht ablassen würden, bevor sie nicht der Tag in ihre dunkeln Höhlen zurücktrieb.

Offenbar hatte sich aber die Taktik des Feindes geändert.

Er versuchte nicht mehr, den Eingang der Ramada zu stürmen, aber seine neuen Manoeuvres brachten eine noch dringendere Gefahr. Die Aguaras nämlich umzingelten, als sie darauf verzichteten, durch diesen durch Feuer und Eisen hartnäckig vertheidigten Eingang zu dringen, die Ramada, und suchten dieselbe wie nach allgemeiner Uebereinkunft von der entgegengesetzten Seite anzugreifen.

Bald hörte man ihre Krallen sich in das halb verfaulte Holz einschlagen. Zwischen den wankenden Pfosten waren schon ihre kräftigen Tatzen und ihre[169] blutigen Rachen zu sehen. Die erschreckten Pferde, welche die Halfter zerrissen, jagten voll toller Wuth in der Umzäunung umher.

Glenarvan hielt den jungen Knaben in seinen Armen, um ihn bis zum letzten Augenblicke zu vertheidigen. Vielleicht auch wollte er eine unmögliche Flucht versuchen und sich nach außen stürzen, als seine Blicke sich auf den Indianer richteten.

Thalcave näherte sich, nachdem er wie ein Rothwild in der Ramada sich getummelt hatte, schnell seinem Pferde, das vor Ungeduld zitterte, und begann dasselbe mit aller Sorgfalt zu zäunen, wobei er weder einen Riemen, noch eine Schnalle vergaß. Er schien sich über das Geheul, welches sich verdoppelte, nicht mehr zu beunruhigen. Glenarvan sah ihm mit unheimlich bangem Schrecken zu.

»Er verläßt uns! rief er aus, als er Thalcave die Zügel zusammennehmen sah, wie einen Reiter, der eben aufsitzen will.

– Er? Niemals!« sagte Robert.

Und wirklich war der Indianer dabei, nicht seine Freunde zu verlassen, sondern ihre Rettung zu versuchen, indem er sich für sie opferte.

Thaouka war fertig; das Thier nagte an dem Gebiß; es sprang auf; seine Augen voll stolzen Feuers sprühten Blitze; es hatte seinen Herrn verstanden.

In dem Augenblicke, da der Indianer die Mähne seines Pferdes ergriff, hielt ihm Glenarvan mit krampfhafter Hand den Arm.

»Du gehst davon? sagte er, auf die frei gewordene Ebene weisend.

– Ja«, erwiderte der Indianer, der die Bewegung seines Gefährten verstand.

Dann setzte er einige spanische Worte hinzu, welche bedeuteten:

»Thaouka! Gutes Pferd. Schnell. Wird die Wölfe nachziehen.

– O, Thalcave! rief Glenarvan aus.

– Schnell, schnell, antwortete noch der Indianer, während Glenarvan zu Robert im Tone tiefster Rührung sagte:

– Robert, mein Kind, Du hörst es! Er will sich für uns opfern. Er will in die Pampas hinausjagen, und die Wuth der Wölfe abwenden, indem er sie auf sich zieht.

– Freund Thalcave! antwortete Robert, der sich dem Patagonier zu Füßen warf, Freund Thalcave, verlaß' uns nicht!

[170] – Nein, sagte Glenarvan, er wird uns nicht verlassen.«

Und zu dem Indianer gewendet sagte er, indem er auf die erschreckten und gegen die Pfähle gedrängten Pferde wies:

»Wir wollen zusammen fort.

– Nein, sagte der Indianer, der diese Worte nicht mißverstand. Schlechte Thiere. Erschreckte. Thaouka. Gutes Pferd.

– Nun wohl, es sei! sagte da Glenarvan; Thalcave wird Dich nicht verlassen, Robert! Er lehrt mir, was ich zu thun habe. An mir ist, den Ritt zu wagen, an ihm aber, bei Dir zu bleiben!«

Dann, den Zügel Thaouka's ergreifend, sagte er:

»Ich, ich werde mich hinauswagen.

– Nein, erwiderte ruhig der Patagonier.

– Ich! sage ich Dir! rief Glenarvan, der ihm die Zügel entriß, ich thue es. Rette dieses Kind! Ich vertraue es Dir an, Thalcave!«

Glenarvan vermischte in seiner Aufregung englische und spanische Worte. Doch, was kommt es auf die Sprache an! In so entsetzlichen Lagen sagt die Geste Alles und die Menschen verstehen sich schnell.

Dennoch widerstand Thalcave. Der Wortwechsel zog sich in die Länge, und die Gefahr wuchs von Secunde zu Secunde. Schon wichen die zernagten Pfähle den Zähnen und Krallen der Wölfe.

Weder Glenarvan noch Thalcave schien nachgeben zu wollen. Der Indianer hatte Glenarvan gegen den Eingang der Umzäunung hingezogen; er zeigte ihm die von Wölfen freie Ebene; in seiner lebhaften Sprache suchte er ihm verständlich zu machen, daß kein Augenblick zu verlieren sei, daß die Gefahr, wenn das Vorhaben nicht von Erfolg wäre, für die Zurückbleibenden weit größer wäre; endlich, daß er allein Thaouka genügend kenne, um deren vollkommene Eigenschaften, ihre Leichtigkeit und Schnelligkeit für das allgemeine Beste zu verwerthen. Glenarvan, verblendet, beharrte auf seiner Ansicht und wollte sich opfern, als er plötzlich heftig zurückgestoßen wurde. Thaouka bäumte sich, richtete sich auf die Hinterfüße und flog ungestüm mit einem Satz über das Feuer und den Saum von Thierleichen, während die Stimme des Kindes rief:

»Gott stehe Ihnen bei, Mylord!«

Glenarvan und Thalcave hatten kaum so viel Zeit zu bemerken, wie Robert, sich an der Mähne Thaouka's anklammernd, in der Finsterniß verschwand.

[171] »Robert! Du Unglücklicher!« rief Glenarvan aus.

Aber diese Worte konnte selbst der Indianer nicht verstehen. Ein schreckliches Geheul erhob sich. Die rothen Wölfe folgten dem Pferde auf den Fersen und flohen mit geisterhafter Schnelligkeit nach Westen.

Thalcave und Glenarvan stürzten vor die Ramada hinaus. Schon hatte die Ebene ihre Ruhe wieder, und kaum konnten sie noch eine sich bewegende Linie unterscheiden, die in der Entfernung in der Dunkelheit der Nacht dahinwogte.

Glenarvan sank zu Boden, von Schmerz überwältigt, in Verzweiflung die Hände ringend. Er sah Thalcave an. Der Indianer lächelte mit seiner gewöhnlichen Ruhe.



»Thaouka. Gutes Pferd! Wackrer Knabe! Er wird sich retten! wiederholte er, indem er es durch Nicken mit dem Kopfe bekräftigte.

– Und wenn er stürzt! sagte Glenarvan.

– Er wird nicht stürzen!«

Trotz der Zuversicht Thalcave's verbrachte der arme Lord die Nacht doch in der schrecklichsten Sorge. Er hatte gar kein Bewußtsein von der Gefahr mehr, die mit der Horde Wölfe verschwunden war. Er wollte davon, um Robert aufzusuchen; doch der Indianer hielt ihn zurück; er machte ihm begreiflich, daß die Pferde ihn nicht einholen würden; daß Thaouka die Feinde überholen werde, daß man ihn in der Finsterniß doch nicht fände, und daß der Tag abgewartet werden müsse, um die Spuren Robert's zu verfolgen.

[172] Um vier Uhr Morgens begann die Morgenröthe. Die dichteren Nebel am Horizonte färbten sich bald mit falbem Lichte. Ein klarer Thau senkte sich auf die Ebene, und die hohen Gräser begannen sich unter dem ersten Lufthauch des Tages zu bewegen. Die Stunde zum Aufbruch war gekommen.

»Vorwärts nun!« sagte der Indianer.

Glenarvan antwortete nicht, aber er schwang sich auf Robert's Pferd. Bald galopirten die beiden Reiter gegen Westen, indem sie die gerade Linie einhielten, von der ihre Genossen nicht abweichen sollten.

Während einer Stunde ritten sie so mit größter Schnelligkeit dahin, suchten Robert mit den Augen, und fürchteten auf jedem Schritte seine blutige Leiche zu treffen. Glenarvan zerriß die Weichen seines Pferdes mit den Sporen. Endlich hörten sie Flintenschüsse, die in gleichen Zeiträumen, wie als Erkennungszeichen, ertönten.

»Das sind sie!« rief Glenarvan.

Thalcave und er setzten die Pferde noch schneller in Lauf, und einige Augenblicke später trafen sie auf die von Paganel geführte Abtheilung. Ein Aufschrei drang aus Glenarvan's Brust. Robert war da, lebend und ganz wohl, getragen von der prächtigen Thaouka, die vor Freude wieherte, als sie ihren Herrn wiedersah.

»O, mein Kind! Mein Kind!« rief Glenarvan mit einem unsäglichen Ausdruck von Zärtlichkeit.

Robert und er sprangen zur Erde und fielen Einer dem Andern in die Arme. Dann kam die Reihe an den Indianer, den muthigen Sohn des Kapitän Grant an die Brust zu pressen.

»Er lebt! Er lebt! rief Glenarvan aus.

– Ja, erwiderte Robert, und das dankt er Thaouka!«

Der Indianer hatte diesen Ausdruck der Erkenntlichkeit nicht abgewartet, um seinem Pferde zu danken, und schon sprach er zu ihm und umarmte es, als ob menschliches Blut in den Adern des stolzen Thieres rollte.

Dann wendete er sich an Paganel zurück, und sagte:

»Ein Braver!«

Und indem er die indianische Uebertragung, den Muth zu bezeichnen, anwandte, fügte Thalcave hinzu:

»Seine Sporen haben nicht gezittert!«

Indessen umschloß Glenarvan Robert mit den Armen und sagte zu ihm:

[173] »Warum, mein Sohn, warum hast Du nicht Thalcave oder mir überlassen, diesen letzten Versuch zu Deiner Rettung zu wagen?

– Mylord, erwiderte der Knabe mit dem Tone der innigsten Dankbarkeit, war nicht die Reihe an mir, mich zu opfern? Thalcave hatte mir schon einmal das Leben gerettet, und Sie, – Sie werden ja meinen Vater retten!«

20. Capitel
Zwanzigstes Capitel.
Die argentinischen Ebenen.

Nach den ersten Freude-Ergießungen über die Rückkehr wurden Alle, welche zurückgeblieben waren, Paganel, Austin, Wilson, Mulrady, ausgenommen vielleicht der Major Mac Nabbs, bald inne, daß sie entsetzlichen Durst hatten. Zum Glück floß nicht weit entfernt der Guamini. Man machte sich also wieder auf den Weg, und um sieben Uhr Vormittags kam die kleine Truppe in der Nähe der Umzäunung an.

Beim Anblick der bei den Zugängen zerstreuten Körper der erlegten Wölfe konnte man leicht erkennen, wie heftig der Angriff, und wie lebhaft die Vertheidigung gewesen. Alsbald, nachdem sich die Reisenden reichlich erfrischt, nahmen sie ein außergewöhnliches Frühstück ein. Die Filets de Nandu wurden für vortrefflich erklärt, und der Tatubraten in seiner Schale galt für ein köstliches Gericht.

»Tüchtig essen, sagte Paganel, wäre Undankbarkeit gegen die Vorsehung; man muß ein Weiteres thun.«

Und er that ein Weiteres, ja des Guten zu viel; doch schadete es ihm nichts, Dank dem klaren Guaminiwasser, welches ganz besonders der Verdauung förderlich zu sein schien.

Um zehn Uhr gab Glenarvan das Zeichen zum Auf bruch. Man füllte die Schläuche mit Wasser und machte sich auf den Weg. Die Pferde, welche wieder volle Kraft hatten, hielten sich fast stets im kleinen Jagdgalop. Das [174] feuchtere Land wurde auch fruchtbarer; doch war es weit und breit ohne Bewohner. Am zweiten und dritten November ereignete sich kein Zwischenfall, und am Abend rasteten die Reisenden, welche schon an die Beschwerden langer Märsche gewöhnt waren, an der Grenze der Pampas auf dem Gebiete der Provinz Buenos-Ayres. Sie hatten die Bai von Talcahuano am 14. October verlassen, also binnen zweiundzwanzig Tagen vierhundertundfünfzig Meilen 1, d.h. nahezu zwei Drittheil des Weges glücklich zurückgelegt.

Am folgenden Morgen kam man über die Grenze, welche man gewöhnlich als Scheidelinie der argentinischen Ebenen und der Region der Pampas annimmt. Hier hoffte Thalcave die Kaziken zu treffen, in deren Hände er glaubte, daß sich gewiß Harry Grant mit seinen beiden Gefährten befinden müsse.

Von den vierzehn Provinzen der Argentinischen Republik ist die von Buenos-Ayres die ausgedehnteste und bevölkertste. Ihre Grenzen reichen an das Gebiet der südlichen Indianer zwischen dem vier- und fünfundsechzigsten Breitegrad. Das Land ist erstaunlich fruchtbar, und das Klima ist ganz besonders der Gesundheit zuträglich, da diese mit Grasarten und baumartigen Schotengewächsen bedeckte Ebene bis zu den Sierras Tandil und Tapalquem eine fast völlig horizontale Lage darbietet.


Flamingo-Jagd. (S. 176.)

Seitdem die Reisenden den Guamini hinter sich hatten, konnten sie mit großer Befriedigung eine auffallende Besserung in der Temperatur wahrnehmen. Der mittlere Stand derselben betrug nicht mehr wie siebenzehn Grad hunderttheilig, in Folge der heftigen kalten Winde Patagoniens, welche unablässig die Luftwellen in Bewegung halten. Man hatte also, nachdem man unter der Trockenheit und Hitze so sehr gelitten, sich durchaus nicht zu beklagen, und kam rasch und sicher vorwärts. Aber das Land schien völlig unbewohnt, oder richtiger gesagt, von Bewohnern verlassen.

Die östliche Grenzlinie lief oft längs kleinen Seen, oder auch quer durch solche, die bald aus Süßwasser, bald aus etwas salzhaltigem bestanden. An [175] deren Ufer sah man flinke Zaunkönige durch die Büsche schlüpfen, und hörte Lerchen ihr Jubellied anstimmen, in Gesellschaft von »Tangaras«, die an funkelnder Farbenpracht mit den Kolibris wetteifern. Diese hübschen Vöglein flatterten munter, ohne die Spechte zu beachten, die am Uferrand in militärischer Haltung mit Epauletten und rothem Brustschild paradirten. An Dorngebüschen schaukelte das schwankende Nest der »Annubis«, und am Ufer der Lagunen spazierten, regelmäßig geschaart, prachtvolle Flamingos, und schwangen im Winde ihre feuerfarbigen Fittiche. Ihre Nester, gleich abgestumpften [176] Kegeln, sah man zu Tausenden beisammen, als wie eine kleine Stadt. Die Flamingos ließen sich durch die Nähe der Reisenden nicht im Mindesten stören.

Dies benutzte Paganel nebst dem Major, sie näher zu betrachten und eine Weile darüber sich zu unterhalten. Inzwischen eilte Glenarvan voll Ungeduld mit Thalcave voran; aber er konnte sich mit ihm nicht verständigen, und rief seinen gewöhnlichen Dolmetscher Paganel herbei.


Paganel zeigt auf eine Luftspiegelung. (S. 181.)

[177] Derselbe unterhielt sich einige Minuten mit dem Patagonier, dann sprach er zu Glenarvan:

»Thalcave wundert sich über eine wirklich sonderbare Thatsache.

– Die ist?

– Daß wir auf keine Indianer oder Spuren derselben in diesen Ebenen stoßen, durch welche sonst regelmäßig ihre Banden streifen, sei es daß sie aus den Viehständen gestohlenes Vieh vor sich hertreiben, oder zum Vertrieb ihre Teppiche und Lederflechtereien bis zu den Anden fortziehen.

– Und womit erklärt Thalcave dieses Ausbleiben derselben?

– Er weiß es nicht zu erklären, er staunte nur, nichts weiter.

– Aber was für Indianer hoffte er in dieser Pampagegend zu treffen?

– Eben die, welche Fremde als Gefangene bei sich hatten, jene Eingeborenen unter den Kaziken Calsneura, Catriel oder Yanchetruz.

– Was sind das für Männer?

– Räuberhäuptlinge, welche vor dreißig Jahren, ehe sie über die Sierras hinausgetrieben wurden, Alles vermochten. Seitdem sind sie unterworfen, so weit bei einem Indianer von Unterwerfung die Rede sein kann, und sie durchstreifen plündernd ebensowohl die Pampasebene als die Provinz Buenos-Ayres. Ich theile daher Thalcave's Erstaunen, daß man eben keine Spuren von ihnen in einem Lande trifft, wo sie gewöhnlich ihr Räuberhandwerk treiben.

– Dann aber, fragte Glenarvan, wozu sollen wir uns entschließen?«

Paganel besprach sich einige Minuten mit Thalcave, dann sagte er:

»Sein Rath, der mir sehr verständig scheint, geht dahin, daß wir unseren Weg ostwärts bis zum Fort Indépendance fortsetzen müssen, und dort, sofern wir noch keine Auskunft über den Kapitän Grant haben, werden wir wenigstens erfahren, was aus den Indianern der argentinischen Ebene geworden ist.

– Ist dies Fort weit entfernt? fragte Glenarvan.

– Nein, es liegt auf der Sierra Tandil, sechzig Meilen weit.

– Und wann können wir dort ankommen?

– Uebermorgen Abend.«

Glenarvan war über diesen Umstand sehr bestürzt. Daß man in den Pampas keine Indianer traf, hatte man sich durchaus nicht versehen. Sie mußten sich daher aus einem ganz besonderen Grunde fern halten. Aber es [178] war besonders wichtig, wenn sich Harry Grant bei einem dieser Stämme befand, zu wissen, ob er nach dem Norden oder Süden geschleppt worden sei?

Diese Ungewißheit mußte Glenarvan beunruhigen. Man mußte um jeden Preis die Spur des Kapitäns weiter verfolgen. Schließlich schien es am besten, Thalcave's Rath zu folgen, um das Dorf Tandil zu erreichen, wo man wenigstens Jemand finden würde, mit dem man sprechen konnte.

Gegen vier Uhr Abends wurde am Horizont eine Hügelreihe signalisirt, die in einem so flachen Lande als Gebirge gelten konnte. Es war die Sierra Tandil, an deren Fuß die Reisenden in der folgenden Nacht rasteten.

Am folgenden Tage gelangte man zu dieser Sierra auf die leichteste Weise. Man folgte sandreichen Erhebungen eines sanft abfallenden Bodens. Für Leute, welche über die Andenkette gesetzt waren, konnte eine solche Sierra nicht schwierig sein, und die Pferde mäßigten kaum ihren raschen Trott. Zur Mittagszeit kam man an dem verlassenen Fort Tapalquem vorüber, dem ersten Ring der Kette von Befestigungen, die man am Südrande gegen die räuberischen Eingeborenen gezogen hatte. Doch am Nachmittag zeigten sich drei wohl berittene und gut bewaffnete Streifreiter, und beobachteten eine Weile die kleine Truppe; aber man konnte ihnen nicht nahe kommen, sie entflohen unglaublich rasch. Glenarvan war entrüstet.

»Gauchos, sagte der Patagonier, indem er den Eingeborenen die Benennung gab, welche einen Disput zwischen dem Major und Paganel veranlaßt hatte.

– Ei! Gauchos, erwiderte Mac Nabbs. Nun Paganel, heut weht kein Nordwind. Was halten Sie von diesen Geschöpfen?

– Ich halte dafür, sie sehen wie rechte Banditen aus, entgegnete Paganel.

– Und um solche zu sein, mein lieber Gelehrter?

– Ist nur ein Schritt, lieber Major!«

Dies Geständniß Paganel's wurde mit allgemeinem Lachen aufgenommen, was ihn übrigens nicht außer Fassung brachte, und er machte sogar in Hinsicht der Indianer eine merkwürdige Bemerkung.

»Ich habe irgendwo gelesen, sagte er, bei den Arabern habe der Mund einen auffallenden Ausdruck von Wildheit, während in den Augen sich die Menschlichkeit ausgedrückt finde. Nur beim amerikanischen Wilden ist's gerade umgekehrt. Diese Leute haben ein ganz besonders boshaftes Auge.«

[179] Hiermit war die Indianerrace gut gekennzeichnet.

Inzwischen marschirte man, Thalcave's Anweisung zufolge, in geschlossenem Haufen; so menschenleer das Land war, mußte man sich vor Ueberfällen hüten; aber die Vorsicht war hier überflüssig, und man rastete diesen Abend in einer verlassenen großen »Tolderia«, wo der Kazike Catriel gewöhnlich seine Rotten versammelte. Bei Besichtigung des Terrains gewann der Patagonier aus der Abwesenheit neuerer Spuren die Ueberzeugung, daß die Tolderia seit langer Zeit unbewohnt war.

Am folgenden Tage begaben sich Glenarvan und seine Genossen wieder auf die Ebene; man gewahrte die ersten Viehzuchtgehöfe – Estancias – welche nächst der Sierra Tandil sich befinden; aber Thalcave beschloß, sich hier nicht aufzuhalten, vielmehr geradeswegs auf das Fort Indépendance loszugehen, wo er sich insbesondere über die außerordentliche Lage dieses verlassenen Landes erkundigen wollte.

Nun kamen wieder Bäume zum Vorschein, welche von den Cordilleren an so selten gewesen; sie waren meist seit Ankunft der Europäer auf amerikanischem Boden gepflanzt. Es waren da Pfirsiche, Pappeln, Weiden, Akazien, die ohne Pflege rasch und wohl gediehen. Sie umgeben meistens die »Corrales«, geräumige, mit Pfählen umzäunte Viehstätten. Hier wurden Tausende von Ochsen, Hammeln, Kühen aufgezogen und gemästet, denen der Stempel des Besitzers aufgebrannt wurde, während große Hunde, wachsam und zahlreich, die Umgebung hüteten. Der etwas salzhaltige Boden am Fuß der Gebirge ist für die Heerden sehr geeignet und trägt treffliche Futterkräuter. Man wählt ihn daher vorzugsweise zu Anlegung von Viehhöfen, an deren Spitze ein Verwalter mit einem Aufseher steht, unter diesen aber vier Péons auf tausend Stück Vieh.

Diese Leute leben wie die Erzväter der Bibel; ihre Heerden sind sehr zahlreich, vielleicht noch zahlreicher, als die auf den Ebenen Mesopotamiens; aber hier ist der Heerdebesitzer ohne Familie, und die großen Viehzüchter (Estanceros) der Pampas, nur große Ochsenhändler, haben nichts mit den Patriarchen gemein.

Paganel verdeutschte dies seinen Gefährten recht gut, und ließ sich dabei auf eine höchst interessante Erörterung über die Verschiedenheit der Racen ein, der selbst der Major Interesse abgewann.

Paganel hatte auch Gelegenheit, auf eine merkwürdige Erscheinung der [180] Luftspiegelung aufmerksam zu machen, welche in diesen horizontalen Ebenen häufig vorkommt. Die Viehzuchtanstalten hatten in der Entfernung das Aussehen großer Inseln; die Pappeln und Weidenbäume schienen in einem klaren Wasser sich abzuspiegeln, ein Bild, das vor den Schritten der Reisenden zurückgewichen schien; aber die Täuschung war so vollständig, daß das Auge sich nicht daran gewöhnen konnte.

Im Verlauf dieses Tages, 6. November, stieß man auf mehrere Estancias, und auch einige Saladores, Pökelanstalten, wo das Vieh, nachdem es auf den nährenden Weidestätten fett geworden, dem Beile des Metzgers anheim fällt. Diese widerlichen Arbeiten beginnen im Anfang des Frühlings. Der »Salador« holt die Stücke Vieh aus dem Corral, wo er sie gewandt mit dem Lazo fängt und in den Saladero führt, in dem die Ochsen, Kühe, Hammel hundertweis abgeschlachtet und ausgeweidet werden. Ost aber lassen sich die Stiere nicht ohne Widerstand fangen. Dann wird der Schinder zum Torcador, und er verrichtet dieses gefährliche Geschäft mit einer Geschicklichkeit und Wildheit ohne Gleichen. Diese Schlächterei bietet einen abscheulichen Anblick dar. Nichts ist so ekelhaft widerlich, als die Umgebung eines Saladoro. Aus den gräßlichen Umzäunungen dringen, neben einer von stinkenden Ausströmungen durchdrungenen Atmosphäre, wildes Geschrei der Schinder, Hundegebell, stöhnendes Geheul verendender Thiere, während die riesigen Geier der argentinischen Ebene – Urubus und Auras – aus einem Umkreis von zwanzig Meilen zu Tausenden herbei kommen, den Schlächtern die noch zuckenden Reste ihrer Opfer streitig zu machen.

Damals aber waren die Saladoros stille, ohne Bewohner. Es war noch nicht die Zeit gekommen. Thalcave drängte vorwärts, er wollte noch diesen Abend das Fort Indépendance erreichen; die gespornten Pferde, dem Beispiel Thaouka's folgend, flogen durch den riesigen Graswuchs des Bodens. Man stieß auf einige Meierhöfe, welche durch Zäune mit Schießscharten und tiefe Gräben zur Abwehr in Stand gesetzt waren; das Hauptgebäude war mit einer Terrasse versehen, von welcher herab die militärisch organisirten Bewohner mit ihren Flinten den Vortheil über die Räuber der Ebene haben. Glenarvan hätte vielleicht hier die gesuchte Auskunft erhalten können, aber am sichersten war es, bis zum Dorfe Tandil zu dringen. Unverzüglich setzte man durch eine Fuhrt über den Rio Los Huasos und einige Meilen weiter über den Chapaleosu. Bald stampften die Rosse den grasigen Abhang der [181] ersten Abdachung der Sierra Tandil, und nach einer Stunde zeigte sich das Dorf in der Tiefe eines engen Passes, welcher von den Mauern des Forts Indépendance beherrscht war.

Fußnoten

1 Das Verhältniß der englisch-nordamerikanischen Meile zur deutschen geographischen und der Seemeile aller Nationen ist folgendes:

Seemeile.Deutsche.Englisch-

Amerikanische.

0,8680,2171

4,00014,611.

21. Capitel
Einundzwanzigstes Capitel.
Das Fort Indépendance.

Die Sierra Tandil liegt tausend Fuß über dem Meeresspiegel; sie ist eine Kette von Urgebirgen, d.h. sie bestand vor jeder organischen Schöpfung oder Umgestaltung, und zwar in dem Sinne, daß ihr Gebilde und ihre Bestandtheile durch die Wirkung innerlicher Wärme nach und nach eine Veränderung erlitten haben. Sie besteht aus einer halbkreisförmigen Reihe von Hügeln aus Gneis mit Gras bewachsen. Der District Tandil, dem sie ihren Namen verliehen, umfaßt den ganzen südlichen Theil der Provinz Buenos-Ayres, und wird von einer Wasserscheide begrenzt, welche die auf ihrer Abdachung entspringenden Gewässer nach Norden sendet.

Dieser District enthält ungefähr viertausend Einwohner, und sein Hauptort ist das Dorf Tandil, das am Fuß des nördlichen Rückens der Sierra unter dem Schutze des Fort Indépendance liegt; seine Lage am bedeutenden Chapaleosubach ist eine sehr günstige. Eine sonderbare Eigenthümkeit, die auch Paganel nicht unbekannt sein konnte, besteht darin, daß dieses Dorf nur von französischen Basken und italienischen Colonisten bewohnt ist. Frankreich hat in der That die ersten fremden Niederlassungen in diesem unteren Theile La Platas gegründet. Im Jahre 1828 wurde das Fort Indépendance zum Schutz des Landes gegen die wiederholten Einfälle der Indianer von dem Franzosen Parchappe errichtet. Ein bedeutender Gelehrter, Namens Alcide d'Orbigny, unterstützte ihn bei diesem Unternehmen; dieser hat alle südlichen Staaten Südamerikas am besten gekannt, erforscht und beschrieben.

Das Dorf Tandil ist ein ziemlich wichtiger Punkt. Vermittelst seiner »Galeras«, großer, zum Befahren der Ebene sehr geeigneter Ochsenkarren, [182] gelangt man in zwölf Tagen nach Buenos-Ayres; daraus ist ein bedeutender Verkehr mit jener Gegend entstanden: das Dorf schickt in die Stadt die Erzeugnisse seiner Viehstände und Pökelanstalten, sowie die höchst merkwürdigen Producte der indianischen Industrie, wie die Baumwollstoffe, die Wollgewebe, die so gesuchten Lederflechtarbeiten u.s.w. Daher besitzt auch Tandil, außer einer gewissen Anzahl ziemlich wohnlicher Häuser, Schulen und Kirchen zum Unterricht für diese und jene Welt. Nachdem Paganel diese Einzelheiten angeführt hatte, fügte er noch hinzu, es könne im Dorfe Tandil nicht an Auskunft fehlen; das Fort ist außerdem stets von einer Abtheilung Nationaltruppen besetzt. Glenarvan ließ also die Pferde in den Stall einer ziemlich gut aussehenden »Fonda« einstellen; darauf wandten sich Paganel, der Major, Robert und er unter Führung Thalcave's dem Fort Indépendance zu.

Nachdem sie einige Minuten lang auf dem Rücken der Sierra hinangestiegen, kamen sie vor einem, von einer argentinischen Schildwache ziemlich nachlässig bewachten Schlupfthore an und fanden ohne Schwierigkeit Einlaß; ein Beweis großer Sorglosigkeit oder vollkommener Sicherheit.

Einige Soldaten exercirten auf dem Glacis der Feste; der älteste dieser Soldaten mochte zwanzig, der jüngste kaum sieben Jahre alt sein. Um es gerade heraus zu sagen, es war ein Dutzend Knaben und junger Burschen, die sich in eigenthümlicher Weise in der Waffenkunst einübten. Ihre Uniform bestand aus einem gestreiften Hemde, das an der Hüfte von einem Ledergürtel zusammengehalten wurde; von Hosen, Jacke oder schottischem Kilt war keine Rede. Die Milde der Temperatur berechtigte übrigens zu diesem leichten Costüme. Paganel bekam gleich von vorn herein eine gute Meinung von einer Regierung, die nichts an Tressen und Zierathen vergeudet. Jedes dieser Bürschchen trug ein Percussionsgewehr und einen Säbel, dieser für die Kleinen zu groß, und jenes zu schwer. Alle hatten sonnverbrannte Gesichter und eine gewisse Familienähnlichkeit. Der sie unterweisende Corporal glich ihnen ebenfalls; es waren in der That zwölf Brüder, welche vom Dreizehnten einexercirt wurden.


Die Besatzung des Fort Indépendance. (S. 183.)

Paganel war darüber nicht erstaunt; er kannte die argentinische Statistik und wußte, daß in diesem Lande auf jeden Haushalt im Durchschnitt neun Kinder kamen; ganz besonders aber fiel ihm auf, daß er diese kleinen Soldaten auf französische Art exerciren und mit vollkommener Genauigkeit die Hauptbewegungen des Ladens in zwölf Tempis ausführen sah. Oefters waren [183] sogar die Commandoworte des Corporals in der Muttersprache des gelehrten Geographen zu hören.

»Das ist doch sonderbar«, sagte er.


»Willkommen! Willkommen!« rief der Sergeant. (S. 186.)

Glenarvan war jedoch nicht in das Fort Indépendance gekommen, um Knaben exerciren zu sehen, noch weniger aber um ihre Nationalität oder Abstammung sich zu kümmern. Er ließ also Paganel nicht Zeit, sich noch mehr zu wundern, und bat ihn, nach dem Chef der Garnison zu fragen. Dieser [184] that es, und einer der argentinischen Soldaten begab sich in ein kleines Haus, das als Kaserne diente.

Einige Augenblicke nachher erschien der Commandant selbst. Es war ein Mann von fünfzig Jahren, kräftig gebaut, von militärischem Aussehen, mit struppigem Schnurrbart, vorstehenden Backenknochen, graugesprenkelten Haaren und gebieterischem Blick, so viel man wenigstens durch die Rauchwolken, die seiner kurzen Pfeife entstiegen, erkennen konnte. Sein Gang erinnerte Paganel stark an die eigenthümliche Haltung der alten Unterofficiere seines Landes.

[185] Thalcave stellte dem Commandanten Lord Glenarvan und seine Gefährten vor. Während er sprach, hörte der Commandant nicht auf, Paganel mit ziemlich störender Beharrlichkeit anzuschauen. Der Gelehrte wußte nicht, wohinaus der Officier wolle, und stand im Begriff ihn zu fragen, als der andere ohne Umstände seine Hand faßte und mit freudiger Stimme in der Sprache des Geographen sagte:

»Ein Franzose?

– Ja, ein Franzose! antwortete Paganel.

– Ei, ich bin entzückt! Willkommen, willkommen! Bin auch Franzose, wiederholte der Commandant, indem er den Arm des Gelehrten mit beunruhigender Heftigkeit schüttelte.

– Einer Ihrer Freunde? fragte der Major Paganel.

– Versteht sich! antwortete dieser mit einem gewissen Stolz; man hat Freunde in allen fünf Welttheilen.«

Und nachdem er, nicht ohne Mühe, seine Hand aus dem lebendigen Schraubstock herausgezogen hatte, begann er eine ordentliche Unterhaltung mit dem kraftvollen Commandanten. Glenarvan hätte gern in Bezug auf seine Angelegenheiten ein Wort angebracht, doch erzählte der alte Militär seine Geschichte, und war nicht in der Laune, in der Mitte anzuhalten. Man ersah, daß dieser brave Mann sein Vaterland seit langer Zeit verlassen hatte; seine Muttersprache war ihm nicht mehr vertraut, er hatte, wenn auch nicht die Worte, aber doch die Wortstellung verlernt. Er sprach ungefähr wie ein Neger der französischen Colonien.

Bald erfuhren auch seine Besucher, daß der Commandant des Fort Indépendance ein französischer Sergeant, ein vormaliger Genosse Parchappe's sei.

Seit der Gründung des Forts, 1828, hatte er es nicht mehr verlassen, und befehligte es gegenwärtig mit der Bewilligung der argentinischen Regierung. Er war ein Fünfziger, Baske von Geburt, und hieß Manuel Ipharaguerre. Man sieht, wenn er nicht Spanier war, so war er noch gut dabei weggekommen. Ein Jahr nach seiner Ankunft im Lande ließ sich der Sergeant Manuel naturalisiren, nahm Dienste in der argentinischen Armee und heiratete eine brave Indianerin, die damals Zwillinge von sechs Monaten nährte. Zwei Knaben, wohl verstanden, denn die würdige Gefährtin des Sergeanten würde sich nicht erlaubt haben, ihm Töchter zu schenken. Manuel begriff keinen andern Stand als den Militärstand, und er hoffte sehr, mit der Zeit [186] und der Hilfe Gottes der Republik eine ganze Compagnie junger Soldaten darbieten zu können.

»Sie haben gesehen! sagte er. Prächtige, gute Soldaten! José, Juan, Miquele, Pepe; der siebenjährige Pepe beißt schon seine Patrone ab!«

Pepe, der sich loben hörte, zog seine zwei kleinen Füße zusammen und präsentirte das Gewehr mit vollkommener Grazie.

»Er wird seinen Weg machen! fügte der Sergeant hinzu; der wird einmal Oberst oder Brigadegeneral!«

Der Sergeant Manuel zeigte sich so entzückt, daß man ihm nicht widersprechen konnte, weder in Bezug auf die Vorzüge des Waffenhandwerks, noch auf die Zukunft, die seiner kriegerischen Nachkommenschaft bevorstand. Er war glücklich, und wie Goethe sagt, ist »Nichts Täuschung, was uns glücklich macht.«

Diese ganze Geschichte dauerte eine gute Viertelstunde zum großen Erstaunen Thalcave's. Der Indianer konnte nicht begreifen, wie so viel Worte aus einer einzigen Kehle hervorkommen konnten. Niemand unterbrach den Commandanten. Aber da ein Sergeant, selbst ein französischer, endlich einmal zu sprechen aufhören muß, schwieg Manuel endlich, nicht ohne vorher seine Gäste genöthigt zu haben, ihm in seine Wohnung zu folgen. Dieselben verzichteten darauf, Madame Ipharaguerre vorgestellt zu werden, die ihnen als eine »nette Person« erschien, wenn man überhaupt diese Bezeichnung der alten Welt bei einer Indianerin anwenden kann. Nachdem man seinen Willen erfüllt, fragte der Sergeant seine Gäste, was ihm die Ehre ihres Besuches verschaffe. Jetzt oder nie war der Augenblick sich zu erklären.

Paganel ergriff das Wort, erzählte ihm in französischer Sprache die ganze Reise durch die Pampas, und schloß mit der Frage, aus welchem Grunde die Indianer das Land verlassen hätten.

»Ah! ... Niemand! ... antwortete der Sergeant mit Achselzucken; wirklich! Niemand! ... wir Andern die Hände im Schooß. Nichts zu machen!

– Aber warum?

– Krieg.

– Krieg?

– Ja! Bürgerkrieg ....

[187] – Bürgerkrieg? erwiderte Paganel, welcher, ohne es zu merken, anfing ›die Negersprache‹ zu reden.

– Ja, Krieg zwischen Paraguay und Buenos-Ayres, antwortete der Sergeant.

– Nun denn?

– Ei, Indianer alle im Norden, im Rücken des Generals Flores. Indianer rauben, plündern.

– Aber die Kaziken?

– Kaziken mit ihnen.

– Was! Catriel?

– Kein Catriel.

– Und Calsneura?

– Kein Calsneura.

– Und Yanchetruz?

– Kein Yanchetruz mehr!«

Als diese Antwort Thalcave mitgetheilt wurde, nickte er mit dem Kopf zur Bestätigung. Wirklich hatte Thalcave keine Kenntniß davon, oder es vergessen, daß ein Bürgerkrieg, der später die Einmischung Brasiliens herbeiführen sollte, die beiden Theile der Republik abschwächte. Die Indianer haben bei diesen inneren Kämpfen Alles zu gewinnen, und mochten eine so schöne Gelegenheit zum Rauben nicht unbenutzt lassen. Also irrte auch der Sergeant nicht, indem er den Bürgerkrieg, welcher im Norden der argentinischen Provinzen geführt wurde, als Grund angab, weshalb die Indianer die Pampas verlassen hatten.

Dieses Ereigniß störte jedoch die Pläne Glenarvan's, die auf diese Weise vereitelt wurden. Wenn Sir Harry Grant in der That Gefangener der Kaziken war, mußte er bis an die Nordgrenzen mit fortgeschleppt worden sein. Wie und wo sollte man ihn von nun an auffinden? Sollte man eine gefahrvolle und fast unnütze Nachforschung bis an die äußersten nördlichen Grenzen der Pampa anstellen? Dies war ein ernsthafter Entschluß, der sorgfältig überlegt sein wollte. Indeß konnte man dem Sergeanten noch eine wichtige Frage vorlegen, und der Major dachte daran, sie ihm vorzulegen, während seine Freunde sich schweigend anschauten.

»Hatte der Sergeant sagen hören, daß Europäer von den Kaziken der Pampa gefangen gehalten würden?«

[188] Manuel besann sich eine kleine Weile, wie Jemand, der seine Erinnerung zurückruft.

»Ja, sagte er endlich.

– Ah!« sagte Glenarvan, indem er eine neue Hoffnung schöpfte.

Paganel, Mac Nabbs, Robert drängten sich mit ihm um den Sergeanten.

»Sprechen Sie! Sprechen Sie! sagten sie und sahen ihn mit gierigen Blicken an.

– Vor einigen Jahren, antwortete Manuel, ja ... so ist's ... europäische Gefangene ... aber niemals gesehen ...

– Einige Jahre, wiederholte Glenarvan, Sie irren sich ... das Datum des Schiffbruchs ist genau ... die ›Britannia‹ ist im Juni 1862 verschwunden ... Es sind also noch keine zwei Jahre.

– O, mehr als das, Mylord.

– Unmöglich, rief Paganel aus.

– Doch, doch! Es war bei der Geburt Pepe's ... Es handelte sich um zwei Männer ...

– Nein, drei! sagte Glenarvan.

– Zwei, versetzte der Sergeant mit bestimmtem Ton.

– Zwei! sagte Glenarvan sehr überrascht. Zwei Engländer?

– Nicht doch, antwortete der Sergeant. Wer spricht von Engländern? Nein, ein Franzose und ein Italiener.

– Ein Italiener, der von den Poyuchen ermordet wurde! rief Paganel aus.

– Ja, und seitdem habe erfahren ... Franzose ... gerettet.

– Gerettet! rief der junge Robert, dessen Augen an den Lippen des Sergeanten hingen.

– Ja, aus den Händen der Indianer, erwiderte Manuel.«

Jedermann schaute den Gelehrten an, der sich mit verzweifelter Miene vor die Stirne schlug.

»Ach! ich begreife, sagte er endlich, es ist Alles klar, Alles erklärt sich!

– Aber um was handelt sich's? fragte Glenarvan so unruhig wie ungeduldig.

– Meine Freunde, antwortete Paganel, indem er Robert's Hände ergriff, wir müssen uns in ein schweres Ereigniß fügen! Wir sind einer falschen Fährte gefolgt! Es handelt sich hier nicht um den Kapitän, sondern um [189] einen meiner Landsleute, dessen Gefährte, Marco Vazello, wirklich von den Poyuchen ermordet wurde; um einen Franzosen, welcher mehrere Male diese grausamen Indianer bis an die Ufer des Colorado begleitete, dann glücklich ihren Händen entrann und nach Frankreich zurück kam. Indem wir Harry Grant auf der Spur zu sein glaubten, sind wir auf die des jungen Guinnard gerathen!«

Diese Erklärung wurde mit tiefem Schweigen aufgenommen. Der Irrthum war handgreiflich. Die vom Sergeanten angeführten Einzelheiten, die Nationalität des Gefangenen, der Mord seines Begleiters, sein Entkommen aus den Händen der Indianer, Alles vereinigte sich, den Irrthum unwiderleglich darzuthun. Glenarvan schaute Thalcave voll Bestürzung an. Der Indianer ergriff hierauf das Wort:

»Haben Sie niemals von drei gefangenen Engländern sprechen hören? fragte er den französischen Sergeanten.

– Niemals, antwortete Manuel, man würde es in Tandil erfahren haben, ... ich würde es wissen ... Nein, ist es nicht der Fall ...«

Glenarvan hatte nach dieser bestimmten Antwort Nichts mehr im Fort Indépendance zu thun. Er verließ dasselbe also nebst seinen Freunden. Dem Sergeanten wurde herzlich gedankt und warm die Hand gedrückt.

Glenarvan war trostlos über dieses vollständige Scheitern seiner Hoffnungen. Robert ging schweigend neben ihm mit thränenfeuchten Augen. Glenarvan fand kein Wort, ihn zu trösten. Paganel sprach mit sich selbst und bewegte dabei lebhaft die Hände. Der Major öffnete nicht die Lippen, und Thalcave schien in seiner Eigenliebe als Indianer verletzt, sich auf einer falschen Spur verirrt zu haben. Niemand dachte indeß daran, ihm einen so verzeihlichen Irrthum vorzuwerfen.

Man kehrte in die Fonda zurück. Das Abendessen verlief traurig. Gewiß bedauerte keiner dieser muthigen und hingebenden Männer so viel unnöthig ertragene Mühseligkeiten, so viel vergebliche Gefahren. Doch sah Jeder in einem Augenblick jede Hoffnung auf Erfolg vernichtet. Konnte man wirklich den Kapitän Grant zwischen der Sierra Tandil und dem Meere antreffen? Nein. Wenn irgend ein Gefangener an den Küsten des Atlantischen Oceans in die Hände der Indianer gefallen wäre, hätte der Sergeant jedenfalls davon gewußt.. Ein derartiges Ereigniß konnte den Eingeborenen nicht unbekannt bleiben, welche beständigen Verkehr von Tandil nach Carmen an der Mündung [190] des Rio Negro haben. Bei dem regen Handelsverkehr auf der argentinischen Ebene weiß man Alles, erfährt man Alles. Es blieb also nichts anderes zu thun übrig, als unverzüglich den Duncan am bestimmten Zusammenkunftsort an der Spitze von Medano aufzusuchen. Indeß hatte sich Paganel von Glenarvan das Document ausgebeten, demzufolge ihre Nachforschungen so unglücklich ihr Ziel verfehlt hatten. Er las es mit unverhohlenem Unmuth wieder durch und versuchte ihm eine neue Deutung abzugewinnen.

»Dies Document ist doch ganz klar! wiederholte Glenarvan. Es drückt sich auf die bestimmteste Weise über den Schiffbruch des Kapitäns und der Art seiner Gefangenschaft aus.

– Ei, nein! antwortete der Geograph, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug, hundertmal Nein! Weil Harry Grant nicht in den Pampas ist, so ist er nicht in Amerika. Nun aber soll dies Document angeben, wo er ist, und es wird es angeben, meine Freunde, oder ich bin nicht Jacques Paganel!«

22. Capitel
Zweiundzwanzigstes Capitel.
Ueberschwemmung.

Das Fort Indépendance ist hundertundfünfzig Meilen 1 von der Küste des Atlantischen Oceans entfernt.


Ein unerwartetes Hochwasser. (S. 196.)

Ohne unvorhergesehene und gewiß unwahrscheinliche Zwischenfälle mußte Glenarvan in vier Tagen den Duncan wieder erreicht haben. Aber er konnte sich mit dem Gedanken nicht vertraut machen, ohne Kapitän Grant an Bord zurückzukehren, nachdem alle seine Nachforschungen so vollkommen vergeblich gewesen waren. Am anderen Tage dachte er auch gar nicht daran, Befehl zur Abreise zu geben. Der Major nahm es über sich, die Pferde satteln, die Lebensmittel erneuern und die Richtung des Weges feststellen zu lassen. Dank seiner Thätigkeit stieg die kleine Truppe gegen acht Uhr Morgens die grasreichen Rücken der Sierra Tandil herab.

[191] Glenarvan galopirte, Robert zur Seite, ohne ein Wort zu sagen, dahin; seinem kühnen und entschlossenen Charakter sagte es nicht zu, diesen Mißerfolg ruhigen Blutes hinzunehmen; das Herz schlug ihm, als wollte es brechen, und der Kopf glühte ihm heiß.

Paganel studirte, gereizt durch die Schwierigkeiten, die Worte des Documentes auf alle Art und Weise, um daraus neue Fingerzeige zu gewinnen. Thalcave blieb stumm und überließ es Thaouka, ihn weiter zu führen. Der Major verblieb, immer zuversichtlich, auf seinem Posten, wie ein Mann, [192] dessen sich die Entmuthigung nie bemeistern kann. Tom Austin und die beiden Matrosen theilten das Mißbehagen ihres Herrn. In einem Augenblick, wo ein furchtsamer Hase vor ihnen über die Pfade der Sierra lief, sahen die abergläubischen Schotten einander an.


Eine furchtbare Riesenwoge. (S. 199.)

»Eine üble Vorbedeutung, sagte Wilson.

– Ja, in den schottischen Hochlanden, erwiderte Mulrady.

– Was in den Hochlanden schlecht ist, ist hier nicht besser«, sagte Wilson in der Weise des Sprichworts.

[193] Gegen Mittag waren die Reisenden über die Sierra Tandil hinaus, und kamen wieder auf die weitwallenden Ebenen, die sich bis zum Meere erstrecken. Auf jedem Schritte berieselten klare Bäche die fruchtbare Landschaft und verloren sich im hohen Graswuchs der Weidestätten. Der Boden wurde wieder vollkommen eben, wie der Ocean nach einem Sturme. Die letzten Hügelketten der argentinischen Pampas waren überschritten, und die einförmige Prairie bot den Pferden wieder ihren grünen Teppich.

Bis hierher war das Wetter schön geblieben. Von diesem Tage nahm der Himmel aber ein beunruhigendes Aussehen an. Die Unmasse Dünste, welche durch die hohe Temperatur der letzten Tage erzeugt und in dicken Wolken aufgesammelt waren, drohten sich in strömende Regen aufzulösen, zudem machte die Nachbarschaft des Atlantischen Oceans und der hier herrschende Westwind das Klima dieser Gegend außerordentlich feucht. Man erkannte das leicht an ihrer Fruchtbarkeit, an der Ueppigkeit und dem saftigen Grün der fetten Weideplätze. Doch barsten an diesem Tage die schweren Wolken noch nicht, und am Abend rasteten die Pferde, nachdem sie mit Leichtigkeit vierzig Meilen zurückgelegt hatten, am Rande tiefer »Canadas«, d.h. großer natürlicher Gräben, die mit Wasser gefüllt waren. Jedes Obdach mangelte. Die Punchos dienten zugleich als Zelte und als Decken, und Jeder schlummerte unter dem drohenden Himmel, der es zunächst bei der Drohung bewenden ließ, ganz ruhig.

Am anderen Tage, je nachdem die Ebene sich mehr und mehr senkte, wurde die Anwesenheit unterirdischer Wässer noch deutlicher merkbar; die Feuchtigkeit sickerte aus jeder Pore des Erdbodens. Bald unterbrachen große Teiche, von denen die einen schon tief, die andern in der Bildung begriffen waren, den Weg nach Osten. So lange es sich nur um »Lagunas« handelte, d.h. wohlumgrenzte Wasseransammlungen, frei von Pflanzen, konnten die Pferde leicht darüber hinauskommen; aber gegenüber den lockeren Morästen, die man »Pentanos« nennt, war das schwieriger; mit hohen Gewächsen erfüllt und bedeckt, bargen sie eine Gefahr, die sich dann erst ermessen ließ, wenn man darin stak.

Diese Schlammlöcher waren schon mehr als einem lebenden Wesen verderblich gewesen. So kam eben Robert, der eine halbe Meile vorausgeritten war, im Galop zurück und rief:

»Herr Paganel! Herr Paganel! Ein Wald von Hörnern!

[194] – Wie! antwortete der Gelehrte, Du hast einen Wald von Hörnern gefunden?

– Ja, ja, wenigstens ein Buschwerk.

– Ein Gebüsch! Du träumst, mein Knabe, erwiderte Paganel mit Achselzucken.

– Ich träume nicht, antwortete Robert, Sie werden es selbst sehen. Das ist ein sonderbares Land; da werden Hörner gesäet und sie wachsen wie Getreide. Von solchem Samen möchte ich wohl haben!

– Er spricht wohl im Ernste, sagte der Major.

– Ja, Herr Major, Sie werden es bald selbst sehen!«

Robert hatte sich nicht getäuscht, und bald befand man sich vor einem ungeheuren Felde voller Hörner, die regelmäßig gepflanzt schienen, in unabsehbarer Ausdehnung. Es erschien wirklich wie ein Gebüsch, niedrig, gedrängt, aber seltsam.

»Nun? fragte Robert.

– Das ist seltsam, versetzte Paganel, der sich fragend an den Indianer wendete.

– Die Hörner stehen aus der Erde heraus, sagte Thalcave, aber die Ochsen dazu sind darunter.

– Was? rief Paganel, in diesem Schlamme wäre eine ganze Heerde versenkt?

– Ja«, sagte der Patagonier.

Wirklich hatte eine ganze ungeheure Heerde unter dem Boden, der unter ihren Füßen gewichen war, den Tod gefunden. So waren, Seite an Seite, hunderte von Büffeln umgekommen, erstickt in dem weiten Schlammloche. Dieses Ereigniß, welches in der argentinischen Ebene nicht einzeln dasteht, konnte doch von dem Indianer nicht außer Acht gelassen werden, und war diesem ein Fingerzeig, dem er Rechnung tragen mußte.

Man ritt um die ungeheure Hekatombe herum, und nach einer Stunde hatte man das Hörnerfeld zwei Meilen im Rücken.

Thalcave beobachtete mit einer gewissen Aengstlichkeit die thatsächlichen Umstände, die ihm ungewöhnlich erschienen. Er hielt häufig an und hob sich in den Steigbügeln. Sein hoher Wuchs machte, daß er einen großen Umkreis überblicken konnte; da er aber nichts bemerkte, was ihm mehr Aufschluß gab, so setzte er bald den unterbrochenen Weg fort. Eine Meile [195] weiterhin hielt er wieder an, machte, indem er sich von dem Wege entfernte, Abstecher von einigen Meilen, einmal nach Norden, das anderemal nach Süden, und setzte sich wieder an die Spitze der Reisegesellschaft, obuè ein Wort von dem zu sagen, was er hoffte oder fürchtete. Dieses mehrmals wiederholte Benehmen reizte Paganel und beunruhigte Glenarvan. Der Gelehrte wurde demnach aufgefordert, den Indianer darüber zu befragen, was er auch sofort that.

Thalcave erwiderte, er wundere sich, die Ebene so von Wasser durchdrungen zu finden. Niemals habe er, so lange er schon Führer gewesen, einen so durchweichten Boden betreten. Selbst zur Zeit der großen Regen bot das argentinische Land immer noch benutzbare Wege.

»Aber auf was ist diese zunehmende Feuchtigkeit zurückzuführen? fragte Paganel.

– Ich weiß es nicht, erwiderte der Indianer, und wenn ich wüßte ...

– Treten die durch den Regen angeschwollenen Bergströme nie aus den Ufern?

– Manchmal.

– Und ist das jetzt vielleicht der Fall?

– Vielleicht«, sagte Thalcave.

Paganel mußte sich mit dieser halben Antwort zufrieden geben, und theilte Glenarvan den Inhalt seiner Unterhaltung mit.

»Und was räth Thalcave? sagte Glenarvan.

– Was ist hierbei zu thun? fragte Paganel den Patagonier.

– Schnell weiterreisen«, erwiderte der Indianer.

Das war aber leicht gerathen und schwer befolgt. Die Pferde wurden schnell müde auf einem Boden, der ihnen unter den Füßen schwand; die Senkung nahm immer mehr zu, und dieser Theil der Ebene war wie eine ungeheure Niederung anzusehen, in welcher die anströmenden Wässer sich leicht ansammmein mußten. Es kam also darauf an, über diese tiefliegenden Gegenden ohne Verzug hinwegzukommen, die eine Ueberschwemmung mit einem Schlage in einen See verwandeln mußte.

Man beeilte seine Schritte. Aber es war nicht genug an dem Wasser, das in großen Flächen unter den Hufen der Pferde sich ausbreitete. Gegen zwei Uhr öffneten sich die Schleusen des Himmels und die Ströme eines Tropenregens ergossen sich über die Ebene. Es gab kein Mittel, sich dieser [196] Sündfluth zu entziehen, und es war am gerathensten, sie mit stoischer Ruhe zu ertragen. Die Punchos trieften von den Hüten begossen, wie von einem Dache, dessen Abflußrinnen verstopft sind. Die Franzen der Recados schienen aus Wasserfäden zu bestehen, und die Reiter, von den Hufen der Pferde mit Schlamm besudelt, der bei jedem Schritte vom Boden aufspritzte, wurden von oben und unten zugleich besprengt.

So kamen sie durch und durch naß, von Kälte erstarrt und entkräftet von Anstrengung am Abend bei einem elenden Rancho an. Nur wenig wählerische Leute konnten ihm den Namen eines Obdachs geben, und nur Reisende, die am Ende ihrer Kräfte waren, darin eine Zuflucht suchen. Aber Glenarvan und seine Gefährten hatten keine Wahl. Sie verkrochen sich in der elenden Hütte, die ein Indianer der Pampas sonst verachtet hätte. Ein schlechtes Feuer von Gras, welches mehr Rauch als Wärme verursachte, wurde nicht ohne Mühe angezündet. Regenstöße wütheten draußen, und durch das halbverfaulte Strohdach sickerten große Tropfen. Wenn das Herdfeuer nicht zwanzigmal verlöschte, so kam es daher, daß Mulrady und Wilson es zwanzigmal gegen das Andringen des Wassers vertheidigten.

Das sehr mittelmäßige und wenig stärkende Abendessen verlief traurig. Die Eßlust fehlte. Der Major allein that dem feucht gewordenen Charqui alle Ehre an. Der kaltblütige Mac Nabbs stand über allen Zufällen. Paganel versuchte, in seiner Eigenschaft als Franzose, zu scherzen; aber das verfing nicht.

»Meine Späße sind feucht geworden, sagte er, sie versagen!«

Da unter diesen Umständen der Schlaf jedenfalls das Erwünschteste war, so suchte Jeder im Schlummer ein augenblickliches Vergessen seiner Strapazen. Die Nacht war schlecht; die Bretter des Rancho krachten, als wollten sie brechen; er gab den Windstößen so sehr nach, daß man jeden Augenblick fürchten mußte, ihn fortgerissen zu sehen. Die armen Pferde jammerten draußen, da sie aller Unbill des Himmels ausgesetzt waren, und die Herren derselben litten fast nicht minder in ihrer traurigen Hütte. Endlich überwältigte sie doch der Schlaf. Robert schloß zuerst die Augen, indem er den Kopf auf Glenarvan's Schulter ruhen ließ, und bald darauf schlummerten auch die andern Insassen des Rancho unter dem Schutze Gottes.

Es scheint, daß der Herr wohl über ihnen wachte, denn die Nacht ging ohne Unfall vorüber. Thaouka weckte früh die Schläfer, denn das immer [197] muntere Thier wieherte draußen und schlug mit dem Hufe kräftig gegen die Hüttenwand. An Thalcave's Stelle wußte es zur Noth das Zeichen zum Aufbruch zu geben. Man verdankte ihm zuviel, um nicht zu gehorchen, und reiste ab.

Der Regen hatte nachgelassen, aber der undurchlässige Boden hielt das Wasser zurück. Auf dem undurchdringlichen Lehmboden breiteten sich Lachen, Moräste und Teiche aus und bildeten ungeheure »Banados« von unzuverlässiger Tiefe. Paganel zog seine Karte zu Rathe und vermuthete nicht ohne Grund, daß der Rio Grande und der Vivarota, Flüsse, nach denen die Gewässer dieser Ebene ablaufen, zusammengeströmt seien und ein mehrere Meilen breites Bett bildeten.

Es ward also für die Reise die äußerste Schnelligkeit nöthig. Das Wohl Aller war in Gefahr. Wo sollte man, wenn die Ueberschwemmung zunahm, eine Zuflucht finden? Der von dem Horizont begrenzte ungeheure Kreis bot nirgends einen erhöhten Punkt, und auf dieser wagerechten Ebene mußte das Wasser sehr schnell überhand nehmen.

Die Pferde wurden also möglichst angetrieben. Thaouka an der Spitze verdiente mehr als manche Amphibien mit unvollkommenen Schwimmhäuten den Namen eines Seepferdes, denn es sprang, als ob es sich ganz in seinem Elemente befinde.

Plötzlich, es war gegen zehn Uhr des Morgens, zeigte Thaouka eine ganz auffallende Unruhe. Es wendete sich häufig gegen die unbegrenzten Ebenen im Süden; sein Wiehern wurde länger, mit der Nase saugte es kraftvoll die frische Luft ein. Es bäumte sich heftig. Thalcave, den seine Sprünge nicht aus dem Sattel heben konnten, vermochte es kaum zu zügeln. Der Schaum aus dem Maule des Thieres mischte sich unter dem straff angezogenen Gebisse mit Blut, und doch beruhigte sich das aufgeregte Thier nicht; wäre es frei gewesen, so fühlte sein Herr wohl, daß es sich in aller Schnelligkeit nach Norden davongemacht hätte.

»Was hat denn Thaouka? fragte Paganel, ist das Thier von den so gierigen Blutegeln der argentinischen Gewässer gebissen worden?

– Nein, antwortete der Indianer.

– Es scheut also vor irgend einer Gefahr?

– Ja, es wittert Unheil.

– Welches?

[198] – Das weiß ich nicht.«

Wenn das Auge die Gefahr auch noch nicht erblickte, welche Thaouka prophezeite, so konnte sich das Ohr doch schon davon Rechnung geben. In der That war jenseit der Grenzen des Horizonts ein dumpfes Geräusch, ähnlich dem der wachsenden Fluth, zu hören. Der Wind trat in feuchten Stößen auf und war mit Wasserstaub beladen. Die Vögel, wie fliehend vor einem unbekannten Ereignisse, zogen schnellsten Fluges dahin. Die Pferde, welche mit den halben Beinen im Wasser gingen, fühlten die ersten Stöße der Strömung. Bald erhob sich ein furchtbarer Lärm; Gebrüll, Wiehern und Geblöke erschallte eine halbe Meile im Süden, und es wurden ungeheure Heerden sichtbar, welche niederstürzend und sich erhebend, vorwärts drängend, eine unzusammenhängende Masse erschreckter Thiere, mit furchtbarer Schnelligkeit dahinflohen. Unter den Wasserwirbeln, die sie in ihrem Laufe erregten, konnte man sie kaum unterscheiden. Hundert Wallfische der größten Art hätten die Wogen des Oceans nicht mehr aufrühren können.

»Anda, anda! 2 rief Thalcave laut.

– Was giebt es denn? fragte Paganel.

– Die Ueberschwemmung! Die Ueberschwemmung! erwiderte Thalcave, der seinem Pferde die Sporen gab und sich nach Norden wendete.

– Die Ueberschwemmung kommt!« rief Paganel, und seine Gefährten, er voraus, folgten den Spuren Thaouka's.

Es war hohe Zeit. Wirklich wälzte sich, gegen fünf Meilen im Süden eine hohe und breite Springfluthwoge über das Land, das sich in einen Ocean verwandelte. Wie abgemäht verschwanden die hohen Gräser. Die von der Strömung abgerissenen Mimosenbüschel rührten ebendaher und bildeten schwimmende Inseln. Die Fluth verbreitete sich in tiefen Wassermassen mit unwiderstehlicher Gewalt. Offenbar hatte ein Bruch der Uferdämme der großen Flüsse in den Pampas stattgefunden, und vielleicht vereinigten sich sogar die Wasser des Colorado mit denen des Rio Negro in einem gemeinsamen Bette.


Thaouka wird schnell weggerissen. (S. 203.)

Die von Thalcave signalisirte Springfluthwelle kam mit der Schnelligkeit eines Pferdes im vollen Laufe heran. Vor ihr hin entflohen die Reisenden wie eine vom Sturme gejagte Wolke. Vergeblich suchten ihre Blicke eine [199] schützende Zuflucht. Himmel und Wasser gingen am Horizonte in einander über. Die durch die Gefahr doppelt angetriebenen Pferde stürmten in sausendem Galop dahin, und ihre Reiter vermochten sich kaum im Sattel zu halten. Glenarvan schaute öfters zurück.

»Das Wasser holt uns ein, dachte er.

– Anda, anda!« trieb Thalcave.

Und nochmals trieb man die unglücklichen Thiere an. Von ihren durch die Sporen zerrissenen Weichen rann das Blut, welches auf dem Wasser lange, [200] rothe Streifen bildete. Sie strauchelten in den Spalten des Bodens; sie stürzten nieder. Man riß sie empor. Sie stürzten wieder, und wieder wurden sie emporgerissen.

Der Wasserstand wuchs merkbar. Lange Wellen kündigten den Ansturm jener hohen Woge an, die in höchstens noch zwei Meilen Entfernung ihr schaumiges Haupt hin und her bewegte. Eine Viertelstunde lang noch setzte sich dieser äußerste Kampf gegen das furchtbarste der Elemente fort. Die Flüchtlinge konnten sich nicht genau Rechenschaft über die Entfernung geben, [201] welche sie durcheilten; wenn man aber die Schnelligkeit ihres Rittes zum Maßstabe nahm, so mußte sie beträchtlich sein.


Herberge in einer Baumkrone. (S. 204.)

Unterdessen waren die Pferde bis zur Brust in's Wasser gekommen und konnten nur noch mit äußerster Schwierigkeit vorwärts. Glenarvan, Paganel, Austin und alle Anderen hielten sich für verloren und dem schrecklichen Tode der im Meere verlassenen Unglücklichen geweiht. Die Reitpferde verloren nun allmälig den Boden unter den Füßen, und bei sechs Fuß Wasser mußten sie schon schwimmen.

Wir müssen darauf verzichten, die quälende Todesangst dieser acht Menschen zu beschreiben, die von der steigenden Fluth überfallen wurden. Sie fühlten ihre Ohnmacht gegenüber diesen Wasserfluthen der Natur, welche menschlichen Kräften so weit überlegen waren. Ihre Rettung lag nicht mehr in ihrer Hand.

Fünf Minuten später schwammen die Pferde. Der Strom selbst trieb sie mit beispielloser Heftigkeit und einer den schnellsten Galop erreichenden Schnelligkeit dahin, die wohl zwanzig Meilen in der Stunde übersteigen mochte.

Jede Rettung schien unmöglich, als die Stimme des Majors sich vernehmen ließ:

»Ein Baum! rief er.

– Ein Baum? wiederholte Glenarvan.

– Dort! Dort!« bestätigte Thalcave.

Er wies mit dem Finger auf einen etwa achthundert Klafter nach Norden zu entfernten ungeheuren Nußbaum, der sich feststehend mitten aus dem Wasser erhob.

Seine Gefährten bedurften keines Antriebes. Dieser Baum, der sich ihnen so unerwartet darbot, mußte um jeden Preis erreicht werden. Die Pferde würden ihn ohne Zweifel nicht erreichen, aber die Menschen konnten gerettet werden. Die Strömung trug sie dahin.

In diesem Augenblicke ließ Tom Austin's Pferd ein ersticktes Wiehern hören und verschwand. Sein Herr, der glücklich aus den Steigbügeln gekommen war, schwamm mit vollen Kräften.

»Halte Dich an meinen Sattel, rief ihm Glenarvan zu.

– Ich danke, ehrenwerther Herr, erwiderte Tom Austin, meine Arme sind verläßlich.

[202] – Und Dein Pferd, Robert? ... sagte Glenarvan zu dem jungen Grant.

– Es geht damit, Mylord, es geht! – Es schwimmt wie ein Fisch.

– Achtung!« rief da der Major mit starker Stimme.

Kaum war das Wort gesprochen, als die ungeheure Masse ankam. Eine riesenhafte, wohl vierzig Fuß hohe Woge stürzte sich mit Höllengetöse über die Flüchtlinge. Menschen und Thiere, Alles verschwand in einem Schaumwirbel. Eine flüssige Masse von mehreren Millionen Tonnen Gewicht wälzte sich in ihrem wüthenden Wasser dahin.

Als die Wasserwand vorüber war, tauchten die Menschen wieder auf der Oberfläche auf und zählten sich rasch. Die Pferde alle, außer Thaouka, das seinen Herrn noch trug, waren für immer verschwunden.

»Muth! Muth! rief Glenarvan wiederholt, indem er mit dem einen Arme Paganel unterstützte und mit dem andern schwamm.

Es geht schon, es geht! erwiderte der würdige Gelehrte, ich bin sogar gar nicht böse darüber ...«

Worüber war er nicht böse? Man hat es nie erfahren, denn der arme Mann mußte das Ende seines Satzes mit einem halben Maße lehmigen Wassers hinunterschlucken. Der Major drang ruhig vorwärts, mit regelrechten Bewegungen, an welchen ein Schwimmmeister nichts auszusetzen gehabt hätte. Die Matrosen schlichen sich hin, wie zwei Meerschweine in ihrem Elemente. Robert, der sich an Thaouka's Mähne anklammerte, ließ sich mit dem Thiere forttreiben. Thaouka theilte das Wasser mit stolzer Kraft und hielt sich instinctiv in der Linie nach dem Baume, wohin auch die Strömung trieb.

Nur zwanzig Klafter war der Baum noch entfernt; in wenigen Augenblicken erreichte ihn die ganze Gesellschaft. Und es war zum Heile, denn ohne diese Zuflucht war keine Aussicht auf Rettung, und Alle hätten in den Fluthen umkommen müssen.

Das Wasser reichte bis an das obere Ende des Stammes, wo die ersten starken Zweige entspringen. Es war also leicht, sich festzuhalten. Thalcave verließ sein Pferd, hob Robert empor, kletterte zuerst hinauf, und bald hatten seine kräftigen Arme alle erschöpften Schwimmer an sicherem Orte untergebracht.

Aber Thaouka, von der Strömung fortgerissen, entfernte sich schnell. Das [203] Pferd wandte den klugen Kopf nach seinem Herrn zurück und wieherte, seine lange Mähne schüttelnd.

»Du verläßt es! sagte Paganel zu Thalcave.

– Ich!« rief der Indianer.

Und sich in das wüthende Wasser stürzend, tauchte er gegen zehn Klafter von dem Baume entfernt wieder auf. Einige Augenblicke nachher schlang sich sein Arm um Thaouka's Hals, und Roß und Reiter trieben zusammen gegen den dunstigen Horizont nach Norden hin.

Fußnoten

1 Gegen sechzig Stunden.

2 Schnell, schnell!

23. Capitel
Dreiundzwanzigstes Capitel.
Wie Vögel auf den Zweigen.

Der Baum, auf welchem Glenarvan und seine Begleiter einen Zufluchtsort gefunden hatten, glich einem Nußbaum; er hatte wie dieser glänzendes Laub und eine abgerundete Krone. Es war der »Ombu«, den man vereinzelt auf den argentinischen Ebenen antrifft. Dieser Baum, mit krummem und sehr starkem Stamm, steckt im Boden nicht allein mit seinen mächtigen Wurzeln, sondern mit kräftigen Schößlingen, welche ihn auf's Zäheste darin festhalten. So hatte er auch dem Andrang der Springfluth widerstanden.

Dieser Ombu hatte eine Höhe von ungefähr hundert Fuß und konnte mit seinem Schatten einen Umkreis von sechzig Klaftern bedecken. Das ganze Baumgestell ruhte auf drei großen Aesten, die sich an der Spitze des sechs Fuß dicken Stammes auseinander zweigten. Zwei dieser Aeste erhoben sich fast senkrecht und trugen das ungeheure Blätterdach, dessen Zweige gekreuzt, verschlungen, in einander verflochten, wie von der Hand eines Korbflechters, einen undurchdringlichen Schutz gewährten. Der dritte Ast erstreckte sich dagegen fast horizontal über die brausenden Gewässer; seine niedrigen Blätter reichten schon bis in dasselbe hinein. Es fehlte nicht an Raum inner halb dieses Riesenbaumes; das ringsum in die Weite gewachsene Laubwerk ließ große Zwischenräume frei, wahrhafte Lichtungen, Luft im Ueberfluß und[204] Kühle überall. Sah man, wie diese Aeste ihre unzähligen Zweige bis in die Wolken streckten, während Schmarotzerschlingpflanzen sie unter einander verbanden, und wie die Sonnenstrahlen durch die Oeffnungen im Laubwerk drangen, so konnte man wirklich sagen, auf dem Stamm dieses Ombu stehe für sich allein ein ganzer Wald.

Die Ankunft der Flüchtigen scheuchte eine befiederte Welt auf die hohen Zweige, wobei sie durch ihr Geschrei gegen eine so arge Anmaßung ihres Wohnsitzes protestirte. Diese Vögel, welche ebenfalls eine Zuflucht auf dem einsam stehenden Ombu gesucht hatten, befanden sich da zu Hunderten; Amseln, Staare u.a., und besonders die Fliegenvögel (pica-flor), mit glänzendem Gesieder; wenn sie davonflogen, schien es, als ob ein Windstoß den Baum all seiner Blüthen beraube.

Dieses Asyl bot sich Glenarvan und seiner kleinen Truppe dar. Der junge Grant und der behende Wilson kletterten, als sie kaum im Baume Platz gefunden, unverweilt bis auf die höchsten Zweige. Ihr Kopf durchbrach dort das grüne Blättergewölbe, und von diesem Gipfelpunkt umfaßte das Auge einen weiten Horizont. Der durch die Ueberschwemmung geschaffene Ocean umgab sie von allen Seiten, und so weit die Blicke reichten, sah man keine Begrenzung. Kein Baum ragte aus der Wasserfläche empor; nur der Ombu allein inmitten dieser umfluthenden Gewässer erbebte dröhnend unter ihrem Anprall. In der Ferne trieben von Süden nach Norden, durch den Strom fortgerissen, entwurzelte Baumstämme, zerknickte Aeste, Hütten, Strohbedachungen zertrümmerter Rancho's, Dachbalken von Landhäusern, Körper ertrunkener Thiere, und auf einem schwankenden Baume eine ganze Familie brüllender Jaguars, die sich mit ihren Tatzen an ihr gebrechliches Floß anklammerten.

Noch weiter in der Ferne zog ein kleiner schwarzer, fast schon unsichtbarer Punkt die Aufmerksamkeit Wilson's auf sich. Es war Thalcave und sein treuer Thaouka, die in der Ferne verschwanden.

»Thalcave, mein Freund! rief Robert aus, indem er die Hand nach dem muthigen Patagonier ausstreckte.

– Er wird sich retten, Herr Robert, sagte Wilson, aber lassen Sie uns wieder zu Sr. Herrlichkeit herabsteigen.«

Und flugs stiegen Robert Grant und der Matrose die drei Stockwerke der Aeste hinab und befanden sich auf der Spitze des Stammes. Dort saßen [205] Glenarvan, Paganel, der Major, Austin und Mulrady rittlings oder seitwärts, wie es ihnen paßte. Wilson stattete Bericht über seinen Besuch auf dem Gipfel des Ombu ab. Alle theilten seine Meinung hinsichtlich Thalcave's. Es war nur die Frage, ob Thalcave Thaouka, oder Thaouka Thalcave retten würde.

Die Lage der Insassen des Ombu war ohne Widerrede viel beunruhigender. Der Baum würde zwar gewiß der Gewalt des Stromes widerstehen, aber die wachsende Ueberschwemmung konnte seine hohen Zweige erreichen, denn die Senkung des Bodens machte diesen Theil der Ebene zu einem tiefen Wasserbehälter. Die erste Sorge Glenarvan's war also, vermittelst eingeschnittener Merkzeichen den verschiedenen Wasserstand zu beobachten. Das Anwachsen der Fluthen schien bereits die größte Höhe erreicht zu haben. Dies war schon beruhigend.

»Und was sollen wir jetzt thun? sagte Glenarvan.

– Uns einnisten, natürlich, antwortete Paganel heiter.

– Uns ein Nest bauen! rief Robert.

– Allerdings, mein Junge, und leben wie die Vögel, da wir nicht wie die Fische leben können.

– Gut, sagte Glenarvan, aber wer wird uns den Schnabel füllen?

– Ich«, versetzte der Major.

Aller Blicke richteten sich auf Mac Nabbs. Der Major saß ganz gemächlich in einem von elastischen Zweigen gebildeten natürlichen Fauteuil und hielt mit einer Hand seine naß gewordenen, aber strotzend gefüllten Alforjas empor.

»Ei, Mac Nabbs, rief Glenarvan aus, daran erkenne ich Sie! Sie denken an Alles, selbst bei Gelegenheiten, wo man Alles vergessen darf.

– Von dem Augenblick an, da wir uns vornahmen, nicht zu ertrinken, so wollten wir damit doch auch nicht Hungers sterben.

– Ich würde wohl daran gedacht haben, sagte Paganel naiv, doch bin ich so zerstreut!

– Und was enthalten die Alforjas? fragte Tom Austin.

– Nahrung für sieben Menschen auf zwei Tage, war die Antwort.

– Gut, sagte Glenarvan, ich hoffe, daß die Ueberschwemmung binnen vierundzwanzig Stunden hinreichend abgenommen haben wird.

[206] – Oder daß wir ein Mittel gefunden haben werden, wieder auf's Trockene zu kommen, versetzte Paganel.

– Vor Allem müssen wir also frühstücken, sagte Glenarvan.

– Nachdem wir uns jedoch getrocknet haben, bemerkte der Major.

– Und das Feuer? sagte Wilson.

– Nun, man muß eins anmachen, erwiderte ersterer.

– Wo?

– Oben auf dem Stamme, natürlich!

– Womit?

– Mit dürrem Holz, welches wir aus dem Baume ausschneiden werden.

– Aber wie es anzünden? fragte Glenarvan, unser Zunder gleicht einem nassen Schwamme!

– Man wird sich ohne ihn helfen! antwortete Paganel; ein wenig trockenes Moos, ein Sonnenstrahl, die Linse meines Fernrohres, und Ihr sollt sehen, welches Feuer ich mir anmache. Wer will Holz im Walde holen?

– Ich«, rief Robert.

Und, gefolgt von seinem Freunde Wilson, verschwand er wie eine junge Katze im Innern des Baumes. Während ihrer Abwesenheit fand Paganel trockenes Moos in hinreichender Menge; er versicherte sich eines Sonnenstrahles, was leicht war, denn das Tagesgestirn glänzte hell; darauf zündete er mit Hilfe seiner Linse ohne Mühe diese brennbaren Stoffe an, die man sodann auf eine Lage nassen Laubes an der Stelle des Baumes hinlegte, wo die Hauptäste desselben sich aus einander zweigten. Es war ein natürlicher Herd, der keine Gefahr einer Feuersbrunst bot. Bald kamen Wilson und Robert mit einem Arm voll dürrer Zweige zurück, welche man auf das Moos warf. Um den Luftzug zu befördern, setzte sich Paganel, wie die Araber zu thun pflegen, mit ausgespreizten Beinen etwas oberhalb des Herdes, und verstand mit schnellen Bewegungen vermittelst seines Puncho einen tüchtigen Zugwind hervorzubringen. Das Holz entzündete sich, und bald erhob sich eine prasselnde Flamme über dem improvisirten Feuerherde. Jeder trocknete sich nach Belieben, während die im Baum aufgehängten Punchos im Winde flatterten. Hierauf frühstückte man, doch mit Sparsamkeit, denn man mußte an den folgenden Tag denken; das ungeheure Wasserbecken würde vielleicht nicht so rasch sich entleeren, als Glenarvan hoffte, und im Ganzen waren die Vorräthe sehr beschränkt. Der Ombu trug keine Früchte; glücklicherweise [207] bot er, in Folge der zahlreichen Nester, die sich in seinen Zweigen befanden, eine ansehnliche Menge frischer Eier dar, ihre gefiederten Gäste ungerechnet. Diese Hilfsquellen waren keineswegs zu verachten.

Jetzt handelte es sich also, in der Voraussicht auf einen verlängerten Aufenthalt, darum, eine bequeme Einrichtung zu treffen.

»Da die Küche und das Speisezimmer im Parterre sind, sagte Paganel, werden wir in der ersten Etage schlafen; das Haus ist geräumig, die Miethe nicht theuer, man braucht sich deshalb nicht zu geniren. Ich bemerke dort oben natürliche Wiegen, in denen wir, sind sie nur gut befestigt, wie in den schönsten Betten auf der Welt schlafen werden. Wir haben Nichts zu befürchten; außerdem werden wir Wache halten, und wir sind in genügender Anzahl, um Indianerflotten und wilde Thiere abzuwehren.

– Es fehlen uns nur die Waffen, sagte Tom Austin.

– Ich habe meine Revolver, bemerkte Glenarvan.

– Und ich die meinen, versetzte Robert.

– Wozu nützen sie, fuhr Tom Austin fort, wenn Herr Paganel nicht ein Mittel findet, Pulver zu fabriciren.

– Das ist nicht nöthig, antwortete Mac Nabbs, indem er eine in vorzüglichem Zustand befindliche Pulverbüchse vorzeigte.

– Und wo kommt sie her, Major? fragte Paganel.

– Von Thalcave. Er glaubte, daß sie uns nützlich sein könne, und übergab sie mir, ehe er sich zum Beistand Thaouka's in's Wasser stürzte.

– Großmüthiger und tapferer Indianer! rief Glenarvan aus.

– Ja, antwortete Tom Austin, wenn alle Patagonier nach diesem Muster gebildet sind, so kann ich Patagonien nur Glück wünschen.

– Ich bitte, das Pferd nicht zu vergessen! sagte Paganel. Es macht einen Theil des Patagoniers aus, und ich müßte mich sehr irren, oder wir werden sie eins mit dem anderen wiedersehen.

– Wie weit sind wir vom Atlantischen Meere? fragte der Major.

– Höchstens vierzig Meilen, erwiderte Paganel. Und jetzt, meine Freunde, da jeder thun kann, was er will, bitte ich um die Erlaubniß, Sie verlassen zu dürfen; ich werde mir dort oben ein Observatorium aussuchen und mit Hilfe meines Fernrohres werde ich Sie über den Lauf der Dinge dieser Welt in Kenntniß erhalten.«


Paganel stürzte von Ast zu Ast. (S. 213.)

Man ließ dem Gelehrten seinen Willen, welcher sich behend von Zweig [208] zu Zweig schwang und hinter dem dichten Blättervorhang verschwand. Seine Gefährten beschäftigten sich nun damit, die Lagerstätten zurecht zu machen. Das war weder schwer noch zeitraubend. Da gab es keine Decken zu legen, noch Möbel zu rücken, und Jedermann kehrte bald an seinen Platz um den Herd zurück.

Man begann auf's Neue zu plaudern, doch nicht mehr von ihrer gegenwärtigen Lage, die man geduldig ertragen mußte, sondern man kam auf das unerschöpfliche Thema des Kapitän Grant zurück. Wenn das Wasser zurückging, [209] konnte der Duncan in weniger als drei Tagen die Reisenden wieder an Bord sehen. Doch Harry Grant, seine beiden Matrosen, diese unglücklichen Schiffbrüchigen, würden nicht bei ihnen sein. Es schien fast, als ob nach diesem Mißerfolg, nach diesem unglücklichen Ausflug quer durch Amerika, jede Hoffnung, sie wieder aufzufinden, unwiderruflich verloren sei. Wohin sollte man neue Nachforschungen richten? Mit welchem Schmerz würde Lady Helena und Mary Grant erfahren, daß sie in Zukunft keine Hoffnung mehr hegen dürften?

»Arme Schwester! sagte Robert, für uns ist Alles zu Ende!«

Glenarvan fand zum ersten Male kein tröstendes Wort. Welche Hoffnung konnte er dem Knaben geben? Hatte er nicht mit peinlichster Genauigkeit die Anweisungen des Schriftstückes befolgt?

»Und doch, sagte er, dieser siebenunddreißigste Breitegrad ist nicht eine Ziffer ohne Sinn. Mag sie nun auf den Schiffbruch oder die Gefangenschaft Harry Grant's sich beziehen, sie beruht nicht auf Vermuthung, Auslegung, Ahnung! Wir haben sie mit eigenen Augen gelesen!

– Das ist Alles wahr, Eure Herrlichkeit, antwortete Tom Austin, und dennoch haben unsere Nachforschungen keinen Erfolg gehabt.

– Das ist ärgerlich und trostlos zugleich! rief Glenarvan aus.

– Aergerlich, wenn Sie wollen, antwortete Mac Nabbs ruhigen Tones, aber nicht zum Verzweifeln. Gerade weil wir eine unbestreitbare Ziffer haben, muß man bis auf's Aeußerste alle ihre Anweisungen befolgen.

– Was wollen Sie damit sagen, fragte Glenarvan, und was bleibt Ihrer Meinung nach zu thun übrig?

– Eine sehr einfache und sehr logische Sache, mein lieber Edward. Richten wir den Schiffsschnabel nach Osten, wenn wir an Bord des Duncan sind, und folgen wir, wenn es nöthig ist, diesem siebenunddreißigsten Breitegrad bis zu unserem Abfahrtspunkte.

– Glauben Sie denn, Mac Nabbs, daß ich daran nicht schon gedacht hätte? Ja! Hundert Mal! Aber welche Aussicht auf Erfolg haben wir? Das amerikanische Festland verlassen, heißt das nicht sich von dem von Harry Grant selbst angegebenen Orte entfernen, von diesem so deutlich im Document benannten Patagonien?

– Wollen Sie also Ihr Suchen in den Pampas fortsetzen, erwiderte [210] der Major, wenn Sie die Gewißheit haben, daß die Britannia weder an den Küsten des Stillen noch des Atlantischen Oceans gescheitert ist?«

Glenarvan schwieg.

»Und so schwach die Hoffnung sein mag, Harry Grant wiederzufinden, indem wir auf den von ihm angegebenen Grad zurückgehen, sollten wir es nicht dennoch versuchen?

– Ich sage nicht Nein, erwiderte Glenarvan.

– Und Ihr, meine Freunde, fügte der Major, sich an die Seeleute wendend, hinzu, seid Ihr nicht meiner Ansicht?

– Ganz und gar, antwortete Tom Austin, dem Mulrady und Wilson durch ein Zeichen mit dem Kopfe beistimmten.

– Hört mich an, meine Freunde, fuhr Glenarvan nach einigem Nachdenken fort, und merke wohl, Robert, daß dies eine ernste Frage ist. Ich werde Alles in der Welt thun, um den Kapitän Grant wieder zu finden, dazu habe ich mich verpflichtet, und ich werde mein ganzes Leben dem widmen, wenn es nöthig sein sollte. Ganz Schottland würde sich mit mir vereinen, um diesen Braven zu retten, der sich für dasselbe geopfert hat. Ich denke ebenfalls, so schwach diese Aussicht auch ist, daß wir doch auf dem siebenunddreißigsten Grad die Welt umschiffen sollen, und ich werde es thun. Doch bleibt noch eine viel wichtigere Frage zu lösen, und die ist: sollen wir entschieden und von diesem Augenblick an unsere Nachforschungen auf dem amerikanischen Festlande aufgeben?«

Die so entschieden vorgelegte Frage blieb ohne Antwort. Niemand wagte sich auszusprechen.

»Nun? begann Glenarvan wieder, indem er sich direct an den Major wandte.

– Mein lieber Edward, versetzte Mac Nabbs, es heißt eine große Verantwortlichkeit auf sich nehmen, Ihnen hierauf augenblicklich zu antworten. Das erfordert Nachdenken. Vor Allem wünsche ich zu wissen, welche Gegenden sind es, die der siebenunddreißigste Grad südlicher Breite durchschneidet.

– Dies ist die Sache Paganel's, erwiderte Glenarvan.

– Befragen wir ihn also«, sagte der Major.

Man sah nichts mehr von dem im dichten Laubwerk des Ombu verborgenen Gelehrten, man mußte ihn deshalb anrufen.

»Paganel! Paganel! rief Glenarvan.

[211] – Hier! antwortete eine Stimme, die vom Himmel kam.

– Wo sind Sie?

– Auf meiner Warte.

– Was machen Sie dort?

– Ich betrachte den unendlichen Horizont.

– Können Sie einen Augenblick herabkommen?

– Bedürfen Sie meiner?

– Ja.

– Zu welchem Zweck?

– Um zu wissen, welche Länder der siebenunddreißigste Grad durchschneidet.

– Nichts leichter, antwortete Paganel; es ist nicht nöthig, daß ich mich stören lasse, um es Ihnen zu sagen.

– Nun denn, sagen Sie es.

– Also, indem der siebenunddreißigste Grad Amerika verläßt, durchschneidet er den Atlantischen Ocean.

– Gut.

– Zieht über die Inseln Tristan d'Acunha.

– Wohl.

– Läuft zwei Grad unterhalb des Caps der Guten Hoffnung vorbei.

– Nachher?

– Durchläuft er den Indischen Ocean.

– Darnach?

– Streift er die Insel Sanct Pierre von der Gruppe der Inseln Amsterdam.

– Immer weiter!

– Er durchschneidet Australien in der Provinz Victoria.

– Fahren Sie fort.

– Indem er Australien verläßt ...«

Dieser letzte Satz wurde nicht vollendet. Blieb der Geograph stecken? Wußte der Gelehrte nicht weiter? Nein; aber ein lauter Schrei, ein lauter Hilferuf ließ sich aus der Höhe des Ombu vernehmen. Glenarvan und seine Freunde erblaßten und schauten sich an. War ein neues Unglück hereingebrochen? Hatte der unglückliche Paganel sich herabfallen lassen.

Schon flogen Wilson und Mulrady zu seiner Hilfe, als ein langer Körper [212] erschien. Paganel purzelte von Zweig zu Zweig herunter. Seine Hände konnten sich an Nichts anklammern. War er lebend oder todt? Man wußte es nicht, und er wäre in das brausende Wasser gefallen, wenn ihn der Major nicht mit kräftigem Arm in seinem Sturz aufgehalten hätte.

»Sehr verbunden, Mac Nabbs, rief Paganel.

– Was fehlt Ihnen denn? fragte der Major. Was ist Ihnen passirt? Wieder eine Ihrer ewigen Zerstreutheiten.

– Ja, ja, antwortete Paganel mit beklommener, von Gemüthsbewegung erstickter Stimme. Ja, eine Zerstreutheit ... und dies Mal eine sehr bedeutende!

– Welche?

– Wir haben uns geirrt! Wir irren uns noch! Wir irren uns immerwährend!

– Erklären Sie sich doch!

– Glenarvan, Major, Robert, meine Freunde, rief Paganel, Alle, die Ihr mich hört, wir suchen den Kapitän Grant da, wo er nicht ist!

– Was sagen Sie? rief Glenarvan aus.

– Nicht allein wo er nicht ist, fügte Paganel hinzu, sondern auch wo er niemals gewesen!«

24. Capitel
Vierundzwanzigstes Capitel.
Ein Vogelleben.
(Fortsetzung.)

Mit tiefem Erstaunen wurden diese so unerwarteten Worte aufgenommen. Was wollte der Geograph sagen? Hatte er den Verstand verloren. Er sprach indeß mit solcher Ueberzeugung, daß alle Blicke sich auf Glenarvan richteten. Diese Behauptung Paganel's war eine directe Antwort auf die Frage, welche jener soeben vorgelegt hatte. Doch beschränkte sich Glenarvan [213] vorerst darauf, ein Zeichen der Nichtzustimmung zu geben, welches nicht zu Gunsten des Gelehrten sprach.

Jedoch nahm dieser, als er wieder Herr seiner Bewegung geworden, auf's Neue das Wort.

»Ja, sagte er mit überzeugendem Tone, ja, wir haben uns bei unseren Nachforschungen geirrt, und wir haben in dem Document etwas gelesen, was nicht darin steht!

– Erklären Sie sich, Paganel, sagte der Major, und mit mehr Ruhe.

– Das ist sehr einfach, Major. Wie Sie war ich im Irrthum, wie Sie hatte ich eine falsche Anschauung, als mir vor einem Augenblicke oben auf diesem Baum bei Beantwortung Ihrer Fragen über dem Wort ›Australien‹ ein Gedanke wie ein Blitz durch den Kopf fuhr und ein Licht entzündete.

– Was! rief Glenarvan, Sie behaupten, daß Harry Grant? ...

– Ich behaupte, antwortete Paganel, daß das Wortaustral, welches im Document vorkommt, kein vollständiges Wort ist, wie wir bisher glaubten, sondern der Stamm des Wortes Australien.

– Das wäre doch sonderbar! erwiderte der Major.

– Sonderbar! versetzte Glenarvan mit Achselzucken, es ist einfach unmöglich.

– Unmöglich! erwiderte Paganel. Das ist ein Wort, welches in der französischen Sprache nicht vorhanden ist.

– Wie! fügte Glenarvan mit zweifelndem Tone tiefsten Unglaubens hinzu, Sie wagen, mit dem Document zur Hand, zu behaupten, daß der Schiffbruch der Britannia an den Küsten Australiens stattgefunden habe?

– Ich bin davon überzeugt! antwortete Paganel.

– Wahrhaftig, Paganel, sagte Glenarvan, diese Behauptung aus dem Munde eines Secretärs der Geographischen Gesellschaft setzt mich sehr in Erstaunen.

– Aus welchem Grunde? fragte Paganel, an empfindlicher Stelle berührt.

– Weil, wenn Sie das Wort Australien annehmen, Sie zugleich annehmen, daß sich dort Indianer befinden, was man bis jetzt noch nicht gehört hat.«

Paganel war über diesen Beweisgrund keineswegs überrascht. Er erwartete ihn ohne Zweifel und lächelte dazu.

[214] »Mein lieber Glenarvan, sagte er, triumphiren Sie nicht zu früh; ich werde Sie völlig schlagen.

– Es ist mir das ganz recht, schlagen Sie nur immerhin, Paganel.

– Hören Sie also. Es steht in dem Schriftstücke ebensowenig das Wort Indianer, als das Wort Patagonien. Das unvollständige Wort ›indi‹ bedeutet nicht Indianer, sondern indigènes, d.i. Eingeborene! Nun, und daß es Eingeborene in Australien giebt, geben Sie wohl zu?«

Offen gesagt, Glenarvan sah in diesem Augenblick Paganel starr an.

»Bravo! Paganel, rief der Major.

– Lassen Sie meine Auslegung gelten, mein lieber Lord?

– Ja, antwortete Glenarvan, wenn Sie mir beweisen, daß das Wortstück gonie nicht auf das Land Patagonien zu beziehen ist.

– Nein! Sicherlich, rief Paganel, handelt es sich nicht um Patagonien! Lesen Sie Alles heraus, nur das nicht.

– Aber was?

– Cosmogonie, théogonie, agonie!

– Agonie! sagte der Major.

– Das ist mir gleichgiltig, erwiderte Paganel, dies Wort ist von keiner Wichtigkeit, ich will sogar nicht darnach suchen, was es bedeuten mag. Die Hauptsache ist die, daß austral Australien bezeichnet, und dann mußte man blindlings einer falschen Fährte folgen, um nicht von Anfang an eine so deutliche Erklärung zu finden. Wenn ich das Schriftstück gefunden hätte, wenn mein Urtheil durch Eure Auslegung nicht irre geleitet worden wäre, hätte ich es niemals anders verstanden!«

Diesmal folgten Hurrah's, Glückwünsche und Begrüßungen auf die Worte Paganel's. Austin, die Matrosen, der Major, vor Allen Robert, der glücklich war, die Hoffnung wieder aufleben zu sehen, gaben dem würdigen Gelehrten ihren Beifall zu erkennen. Glenarvan, dem die Augen nach und nach aufgingen, war, wie er sagte, nahe daran, sich zu ergeben.

»Eine letzte Bemerkung noch, mein lieber Paganel, und mir bleibt nur noch übrig, mich vor Ihrem Scharfsinn zu neigen.

– Sprechen Sie, Glenarvan.

– Wie stellen Sie die neu ausgelegten Worte unter sich zusammen, und auf welche Weise lesen Sie das Document?

– Nichts ist leichter. Hier ist es«, sagte Paganel, indem er das [215] werthvolle Papier, welches er seit einigen Tagen so gewissenhaft studirte, vorzeigte.


Die Jagd läßt sich gut an. (S. 219).

Eine tiefe Stille verbreitete sich, während der Geograph, seine Gedanken sammelnd, sich Zeit zur Antwort nahm. Sein Finger folgte auf der Schrift den unterbrochenen Linien, während er mit sicherer Stimme und gewisse Wörter betonend, Folgendes las:


»Es war einmal ein Sohn des großen Harun-al-Raschid ...« (S. 223).

»›Den 7. Juni 1862 ist der Dreimaster Britannia von Glasgow nach ...‹ setzen wir, wenn Sie wollen, ›zwei oder drei Tagen‹, oder ›langer Agonie‹, [216] darauf kommt Nichts an, ›vom Sturm an die Küsten Australiens getrieben worden. Dem Lande zusteuernd, wollten zwei Matrosen und der Kapitän anzulegen versu chen‹, oder ›haben am Festland angelegt, wo sie Gefangene grausamer Eingeborener sind‹ oder ›sein werden‹. Sie haben das Document in die See geworfen u.s.w., u.s.w. Ist das klar?

– Es ist klar, antwortete Glenarvan, wenn der Name ›Festland‹ auf Australien, das nur eine Insel ist, angewendet werden kann.

[217] – Beruhigen Sie sich, mein lieber Glenarvan, die besten Geographen sind darin einig, diese Insel das australische Festland zu nennen.

– Dann, meine Freunde, rief Glenarvan, habe ich nur noch Eins zu sagen: Nach Australien! Und der Himmel möge uns beistehen!

– Nach Australien! wiederholten seine Begleiter einstimmig.

– Wissen Sie wohl, Paganel, fügte Glenarvan hinzu, daß Ihre Anwesenheit an Bord des Duncan eine Fügung der Vorsehung ist?

– Gut, antwortete Paganel. Nehmen wir an, ich sei ein Abgesandter der Vorsehung, und sprechen wir nicht mehr davon!«

So endete diese Unterredung, welche für die Zukunft so bedeutende Folgen hatte. Sie änderte gänzlich die moralische Lage der Reisenden. Sie ergriffen auf's Neue den Faden des Labyrinthes, in welchem sie sich auf immer verirrt zu haben glaubten. Eine neue Hoffnung erstand aus den Ruinen ihrer gescheiterten Pläne. Sie konnten ohne Furcht das amerikanische Festland verlassen, und all' ihre Gedanken flogen schon der australischen Erde zu. Indem sie den Duncan wieder zu besteigen vorhatten, brachten sie nicht die Verzweiflung mit, und Lady Helena sowie Mary Grant sollten nicht den unwiderruflichen Verlust des Kapitän Grant zu beweinen haben. So vergaßen sie denn die Gefahr ihrer Lage, um sich der Freude zu überlassen, und sie bedauerten nur das Eine, daß sie nicht ohne Aufschub abreisen konnten.

Es war jetzt vier Uhr Nachmittags. Man beschloß um sechs zu Abend zu speisen. Paganel wollte diesen glücklichen Tag durch ein glänzendes Festessen feiern. Da nun der Speisezettel ein sehr beschränkter war, schlug er Robert vor, »im nächsten Walde« auf die Jagd zu gehen. Robert klatschte bei diesem guten Gedanken in die Hände. Man nahm Thalcave's Pulverbüchse, reinigte die Revolver und lud sie mit kleinem Blei; darnach brach man auf.

»Entfernen Sie sich nicht zu weit«, sagte der Major ernsthaft zu den beiden Jägern.

Nach ihrer Entfernung untersuchten Glenarvan und Mac Nabbs die in den Baum geschnittenen Merkzeichen, während Wilson und Mulrady die Kohlen des Herdes auf's Neue anfachten.

Glenarvan, der bis zur Oberfläche des Sees hinabgestiegen war, sah kein Zeichen von Abnahme. Indeß schienen die Gewässer ihren Höhepunkt erreicht [218] zu haben; doch bewies die Heftigkeit, mit welcher sie von Süden nach Norden strömten, daß das Gleichgewicht in den argentinischen Flüssen noch nicht wieder hergestellt sei. Ehe sie fiel, mußte diese flüssige Masse still stehen, wie das Meer in dem Augenblick, wo die Fluth aufhört und die Ebbe beginnt. Man konnte also auf ein Fallen der Gewässer nicht hoffen, so lange sie mit dieser stürmischen Schnelligkeit nach Norden flossen.

Während der Major und Glenarvan ihre Bemerkungen machten, knallten Schüsse im Baum, von fast ebenso lautem Freudengeschrei begleitet. Die helle Stimme Robert's übertönte den Baß Paganel's, man wußte nicht, welcher am meisten Kind war. Die Jagd fing gut an und ließ Wunderstücke für die Küche ahnen. Als Glenarvan und der Major an den Herd zurückgekehrt waren, mußten sie zuerst Wilson über eine gute Idee beglückwünschen. Dieser brave Seemann hatte vermittelst einer Nadel und eines Stück Bindfadens einen wundervollen Fischzug gethan. Mehrere Dutzend kleiner Fische, zart wie Stinte, »Mojarras« genannt, zappelten in einer Falte seines Puncho, und versprachen ein ausgezeichnetes Gericht.

In diesem Augenblick stiegen die Jäger von dem Gipfel des Ombu herab. Paganel brachte vorsorglich Eier von der schwarzen Schwalbe und eine Schnur mit Sperlingen, die er später unter dem Namen Drosseln vorzeigte.

Robert hatte geschickt mehrere Hilgueros, kleine grün und gelbe Vögel erlegt, die vortrefflich zum Essen und auf dem Markte zu Montevideo sehr gesucht sind. Paganel, der fünfzigerlei Arten kannte, die Eier zuzubereiten, mußte sich diesmal damit begnügen, sie in der heißen Asche hart werden zu lassen. Nichtsdestoweniger war die Mahlzeit ebenso abwechselnd wie delicat. Das trockene Fleisch, die harten Eier, die gerösteten Mojarras, die gebratenen Sperlinge und Hilgueros bildeten eines jener Festmahle, deren Erinnerung unverlöschlich bleibt.

Die Unterhaltung war sehr heiter. Man beglückwünschte Paganel in seiner doppelten Eigenschaft als Jäger und Koch. Der Gelehrte nahm diese Complimente mit der dem wahren Verdienst eigenen Bescheidenheit auf. Dann überließ er sich wunderbaren Betrachtungen über den prachtvollen Ombu, der sie mit seinem Laubdach schützte, und dessen Tiefe, ihm zufolge, unendlich sein mußte.

»Robert und ich, fügte er scherzend hinzu, glaubten uns während der Jagd in einem wirklichen Walde. Ich glaubte einen Augenblick, wir würden [219] uns verirren. Ich konnte meinen Weg nicht wieder finden! Die Sonne neigte sich dem Horizonte zu, und ich suchte vergeblich die Spur meiner Schritte. Der Hunger meldete sich auf grausame Art, schon erschollen die finsteren Dickichte von dem Gebrüll wilder Thiere ... Das heißt, nein! Es giebt ja hier keine wilden Thiere, und das bedaure ich!

– Wie, sagte Glenarvan, Sie vermissen die wilden Thiere?

– Ja, gewiß.

– Indeß, wenn man Alles von ihrer Wildheit zu befürchten hat ...

– Die Wildheit existirt nicht, wissenschaftlich gesprochen, antwortete der Gelehrte.

– Ah, sicherlich Paganel, sagte der Major, werden Sie mich niemals dazu bringen, die Nützlichkeit wilder Thiere einzugestehen. Wozu dienen sie?

– Major, rief Paganel, aber sie dienen doch dazu, Classificationen, Ordnungen, Familien, Arten, Abarten, untergeordnete Arten zu geben ...

– Ein schöner Vortheil! sagte Mac Nabbs. Ich könnte ihn wohl entbehren! Wenn ich einer der Gefährten Noah's bei der Sündfluth gewesen wäre, würde ich diesen würdigen Patriarchen sicherlich verhindert haben, Löwen-, Tiger-, Panther-, Bärenpaare und andere ebenso schädliche wie unnütze Thiere in die Arche zu thun!

– Sie würden das gethan haben? fragte Paganel.

– Ich hätte es gethan.

– Nun wohl, so würden Sie Unrecht in zoologischer Hinsicht gehabt haben!

– Aber nicht in menschlicher Hinsicht, versetzte der Major.

– Das ist empörend! erwiderte Paganel und ich für meinen Theil würde gerade auf's genaueste die Megatherien, die Pterodaktylen und all' die vorsündfluthlichen Wesen aufgenommen haben, deren wir unglücklicher Weise beraubt sind ...

– Ich sage Ihnen, versetzte Mac Nabbs, daß Noah sehr wohl daran gethan hat, sie ihrem Schicksal zu überlassen, angenommen, sie hätten zu seiner Zeit gelebt.

– Ich aber sage Ihnen, daß Noah unrecht gehandelt hat, erwiderte Paganel, und daß er bis an's Ende aller Jahrhunderte die Verwünschung der Gelehrten verdient.«

Die Zuhörer Paganel's und des Majors konnten sich des Lachens nicht [220] enthalten, als sie sahen, wie die beiden Freunde sich auf Kosten des alten Noah stritten. Der Major war ganz im Gegensatz zu seinen Grundsätzen, die ihn im ganzen Leben noch mit Niemand in Streit gebracht hatten, jetzt jeden Tag mit Paganel im Kampfe. Es ist anzunehmen, daß der Gelehrte ihn besonders dazu reizte.

Glenarvan, seiner Gewohnheit zufolge, vermittelte in der Debatte und sagte:

»Ob es nun, vom wissenschaftlichen oder menschlichen Standpunkt aus, zu bedauern ist oder nicht, wilder Thiere beraubt zu sein, so müssen wir uns doch für heut in ihre Abwesenheit ergeben. Paganel konnte nicht hoffen, ihnen in diesem lustigen Walde zu begegnen.

– Und warum nicht? fragte der Gelehrte.

– Wilde Thiere auf einem Baume? sagte Tom Austin.

– Ja wohl, ohne Zweifel! Der amerikanische Tiger, der Jaguar, flüchtet sich, wenn er von den Jägern zu heftig verfolgt wird, auf die Bäume. Eins dieser Thiere hätte, von der Ueberschwemmung überrascht, vollkommen ein Obdach zwischen den Zweigen des Ombu suchen können.

– Nun, ich vermuthe, Sie haben keines angetroffen, sagte der Major.

– Nein, antwortete Paganel, obgleich wir das ganze Gehölz abgesucht haben. Das ist ärgerlich, denn dies wäre eine herrliche Jagd gewesen. Ein wilder Fleischfresser, der Jaguar! Mit einem einzigen Schlag seiner Tatze bricht er einem Pferde den Hals. Hat er einmal vom Menschenfleisch gekostet, bekommt er mehr gierige Lust dazu. Am liebsten verzehrt er den Indianer, dann kommt der Neger, der Mulatte und zuletzt der Weiße.

– Ich bin sehr froh, daß ich erst in vierter Linie komme! antwortete Mac Nabbs.

– Gut! Das beweist ganz einfach, daß Sie geschmacklos sind! versetzte Paganel mit verächtlicher Miene.

– Sehr froh, daß ich geschmacklos bin! versetzte der Major.

– Ei, das ist demüthigend! antwortete der störrische Paganel. Der Weiße stellt sich als der erste Mensch auf, doch es scheint dies nicht die Ansicht der Herren Jaguare zu sein.

– Wie dem auch sein mag, mein guter Paganel, sagte Glenarvan, da es unter uns weder Indianer, noch Neger oder Mulatten giebt, freue ich mich [221] der Abwesenheit Ihrer lieben Jaguare. Unsere Lage ist nicht in dem Maße angenehm ...

– Wie! angenehm, rief Paganel, sich an dies Wort haltend, welches der Unterhaltung eine andere Wendung geben konnte, Sie beklagen Ihr Loos, Glenarvan?

– Ohne Zweifel, antwortete dieser. Ist es Ihnen in diesem unbequemen und harten Gezweige behaglich?

– Ich habe mich niemals, selbst in meinem Zimmer, besser befunden. Wir führen das Leben der Vögel, wir singen, wir flattern! Ich fange an zu glauben, daß die Menschen bestimmt sind, auf den Bäumen zu leben.

– Es fehlen ihnen nur die Flügel, sagte der Major.

– Sie werden sich eines Tages welche machen.

– Unterdeß, antwortete Glenarvan, erlauben Sie mir, lieber Freund, dieser lustigen Wohnung den Sand eines Parkes, den Fußboden eines Hauses oder das Verdeck eines Schiffes vorzuziehen.

– Glenarvan, sagte Paganel, man muß die Dinge nehmen, wie sie sind. Sind sie gut, desto besser, sind sie schlecht, beachtet man sie nicht. Ich sehe, Sie vermissen den Comfort von Malcolm-Castle?

– Nein, doch ...

– Ich bin überzeugt, daß Robert vollkommen glücklich ist, sagte Paganel hastig, um sich wenigstens einen Anhänger seiner Theorie zu sichern.

– Jawohl, Herr Paganel! rief Robert mit lustigem Tone aus.

– So ist man in der Jugend, erwiderte Glenarvan.

– Und auch in meinem Alter! entgegnete der Gelehrte. Je weniger Annehmlichkeiten man hat, je weniger Bedürfnisse.

– Jetzt, sagte der Major, wird Paganel einen Ausfall gegen den Reichthum und das vergoldete Getäfel machen.

– Nein, Mac Nabbs, antwortete der Gelehrte, aber wenn Sie wollen, werde ich Ihnen bei dieser Gelegenheit eine kleine Geschichte erzählen, die mir gerade einfällt.

– Ja, ja, Herr Paganel, sagte Robert.

– Und was soll Ihre Geschichte beweisen? fragte der Major.

– Was alle Geschichten beweisen, mein lieber Kamerad.

– Also nicht viel, erwiderte Mac Nabbs. Nun, fangen Sie immerhin [222] an, und erzählen Sie eine der Geschichten, die Sie so gut zu erzählen verstehen.

– Es war einmal, begann Paganel, ein Sohn des großen Harun-al-Raschid, der war nicht glücklich. Er ging und fragte einen alten Derwisch um Rath. Der weise Greis antwortete ihm, das Glück sei in dieser Welt schwer zu finden. ›Indeß, fügte er hinzu, kenne ich ein unfehlbares Mittel, Dir das Glück zu verschaffen. – Welches ist dies? fragte der junge Prinz. – Du mußt, antwortete der Derwisch, das Hemd eines glücklichen Menschen anziehen!‹ Darauf umarmte der Prinz den Greis, und ging aus, den Talisman zu suchen. Er besuchte alle Hauptstädte der Erde! Er zog die Hemden von Kaisern, Königen, Prinzen und Edelleuten an! Alles vergeblich. Er wurde nicht glücklicher. Nun legte er die Hemden von Künstlern, Kriegern, Kaufleuten an. Dasselbe! So wanderte er viel herum, ohne das Glück zu finden. Endlich kehrte er, verzweifelt, so viel Hemden vergeblich probirt zu haben, eines schönen Tages in den Palast seines Vaters zurück, als er auf dem Felde einen braven Landmann sah, der fröhlich singend seinen Karren schob. ›Da ist doch einmal ein Mensch, der glücklich ist, oder es giebt auf Erden kein Glück.‹ Er trat zu ihm und sprach: ›Guter Mensch, bist Du glücklich? – Ja, antwortete er. – Hast Du weiter keinen Wunsch? – Nein. – Du würdest Dein Loos nicht mit dem eines Königs tauschen? – Niemals! – Verkauf' mir doch Dein Hemd! – Mein Hemd? Ich hab' keins!‹«

25. Capitel
Fünfundzwanzigstes Capitel.
Zwischen Feuer und Wasser.

Jacques Paganel's Erzählung machte sehr tiefen Eindruck.


Die Sonne verschwand in leuchtenden Dünsten. (S. 225.)

Man überhäufte ihn mit Beifall, doch blieb Jeder bei seiner eigenen Ansicht, und der Gelehrte erreichte nur das gewöhnliche Resultat jedes derartigen Gesprächs, nämlich das, Niemanden zu überzeugen. Doch gestand man zu, daß man beim [223] bösen Spiele gute Miene machen und sich mit einem Baum begnügen müsse, wenn man weder Palast noch Hütte habe.


Zwischen Feuer und Wasser. (S. 230.)

Unter solchen Gesprächen war der Abend herangekommen. Nur ein guter Schlaf konnte diesen aufregenden Tag würdig schließen. Die Gäste des Ombu fühlten sich nicht allein durch die Ueberschwemmung ermüdet, sondern besonders durch die Hitze des Tages, welche ganz außerordentlich gewesen war, gedrückt. Ihre beflügelten Gefährten gaben ihnen schon das Beispiel der Ruhe; die Hilgueros, jene Nachtigallen der Pampas, stellten ihren melodischen Gesang[224] ein, und alle Vögel des Baumes waren in dem dunkeln Blätterdickicht verschwunden. Es schien am gerathensten, es ihnen nachzuthun.

Bevor sie sich aber, wie Paganel sagte, »zu Neste begaben«, erkletterte er mit Glenarvan und Robert die Warte, um noch einmal die wogende Ebene zu überschauen. Es war gegen neun Uhr. Die Sonne war eben in den leuchtenden Dünsten des westlichen Horizontes verschwunden. Diese ganze Hälfte des Himmelsgewölbes war bis zum Zenith wie eingetaucht in warme Dünste.

[225] Die so glänzenden Sternbilder der südlichen Halbkugel schienen wie von einem seinen Schleier überdeckt und leuchteten nur unsicher. Dennoch unterschied man dieselben deutlich genug, um sie zu erkennen, und Paganel belehrte seinen Freund Robert, auch zum Vortheil seines Freundes Glenarvan, über jene Polar-Zone, deren Sterne so besonders glänzend sind. Unter anderen zeigte er ihm das Südliche Kreuz, eine Gruppe von vier Sternen erster und zweiter Größe, die ungefähr in Polhöhe die Form eines länglichen Vierecks bilden; ferner den Centaur, worin der Fixstern leuchtet, welcher der Erde am nächsten steht, nur viertausend Milliarden Meilen von uns entfernt ist, die Magelhaenswolken, zwei große Nebelflecke, deren größerer einen Raum bedeckt, welcher zweihundertmal die scheinbare Größe des Mondes einnimmt; endlich das »Schwarze Loch«, wo jede Sternsubstanz vollständig zu fehlen scheint. Zu seinem großen Leidwesen war der Orion, der beiden Hemisphären leuchtet, nicht sichtbar; doch theilte Paganel seinen beiden Zuhörern eine besondere Merkwürdigkeit der patagonischen Kosmographie mit. Nach der Anschauung dieser poetischen Indianer stellt Orion einen ungeheuren Lasso und drei Bolas dar, geschleudert von der Hand eines Jägers, der die Prairien des Himmels durchstreift. Alle diese Sternbilder, welche sich in der Wasserfläche wiederspiegelten, riefen die lebhafteste Bewunderung hervor, da sie einen zweiten Himmel rings herum zu bilden schienen.

Während der gelehrte Paganel so sprach, nahm der ganze östliche Horizont ein gewitterdrohendes Aussehen an. Ein dichter und dunkler, scharf abgeschnittener Wolkenstreifen stieg langsam empor und verlöschte die Sterne. Diese düstere Wolke nahm bald die halbe Himmelswölbung ein, die sie ganz auszufüllen schien. Ihre bewegende Kraft mußte ihr selbst innewohnen, denn es war kein Windhauch zu spüren; die Luftschichten bewahrten ihre vollkommene Ruhe. Kein Blatt bewegte sich am Baume, nicht die kleinste Welle kräuselte sich auf dem Wasser. Die Luft selbst schien zu fehlen, so, als ob eine ungeheure Luftpumpe sie verdünnt hätte. Dagegen war die Atmosphäre von hochgespannter Elektricität gesättigt, welche jedes lebende Wesen in den Nerven verspürte.

Glenarvan, Paganel und Robert waren von diesen elektrischen Wogen fühlbar beeinflußt.

»Wir werden ein Gewitter bekommen, sagte Paganel.

[226] – Du hast keine Furcht vor dem Donner? fragte Glenarvan den kleinen Knaben.

– O, Mylord! erwiderte Robert.

– Nun, desto besser, denn das Wetter ist nicht fern.

– Und es wird stark werden, bemerkte Paganel, wenn ich nach dem Zustand des Himmels urtheile.

– Das Gewitter an sich beunruhigt mich nicht, fuhr Glenarvan fort, wohl aber die Platzregen, die es begleiten. Wir werden bis auf das Mark durchnäßt werden. Was Sie auch sagen, Paganel, ein Nest reicht doch nicht für einen Menschen aus, und Sie werden es zu Ihrem Schaden bald selbst einsehen.

– Oho, mit der nöthigen Philosophie reicht es! er widerte der Gelehrte.

– Mit Philosophie! Die schützt aber auch nicht vor dem Naßwerden.

– Nein, aber sie erwärmt doch.

– Nun, sagte Glenarvan, wir wollen uns wieder unsern Freunden anschließen und sie veranlassen, daß sie sich so dicht wie möglich in ihre Philosophie und ihre Punchos einwickeln, auch einen guten Vorrath von Geduld sammeln, denn diese wird uns Noth thun!«

Glenarvan warf einen letzten Blick auf den drohenden Himmel. Die Wolken bedeckten ihn nun völlig. Kaum durchbrach ein unbestimmter Streifen im Westen das Dämmerlicht. Das Wasser nahm eine düstere Färbung an und glich einer großen unten befindlichen Wolke, die mit den schweren Dünsten zu verschmelzen drohte. Selbst der Schatten war nicht sichtbar. Keine Empfindung von Licht oder Geräusch drang zu dem Auge oder dem Ohre. Das Schweigen wurde ebenso tief als die Finsterniß.

»Steigen wir hinab, sagte Glenarvan, die Blitze werden bald aufleuchten!«

Sie glitten mit einander auf den glatten Zweigen herab und waren nicht wenig erstaunt, in eine Art Halblicht zu gelangen. Das wenige Licht rührte von Myriaden leuchtender Punkte her, die summend über dem Wasser hin- und herflogen.

»Eine Erscheinung von Phosphorescenz? sagte Glenarvan.

– Nein, erwiderte Paganel, aber phosphorescirende Insecten, wirkliche Leuchtkäferchen, lebende und sehr billige Diamanten, mittels deren sich die Damen von Buenos-Ayres prächtige Schmucke herstellen.

[227] – Was? rief Robert, das sind Insecten, die so wie Funken umherfliegen?

– Ja, mein Sohn.«

Robert fing Eines der herrlichen Thierchen. Paganel hatte sich nicht getäuscht. Es war eine Art großer Drohnen von einem Zoll Länge, denen die Indianer den Namen »Tuco-Tuco« gegeben haben. Dieser merkwürdige Hornflügler strahlte von zwei Stellen seines Brustschildes aus, und sein Licht genügte wohl, um im Dunkeln lesen zu können. Als Paganel das Insect seiner Uhr näherte, konnte er erkennen, daß es um zehn Uhr war.

Nachdem Glenarvan zu dem Major und den drei Seeleuten gekommen war, ertheilte er ihnen Anweisungen für die Nacht. Es war ein heftiges Gewitter zu erwarten. Nach den ersten Donnerschlägen würde sich voraussichtlich der Sturm entfesseln und den Ombu tüchtig schütteln. Ein Jeder wurde also aufmerksam gemacht, sich in dem ihm zugefallenen Neste von Zweigen gut zu befestigen. Wenn man auch den Wassern des Himmels nicht entgehen konnte, so wollte man doch denen auf der Erde ausweichen und nicht in die Strömung stürzen, die sich am Fuße des Baumes brach.

Ohne sehr darauf zu rechnen, wünschte man sich gute Nacht. Dann schlüpfte jeder in sein lustiges Lager, hüllte sich in seinen Puncho und erwartete den Schlaf.

Aber das Herannahen mächtiger Naturerscheinungen senkt eine gewisse Unruhe in das Herz jedes fühlenden Wesens, deren sich auch die Stärksten nicht erwehren können. Die Insassen des Ombu, die beunruhigt und gedrückt waren, vermochten die Lider nicht zu schließen, und das erste Donnern fand sie Alle wach. Es machte sich kurz vor elf Uhr als ein entferntes Rollen bemerkbar. Glenarvan kroch bis zur Spitze des wagerechten Astes und wagte seinen Kopf aus dem Blätterwerk heraus.

Der dunkle Hintergrund wurde schon von lebhaften und hellleuchtenden Einschnitten zerrissen, welche die Wässer des Sees treu wiederspiegelten. An mancher Stelle zerriß die Wolkenschicht, aber ohne kreischendes Geräusch, wie ein weiches Wollengewebe. Nachdem Glenarvan den Zenith und den Horizont, die in gleicher Finsterniß lagen, beobachtet hatte, kam er wieder nach dem Gipfel des Stammes zurück.

»Was sagen Sie dazu, Glenarvan? fragte Paganel.

[228] – Ich meine, daß das gut anfängt, und wenn das so fortgeht, wird es ein furchtbares Wetter abgeben.

– Desto besser, erwiderte der enthusiastische Paganel, ich liebe ein schönes Schauspiel sehr, da ich ihm doch nicht entfliehen kann.

– Das ist auch eine von Ihren schönen Theorien, die noch einmal in Stücke gehen wird, sagte der Major.

– Eine meiner besten, Mac Nabbs. Ich bin Glenarvan's Ansicht. Das Gewitter wird herrlich sein. Gerade als ich einzuschlafen versuchte, kam mir Einiges in den Sinn, welches mich das hoffen läßt, denn wir befinden uns hier in der Gegend der starken elektrischen Stürme. Ich erinnere mich irgendwo gelesen zu haben, daß es, gerade in der Provinz Buenos-Ayres, im Jahre 1793 bei einem einzigen Gewitter siebenunddreißigmal eingeschlagen hat. Mein College, Martin de Moussy, hat bis fünfundfünfzig Minuten unaufhörlichen Donnerrollens gezählt.

– Mit der Uhr in der Hand? fragte der Major.

– Mit der Uhr in der Hand. Ein einziger Umstand, setzte Paganel hinzu, würde mich beunruhigen, wenn das im Stande wäre, die Gefahr vermeiden zu lassen, es ist der, daß der einzige hervorragende Punkt der ganzen Ebene gerade nur der Ombu ist, worauf wir uns befinden. Ein Blitzableiter würde hier von großem Nutzen sei, denn unter allen Bäumen der Pampas zieht gerade dieser den Blitz besonders an, und es ist Ihnen nicht unbekannt, meine Freunde, daß die Gelehrten vorzüglich widerrathen, bei einem Gewitter unter Bäumen Schutz zu suchen.

– Schön, sagte der Major, das ist wirklich eine Empfehlung, die zur rechten Zeit gegeben ist.

– Man muß gestehen, Paganel, bemerkte Glenarvan, daß Sie den geeigneten Augenblick recht wohl auswählen, um uns diese beruhigenden Mittheilungen zu machen.

– Bah, erwiderte Paganel, Etwas zu lernen ist jeder Augenblick recht. Aha! Es geht los!«

Heftigere Donnerschläge unterbrachen das unbehagliche Gespräch. Ihre Stärke nahm zu, auch nahmen sie einen höheren Ton an. Sie näherten sich und gingen von den tiefen zu mittleren Tönen über, um der Musiksprache einen ganz passenden Vergleich zu entlehnen. Bald wurden sie knarrend, und ließen die atmosphärischen Saiten in raschen Schwingungen erzittern. Der [229] ganze Himmel stand in Flammen, und bei diesem Aufruhr konnte man nicht unterscheiden, welchem elektrischen Funken das unablässig verlängerte Rollen angehörte, das von Echo zu Echo bis in die Tiefen des Himmels wiederhallte.

Die unaufhörlichen Blitze nahmen verschiedene Formen an. Einige, welche senkrecht nach dem Boden schlugen, wiederholten sich fünf- oder sechsmal an derselben Stelle. Andere hätten die Wißbegier eines Naturforschers auf's Höchste gereizt; denn wenn Arago in seiner merkwürdigen Statistik nur zwei Beispiele gegabelter Blitze aufführt, so bildeten sich diese hier zu Hunderten. Manche, die wohl in zahllose Arme getheilt waren, traten in korallenartiger Zickzackform auf und erzeugten an dem schwarzen Himmel das erstaunliche Bild sich verzweigenden Lichtes.

Bald war eine ganze Sehne des Himmels von Osten bis zum Norden durch einen phosphorescirenden Streifen des blendenden Lichtes erhellt. Dieses Feuer nahm nach und nach den ganzen Horizont ein, entzündete gleichsam die Wolken, wie einen Haufen brennbarer Stoffe, und bildete, zurückgestrahlt von dem spiegelnden Wasser, bald eine ungeheure Feuerkugel, deren Mittelpunkt der Ombu einnahm.

Schweigend sahen Glenarvan und seine Genossen diesem entsetzlichen Schauspiele zu. Sie hätten sich auch gegenseitig nicht hören können. Große Massen weißen Lichtes strömten zu ihnen nieder, und bei diesem plötzlichen Aufleuchten erschienen und verschwanden bald die ruhige Figur des Majors, bald das neugierige Gesicht Paganel's oder die energischen Züge Glenarvan's, bald das erschreckte Haupt Roberts oder die sorglose Physiognomie der Matrosen, die plötzlich von gespenstischem Leben erregt schien.

Indeß fiel noch kein Regen, und auch der Wind ruhte noch. Bald aber öffneten sich die Schleußen des Himmels und lothrechte Streifen bildeten sich, wie die Fäden eines Webers, auf dem Grunde des Himmels. Große Wassertropfen, die auf dem See aufschlugen, strahlten in Tausenden durch die flammenden Blitze erleuchteten Funken zurück.

Verkündete dieser Regen das Ende des Unwetters? Sollten Glenarvan und seine Genossen mit einigen ausgiebig gespendeten Sturzbädern davonkommen? Nein. Als dieser Kampf des Feuers der Lüfte am ärgsten wüthete, zeigte sich an der Spitze des einen Hauptastes, der sich wagerecht ausstreckte, plötzlich eine faustgroße Feuerkugel, die von schwarzem Rauche umgeben war.

[230] Diese Kugel zersprang endlich, nachdem sie sich einige Secunden um sich selbst gedreht hatte, wie eine Bombe und mit einem Schlage, der selbst in dem allgemeinen Getöse hörbar war. Ein schwefliger Dunst erfüllte die Atmosphäre. Einen Augenblick hörte der Lärm auf und es ward Tom Austin's Stimme vernehmlich, als er rief:

»Der Baum steht in Flammen!«

Tom Austin täuschte sich nicht. In einem Augenblicke verbreitete sich die Flamme, wie an einem ungeheuren Feuerwerkskörper, über die Westseite des Ombu. Das todte Holz, die Nester von trockenen Gräsern und endlich der ganze Splint von schwammiger Natur lieferten der gefräßigen Thätigkeit geeignete Nahrung.

Dann erhob sich auch der Wind und blies in diese Feuersbrunst. Man mußte fliehen. Glenarvan mit den Seinen flüchtete sich nach der von der Flamme verschonten Ostseite des Ombu; stumm, verstört, erschreckt kletterten, rutschten, wagten sie sich auf Zweige hinaus, die sich unter ihrem Gewichte niederbogen. Unterdeß schrumpften die Zweige zusammen, krachten und wandten sich, wie lebendig verbrannte Schlangen; ihre glimmenden Reste fielen in das ausgetretene Wasser und schwammen mit der Strömung dahin, über welche sie fahle Lichter warfen. Die Flammen loderten zu gewaltiger Höhe auf und verloren sich in dem Aufruhr der Atmosphäre; bald aber umhüllten sie, von dem Orkane zurückgeworfen, den ganzen Ombu. Glenarvan, Robert, der Major, Paganel und die Matrosen, alle entsetzten sich; ein dicker Rauch erstickte, eine unerträgliche Hitze brannte sie; die Feuersbrunst ergriff auch auf ihrer Seite das untere Gerüst des Baumes; Nichts vermochte sie aufzuhalten oder zu löschen, und sie sahen sich unwiderruflich zu der Todesart jener Opfer verurtheilt, welche in den flammenden Leib einer Hindugottheit eingeschlossen werden.

Endlich war ihre Lage nicht mehr zu ertragen, und es galt von zwei Todesarten die minder schreckliche zu wählen.

»In's Wasser!« rief Glenarvan.

Wilson, an dem schon die Flammen leckten, hatte sich eben in den See gestürzt, als man ihn mit dem Ausdrucke des heftigsten Schreckens rufen hörte:

»Zu Hilfe! Zu Hilfe!«


Die Wasserhose bricht über dem Baume zusammen. (S. 234.)
Austin stürzte auf ihn zu und half ihm, wieder den Stamm ersteigen.
[231] »Was giebt es denn?
– Die Kaimans! Die Kaimans!« schrie Wilson auf.

»Freunde!« rief der Patagonier. (S. 236.)

Wirklich sah man den Fuß des Baumes von diesen schrecklichen Thieren aus der Ordnung der Saurier umgeben. Ihre Schuppen spiegelten sich in dem von der Feuersbrunst verbreiteten Lichte; ihr in verticaler Richtung abgeplatteter Schwanz, der lanzenspitzenförmige Kopf, die leuchtenden Augen, die bis hinter das Ohr gespaltenen Kinnladen, alle diese charakteristischen Zeichen konnten bei Paganel keine Täuschung aufkommen lassen. Er erkannte [232] diese wilden Alligators Amerikas, die man in den spanischen Ländern Kaimans nennt. Wohl gegen zehn Stück waren da, peitschten das Wasser mit ihrem furchtbaren Schwanze, und griffen den Ombu mit den langen Zähnen ihres Unterkiefers an.

Bei diesem Anblick fühlten sich die Unglücklichen verloren. Es war ihnen der schreckliche Tod aufgespart, entweder von den Flammen oder von den Zähnen der Kaimans verzehrt zu werden. Da hörte man den Major, sogar ihn, mit ruhiger Stimme sagen:

[233] »Es könnte wohl sein, daß dies das Ende vom Ende wäre.«

Es giebt Umstände, unter denen der Mensch zu ohnmächtig zum Kampfe ist, und wo die entfesselten Elemente nur durch andere Elemente überwunden werden können. Glenarvan sah verstörten Blickes Feuer und Wasser gegen sich verbündet und wußte nicht, welche Hilfe er vom Himmel erflehen sollte.

Das Gewitter war im Abnehmen; es hatte aber in der Atmosphäre eine beträchtliche Menge Dünste entwickelt, denen die elektrischen Erscheinungen eine ganz besondere Kraft verliehen hatten. Im Süden bildete sich nach und nach eine ungeheure Wasserhose, zunächst ein umgekehrter Nebelkegel, welcher mit der Spitze unten, der Basis oben, die schäumenden Wasser mit den Gewitterwolken verband. Das Meteor bewegte sich vorwärts, indem es sich mit schwindelnder Schnelligkeit um sich selbst drehte. In seiner Mittellinie häufte es eine Menge dem See entnommenen Wassers auf, und wie auf energischen Befehl zog es durch seine Drehbewegungen alle benachbarten Luftströme mit sich.

Nach wenigen Augenblicken stürzte sich die ungeheure Trombe auf den Ombu und umflocht ihn mit ihren Windungen. Der Baum wurde bis in die Wurzeln erschüttert. Glenarvan mochte glauben, daß die Kaimans ihn mit ihren furchtbaren Kiefern ergriffen und aus dem Boden rissen. Seine Gefährten und er hielten sich alle aneinander fest; sie fühlten, daß der starke Baum nachgab und umstürzte; mit schrecklichem Zischen tauchten seine flammenden Aeste in das aufrührerische Wasser. Das Alles war das Werk einer Secunde. Die Trombe, welche schon vorüber war, trug ihre verderbliche Gewalt weiter und saugte die Gewässer des Sees dermaßen auf, daß sie ihn zu entleeren schien.

Da trieb auch der Ombu, auf dem Wasser liegend, der vereinten Gewalt des Sturmes und der Strömung nachgebend, fort. Die Kaimans waren entflohen, bis auf Einen, der auf die emporgerichteten Wurzeln kroch, und mit offenem Rachen vorwärts drang; aber Mulrady ergriff einen vom Feuer halb verzehrten Ast und versetzte dem Thiere einen so derben Schlag, daß er ihm den Rückgrat zerbrach. Der Kaiman stürzte herunter und verschwand in dem Strudel des Stromes, den sein schrecklicher Schweif noch mit furchtbarer Gewalt peitschte.

Glenarvan und seine Begleiter besetzten, von den gefräßigen Sauriern befreit, die gegen die Feuersbrunst vor dem Winde gelegenen Aeste, während [234] der Ombu, dessen Flammen im Wehen des Orkans weißglühende Segel bildeten, wie ein in Flammen loderndes Brandschiff in das Dunkel der Nacht hinausfuhr.

29. Capitel
Sechsundzwanzigstes Capitel.
Das Atlantische Meer.

Seit zwei Stunden trieb der Ombu auf dem ungeheuren See, ohne das feste Land zu erreichen. Die verzehrenden Flammen waren allmälig erloschen. Die Hauptgefahr dieser fürchterlichen Fahrt war vorüber. Der Major sagte nur, man würde nicht zu staunen haben, wenn man glücklich davon käme.

Die Strömung war in der bisherigen Richtung, stets von Südwest nach Nordost. Es war wieder völliges Dunkel eingetreten, das nur dann und wann ein verspäteter Blitz erleuchtete, und Paganel sah sich vergebens nach Merkzeichen am Horizonte um. Das Gewitter nahte seinem Ende; an die Stelle reichlichen Regens trat nun ein leichter Nebel, den der Wind zerstreute; das dicke Gewölk löste sich auf und durchkreuzte sich streifenweis in den höheren Regionen.

Der Ombu fuhr mit reißender Schnelligkeit; er glitt über die Strömung zum Erstaunen rasch, als sei er von einer Schraube im Schooß getrieben. So konnte er wohl ganze Tage lang fahren. Gegen drei Uhr früh Morgens bemerkte der Major, daß er mitunter am Boden trieb. Tom Austin sondirte mit Hilfe eines langen abgetrennten Zweiges, und überzeugte sich, daß der Boden allmälig aufwärts stieg. Wirklich stieß das Fahrzeug zwanzig Minuten später an, und der Ombu saß fest.

»Land! Land!« rief Paganel mit weit hallender Stimme.

Das Ende verkohlter Aeste war wider eine Erhöhung des Bodens gestoßen. Niemals waren Schiffsleute mehr mit ihrem Scheitern zufrieden. Die Klippe hier vertrat den Hafen.

Bereits stießen Robert und Wilson, die auf eine feste Hochfläche geschlendert [235] wurden, ein Freudengeschrei aus, als man ein bekanntes Pfeifen vernahm. Ein galopirendes Pferd stampfte die Ebene und die hohe Gestalt des Indianers ragte im Dunkel empor.

»Thalcave! schrie Robert.

– Thalcave! riefen Alle einstimmig jubelnd.

– Freunde!« sagte der Patagonier, welcher die Reisenden da erwartet hatte, wo die Strömung sie hinführen mußte, denn sie hatte ihn selbst dahin geführt.

Zugleich erhob er Robert Grant zu sich in seine Arme, ohne zu vermuthen, daß Paganel an ihm hing, und drückte ihn an seine Brust. Glenarvan, der Major und die Bootsleute, froh, ihren treuen Führer wieder zu sehen, drückten ihm herzlich die Hände. Hierauf führte sie der Patagonier in den Schuppen einer verlassenen Estancia. Ein hübsches Feuer loderte da, ihre Glieder zu wärmen, und das Wildpret zu braten, welches sie bis auf's letzte Krümchen aufzehrten. Und als ihr wieder beruhigter Geist nachzudenken anfing, hielt es keiner von ihnen für möglich, daß er den mehrfachen Gefahren, dem Wasser, Feuer und den Kaimans, glücklich entronnen sei.

Thalcave erzählte Paganel in der Kürze, wie's ihm ergangen, und wies das Verdienst der Rettung der Ausdauer seines unverzagten Pferdes zu.

Paganel versuchte auch ihm die Aussicht begreiflich zu machen, welche man aus der neuen Auslegung des Documents schöpfen durfte.

Dieses verstand er wohl nicht, aber er sah seine Freunde froh und voll Zuversicht, und das war ihm schon genug.

Es versteht sich von selbst, daß die unerschrockenen Reisenden, nachdem sie ihren Rasttag auf dem Ombu zugebracht, sich nicht lange bitten ließen, ihren Weg fortzusetzen. Um acht Uhr Vormittags waren sie bereit. Man befand sich zu weit südlich von den Estancias und Saladeros, um sich da Transportmittel zu verschaffen, mußte also nothwendig zu Fuß gehen. Es handelte sich überhaupt nur um etwa vierzig Meilen, und Thaouka war wohl willig, von Zeit zu Zeit einen ermüdeten Fußgänger, auch nöthigenfalls zwei, auf den Rücken zu nehmen. In sechsunddreißig Stunden konnte man am Gestade des Atlantischen Oceans sein.

Als es Zeit war, ließ der Führer mit seinen Begleitern die noch unter Wasser stehende ausgedehnte Niederung hinter sich, und nahm seinen Weg über höhere Ebenen. Das argentinische Gebiet nahm wieder sein einförmiges [236] Aussehen an; einige von Europäern angepflanzte Gehölze ragten hier und da über Weidestätten, die übrigens so selten waren, wie in der Umgebung der Sierra Tandil und Tapalquem; die einheimischen Bäume gediehen nur am Rande dieser weit ausgedehnten Wiesengründe und in der Nähe des Cap Corrientes.

So verlief dieser Tag. Am folgenden Morgen spürte man die Nähe des Oceans schon fünfzehn Meilen, ehe man ihn erreichte. Der Wind beugte das hohe Gras. Hier und da glänzten kleine Salzlachen wie Glasscherben, und machten das Fortkommen mühevoll, denn man mußte sie umgehen.

Man eilte, um noch denselben Tag beim See Salado am Gestade des Oceans anzukommen, und die Reisenden waren gehörig müde, als sie um acht Uhr Abends die zwanzig Klafter hohen Sanddünen gewahrten. Bald hörte man das Meer rauschen.

Doch die todesmüden Wanderer erstiegen merkwürdig rasch die Dünen.

Aber es war sehr dunkel; die schweifenden Blicke suchten vergebens den Duncan.

»Doch muß er hier sein, rief Glenarvan, und auf uns warten.

– Das werden wir morgen sehen«, versetzte Mac Nabbs.

Tom Austin rief die unsichtbare Yacht an. Keine Antwort; es war starker Wind und hohles Meer, man konnte sich gegenseitig nicht vernehmen. Die Küste bot übrigens keinen Schutz, nicht einmal eine Bucht als Nothhafen; lange Sandbänke, die in's Meer hinausliefen, machten das Annähern gefährlich. Natürlich hielt sich der Duncan von der Küste fern; Tom Austin versicherte, der Duncan müsse wenigstens fünf Meilen weit entfernt bleiben.

Glenarvan allein wachte. Der Wind wehte fortwährend stark, und der Ocean war von dem bestandenen Sturme noch nicht völlig in Ruhe. Die Annahme, der Duncan sei noch nicht angekommen, war unstatthaft. Glenarvan hatte die Bai Talcahuano am 14. October verlassen und kam am 12. November an der Küste des Atlantischen Oceans an. Während dieser dreißig Tage hatte der Duncan Zeit genug, um das Cap Horn herum an der Ostküste anzulangen. Zwar hatten heftige Stürme stattgefunden, aber die Yacht war ein tüchtiges Schiff und der Kapitän John Mangles ein tüchtiger Seemann.

Diese Erwägungen konnten dennoch Glenarvan nicht beruhigen.

Der »Laird« von Malcolm-Castle empfand mit lebhafter Unruhe, daß [237] sein Theuerstes sich auf dem Duncan befand. Er irrte am öden Ufer auf und ab, schaute, horchte; glaubte sogar zuweilen einen unbestimmten Schein auf dem Meere zu erblicken.

»Ich täusche mich nicht, sprach er zu sich, ich habe ein Schiffslicht gesehen, das Licht des Duncan. Ach, warum können meine Blicke die Dunkelheit nicht durchdringen!«

Da kam ihm ein Gedanke; Paganel sagte, er sei nachtsichtig, also kann er in der Nacht sehen; er ging, ihn zu wecken.

Der Gelehrte schlief in seinem Maulwurfsloche, als ihn ein kräftiger Arm aus seinem sandigen Lager zog.

»Wer ist da? rief er.

– Ich bin es, Paganel.

– Wer? Sie?

– Glenarvan. Kommen Sie, ich brauche Ihre Augen.

– Meine Augen? erwiderte Paganel, und rieb sie heftig.

– Ja wohl, Ihre Augen, um in der Dunkelheit unseren Duncan erkennen zu können. Kommen Sie, schnell!

– Zum Teufel die Nachtsichtigkeit!« sprach Paganel zu sich selbst, und war doch erfreut, Glenarvan nützen zu können.

Er erhob sich also, schüttelte die erstarrten Glieder, brummend, wie Menschen, welche eben erwachen, und folgte seinem Freunde nach dem Ufer.

Glenarvan bat ihn, den dunkeln Horizont des Meeres zu durchspähen. Einige Minuten widmete Paganel gewissenhaft dieser Betrachtung.

»Nun, bemerken Sie Nichts? fragte Glenarvan.

– Nichts! Selbst eine Katze könnte nicht zwei Schritte weit sehen.

– Suchen Sie nach einem rothen oder einem grünen Lichte, d.h. nach einem Backbord-, oder einem Steuerbordlichte.

– Ich sehe weder ein grünes, noch ein rothes Licht!« antwortete Paganel, dessen Augen unwillkürlich zufielen.

Ein halbe Stunde lang folgte er maschinenmäßig seinem ungeduldigen Freunde, wobei er den Kopf auf die Brust sinken ließ und ihn dann plötzlich wieder erhob. Bei seinen unsicheren Schritten wankte er wie ein Betrunkener. Glenarvan sah Paganel an; derselbe schlief im Gehen.

Da ergriff ihn Glenarvan beim Arme und führte ihn, ohne ihn zu wecken, wieder nach seiner Aushöhlung zurück, wo er ihn bequem wieder einscharrte.

[238] Mit der Morgenröthe wurden Alle durch den Ausruf: »Der Duncan! Der Duncan!« auf die Füße gebracht.

»Hurrah! Hurrah!« antworteten Glenarvan seine Begleiter, und eilten dem Ufer zu.

Wirklich hielt sich die Yacht, die Untersegel eingezogen, fünf Meilen in offener See unter schwachem Dampfe. Ihr Rauch verschwand in dem Morgennebel. Das Meer ging hoch und ein Fahrzeug von diesem Tonnengehalte konnte sich dem Fuße der Sandbänke nicht ohne Gefahr nähern.

Glenarvan beobachtete mit Hilfe des Fernrohrs die Bewegungen des Duncan. John Mangles konnte seine Passagiere nicht bemerkt haben, denn er segelte immer links hin.

In diesem Augenblicke aber feuerte Thalcave seinen Carabiner, den er sehr stark geladen hatte, in der Richtung nach der Yacht ab.

Man horchte. Man sah nach. Dreimal krachte der Carabiner des Indianers und weckte das Echo in den Dünen.

Endlich stieg an der Seite der Yacht ein weißer Rauch auf.

»Sie haben uns gesehen! rief Glenarvan. Das ist die Kanone des Duncan!«

Und einige Secunden später vernahm man einen dumpfen Knall, der an dem Ufer verlief. Sofort änderte auch der Duncan seine Segelstellung, verstärkte das Kesselfeuer und versuchte so nahe als möglich an die Küste zu kommen.

Bald sah man mit Hilfe des Fernglases, wie ein Boot von Bord aus abfuhr.

»Lady Helena wird nicht kommen können, sagte Tom Austin, die See ist zu ungestüm.

– John Mangles auch nicht, setzte Mac Nabbs hinzu, er kann sein Fahrzeug nicht verlassen.


Glenarvan wachte allein. (S. 237.)

– Meine Schwester! Meine Schwester! sagte Robert, der seine Arme nach der Yacht ausstreckte, welche heftig schwankte.

– O, wie dauert es doch lange, an Bord zu kommen! rief Glenarvan.

– Geduld, Edward! In zwei Stunden werden Sie dort sein!« antwortete der Major.

In zwei Stunden! In der That, das Boot mit sechs Rudern brauchte nicht weniger Zeit für den Hin- und Rückweg.


»Quien sabe?« antwortete Thalcave. (S. 243.)

[239]

Da ging Glenarvan zu Thalcave, der mit gekreuzten Armen, Thaouka dicht neben ihm, dastand und ruhig auf die bewegte Wellenfläche blickte.

Glenarvan nahm ihn bei der Hand und wies auf die Yacht:

»Komm mit!« sagte er.

Der Indianer schüttelte sanft den Kopf.

»Komm mit, Freund, wiederholte Glenarvan.

– Nein, erwiderte sanft Thalcave. Hier ist Thaonka und dort – die [240] Pampas!« setzte er hinzu, indem er mit leidenschaftlicher Geberde die Arme nach der ungeheuren Ebene ausbreitete.

Glenarvan verstand wohl, daß der Indianer niemals die Prairie verlassen wollte, wo die Gebeine seiner Väter bleichten. Er kannte die fromme Anhänglichkeit dieser Kinder der Wüste an ihr Heimatland. Er drückte also Thalcave die Hand, und bestand nicht auf seinem Wunsche; auch nicht, als der Indianer, auf seine Weise lächelnd, den Lohn für seine Dienste ausschlug, indem er sagte:

[241] »Aus Freundschaft.«

Glenarvan war ergriffen und konnte ihm nicht antworten. Er wollte dem braven Indianer wenigstens ein Andenken hinterlassen, das ihn an seine Freunde in Europa erinnern sollte. Aber was konnte er geben? Seine Waffen, seine Pferde, Alles hatte er bei der unglücklichen Ueberschwemmung verloren. Seine Freunde waren nicht reicher als er.

Er wußte gar nicht, wie er die Uneigennützigkeit des wackeren Führers belohnen sollte, als ihm noch ein Gedanke kam. Aus seiner Brieftasche zog er ein kostbares Medaillon hervor, das ein prächtiges Bild, ein Werk von Lawrence's Meisterhand, umschloß. Das bot er dem Indianer.

»Meine Frau«, sagte er.

Mit gerührtem Blicke betrachtete Thalcave das Bildniß, und sprach die einfachen Worte:

»Gut und schön!«

Dann drängten sich Robert, Paganel, der Major, Tom Austin und die beiden Matrosen heran, um dem Patagonier mit gerührten Worten Lebewohl zu sagen. Die wackeren Leute waren wahrhaft ergriffen, den unerschrockenen und ergebenen Freund zu verlassen. Alle drückte sie Thalcave an seine breite Brust. Paganel nöthigte ihm eine Karte von Süd-Amerika mit den beiden Oceanen auf, die der Indianer oft neben ihm mit großem Interesse betrachtet hatte. Es war diese das Kostbarste, was der Gelehrte besaß. Robert hatte nur seine Liebkosungen zu bieten; diese bot er seinem Retter, und Thaouka wurde dabei nicht vergessen.

In diesem Augenblicke näherte sich das Boot des Duncan; es glitt in einen engen, zwischen den Sandbänken ausgehöhlten Canal und stieß bald am Ufer auf den Sand.

»Meine Frau? fragte Glenarvan.

– Meine Schwester? rief Robert.

– Lady Helena und Miß Grant erwarten Sie an Bord, entgegnete der Führer des Bootes. Aber fahren wir bald ab, Ew. Herrlichkeit, wir haben keine Minute zu verlieren, denn schon macht sich der Eintritt der Ebbe bemerkbar.«

Zum letzten Male umarmte man den Indianer. Thalcave begleitete seine Freunde bis zum Boote, das wieder flott gemacht wurde. Im Augenblicke, [242] als Robert einsteigen wollte, schloß ihn der Indianer in seine Arme und sah ihm voll Zärtlichkeit in's Gesicht.

»Und nun geh, sagte er dann, Du bist ein Mann!

– Leb' wohl, Freund, leb' wohl! sagte noch einmal Glenarvan.

– Werden wir uns nie wiedersehen? rief Paganel.

Quien sabe?« 1 antwortete Thalcave, seine Arme gen Himmel erhebend.

Das waren die letzten Worte des Indianers, die sich im Wehen des Windes verloren.

Man fuhr in's offene Meer. Das Boot entfernte sich, von der sinkenden Fluth fortgezogen. Lange noch sah man das unbewegliche Bild Thalcave's durch die schäumenden Wogen, dann wurde seine große Gestalt kleiner und er verschwand aus den Augen der einstigen Freunde.

Eine Stunde später schwang sich Robert zuerst an Bord des Duncan und warf sich Mary Grant an den Hals, während die Mannschaft der Yacht die Luft mit freudigem Hurrahrufen erfüllte.

So ward diese Reise durch Süd-Amerika auf streng eingehaltener gerader Linie beendet. Weder Berge, noch Flüsse hatten die Reisenden von ihrem unabänderlichen Wege abgedrängt, und wenn sie auch nicht gegen den bösen Willen von Menschen zu kämpfen hatten, so stellten doch die Elemente, die ihnen so oft in voller Wuth entgegentraten, ihre edelmüthige Unerschrockenheit auf manche harte Probe.

Fußnoten

1 Wer weiß es?

2. Theil

1. Capitel
Erstes Capitel.
Die Rückkehr an Bord.

Die ersten Augenblicke wurden dem Glücke des Wiedersehens gewidmet. Lord Glenarvan wollte nicht durch den Mißerfolg der Nachforschungen die Freude in den Herzen seiner Freunde abkühlen. Daher waren auch Folgendes seine ersten Worte:

»Vertrauen, meine Freunde, Vertrauen! Noch ist zwar Kapitän Grant nicht bei uns, doch haben wir die Gewißheit, ihn aufzufinden.«

Es bedurfte auch nichts Geringeres, als einer solchen Versicherung, um die Hoffnung der Passagiere des Duncan wieder zu erwecken.

Wirklich hatten Lady Helena und Mary Grant, während das Boot sich der Yacht wieder näherte, tausend Qualen der Erwartung empfunden. Vom Hinterverdeck herab versuchten sie die an Bord Zurückkehrenden zu zählen. Bald verzweifelte das junge Mädchen, bald glaubte sie im Gegentheil Harry Grant zu sehen. Ihr Herz klopfte; sie vermochte nicht zu sprechen und kaum hielt sie sich aufrecht. Lady Helena umschloß sie mit den Armen. John Mangles, der nahe bei ihr hinausblickte, schwieg still; seine Seemannsaugen, die so gewöhnt waren, ferne Gegenstände zu unterscheiden, entdeckten den Kapitän nicht.

»Er ist da! Er kommt! Mein Vater!« sagte das junge Mädchen.

Als sich aber die Schaluppe nach und nach näherte, wurde jede Täuschung [245] unmöglich. Die Reisenden waren keine hundert Klafter mehr vom Bord entfernt, als nicht nur Lady Helena und John Mangles, sondern auch Mary selbst, deren Augen in Thränen schwammen, jede Hoffnung verloren hatten. Es war hohe Zeit, daß Lord Glenarvan ankam und seine beruhigenden Worte hören ließ.

Nach den ersten Umarmungen wurden Lady Helena, Mary Grant und John Mangles über die Hauptereignisse der Expedition unterrichtet, und vor Allem theilte Glenarvan die neue Auslegung des Documentes mit, die man dem Scharfsinn Jacques Paganel's verdankte. Er pries auch Robert's Lob, auf den Mary mit gutem Rechte stolz sein konnte. Sein Muth, seine Ergebenheit, die Gefahren, die er durchgemacht hatte, Alles wurde von Glenarvan in helles Licht gesetzt, so daß der junge Mensch nicht wußte, wo er sich verbergen sollte, wenn er nicht in den Armen seiner Schwester eine Zuflucht gefunden hätte.

»Da ist Nichts zu erröthen, sagte John Mangles, Du hast Dich eines Sohnes des Kapitän Grant würdig betragen!«

Er streckte seine Arme nach dem Bruder Mary Grant's aus, und preßte ihm seine Lippen auf die Wangen, die noch von den Thränen des jungen Mädchens feucht waren.

Erwähnen müssen wir auch, welcher Empfang dem Major und dem Geographen zu Theil wurde, und wie ehrenvoll man des edelmüthigen Thalcave gedachte. Lady Helena bedauerte, die Hand des braven Indianers nicht drücken zu können. Mac Nabbs hatte gleich nach den ersten Herzensergießungen seine Cabine aufgesucht, wo er sich mit ruhiger, sicherer Hand rasirte. Paganel flog wie eine Biene von Einem zum Andern, und erntete Ehrenbezeigungen und freundliches Lächeln ein. Er wollte die ganze Gesellschaft des Duncan umarmen, und da seiner Ansicht nach Lady Helena ebenso dazu gehörte, wie Mary Grant, so begann er damit bei diesen und hörte endlich bei Mr. Olbinett auf.

Der Steward glaubte eine solche Höflichkeit nicht besser erwidern zu können, als mit der Ankündigung des Frühstücks.

»Das Frühstück? rief Paganel laut.

– Ja, Herr Paganel, erwiderte Mr. Olbinett.

– Ein wirkliches Frühstück, auf einem wirklichen Tische, mit Gedeck und Servietten?

[246] – Ja wohl, Herr Paganel.

– Und wir werden kein Charqui, keine harten Eier und kein Straußfilet zu essen bekommen?

– Oho, mein Herr! entgegnete der Wirthschaftsmeister, der sich in seinem Fache gekränkt fühlte.

– Ich wollte Sie nicht beleidigen, lieber Freund, sagte lächelnd der Gelehrte. Einen Monat lang war das bei uns so das tägliche Brod, und wir speisten, nicht etwa an einem Tische sitzend, sondern auf der Erde liegend, wenn wir nicht gar dabei auf den Aesten eines Baumes ritten. Das Frühstück, welches Sie eben anmeldeten, erschien mir demnach wie ein Traum, eine Einbildung, wie eine Chimäre!

– Nun wohlan denn, Herr Paganel, fiel Lady Helena ein, die sich des Lachens kaum erwehren konnte, wir wollen schnell die Wirklichkeit desselben bestätigen.

– Hier, mein Arm, sagte der galante Geograph.

– Ew. Herrlichkeit haben mir keine Befehle in Betreff des Duncan zu ertheilen? fragte John Mangles.

– Nach dem Frühstücke, lieber John, erwiderte Glenarvan, werden wir das Programm unserer neuen Expedition mit Ruhe besprechen.«

Die Passagiere der Yacht, nebst dem jungen Kapitän derselben, gingen die Treppe hinunter. Dem Maschinenmeister wurde aufgegeben, gespannten Dampf zu halten, um auf das erste Zeichen abfahren zu können. Der Major, der frisch rasirt war, und die Reisenden, welche oberflächlich Toilette gemacht hatten, nahmen an der Tafel Platz.

Man that Mr. Olbinett's Frühstück alle Ehre an. Es wurde für ausgezeichnet und vorzüglicher als die splendidesten Festmahle in den Pampas erklärt. Paganel langte von jeder Schüssel, »aus Zerstreuung«, wie er sagte, zweimal zu.


Lady Helena und Miß Grant auf dem Verdeck. (S. 245.)

Dieses unglückselige Wort veranlaßte Lady Glenarvan zu der Frage, ob der liebenswürdige Franzose nicht einige Male in seinen Erbfehler verfallen sei. Der Major und Lord Glenarvan sahen sich lächelnd an. Paganel selbst brach ganz freimüthig in Lachen aus und verpflichtete sich auf Ehrenwort, während der ganzen Reise keine Zerstreutheit mehr zu begehen. Dann erzählte er sehr anziehend von seinem Unglück und von seinen tiefen Studien über Camoën's Meisterwerke.

[247] »Alles in Allem, fügte er zum Schluß hinzu, ist doch jedes Unglück zu Etwas gut, und ich bedauere meinen Irrthum nicht.

– Und warum nicht, mein werther Freund, fragte der Major.

– Weil ich nun nicht allein das Spanische, sondern auch das Portugiesische kenne! Ich spreche zwei Sprachen, statt einer!

– Meiner Treu! Daran hatte ich nicht gedacht, antwortete Mac Nabbs. Meinen Glückwunsch, Paganel, meinen aufrichtigen Glückwunsch!«

[248] Alle sprachen Paganel ihren Beifall aus, wobei dieser sich keinen Bissen entgehen ließ. Er aß und plauderte gleichzeitig; er bemerkte aber eine besondere Erscheinung nicht, welche Glenarvan nicht entgehen konnte: Die Aufmerksamkeiten, welche John Mangles seiner Nachbarin Mary Grant erwies. Ein leichter Wink von Seiten der Miß Helena belehrte ihren Gemahl, daß es »richtig war«. Mit liebevoller Theilnahme sah Glenarvan die beiden jungen Leute an und richtete eine Frage, aber ganz andern Inhalts, an John Mangles.


Der Gelehrte läßt sein Licht leuchten. (S. 252.)

[249] »Nun, und Ihre Fahrt, John, fragte er, wie ist sie abgelaufen?

– Ganz vortrefflich, erwiderte der Kapitän. Ich habe Ew. Herrlichkeit nur zu melden, daß wir nicht durch die Magelhaensstraße gefahren sind.

– Ei! rief Paganel, Sie sind um das Cap Horn gefahren und ich bin nicht dabei gewesen!

– Nein! Da hängte ich mich auf! sagte der Major.

– Egoist! Sie ertheilen mir diesen Rath? Ich sollte Ihnen den Strick zum Aufhängen schicken.

– Sehen Sie, mein lieber Paganel, fiel Glenarvan ein, wenn man nicht gerade die Eigenschaft der Allgegenwart besitzt, kann man eben nicht überall dabei sein. Und, da Sie die Ebene der Pampas mit durchwanderten, konnten Sie doch nicht gleichzeitig das Cap Horn umschiffen.

– Das hindert mich aber nicht, es zu bedauern«, erwiderte der Gelehrte.

Man setzte dieses Gespräch nicht weiter fort und ließ es bei letzterer Antwort bewenden. John Mangles ergriff wieder das Wort und erstattete über seine Fahrt Bericht. Auf dem Wege längs der amerikanischen Küste hatte er alle westlichen Inselgruppen durchforscht, ohne eine Spur von der Britannia zu finden. Als er am Cap Pilares, dem Eingange in die Magelhaensstraße, ankam, war dort widriger Wind, so daß man nach Süden zusteuerte; der Duncan fuhr an der Insel Désolation vorbei, ging bis zum siebenundfünfzigsten Grade südlicher Breite, umsegelte Cap Horn, lief durch die Straße Le Maire, an Feuerland vorüber, und folgte dann der Küste Patagoniens. In der Höhe des Cap Corrientes hatte das Schiff furchtbare Windstöße auszuhalten, dieselben, welche den Reisenden während des Gewitters so sehr zusetzten. Die Yacht hielt sich sehr gut, und seit drei Tagen lavirte John Mangles auf hoher See, als ihm die Schüsse des Carabiners die Ankunft der so ungeduldig erwarteten Reisenden verkündete. Bezüglich der Lady Glenarvan und Miß Grant hätte der Kapitän des Duncan sehr ungerecht sein müssen, wenn er deren seltene Unerschrockenheit hätte verkennen wollen. Der Sturm erschreckte sie nicht, und wenn sie einige Zeichen von Furcht gaben, so rührten diese von dem Gedanken an ihre Freunde her, welche noch durch die Ebenen der Republik Argentina zogen.

So endete John Mangles' Berichterstattung, welche ihm die Glückwünsche [250] Lord Glenarvan's einbrachten. Dann wendete sich dieser an Miß Grant:

»Meine liebe Miß, sagte er, ich sehe, daß der Kapitän John ihren hervorragenden Eigenschaften alle Ehre widerfahren läßt, und ich bin glücklich in dem Gedanken, daß es Ihnen ebenfalls an Bord seines Schiffes nicht mißfällt.

– Wie sollte das auch anders sein? erwiderte Mary, die Lady Helena und vielleicht auch den jungen Kapitän ansah.

– O, meine Schwester liebt Sie gar sehr, Herr John, rief Robert, und ich, ich liebe Sie auch!

– Und ich erwidere Dir diese Zuneigung, mein lieber Junge«, antwortete John Mangles, der durch die Worte Robert's etwas verlegen wurde, wie denn auch eine leichte Röthe über Mary Grant's Antlitz flog.

Dann setzte John Mangles, der das Gespräch auf einen weniger verfänglichen Gegenstand lenken wollte, hinzu:

»Nachdem ich nun über die Reise des Duncan berichtet habe, möchte Ew. Herrlichkeit uns nicht einige Einzelheiten von Ihrer Ueberlandreise durch Amerika, und von den Thaten unseres jungen Helden mittheilen?«

Nichts konnte Lady Helena und Miß Grant angenehmer sein, als diese Erzählung. Lord Glenarvan beeilte sich, ihre Neugier zu befriedigen. Er erzählte, ohne etwas zu übergehen, die ganze Reise von einem Ocean zum andern. Die Uebersteigung der Anden, das Erdbeben, das Verschwinden Robert's und seine Entführung durch den Condor, den Schuß Thalcave's, die Episode mit den rothen Wölfen, die Aufopferung Robert's, die Geschichte mit dem Sergeant Manuel, die Ueberschwemmung, die Zufluchtsstätte auf dem Ombu, ferner die Erzählung von dem Blitzstrahl, der Feuersbrunst, den Kaimans, der Trombe, der Nacht am Ufer des Atlantischen Oceans – alle diese erfreulichen oder schrecklichen Einzelheiten erregten wechselsweise die Freude oder den Schrecken seiner Zuhörer. Mancher Umstand wurde berichtet, der Robert die Zärtlichkeiten seiner Schwester und der Lady Helena einbrachte; nie fühlte sich ein Knabe so innig und von so enthusiastischen Freundinnen umarmt.

Als Lord Glenarvan seine Erzählung beendet hatte, fügte er hinzu:

»Nun, meine Freunde, denken wir an die Gegenwart; was vergangen, [251] ist vergangen. Die Zukunft gehört uns; kommen wir nun auf Kapitän Harry Grant zurück.«

Das Frühstück war zu Ende; die Theilnehmer sammelten sich in dem Privatsalon der Lady Glenarvan; sie nahmen rund um einen Tisch Platz, der mit Karten und Plänen bedeckt war, und bald war das Gespräch im Gange.

»Meine liebe Helena, sagte Lord Glenarvan, als ich an Bord kam, verkündete ich, daß, wenn die Schiffbrüchigen der Britannia auch nicht mit uns zurückkämen, wir doch mehr als je die Hoffnung hätten, sie wieder aufzufinden. Unsere Reise quer durch Amerika hat uns diese Ueberzeugung, oder besser gesagt, die Gewißheit verschafft, daß das Unglück weder an der Küste des Stillen, noch des Atlantischen Oceans stattgefunden hat. Daraus folgt natürlicher Weise, daß die aus dem Documente hergeleitete Auslegung, wenigstens was dabei Patagonien betrifft, eine irrige war. Zum Glück hat unser Freund Paganel, durch eine Art plötzlicher Erleuchtung, diesen Irrthum bemerkt. Er legte uns dar, daß wir uns auf falschem Wege befänden, und hat das Document in einer Weise erläutert, die jeden Zweifel in uns niederschlug. Es handelt sich hier um das in französischer Sprache geschriebene Document, welches ich Paganel hier zu erklären bitten möchte, damit in dieser Hinsicht Niemand mehr einen Zweifel hege.«

Als sich der Gelehrte in die Lage gesetzt sah, zu reden, that er's sogleich; er verbreitete sich über die Wortstücke -gonie und indi- in der überzeugendsten Weise; aus dem Stücke austral leitete er mit Nothwendigkeit das Wort Australien ab; er zeigte, daß der Kapitän Grant, indem er Peru verließ, um nach Europa zurückzukehren, auf einem rhedelosen Schiffe durch die südlichen Strömungen des Stillen Oceans bis zu den Ufern Australiens habe verschlagen werden können; kurz, seine geistreichen Hypothesen, seine seinen Schlußfolgerungen errangen sich den vollen Beifall selbst John Mangles, der in solchen Dingen ein schwer zu gewinnender Richter war und sich von phantastischen Ausschweifungen nicht hinreißen ließ.

Als Paganel seinen Vortrag geendet hatte, meldete Glenarvan an, daß der Duncan sofort Australien zusteuern werde.

Indessen wünschte der Major, bevor der Befehl ertheilt würde, die Fahrt nach Osten zu beginnen, noch einige Bemerkungen zu machen.

»Sprechen Sie, Mac Nabbs, erwiderte Glenarvan.

[252] – Es ist nicht meine Absicht, sagte der Major, die Beweiskraft der Argumente meines Freundes Paganel abzuschwächen, noch weniger, sie ganz abzuweisen; ich halte sie für gewichtig, für weise und unserer ganzen Aufmerksamkeit werth, und sie müssen mit gutem Grunde die Basis unserer zukünftigen Nachforschungen bilden. Ich wünsche aber, daß sie einer letzten Prüfung unterzogen werden, um sie zu ganz unbestreitbarem und unbestrittenem Werthe zu erheben.«

Man konnte oder wollte dem klugen Mac Nabbs nicht entgegentreten, und seine Zuhörer lauschten ihm mit einer gewissen Aengstlichkeit.

»Fahren Sie fort, Major, sagte Paganel, ich bin bereit, alle ihre Fragen zu beantworten.

– Meine Frage ist ganz einfach, begann der Major. Als wir vor nun fünf Monaten im Golf von Clyde die drei Documente durchstudirten, schien uns ihre Erklärung ganz einleuchtend. Keine andere Küste, als die Westküste Patagoniens konnte der Schauplatz des Schiffbruches gewesen sein. Hierüber kam uns auch nicht der Schatten eines Zweifels.

– Eine ganz richtige Bemerkung, fiel Glenarvan ein.

– Später, fuhr der Major fort, als sich Paganel durch eine von der Vorsehung herbeigeführte Zerstreutheit bei uns mit einschiffte, wurden ihm die Documente vorgelegt und er billigte rückhaltslos unsere Nachforschungen an der amerikanischen Küste.

– Das gestehe ich zu, antwortete der Geograph.

– Und doch haben wir uns getäuscht, sagte der Major.

– Wir haben uns getäuscht, wiederholte Paganel. Aber um sich zu täuschen, Mac Nabbs, braucht man nur ein Mensch zu sein, während derjenige ein Thor ist, der in seiner Täuschung beharrt.

– Erlauben Sie, Paganel, erwiderte der Major, ereifern Sie sich nicht. Ich verlange gar nicht, daß unsere Nachforschungen in Amerika noch fortgesetzt werden sollen ...

– Nun, und was verlangen Sie denn? fragte Glenarvan.

– Ein Geständniß, nichts weiter, das Eingeständniß, daß Australien jetzt mit der nämlichen Sicherheit der Ort des Schiffbruches der Britannia ist, wie es vorher Amerika war.

– Das gestehen wir gerne zu, antwortete Paganel.

– Ich nehme davon Act, fuhr der Major fort, und benutze das, um [253] Ihre Gedanken zu veranlassen, daß sie solchen Augenscheinlichkeiten, welche sich hinter einander widersprechen, etwas mißtrauen. Wer weiß, ob uns nach Australien nicht ein anderes Land dieselben Gewißheiten bieten, und ob, wenn diese Untersuchungen vergeblich gewesen, es uns dann nicht ›zweifellos‹ erscheinen wird, sie anderswo von Neuem vornehmen zu müssen?«

Glenarvan und Paganel sahen sich einander an. Die Bemerkungen des Majors machten durch ihre Richtigkeit Eindruck auf sie.

»Ich wünsche demnach, fuhr Mac Nabbs fort, daß wir eine letzte Prüfung vornehmen, bevor die Richtung nach Australien eingeschlagen wird.

– Hier sind die Documente und hier sind Karten. Gehen wir nach einander alle diejenigen Punkte durch, welche der siebenunddreißigste Parallelkreis schneidet, und sehen wir, ob sich nicht ein anderes Land findet, auf welches das Document genau hinweisen möchte.

– Nichts ist leichter und kürzer, antwortete Paganel, denn glücklicherweise ist kein Ueberfluß von Ländern in dieser Breite.

– Nun, wir wollen sehen«, sagte der Major, und breitete einen englischen nach Mercator's Projection entworfenen Planiglob aus, der auf einem Blatt die ganze Erdkugel darstellte.

Die Karte wurde vor Lady Helena gelegt und Jedermann stellte sich so, um Paganel's Darlegungen folgen zu können.

»Wie ich Ihnen schon mitgetheilt habe, sagte der Geograph, trifft der siebenunddreißigste Breitengrad, nachdem er Süd-Amerika durchschnitten hat, auf die Inseln Tristan d'Acunha. Jedenfalls bin ich der Meinung, daß kein Wort aus den Documenten auf diese Inseln Bezug hat.«

Nach genauester Prüfung der Documente mußte man zugeben, daß Paganel Recht habe. Tristan d'Acunha wurde einstimmig verworfen.

»Weiter, fuhr der Geograph fort. Beim Verlassen des Atlantischen Oceans kommen wir zwei Grad unter dem Cap der Guten Hoffnung vorbei und gelangen in den Indischen Ocean. Nur eine einzige Inselgruppe findet sich dort auf unserm Wege, die der Amsterdam-Inseln. Wir wollen sie derselben Prüfung wie Tristan d'Acunha unterziehen.«

Nach aufmerksamster Durchsicht wurden die Amsterdam-Inseln ihrerseits ausgeschieden.

Kein einziges ganzes oder zerstückeltes deutsches, englisches oder französisches Wort paßte auf diese Gruppe des Indischen Oceans.

[254] »Wir gelangen nun zu Australien, fuhr Paganel fort; der siebenunddreißigste Parallelkreis trifft diesen Continent am Cap Bernouilli, er verläßt ihn bei der Twofold-Bai. Sie werden mit mir, und ohne dem Texte Zwang anzuthun, übereinstimmen, daß das englische Wortstück ... stra und das französische austral sich auf Australien beziehen können. Die Sache ist so einleuchtend, daß ich nicht weiter darauf eingehe.«

Jedermann billigte Paganel's Schlußfolgerungen. Dieses System vereinte alle Wahrscheinlichkeiten zu seinen Gunsten.

»Gehen wir weiter, sagte der Major.

– Recht gern, erwiderte der Geograph, die Reise ist sehr leicht. Verläßt man die Twofold-Bai und überschreitet den Meeresarm, der im Osten Australiens hinzieht, so trifft man auf Neu-Seeland. Vor Allem will ich Sie daran erinnern, daß das Wort contin ... aus dem französischen Schriftstücke unwiderleglich auf einen ›Continent‹ hindeutet. Kapitän Grant kann also keine Zuflucht auf Neu-Seeland, da dieses nur eine Insel ist, gefunden haben. Doch wie dem auch sei, prüfen Sie, vergleichen Sie, wenden Sie die Worte und sehen, wenn es möglich ist, ob sie auf diese neue Gegend passen könnten.

– Auf keinerlei Weise, antwortete John Mangles, der die Documente und den Planiglob mit möglichster Sorgfalt prüfte.

– Nein, sagten die Zuhörer Paganel's, und der Major selbst, nein, von Neu-Seeland kann keine Rede sein.

– Und nun, fuhr der Geograph fort, durchschneidet der siebenunddreißigste Breitegrad in dem ganzen ungeheuren Raum, der diese große Insel von der amerikanischen Küste trennt, nur noch eine unfruchtbare und verlassene Insel.

– Und diese heißt? ... fragte der Major.

– Betrachten Sie die Karte. Es ist die Insel Maria Theresia, ein Name, von dem ich in den drei Documenten keine Spur entdecke.

– Keine Spur, bestätigte Glenarvan.

– Ich überlasse es nun Ihnen, meine Freunde, zu entscheiden, ob nicht alle Wahrscheinlichkeiten, um nicht Gewißheiten zu sagen, zu Gunsten des australischen Continentes sprechen.

– Ganz zweifellos, erwiderten einstimmig die Passagiere und der Kapitän des Duncan.

[255] – John, sagte darauf Glenarvan, Sie haben Lebensmittel und Kohle in hinreichender Menge?

– Ja, Ew. Herrlichkeit, ich habe mich in Talcahuano reichlich damit versehen, und übrigens wird die Capstadt uns Gelegenheit bieten, unser Brennmaterial leicht zu erneuern.

– Wohlan denn, so nehmen Sie den Weg ...

– Noch eine Bemerkung, sagte der Major, seinen Freund unterbrechend.

– Theilen Sie uns dieselbe mit, Mac Nabbs.

– Wie groß nun auch die Garantien des Erfolges sein mögen, die uns Australien bietet, würde es nicht geboten erscheinen, einen oder zwei Tage auf die Inseln Tristan d'Acunha und Amsterdam zu verwenden? Sie liegen in unserem Course, bringen uns also keineswegs von unserem Wege ab. Wir werden auf diese Weise erfahren, ob die Britannia dort keine Spuren ihres Schiffbruches hinterlassen hat.

– Der ungläubige Major! rief Paganel, er besteht auf seinem Kopfe.

– Ich bestehe vorzüglich darauf, den Weg nicht zweimal zu machen, wenn Australien zufällig die Hoffnungen nicht erfüllen sollte, die es jetzt erweckt.

– Diese Vorsicht scheint mir gut, meinte Glenarvan.

– Und ich werde Sie nicht davon abzubringen suchen, warf Paganel ein. Im Gegentheil.

– Nun denn, John, befahl Glenarvan, steuern Sie auf Tristan d'Acunha.

– Im Augenblick, Ew. Herrlichkeit«, erwiderte der Kapitän und bestieg sein Verdeck, während Robert und Mary lebhafte Worte des Dankes an Lord Glenarvan richteten.

Bald entfernte sich der Duncan von der Küste Amerikas, und sein schneller Vordersteven theilte, in der Richtung nach Osten, die Wogen des Atlantischen Oceans.


[256]
Tristan d'Acunha. (S. 260.)
2. Capitel
Zweites Capitel.
Tristan d'Acunha.

Wäre die Yacht der Linie des Aequators gefolgt, so hätten die hundertundsechsundneunzig Längengrade, welche Australien von Amerika, oder genauer Cap Bernouilli von Cap Corrientes trennen, 11,760 Seemeilen betragen. Auf dem siebenunddreißigsten Breitengrade stellen diese hundertundsechsundneunzig[257] Längengrade, in Folge der Kugelform der Erde, nur 9480 Seemeilen dar. Von der amerikanischen Küste bis Tristan d'Acunha rechnet man 2100 Meilen, eine Entfernung, welche John Mangles in zehn Tagen zurückzulegen hoffte, vorausgesetzt, daß nicht scharfe Ostwinde den Lauf der Yacht verzögerten. Uebrigens hatte er allen Grund zufrieden zu sein, denn gegen Abend fiel die Brise merklich ab, schlug dann um, und der Duncan konnte auf ruhigem Meere alle seine unvergleichlichen Eigenschaften zur Geltung bringen.

Schon an demselben Tage hatten die Passagiere alle ihre Lebensgewohnheiten an Bord wieder aufgenommen. Es schien, als hätten sie das Schiff während eines Monats nicht verlassen. Nach dem Wasser des Großen Oceans dehnte sich jetzt das des Atlantischen Weltmeeres vor ihren Augen aus, und bis auf wenige feinere Unterschiede waren alle Wogen einander ähnlich. Die Elemente, welche sie erst so furchtbar geprüft hatten, vereinigten jetzt alle Kräfte, sie zu begünstigen. Friedlich war der Ocean, günstig wehte der Wind, und das ganze, von einer westlichen Brise geschwellte Segelwerk unterstützte den in dem Kessel aufgespeicherten, unermüdlichen Dampf.

Diese schnelle Fahrt ging ohne Zufall und ohne Unfall von statten. Mit Vertrauen hoffte man auf die australische Küste. Die Wahrscheinlichkeiten wurden zu Gewißheiten. Man sprach vom Kapitän Grant, als ob die Yacht ihn in einem bestimmten Hafen abholen sollte. Seine Cabine und die Lagerstätten für seine zwei Begleiter wurden hergerichtet. Mary Grant gefiel sich darin, sie mit eigener Hand zu ordnen und zu schmücken. Sie war ihr von Mr. Olbinett abgetreten worden, der thatsächlich das Zimmer der Mss. Olbinett theilte. Diese Cabine grenzte an die berühmte Nummer sechs, welche an Bord der Scotia für Jacques Paganel bestimmt gewesen war.

Der gelehrte Geograph hielt sich dort fast immer eingeschlossen. Er arbeitete vom Morgen bis zum Abend an einem Werke unter dem Titel: »Erhabene Eindrücke eines Geographen in den Pampas Argentiniens.« Man hörte ihn mit bewegter Stimme seine eleganten Perioden prüfen, bevor er sie den weißen Blättern seines Collectaneenbuches anvertraute, und mehr als einmal rief er, Klio, der Muse der Geschichtschreibung ungetreu, in seiner Begeisterung Kalliope, die Muse des epischen Gesanges, an.

Paganel war sich darüber auch nicht im Unklaren. Apollo's keusche Töchter verließen für ihn willig die Gipfel des Parnaß oder des Helikon.

[258] Lady Helena entbot ihm darüber ihre aufrichtigen Complimente. Der Major beglückwünschte ihn auch wegen dieser mythologischen Besuche.

»Aber vor Allem, fügte er hinzu, keine Zerstreuungen, mein lieber Paganel, und wenn es Ihnen zufällig in den Sinn käme, australisch zu lernen, so studiren Sie mir es nicht etwa aus einer chinesischen Grammatik!«

An Bord ging Alles vortrefflich. Lord und Lady Glenarvan beobachteten mit Interesse John Mangles und Mary Grant. Sie fanden Nichts dagegen einzuwenden, und da John nicht davon sprach, war es entschieden am besten, den Gegenstand nicht zu berühren.

»Was wird Kapitän Grant dazu denken? sagte da Glenarvan einmal zu Lady Helena.

– Er wird denken, daß John Mary's würdig ist, mein lieber Edward, und er wird sich nicht täuschen.«

Inzwischen steuerte die Yacht rasch ihrem Ziele zu. Am 16. November, fünf Tage, nachdem man Cap Corrientes aus dem Gesichte verloren hatte, wehten günstige Westwinde, dieselben, welche sich die Schiffer beim Umsegeln der Südspitze Afrikas gegenüber den dort gewöhnlichen Südostwinden gern zu Nutze machen.

Der Duncan zog alle Segel auf und fuhr wagehalsig rasch weiter. Seine Schraube griff kaum in das fließende Wasser ein, welches der Vordersteven durchschnitt, und es schien, als wäre er im Wettkampf mit den Yachten des Royal-Thames-Club.

Am andern Tage erschien der Ocean mit ungeheuren See-Eichen bedeckt, die einem großen mit Gewächsen erfüllten Teiche glichen. Man konnte meinen, man befinde sich in einem sogenannten Tang-Meer, wie sie sich aus den Resten von Bäumen und Pflanzen, welche von benachbarten Continenten entführt werden, bilden. Lieutenant Maury hat sie ganz speciell der Aufmerksamkeit der Schifffahrer empfohlen. Der Duncan schien über eine große Wiese hinzugleiten, welche Paganel ganz richtig mit den Pampas verglich, und die seinen Lauf etwas verzögerte.

Vierundzwanzig Stunden später, bei Tagesanbruch, rief die Stimme des auslugenden Matrosen:

»Land! Land!

– In welcher Richtung? fragte Tom Austin, der die Wache hatte.

– Unter dem Winde«, erwiderte der Matrose.

[259] Auf diesen immer aufregenden Zuruf hin bevölkerte sich plötzlich das Verdeck. Bald streckte sich am Oberdeck ein Fernrohr aus, dem Jacques Paganel unmittelbar nachfolgte.

Der Gelehrte sah in der angegebenen Richtung durch sein Instrument, konnte aber Nichts, was einem Lande ähnlich war, bemerken.

– »Sehen Sie mehr nach den Wolken, sagte John Mangles zu ihm.

– Wirklich, erwiderte Paganel, man würde eine Art fast noch unbemerkbaren Pic zu sehen glauben.

– Das ist Tristan d'Acunha, antwortete John Mangles.

– Nun, wenn mein Gedächtniß treu ist, fuhr Paganel fort, müssen wir gegen achtzig Meilen davon entfernt sein, denn der Pic von Tristan ist bei einer Höhe von 7000 Fuß so weit sichtbar.

– Ganz richtig«, erwiderte Kapitän John Mangles.

Wenige Stunden später wurde die sehr hohe und sehr zerklüftete Inselgruppe am Horizonte vollkommen sichtbar. Die kegelförmige Kuppe von Tristan hob sich schwarz von dem glänzenden Himmel ab, der in der Farbenpracht der aufgehenden Sonne schimmerte. Bald sonderte sich auch an der Spitze eines nach Nordosten gerichteten Dreiecks die Hauptinsel von der Felsmasse ab. Tristan d'Acunha liegt unter 37°8' südlicher Breite und 10°44' östlicher Länge von Greenwich. 1 Achtzehn Meilen im Südwesten vervollständigt die Insel Inaccessible, und zehn Meilen im Südosten die Insel Rossignol die kleine in diesem Theile des Atlantischen Oceans gelegene Gruppe. Gegen Mittag kamen die beiden hauptsächlichsten Merkzeichen, welche den Seeleuten als Orientirungspunkte dienen, in Sicht, nämlich an einem Winkel der Insel Inaccessible, ein Felsen, der genau ein Fahrzeug unter Segel darstellt, und an der nördlichen Ecke der Insel Rossignol zwei kleine Eilande, die einem verfallenen Fort gleichen. Um drei Uhr lief der Duncan in die Bai Falmouth auf Tristan d'Acunha ein, die das Vorgebirge Help oder der guten Hilfe vor den Westwinden beschützt.

Dort lagen einige Wallfischfänger vor Anker, die mit dem Fange von Robben und dem anderer Seethiere, von denen unzählige Arten sich an den Küsten aufhielten, beschäftigt waren.

John Mangles suchte einen guten Ankergrund zu finden, denn diese offenen [260] Rheden sind wegen der Windstöße aus Nordwesten und Norden sehr gefährlich, und genau an dieser Stelle ging im Jahre 1829 die englische Brigg Julia mit Mann und Maus zu Grunde.

Bis auf eine halbe Meile näherte sich der Duncan dem Ufer und warf bei zwanzig Faden auf felsigem Grunde Anker. Sogleich schifften sich die weiblichen und männlichen Passagiere im großen Boote ein und betraten am Strande einen seinen, schwarzen Sandboden, der aus verwitterten Felsen der Insel bestand.

Der Hauptort der ganzen Inselgruppe Tristan d'Acunha besteht aus einem kleinen Dorfe, das im Hintergrunde der Bai an einem lebhaft rauschenden Bache liegt. Dort befanden sich etwa ein halbes hundert recht sauberer Häuschen, die mit jener geometrischen Regelmäßigkeit angeordnet waren, welche in der englischen Architektur immer das letzte Wort zu sprechen scheint.

Hinter diesem Miniaturstädtchen dehnten sich Ebenen etwa auf 1500 Hectaren aus, die mit einem ungeheuren Schuttwall von Lava umgeben waren. Ueber diesem Plateau erhob sich die kegelförmige Kuppe bis auf 7000 Fuß in die Luft.

Lord Glenarvan wurde von einem Gouverneur empfangen, der von der englischen Capcolonie abhängig ist. Er stellte sogleich seine Fragen wegen Harry Grant's und der Britannia. Diese Namen waren vollkommen unbekannt. Die Inseln Tristan d'Acunha liegen abseits der Schiffscourse und werden in Folge dessen sehr wenig besucht. Seit dem berühmten Schiffbruch des Blendon-Hall, der 1821 an den Felsen der Insel Inaccessible zerschellte, hatten nur zwei Fahrzeuge an der Hauptinsel Schiffbruch gelitten, nämlich 1845 der Primanguel und 1857 der amerikanische Dreimaster Philadelphia. Die Acunha'sche Statistik der Seeunfälle beschränkte sich auf diese drei Katastrophen.

Glenarvan erwartete gar nicht, genauere Nachrichten zu erhalten und fragte den Gouverneur überhaupt nur mehr zur Beruhigung seines Gewissens.

Die Schiffsboote sandte er auf eine Fahrt um die Insel, deren Umfang höchstens siebenzehn Meilen betragen mochte, aus. London oder Paris hätten darauf nicht Platz gehabt, und wenn sie dreimal so groß gewesen wäre.

Während dieser Recognoscirung gingen die Passagiere des Duncan in dem Dorfe und auf der angrenzenden Küste spazieren. Die Bevölkerung von Tristan d'Acunha übersteigt nicht hundertfünfzig Seelen. Sie bestehen aus [261] Engländern und Amerikanern, welche mit Negerinnen oder Hottentottenweibern vom Cap verheiratet waren, die an Häßlichkeit Nichts zu wünschen übrig lassen. Die Kinder aus diesen ungleichartigen Verbindungen zeigten eine sehr unangenehme Mischung der angelsächsischen Steifheit und der afrikanischen Schwärze.

Diese Promenade der Touristen, denen es wohl that, festes Land unter den Füßen zu haben, dehnte sich an dem Ufer hin aus, an welche die große Fläche cultivirten Bodens grenzt, der nur in diesem Theile der Insel vorkommt. An jedem andern Punkte bildet die Küste ein steiles, zerklüftetes und dürres Gestade aus Lavamassen. Dort zählt man ungeheure Albatrosse und die schwerfälligen Pinguins nach Hunderten.

Nachdem die Besucher diese Felsen vulkanischen Ursprungs untersucht hatten, wendeten sie sich nach der Ebene zurück. Sprudelnde, zahlreiche Quellen, genährt von dem ewigen Schnee des Kegelbergs, murmelten da und dort; grüne Gebüsche, auf denen das Auge fast ebensoviele Sperlinge als Blätter zählte, schmückten den Boden; eine einzige Baumart, eine Phylica, welche zwanzig Fuß hoch wird, und der »Tusseh«, eine gigantische Arundinacee mit holzigem Stamme, sproßten aus dem grünenden Weidegrund empor; eine rebenartige Azene, starke Lomarien mit verwickelten Filamenten, einige strauchartige Pflanzen, Ancerinen, deren balsamische Düfte die Luft mit durchdringendem Wohlgeruch erfüllten, Moose, wilder Sellerie und Farrnkräuter bildeten eine wenig artenreiche, aber üppige Flora. Man fühlte, daß ein ewiger Frühling seinen wohlthätigen Einfluß auf dieser bevorzugten Insel geltend machte. Paganel behauptete in seiner gewöhnlichen Begeisterung, daß diese Insel das von Fénélon besungene berühmte Ogygia sei. Er schlug Lady Glenarvan vor, sich eine Grotte aufzusuchen, es der liebenswürdigen Kalypso nachzuthun, und wünschte für sich keinen andern Dienst, als »eine der Nymphen zu sein, die ihr aufwarten«.

So kehrten die Spaziergänger, unter Geplauder und Bewunderung, mit sinkender Nacht zur Yacht zurück. In der Nähe des Dorfes zogen Heerden von Rindern und Schafen vorbei; die Klee- und Maisfelder und die seit vierzig Jahren eingeführten Küchenpflanzen erstreckten ihre Naturreichthümer bis in die Straßen der Hauptstadt.

Eben als Lord Glenarvan an Bord zurückkehrte, legten auch die Boote des Duncan wieder bei der Yacht an. In wenigen Stunden hatten sie ihre [262] Fahrt um die Insel ausgeführt, auf ihrem Wege aber keine Spur von der Britannia entdeckt. Diese Umschiffung führte also zu keinem andern Ergebnisse, als zu dem, die Inseln Tristan d'Acunha endgiltig aus dem Programm der anzustellenden Nachforschungen zu streichen.

Der Duncan konnte demnach diese afrikanische Inselgruppe verlassen und weiter nach Osten segeln. Daß man nicht noch denselben Abend abfuhr, geschah deshalb, weil Glenarvan seiner Mannschaft erlaubt hatte, auf die unzähligen Robben zu jagen, welche unter dem Namen von Seekälbern,-löwen,-bären und See-Elephanten die Ufer der Falmouth-Bai bedecken. Früher tummelten sich auch wirkliche Wallfische in den Gewässern der Insel; aber es hatten sie so viele Jäger verfolgt und harpunirt, daß von ihnen kaum noch einige übrig waren. Amphibien dagegen wurden dort heerdenweise angetroffen. Die Besatzung der Yacht beschloß also die Nacht über zu jagen und am folgenden Tage sich einen gehörigen Vorrath an Thran darzustellen. So wurde die Abfahrt des Duncan bis auf den zweitfolgenden Tag, den 20. November, verschoben.

Während des Abendessens theilte Paganel noch einige Einzelheiten über die Inseln Tristan d'Acunha mit, welche das Interesse seiner Zuhörer erweckten. Sie vernahmen, daß diese Inselgruppe im Jahre 1506 durch den Portugiesen Tristan d'Acunha, einen der Begleiter Albuquerque's entdeckt, aber ein ganzes Jahrhundert lang nicht weiter erforscht wurde. Man hielt diese Inseln, und nicht ohne Grund, für »Sturmnester«, und so standen sie in demselben schlechten Ansehen, wie die Bermudas-Inseln. So näherte sich ihnen kaum ein Seefahrer, und kein Fahrzeug legte sich dort an's Land, wenn es nicht wider Willen durch Stürme im Atlantischen Ocean dahin verschlagen war.

Im Jahre 1697 liefen hier drei holländische Fahrzeuge ein, welche die geographische Lage der Inseln bestimmten, und dem großen Astronomen Halley die Sorge überließen, im Jahre 1700 die Richtigkeit ihrer Berechnungen zu prüfen. Vom Jahre 1712 bis 1767 machten mehrere französische Fahrzeuge die Bekanntschaft der Inseln, vorzüglich »La Pérouse«, der auf seiner berühmten Reise im Jahre 1785 durch seine Instructionen hierher geführt wurde.

Diese bis dahin so wenig besuchten Inseln waren auch unbewohnt geblieben, bis im Jahre 1811 ein Amerikaner, Jonathan Lambert, ihre Colonisirung [263] unternahm. Er landete dort im Monat Januar mit zwei Begleitern, welche herzhaft ihr Colonisirungswerk begannen. Als der Gouverneur des Caps der Guten Hoffnung in Erfahrung gebracht hatte, daß ihr Versuch gelang, bot er ihnen das Protectorat Englands an; Jonathan ging darauf ein und hißte auf seiner Hütte die englische Flagge auf. Ueber »seine Völker«, einen alten Italiener und einen portugiesischen Mulatten, schien er friedlich zu regieren, als er plötzlich, bei einer Recognoscirung der Küsten seines Reiches entweder, – es ist nicht ganz klar geworden – ertrank oder ertränkt wurde.

So kam das Jahr 1816. Napoleon wurde auf St. Helena gefangen gesetzt, und von Seiten Englands wurde zu seiner besseren Bewachung eine Garnison nach der Insel Ascension und nach Tristan d'Acunha verlegt. Die Garnison von Tristan bestand aus einer Compagnie Cap-Artillerie und einem Detachement Hottentotten. Sie verblieb dort bis 1821 und wurde nach dem Tode des Gefangenen von St. Helena nach dem Cap zurückverlegt.

»Ein einziger Europäer, fügte Paganel hinzu, ein Korporal, ein Schotte ...

– Aha, ein Schotte! sagte der Major, der für seine Landsleute immer ein ganz besonderes Interesse hatte.

Er hieß William Glaß, fuhr Paganel fort, und blieb mit seiner Frau und zwei Hottentotten auf der Insel zurück. Bald schlossen sich zwei Engländer, ein Matrose und ein Themseschiffer, ein Ex-Dragoner der argentinischen Armee, dem Schotten an, und endlich fand, im Jahre 1821, einer der Schiffbrüchigen des Blendon-Hall, sammt seiner jungen Frau, auf der Insel Zuflucht. So zählte die Insel 1821 demnach sechs Männer und zwei Frauen. Im Jahre 1829 war die Bevölkerung bis auf sieben Männer, sechs Frauen und vierzehn Kinder angewachsen. Im Jahre 1835 belief sich die Zahl der Bewohner auf vierzig und jetzt hat sie sich wohl verdreifacht.

– So ist der Anfang der Nationen, sagte Glenarvan.

– Um die Geschichte von Tristan d'Acunha zu vervollständigen, fuhr Paganel fort, füge ich hinzu, daß mir diese Insel ebenso wie Juan Fernandez den Ruf einer Robinsons-Insel zu verdienen scheint. Im Jahre 1793 verlief sich einer meiner Landsleute, der Naturforscher Aubert Dupetit-Thouars, beim eifrigen Botanisiren, und konnte sein Fahrzeug nicht eher wieder erreichen, als in dem Augenblicke, da es die Anker lichtete. Im Jahre 1824 blieb dann Einer Ihrer Landsleute, mein lieber Glenarvan, ein geschickter Zeichner, Namens August Earle, acht Monate auf der Insel verlassen. Sein [264] Kapitän hatte vergessen, daß Jener an's Land gegangen, und war nach dem Cap abgesegelt.


Die Mannschaft des Duncan macht gute Beute. (S. 265.)

– Nun, das kann man doch einen zerstreuten Kapitän nennen, meinte der Major. Das war offenbar Einer von Ihren Verwandten, Paganel?

– Und wenn er es nicht war, Major, so verdiente er es doch zu sein.«

Mit dieser Antwort des Geographen brach die Unterhaltung ab.

Während der Nacht machte die Mannschaft des Duncan reichliche Jagdbeute. An fünfzig große Robben wurden vom Leben zum Tode befördert.

[265] Hatte Glenarvan nun diese Jagd gestattet, so konnte er auch der Ausnutzung derselben nicht entgegen sein. Der folgende Tag wurde also mit Thrangewinnung und Zurichtung der Felle dieser einträglichen Amphibien hingebracht.

Die Passagiere verwendeten natürlich diesen zweiten Tag des Aufenthaltes zu einem neuen Streifzug über die Insel. Glenarvan und der Major nahmen die Gewehre mit, um dem Wildpret von Acunha nachzustellen. Bei diesem Spaziergange drangen sie bis zu dem Fuße des Berges vor und zwar auf einem Boden, der mit zerfallenen Trümmern, mit Schlacken, mit poröser, schwarzer Lava und aller Art von vulkanischem Detritus übersäet war. Der Fuß des Berges erhob sich aus einem Chaos wankender Felsmassen. Nur schwer hätte man sich über die Natur des ungeheuren Kegels täuschen können, und der englische Kapitän Carmichaël hatte Recht, ihn für einen erloschenen Vulkan anzusehen.

Die Jäger bemerkten einige wilde Schweine. Eines derselben fiel von der Kugel des Majors. Glenarvan begnügte sich, einige Paar schwarzer Rebhühner zu erlegen, von denen der Schiffskoch gewiß ein ausgezeichnetes Ragout herzustellen im Stande war. Auf den höheren Ebenen wurde eine große Menge Ziegen bemerkt. Räuberische, kühne und starke wilde Katzen, die selbst den Hunden gefährlich werden, waren in starker Vermehrung begriffen und schienen später eine sehr beachtenswerthe Raubthierklasse zu werden.

Um acht Uhr war Alles an Bord zurück, und im Laufe der Nacht verließ der Duncan Tristan d'Acunha, das er nicht mehr wiedersehen sollte.

Fußnoten

1 13°4' östlich von Paris. Diese beiden ersten Meridiane differiren um 2° 20'.

3. Capitel
Drittes Capitel.
Die Insel Amsterdam.

John Mangles beabsichtigte zunächst am Cap der Guten Hoffnung Kohlen einzunehmen. Er mußte sich deshalb etwas von dem siebenunddreißigsten Breitengrade entfernen und um zwei Grade nördlicher gehen. Der Duncan [266] befand sich jetzt unterhalb der Zone der Passatwinde und traf auf guten und seiner Bewegung sehr günstigen Westwind. 1 In weniger als sechs Tagen legte er die 1300 Seemeilen zurück, welche Tristan d'Acunha von der afrikanischen Südspitze trennen. Am 24. November, um drei Uhr Nachmittags, kam der Tafelberg in Sicht und etwas später bemerkte John auch den Signalberg, der die Einfahrt zur Bai kenntlich macht. Gegen acht Uhr lief er dort ein und warf im Hafen der Capstadt Anker.

Paganel mußte in seiner Eigenschaft als Mitglied der Geographischen Gesellschaft wohl wissen, daß die Südspitze Afrikas zum ersten Male im Jahre 1486 von dem portugiesischen Admiral Bartolomeo Diaz erblickt, aber erst 1497 durch den berühmten Vasco de Gama umschifft worden war. Wie hätte das Paganel unbekannt sein sollen, da Camoëns in der Lusiade den großen Seehelden verherrlicht?

Bei dieser Gelegenheit machte er aber eine sonderbare Bemerkung, nämlich daß, wenn Diaz im Jahre 1486, also sechs Jahre vor der ersten Reise des Columbus, das Cap der Guten Hoffnung umschifft hätte, die Entdeckung Amerikas auf ganz unbestimmte Zeit verzögert worden wäre. Wirklich war der Weg um's Cap der kürzeste und directeste nach Ostindien. Denn es suchte ja der große genueser Seemann, als er nach Westen hinaussteuerte, die Reise nach dem Lande der Gewürze abzukürzen. War das Cap schon umschifft, so wurde seine Reise zwecklos, und er hätte sie wahrscheinlich gar nicht unternommen.

Die Capstadt, welche im Hintergrunde der Bai liegt, wurde im Jahre 1652 durch den Holländer Van-Riebeck gegründet. Sie wurde zur Hauptstadt einer wichtigen Colonie, die nach den Verträgen von 1815 England definitiv zugesprochen wurde. Die Passagiere des Duncan benutzten ihren Aufenthalt, um sie zu besuchen. Sie hatten nur zwölf Stunden auf ihre Spaziergänge zu verwenden, denn ein Tag genügte dem Kapitän John zur Vervollständigung seines Proviantes, und am 26. Morgens wollte er wieder abfahren.

Mehr Zeit bedurfte es übrigens auch nicht, um die regelmäßigen Felder dieses Schachbrettes, das sich Capstadt nennt, zu durchlaufen, auf welchem 30,000 Menschen, Weiße und Schwarze, die Rolle von Königen und Königinnen, [267] Springern, Bauern, vielleicht auch von Läufern spielten. So wenigstens drückte sich Paganel aus. Wenn man das Schloß, welches sich im Südosten der Stadt erhebt, den Palast und den Garten des Gouverneurs, die Börse, das Museum und das von Diaz zur Zeit der Entdeckung gesetzte steinerne Kreuz gesehen, und ein Glas Pontai, das vorzüglichste Gewächs unter den Capweinen, getrunken hat, ist nichts mehr zu thun übrig, als abzureisen.

Das thaten denn auch unsere Reisenden mit Anbruch des folgenden Tages. Der Duncan setzte alle Segel bei und in wenigen Stunden schiffte er über jenes berühmte Vorgebirge der Stürme hinaus, dem der optimistische König von Portugal, Johann II., sehr unpassend den Namen der Guten Hoffnung gab.

Zwischen dem Cap und der Insel Amsterdam sind 2900 Seemeilen zurückzulegen. Es war das bei günstigem Wasser und unter gutem Winde eine Sache von zehn Tagen. Die Seefahrer, welche weit mehr Glück hatten, als die Wanderer durch die Pampas, hatten sich nicht über die Elemente zu beklagen. Luft und Wasser, die sich auf dem Festlande gegen sie verschworen hatten, vereinigten sich jetzt, sie vorwärts zu bringen.

»O, das Meer! Das Meer! wiederholte Paganel, das ist das auserwählte Feld für die Entfaltung der menschlichen Kräfte und das Schiff ist der wahre Träger der Civilisation. Wäre die Erdkugel nur ein ungeheurer Continent gewesen, man kennte auch im 19. Jahrhundert kaum den tausendsten Theil davon! Betrachten Sie die Zustände im Innern großer Festlandmassen. In den Steppen Sibiriens, in den Ebenen Innerasiens, in den Wüsten Afrikas, in den Prairien Amerikas, in den ungeheuren Binnenländern Australiens, in den eisigen Oeden an den Polen wagt der Mensch kaum den Fuß vorwärts zu setzen; der Kühnste weicht zurück, der Muthigste unterliegt. Man kann nicht hindurchgelangen. Die Transportmittel sind unzulänglich. Die Hitze, die Krankheiten oder die Wildheit der Eingeborenen bilden ebensoviel unübersteigliche Hindernisse. Zwanzig Meilen Wüste scheiden die Menschen mehr, als fünfhundert Meilen Ocean! Man ist sich nahe von einer Küste zur andern, man ist sich fremd, wenn nur ein Wald uns trennt! England grenzt an Australien, während Aegypten z.B. Millionen Stunden weit vom Senegal entfernt, und Peking der Antipode von St. Petersburg zu sein scheint! Ueber das Meer reist man jetzt bequemer, als durch die kleinste Wüste, und ihm ist es zu verdanken, daß sich, wie es ein amerikanischer [268] Gelehrter 2 ganz richtig ausdrückt, zwischen allen Theilen der Erde eine Art internationaler Verwandtschaft herausgebildet hat.«

Paganel sprach mit Feuer, und selbst der Major verwarf diesmal kein Wort dieser Hymne auf den Ocean. Wenn es zur Aufsuchung Harry Grant's nöthig gewesen wäre, in der Linie des siebenunddreißigsten Breitengrades einen Continent zu durchmessen, hätte man das Unternehmen kaum wagen können; jetzt war aber das Meer da, die kühnen Forscher von einem Lande zum andern zu tragen, und am 6. December schon, beim ersten Tagesgrauen ließ es einen neuen Berg auf seinem Wellenschoße auftauchen.

Es war das die Insel Amsterdam, umter'm 37°47' südlicher Breite und 77°24' östlicher Länge 3, deren Gipfel bei heiterm Wetter wohl bis auf fünfzig Meilen weit sichtbar ist. Um acht Uhr glich ihre noch unbestimmt hervortretende Form ungemein der der Insel Teneriffa.

»Und folglich, sagte Glenarvan, gleicht sie auch Tristan d'Acunha.

– Ganz richtig, antwortete Paganel, nach dem geometrographischen Axiom, daß zwei Inseln, die einer dritten gleichen, sich auch unter einander gleichen. Ich füge hinzu, daß die Insel Amsterdam, wie Tristan d'Acunha, an Robben und Robinsons gleichmäßig reich war und noch ist.

– Robinsons giebt es also wohl überall? fragte Lady Helena.

– Wahrhaftig, Madame, antwortete Paganel, ich kenne wenige Inseln, die nicht ihr derartiges Abenteuer erlebt hätten, und lange Zeit vor der Erzählung Ihres unsterblichen Landsmanns, Daniel de Foë, hatte der Zufall diese schon in der Wirklichkeit in Scene gesetzt.

– Würden Sie mir wohl gestatten, Herr Paganel, sagte da Mary Grant, eine Frage an Sie zu richten?

– Zwei, meine liebe Miß, und ich verpflichte mich auch, sie zu beantworten.

– Würden Sie sich sehr entsetzen bei dem Gedanken, auf einer unbewohnten Insel verlassen zu sein?

– Ich! rief Paganel.

– Nun schnell, lieber Freund, sagte der Major, gestehen Sie nur zu, daß das Ihr sehnlichster Wunsch wäre.

[269] – Ich sehne mich nicht gerade darnach, erwiderte der Geograph, doch am letzten Ende würde mir das Abenteuer nicht allzusehr mißfallen. Ich würde eben ein ganz neues Leben beginnen. Ich ginge jagen und fischen, erwählte mir für den Winter zur Wohnung eine Höhle, für den Sommer einen Baum; richtete Magazine für meine Ernten ein und würde so meine Insel zu colonisiren suchen.

– Sie ganz allein?

– Ich ganz allein, wenn's nöthig wäre. Ist man denn übrigens jemals allein auf der Welt? Kann man sich nicht Freunde aus dem Thierreiche suchen? Kann man sich denn nicht eine junge Ziege zähmen, einen geschwätzigen Papagei, oder einen liebenswürdigen Affen? Und wenn Ihnen der Zufall einen Genossen, wie den treuen Freitag sendet, was braucht es dann mehr, um glücklich zu sein? Zwei Freunde unter einem Felsen, – da haben Sie das Glück. Nehmen Sie an, der Major und ich ...

– Danke bestens, fiel der Major ein, ich finde nicht den geringsten Geschmack an der Rolle eines Robinson, und würde sie herzlich schlecht spielen.

– Bester Herr Paganel, meinte Lady Helena, Sie verlieren sich so leicht in die Gefilde der Phantasie. Ich glaube nur, daß die Wirklichkeit dem schönen Traume sehr wenig entspricht. Sie denken nur an jene imaginären Robinsons, die ganz vorsorglich an eine wohl ausgewählte Insel verschlagen werden und welche die Natur wie verwöhnte Kinder behandelt. Sie sehen eben nur die glänzende Seite der Dinge.

– Wie, Madame, Sie glauben nicht, daß man auf einer verlassenen Insel glücklich sein könne?

– Ich denke es nicht. Der Mensch ist zur Geselligkeit, nicht zur Einsamkeit geschaffen. Die Einsamkeit kann nur die Verzweiflung erzeugen. Es ist das übrigens eine Frage der Zeit. Wohl mögen die Sorgen um das materielle Leben, die Bedürfnisse für seine Existenz, den kaum vom Wellentode geretteten Unglücklichen zerstreuen, und die Noth der Gegenwart ihm die drohende Zukunft verschleiern; das ist wohl möglich! Dann aber, wenn er sich allein fühlt, fern von Seinesgleichen, ohne Hoffnung, sein Vaterland und seine Lieben wiederzusehen, was muß er dann denken, was muß er leiden? Sein Eiland ist ihm die ganze Welt; die ganze Menschheit stellt nur er da, und dann, wenn der Tod ihn antritt, der schreckliche Tod in der[270] Verlassenheit, dann steht er da wie der letzte Mensch am jüngsten Tage. Glauben Sie mir, Paganel, es ist doch besser, dieser Letzte nicht zu sein!«

Ungern unterwarf sich Paganel der Beweisführung der Lady Helena, und die Unterhaltung verbreitete sich noch weiter über die Vorzüge und die Uebel des Verlassenseins bis zu dem Augenblicke, wo der Duncan eine Meile von der Küste der Insel Amsterdam Anker warf.

Diese vereinzelte Gruppe im Indischen Ocean besteht aus zwei verschiedenen Inseln, welche etwa dreiunddreißig Meilen von einander entfernt sind und genau im Meridian der Halbinsel Vorder-Indien liegen. Nördlich findet sich die Insel Amsterdam, oder St. Peter, südlich die Insel St. Paul; es muß aber erwähnt werden, daß dieselben von Geographen und Seefahrern häufig verwechselt worden sind.

Im December 1796 wurden diese Inseln von dem Holländer Vlaming entdeckt, und dann von d'Entrecasteaux, der die Espérance und die Recherche zur Aufsuchung des La Pérouse commandirte, wieder besucht. Von dieser Fahrt her schreibt sich die Verwechselung der beiden Inseln. Der Seemann Barrow, Beautemps-Beaupré in dem Atlas von d'Entrecasteaux, ferner Horsbury, Pinkerton und andere Geographen haben beständig die Insel St. Peter anstatt der Insel St. Paul eingetragen, und umgekehrt. Im Jahre 1859 vermieden es die Officiere der österreichischen Fregatte Novarra, bei deren Reise um die Erde, in denselben Irrthum zu verfallen, den Paganel speciell rügen zu müssen glaubte.

Die Insel St. Paul, welche südlich von der Insel Amsterdam liegt, ist nur ein unbewohntes Eiland, und besteht aus einem kegelförmigen Berge, der ein erloschener Vulkan sein muß. Die Insel Amsterdam dagegen, zu welcher die Schaluppe die Passagiere des Duncan übersetzte, mag wohl zwölf Meilen im Umkreis haben. Sie ist von einigen freiwillig Verbannten bewohnt, welche sich in diese traurige Existenz ergeben haben. Es sind die Hüter der Fischerei, welche ebenso wie die Insel, einem gewissen Otovan, einem Kaufmanne auf Réunion, gehört. Dieser Souverän, der übrigens von den Großmächten Europas noch nicht anerkannt ist, bezieht von dort eine Civilliste von 75,000 bis 80,000 Francs, durch Fischen, Einsalzen und Versenden eines »Cheilodactylus«, der unter dem Namen Kabeljau wohl allgemeiner bekannt ist.

Uebrigens scheint diese Insel Amsterdam bestimmt, französisch zu sein und [271] zu bleiben. Ganz zuerst gehörte sie, nach dem Rechte der ersten Besitznahme, einem Rheder aus St. Denis auf Bourbon, Namens Camin; später wurde sie durch irgend einen internationalen Contract an einen Polen abgetreten, der sie durch Malgachensclaven bebauen ließ. Pole oder Franzose ist ja ganz gleich, und so wurde auch die polnische Insel im Besitz des Herrn Otovan wieder französisch.


Ein Häuschen im Grunde eines natürlichen Hafens. (S. 274.)

Als der Duncan am 6. December 1864 an ihr beilegte, belief sich die Zahl der Bewohner auf drei, einen Franzosen und zwei Mulatten, alle Drei [272] Angestellte des Kaufmanns und Besitzers.


Warme Quelle aus Lavaboden. (S. 276.)

Paganel konnte also in der Person des schon sehr bejahrten Herrn Viot einem Landsmanne die Hand drücken. Dieser »weise Greis« machte auf der Insel mit vieler Höflichkeit die Honneurs. Es war für ihn ein Glückstag, wenn er liebenswürdige Fremde empfing. St. Peter wird nur von Robbenjägern und wenigen Wallfischfängern, das heißt von Leuten mit ungeschliffenem Benehmen, besucht, die auch durch die häufige Berührung mit jenen Seegeschöpfen nicht viel gewonnen haben.

[273] Viot stellte seine Untergebenen, die beiden Mulatten, vor; sie bildeten neben einigen Wildschweinen, die ihr Lager mehr im Innern hatten, und Millionen Pinguins die lebende Bevölkerung der Insel. Das kleine Haus, in welchem die drei Insulaner lebten, lag im Hintergrunde eines kleinen natürlichen, nach Südwest gelegenen Hafens, der durch den Einsturz eines Theiles des Berges gebildet war.

Schon lange vor der Regierung Otovan's I. diente die Insel St. Peter Schiffbrüchigen als Zuflucht. Paganel erregte das Interesse seiner Zuhörer auf's Höchste, als er seinen ersten Bericht mit den Worten: Die Geschichte zweier aus der Insel Amsterdam verlassenen Schotten, begann.

Es war im Jahre 1827. Das englische Schiff Palmira, das der Insel in Sicht vorüberfuhr, bemerkte eine Rauchsäule, die sich in die Luft erhob. Der Kapitän näherte sich der Küste und bemerkte bald zwei Menschen, welche Nothsignale gaben. Er schickte ein Boot an's Land, welches Jacques Paine einen jungen Mann von zweiundzwanzig Jahren, und Robert Proudfort im Alter von achtundvierzig Jahren, aufnahm. Diese beiden Unglücklichen waren ganz unkenntlich. Seit achtzehn Monaten fast ohne Nahrungsmittel und süßes Wasser, nährten sie sich von Muschelthieren, angelten mit einem schlechten umgebogenen Nagel, erbeuteten manchmal einen Frischling im Laufe, harrten manchmal drei Tage lang aus, ohne überhaupt zu essen, wachten wie Vestalinnen an dem mit dem letzten Stückchen Schwamm entzündeten Feuer, das sie nie ausgehen ließen, und auf ihren Ausflügen wie eine Sache von größtem Werthe mitnahmen – so lebten sie unter Elend, Entbehrungen und Leiden. Paine und Proudfort waren von einem Schooner, der auf den Robbenfang ging, auf der Insel an's Land gesetzt worden. Nach Gewohnheit dieser Fischer sollten sie während eines Monats Vorräthe an Fellen und Thran sammeln und die Rückkehr des Schooners erwarten. Der Schooner kam nicht wieder. Fünf Monate später landete der Hope, der nach Van-Diemensland ging, an der Insel; der Kapitän verweigerte es aber in Folge einer unerklärlichen, barbarischen Laune, die beiden Schotten aufzunehmen; er ging wieder unter Segel, ohne ihnen nur einen Schiffszwieback, oder einen Feuerstahl dazulassen, und die beiden Unglücklichen würden binnen Kurzem unterlegen sein, wenn sie nicht die Palmira, als sie in Sicht der Insel Amsterdam vorbeifuhr, an Bord aufgenommen hätte.

Das zweite Abenteuer, dessen die Geschichte der Insel Amsterdam – [274] wenn man bei einem solchen Felsen von einer Geschichte reden kann, – erwähnt, ist das des Kapitän Péron, dieses Mal eines Franzosen. Es beginnt übrigens und endet auch ebenso, wie das der beiden Schotten, ein freiwilliges Zurückbleiben auf der Insel, ein Schiff, das nicht zurückkehrt, und ein fremdes Fahrzeug, welches durch das Spiel der Winde nach jener Inselgruppe getrieben wird, und zwar nach vierzigmonatlicher Verlassenheit. Doch zeichnet ein blutiges Schauspiel den Aufenthalt des Kapitän Péron aus und bietet wunderbare Aehnlichkeiten mit den erdachten Ereignissen, welche Daniel de Foë's Helden bei der Rückkehr nach seiner Insel erwarteten.

Kapitän Péron hatte sich mit vier Matrosen, zwei Franzosen und zwei Engländern, ausschiffen lassen, fünfzehn Monate wollten sie der Jagd auf Seelöwen widmen. Die Jagd war wohl glücklich, als aber ihr Schiff nach Verlauf der fünfzehn Monate nicht wiederkam, und als die Nahrungsmittel nach und nach zur Neige gingen, wurden die internationalen Beziehungen gespannt. Die beiden Engländer empörten sich gegen Kapitän Péron, der ohne die Hilfe seiner Landsleute unter ihren Händen erlegen wäre. Von die ser Zeit an führten die beiden Parteien, die sich Tag und Nacht unausgesetzt unter Waffen bewachten, wechselsweise als Sieger und Besiegte, unter Elend und Angst eine schreckliche Existenz. Und gewiß hätte endlich eine Partei die andere aufgerieben, hätte nicht ein englisches Schiff die Unglücklichen in ihr Vaterland zurückgeführt, sie, die ein erbärmlicher Nationalhaß auch auf einem Felsen des Indischen Oceans entzweit hatte.

Das waren diese Abenteuer. Zweimal wurde die Insel Amsterdam so zur Heimat verlassener Matrosen, welche die Vorsehung beide Male von dem Elende und dem Tode rettete. Seitdem aber hatte sich kein Schiff wieder an diese Küsten verloren. Von einem Schiffbruche wären die Trümmer an das Ufer getrieben, die Schiffbrüchigen selbst wären durch die Fischereien Viot's aufgefangen worden.

Der Greis bewohnte die Insel seit langen Jahren, aber nie bot sich ihm eine Gelegenheit, seine Gastfreundschaft an etwaigen Opfern des Meeres zu üben. Von der Britannia und dem Kapitän Grant wußte er Nichts. Weder die Insel Amsterdam, noch die Insel St. Paul, welche von Wallfischfängern und Robbenjägern häufig besucht wurde, konnte der Schauplatz dieser Katastrophe gewesen sein.

Glenarvan war durch diese Antwort weder erstaunt, noch entmuthigt.

[275] Bei diesen verschiedenen Aufenthalten suchten seine Begleiter und er vielmehr festzustellen, wo Kapitän Grant nicht wäre, als wo er wäre. Sie wollten sich nur seiner Nichtanwesenheit auf den verschiedenen Punkten des betreffenden Breitengrades versichern, das war jetzt ihr ganzer Zweck. Die Abfahrt des Duncan wurde also auf den folgenden Tag festgesetzt.

Bis zum Abend besuchten die Passagiere die Insel, deren Aussehen sehr einladend ist. Ihre Fauna und Flora aber hätten nicht ein Octavbändchen auch des weitschweifigsten Naturforschers ausgefüllt. Die Klassen der Säugethiere, Vögel, Fische und Wale bestand aus nur einigen Wildschweinen, Sturmvögeln, Albatrossen, Barschen und Robben. Warme und eisenhaltige Quellen drangen da und dort aus der schwärzlichen Lava hervor und ihre dichten Dämpfe breiteten sich über den vulkanischen Boden. Einige erreichten eine sehr hohe Temperatur. John Mangles prüfte sie mit einem Thermometer nach Fahrenheit, welches hundertsechsundsiebenzig Grad ( = 80° hunderttheilig) zeigte. Fische, welche wenige Schritte davon aus dem Meere genommen waren, kochten binnen fünf Minuten in diesem beinahe siedenden Wasser.

Gegen Abend, nach einem tüchtigen Spaziergang, verabschiedete sich Glenarvan bei dem wackeren Herrn Viot. Jeder wünschte ihm alles auf der verlassenen Insel mögliche Gute. Dagegen wünschte der Alte den besten Erfolg der Fahrt, und das Boot des Duncan brachte die Passagiere wieder an Bord.

Fußnoten

1 Es ist damit eine Art Gegen-Passate gemeint, deren Grenze der dreißigste Breitengrad zu bilden scheint.

2 Der Lieutenant Maury.

3 75°4' östlich von Paris.

4. Capitel
Viertes Capitel.
Die Wetten Jacques Paganel's und des Major Mac Nabbs.

Am 7. December brummten auf dem Duncan die Oefen schon um drei Uhr Morgens, an den Winden wurde auch schon gearbeitet; der Anker kam in senkrechte Stellung, verließ den sandigen Boden des kleinen Hafens, die Schraube setzte sich in Bewegung, und die Yacht lief in die hohe See. Als [276] die Passagiere um acht Uhr auf das Verdeck kamen, verschwand die Insel Amsterdam in den Nebeln des Horizonts. Sie bildete die letzte Haltestelle auf der Linie des 37. Breitengrades, und es waren nur noch dreitausend Meilen von da bis zur australischen Küste. Der Westwind brauchte nur zwölf Tage anzudauern und das Meer sich weiter günstig zu zeigen, so hatte der Duncan das Ziel seiner Reise erreicht.

Mary Grant und Robert konnten nicht ohne tiefe Rührung die Wogen betrachten, welche die Britannia ohne Zweifel einige Tage vor ihrem Schiffbruch durchschnitt. Hier vielleicht hatte Kapitän Grant, nachdem sein Schiff rhedelos und seine Bemannung zusammengeschmolzen war, gegen die fürchterlichen Stürme des Indischen Meeres zu kämpfen gehabt und sich dann durch eine unwiderstehliche Gewalt nach der Küste treiben lassen müssen. John Mangles zeigte dem jungen Mädchen die auf der Karte angegebenen Küstenströmungen, und erklärte ihr die stets gleiche Richtung derselben. Eine derselben durchschneidet geradezu in der Richtung von Westen nach Osten den Indischen Ocean, treibt nach dem australischen Festland, und man fühlt ihre Wirkung ebenso im Stillen wie im Atlantischen Ocean. Und so hatte auch die Britannia, nachdem ihr das Mastwerk zerbrochen und das Steuer geraubt war, also schutzlos gegenüber der anstürmenden Gewalt des Meeres und Himmels, auf die Küste treiben und dort zerschellen müssen.

Indessen hier stieß man auf ein Bedenken. Die letzten Nachrichten über den Kapitän Grant datirten der Handels- und Schiffer-Zeitung nach vom 30. Mai 1862 aus Callao. Wie konnte sich die Britannia am 7. Juni, acht Tage nachdem sie die Küste von Peru verlassen hatte, im Indischen Meere befinden? Paganel, über diesen Gegenstand zu Rathe gezogen, gab eine sehr einleuchtende Antwort, von der sich selbst die Bedenklichsten zufriedengestellt zeigten.

Eines Abends, es war am 12. December, und sechs Tage nach der Abreise von der Insel Amsterdam, saßen Lord und Lady Glenarvan, Robert und Mary Grant, der Kapitän John, Mac Nabbs und Paganel auf dem Hinter verdeck und plauderten. Wie gewöhnlich sprach man über die Britannia, denn sie war der einzige Gedanke an Bord. Genauer gesagt hatte freilich das obgedachte, so beiläufig entstandene Bedenken zunächst den Erfolg, die auf den jetzt eingeschlagenen Weg gesetzte Hoffnung etwas herabzustimmen.

Paganel hatte bei jener von Glenarvan gemachten unerwarteten Bemerkung [277] lebhaft den Kopf gehoben und war dann, ohne ein Wort zu antworten, fortgegangen, um das Document zu holen. Als er wieder kam, zuckte er nur die Achseln, wie ein Mensch, der sich schämt, nur einen Augenblick an einer »Kleinigkeit der Art« Anstand genommen zu haben.

»Nun, mein lieber Freund, sagte Glenarvan, geben Sie uns wenigstens eine Antwort.

– Nein, antwortete Paganel, ich werde nur eine Frage erheben und sie an den Kapitän John richten.

– Reden Sie, Herr Paganel, sagte darauf John Mangles.

– Nun denn, kann ein gutsegelndes Schiff in einem Monat den ganzen Theil des Stillen Oceans zwischen Amerika und Australien durchschneiden?

– Ja, wenn es zweihundert Meilen in vierundzwanzig Stunden macht.

– Ist das etwas Außergewöhnliches?

– Durchaus nicht. Die englischen Segelschiffe bringen es oft zu einer noch größeren Schnelligkeit.

– Nun wohl, entgegnete Paganel, statt im Document 7. Juni zu lesen, nehmen Sie an, das Meer habe eine Ziffer dieses Datums getilgt, und wenn Sie dann lesen 17. Juni oder 27. Juni, so erklärt sich Alles.

– In der That, meinte Lady Helena, vom 31. Mai bis zum 27. Juni ...

– Konnte der Kapitän Grant den Stillen Ocean durchschneiden und sich im Indischen Meere befinden«, ergänzte Paganel.

Diese Folgerung Paganel's befriedigte lebhaft.

»Wieder ein Punkt aufgeklärt! sagte Lord Glenarvan.

– Dank unserm Freunde. Es bleibt uns also Nichts übrig, als nach Australien zu kommen, um an seiner Westküste nach den Spuren der Britannia zu suchen.

– Oder an seiner Ostküste, entgegnete John Mangles.

– In der That, Sie haben Recht, John. Nichts in dem Documente weist darauf hin, daß das Unglück vielmehr an der West als an der Ostküste stattgefunden haben könne. Unsere Nachforschungen müssen sich deshalb auf die zwei Punkte richten, wo Australien vom siebenunddreißigsten Parallelkreis durchschnitten wird.

– Also, Mylord, sagte das junge Mädchen, herrschen doch hier Zweifel.

– O nein, Miß, erwiderte John Mangles hastig, um diese Befürchtung des Mädchens zu zerstreuen. Seine Herrlichkeit wolle in Betracht nehmen, [278] daß, wenn Kapitän Grant an die Küste von Australien verschlagen worden wäre, er fast überall alsbald Hilfe und Beistand gefunden haben würde. Diese ganze Küste ist sozusagen englisch und von Colonisten bewohnt. Die Bemannung der Britannia hätte nicht zehn Meilen zu machen brauchen, um Landsleute zu treffen.

– Gewiß, Kapitän John, entgegnete Paganel. Ich ordne mich Ihrer Ansicht vollständig unter. An der Ostküste würde Grant in der Bai Twofold, oder in der Stadt Eden nicht nur ein Asyl in einer englischen Colonie gefunden, es würden ihm sogar die Transportmittel nicht gefehlt haben, um nach Europa zurückzukehren.

– Also, fragte Lady Helena, haben diese Hilfsmittel die Schiffbrüchigen in dem Theile von Australien, nach dem uns jetzt der Duncan bringt, nicht finden können?

– Nein, meine Dame, antwortete Paganel, die Küste ist da öde. Kein Verkehrsweg verbindet sie mit Melbourne oder Adelaide. Und wenn die Britannia an den Klippen, die sie umgeben, scheiterte, so hat derselben ebenso jede Hilfe gefehlt, als wenn sie an die unwirthlichen Gestade von Afrika verschlagen worden wäre.

– Aber was ist dann, fragte Mary Grant, seit den zwei Jahren aus meinem Vater geworden?

– Meine liebe Mary, antwortete ihr Paganel, nicht wahr, Sie halten daran fest, daß der Kapitän Grant nach seinem Schiffbruche in Australien gelandet ist?

– Ja, Herr Paganel, erwiderte das junge Mädchen.


»Major, wetten Sie mit mir?« (S. 283.)

– Also, meinte Paganel, wenn er einmal auf diesem Continente war, was ist dann aus Kapitän Grant geworden? Da sind der Möglichkeiten nicht viele. Eigentlich beschränken sie sich auf drei. Entweder hat Harry Grant mit seinen Genossen die englischen Colonien erreicht, oder sie sind den Eingeborenen in die Hände gefallen, oder sie haben sich in den unermeßlichen Einöden Australiens verloren.«

Paganel schwieg jetzt, und suchte in den Augen seiner Zuhörer nach einer Billigung seiner Annahmen.


Paganel's historische Vorträge. (S. 284.)

»Fahren Sie fort, Paganel, sagte Lord Glenarvan.

– Gut, ich fahre fort, erwiderte Paganel, und zunächst verwerfe ich die erste Hypothese. Harry Grant hat zu den englischen Colonien nicht kommen [279] können, denn alsdann wären wir über seine Rettung nicht im Zweifel; er würde in diesem Falle bereits lange bei seinen Kindern sein in der guten Stadt Dundee.

– Aermster Vater! murmelte Mary Grant, seit zwei Jahren von uns fort!

– Laß Herrn Paganel weiter reden, liebe Schwester, sagte Robert, er wird uns doch noch Aufschluß geben.

[280] – Ach nein, mein Junge! Alles, was ich versichern kann, ist das, daß der Kapitän Grant entweder Gefangener der Australier ist, oder ...

– Aber diese Eingeborenen, fragte Lady Glenarvan lebhaft, sind wohl ...?

– Nein, beruhigen Sie sich, meine Dame, fuhr der Gelehrte, der die Gedanken von Lady Helena zu verstehen glaubte, fort, diese Eingeborenen sind zwar Wilde und sind dumm und ohne höhere Bildung, aber sie haben [281] doch keine so rohen Sitten und sind nicht so blutgierig, wie die Bewohner von Neu-Seeland. Gesetzt, sie hätten die Schiffbrüchigen der Britannia gefangen genommen, so ist, seien Sie dessen versichert, deren Existenz keinen Augenblick bedroht gewesen. Denn alle Reisenden stimmen in dem Punkte miteinander überein, daß die Australier sich geradezu scheuen, Blut zu vergießen, und oftmals schon haben jene in ihnen treue Verbündete gefunden, um den Angriff von ganz anders grausamen Räuberbanden zurückzuweisen.

– So hören Sie jetzt, was Herr Paganel sagt, bemerkte Lady Helena, indem sie sich zu Mary Grant hinwandte. Ist Ihr Vater, worauf übrigens das Document fast schließen läßt, den Eingeborenen in die Hände gefallen, so werden wir ihn wiederfinden.

– Und wenn er sich in diesem unermeßlichen Lande verloren hat? erwiderte das junge Mädchen, und ihre Blicke richteten sich fragend auf Paganel.

– Ei nun, rief der Geograph in vertrauensvollem Tone, so werden wir ihn auch noch zu finden wissen. Habe ich nicht Recht, meine Herren.

– Gewiß, meinte Glenarvan, welcher der Unterhaltung gern eine etwas weniger traurige Wendung geben wollte. Ich kann es mir nicht denken, daß man sich so leicht verlieren soll.

– Ich kann es noch weniger, entgegnete Paganel.

– Ist denn Australien groß? fragte Robert.

– Ja, mein Junge, Australien zählt so seine siebenhundertfünfundsiebenzig Millionen Hektaren und ist ungefähr vier Fünftel so groß wie Europa.

– So groß doch! sagte der Major.

– Ja, Mac Nabbs, und zwar fast bis auf ein Yard genau. Glauben Sie übrigens, daß ein anderes, gleich großes Land sich die Bezeichnung eines Continents beilegen dürfte, die sich im Documente findet?

– O gewiß, Paganel.

– Ich möchte hinzufügen, bemerkte der Gelehrte, daß man überhaupt nur wenig Reisende aufführt, die sich in dem großen weiten Lande verloren haben sollen. Ja ich glaube selbst, daß ich über Leichardt, den Einzigen, über dessen Verbleib man im Unklaren gewesen, in der Geographischen Gesellschaft einige Zeit vor meiner Abreise erfahren habe, daß Mac Intyre glauben dürfe, seine Spuren wiedergefunden zu haben.

[282] – Ist denn Australien noch nicht in allen seinen Theilen bereist worden? fragte Lady Glenarvan.

– Leider nicht, meine verehrte Dame, antwortete ihr Paganel. In Wirklichkeit ist dieser Continent nicht viel bekannter, als das Innere von Afrika, doch liegt die Schuld keineswegs daran, daß es an Männern gefehlt hätte, die Reisen dahin zu unternehmen. Von 1606 bis 1862 haben mehr als fünfzig Männer sich sowohl um die Erforschung des Innern wie der Küsten von Australien verdient gemacht.

– Oho, fünfzig! äußerte der Major in zweifelndem Tone.

– Jawohl, Mac Nabbs, sicher so viele. Ich verstehe darunter sowohl Seefahrer, welche die Gefahren einer Schifffahrt in unbekannte Gewässer nicht gescheut haben, um die australischen Küsten zu befahren, als auch Reisende, welche sich mitten in den großen weiten Continent begeben haben.

– Dessenungeachtet fünfzig, entgegnete der Major, das will viel heißen.

– Ja, ich möchte noch weiter gehen, Mac Nabbs, erwiderte der Geograph, der stets durch Widerspruch etwas gereizt wurde.

– Gehen Sie nur noch weiter, Paganel.

– Nun, wenn Sie mir nicht glauben wollen, werde ich Ihnen diese fünfzig Namen ohne Zaudern herzählen.

– Oho! beschwichtigte der Major, da sieht man einmal wieder die Gelehrten, sie schrecken vor Nichts zurück.

– Herr Major, sagte Paganel, wollen Sie Ihren Carabiner von Purdey Moore und Dickson gegen mein Fernglas von Secretan wetten?

– Warum nicht, Paganel, wenn es Ihnen Vergnügen macht? erwiderte Mac Nabbs.

– Schön, Herr Major, sagte der Gelehrte, hier also Ihren Carabiner, mit dem Sie nun keine Gemsen und Füchse mehr schießen werden, außer wenn ich Ihnen denselben leihe, was ich allezeit mit dem größten Vergnügen thun werde.«

Hierauf erwiderte der Major in ernstem Tone:

»Paganel, wenn Sie meines Fernglases benöthigen sollten, so wird es Ihnen jederzeit zur Verfügung stehen.

– So kann man also anfangen, bemerkte Paganel. Sie, meine Damen und Herren, bilden unsern Gerichtshof, und Du Robert, Du merkst Dir jedesmal die Zahl.«

[283] Lord und Lady Glenarvan, Mary und Robert, der Major und John Mangles, die sämmtlich an der Unterhaltung Vergnügen fanden, schickten sich an, dem Geographen zuzuhören. Es handelte sich zudem um Australien, also das Land, zu dem sie der Duncan jetzt hintrug; etwas von seiner Geschichte zu hören, konnte also nur willkommen erscheinen.

Und deshalb wurde Paganel aufgefordert, unverzüglich an sein Gedächtnißkunststück zu gehen.

»Mnemosyne, begann derselbe dann, Göttin der Gedächtnißkunst, Mutter der keuschen Musen, begeistere Deinen treuen Anbeter. Nun denn, meine lieben Freunde, vor zweihundertachtundfünfzig Jahren kannte man Australien noch gar nicht. Man hatte höchstens eine Vermuthung von einem großen Continente im Süden. Denn zwei auf der Bibliothek Ihres Britischen Museums, mein lieber Glenarvan, aufbewahrte Karten aus dem Jahre 1550 führten ein Land im Süden von Asien auf, das sie portugiesisch Groß-Java nannten. Indessen diese Karten waren nicht authentisch genug. Wir kommen also dann zum siebenzehnten Jahrhundert und zwar war es das Jahr 1606, in welchem ein spanischer Schifffahrer, Namens Quiros, ein Land entdeckte, welches er Australia de Espiritu Santo nannte. Manche Schriftsteller behaupten, es handle sich dabei um die Gruppe der Neu-Hebriden, und nicht um Australien. Ich will diese Frage hier nicht erörtern. Merke diesen Quiros, Robert, und gehen wir dann zu einem anderen über.

– Also einen, sagte Robert.

– In demselben Jahre, fuhr der Gelehrte fort, unternahm Luiz Vaz de Torres, der Unterbefehlshaber der Flotte Quiros', mehr nach dem Süden hin, die Erforschung neuen Landes. Aber erst dem Holländer Theodorich Hertoge kommt die Ehre der großen Entdeckung zu. Dieser landete unter dem fünfundzwanzigsten Breitengrade an der Westküste von Australien und gab ihr den Namen, den sein Schiff trug, nämlich ›Eendracht‹. Von jetzt an kamen die Seefahrten mehr in Aufnahme. Im Jahre 1618 entdeckte Zeachen an der Nordküste Arnheim- und Vandiemens-Land. Im Jahre 1619 fuhr Jan Edels an einem Theile der Westküste hin und gab ihr seinen eigenen Namen. Drei Jahre später kam Leuwin bis zu dem ebenfalls nach ihm benannten Cap herunter, und 1627 vervollständigten de Nuitz und de Witt, der eine im Westen, der andere im Süden, die Entdeckungen ihrer Vorgänger, und ihnen folgte dann der Commandant Carpenter, der mit seinen Schiffen in den [284] großen Landeseinschnitt einfuhr, der noch heute nach ihm der Golf von Carpentaria heißt. Endlich – es war im Jahre 1642, fuhr der berühmte Seefahrer Tasman um die Vandiemens-Insel herum, von der er geglaubt hatte, sie hänge mit dem Festlande zusammen, und gab ihr den Namen des General-Gouverneurs von Batavia – einen Namen, den die gerechtere Nachwelt mit dem Tasmaniens vertauscht hat. Nunmehr war man einmal um den australischen Continent herum, man wußte es, daß der Indische und der Stille Ocean ihn rings umgaben, und im Jahre 1665 legte man dieser großen Insel im Süden den Namen Neu-Holland bei, einen Namen, der nicht lange daran haften sollte, denn gerade zu dieser Zeit hörten die holländischen Seefahrer auf, eine Rolle zu spielen. Bis zu welcher Zahl sind wir jetzt?

– Bis zu zehn, antwortete Robert.

– Gut, fuhr Paganel fort, so mache ich jetzt ein Kreuz und gehe zu den Engländern über. Im Jahre 1686 kam ein Seeräuberhauptmann, ein richtiger Küstenbruder, einer der berühmten Flibustier der Südsee, mit Namen William Dampier nach vielen Abenteuern an die Nordwestküste von Neu-Holland bei 16°50' südlicher Breite. Er verkehrte mit den Eingeborenen und gab dann von ihren Sitten, ihrer Armuth und ihrer Bildungsfähigkeit eine ziemlich vollständige Beschreibung. Im Jahre 1669 erschien er wieder, und zwar in derselben Bai, in welche Hertoge bereits eingefahren war, aber nicht mehr als Flibustier, sondern als Commandant des Roebuck, eines Schiffes der königlichen Marine. Bis jetzt bot jedoch die Entdeckung Neu-Hollands nur ein rein geographisches Interesse. Man dachte nicht, das Land zu colonisiren, und während dreiviertel Jahrhundert, von 1699 bis 1770, fiel es keinem Schifffahrer ein, dort anzulegen. Dann aber erschien der berühmteste Seefahrer der ganzen Welt, der Kapitän Cook, und der neue Continent ward bald das Ziel europäischer Auswanderer. James Cook kam auf seinen drei berühmten Reisen nach Neu-Holland, und zwar am 31. März 1770 zum ersten Male. Damals, als er auf Otahiti glücklich den ›Durchgang der Venus‹ 1 beobachtet hatte, fuhr er mit seinem kleinen Schiff Endeavour in den westlichen Theil des Stillen Oceans. Nachdem er Neu-Seeland entdeckt, [285] gelangte er in eine Bai der Westküste von Australien und fand in derselben einen solchen Reichthum von neuen Pflanzen vor, daß er ihr den Namen Botany-Bai gab, welchen dieselbe noch heute führt. Seine halbwilden Eingeborenen boten wenig Interesse. Als er nach Norden weiter gefahren war, lief der Endeavour unter'm sechzehnten Breitengrad, in der Nähe des Caps Tribulation, acht Meilen von der Küste auf eine Korallenbank und gerieth in große Gefahr unterzusinken.

Deshalb wurden die Lebensmittel und Geschütze über Bord geworfen, doch in der nächsten Nacht machte die Fluth das erleichterte Fahrzeug wieder flott; daß es nicht untersank, kam daher, weil ein Korallenstück in die Oeffnung eingedrungen war und das Einströmen des Wassers genügend hemmte. Cook konnte also sein Schiff in eine kleine Bucht bringen, in die sich ein Fluß ergoß, den man sofort Endeavour nannte. Hier versuchten es die Engländer während der Reparatur, die drei Monate in Anspruch nahm, in einen nützlichen Verkehr mit den Eingeborenen zu treten; doch hatten sie wenig Glück darin und gingen dann wieder unter Segel. Der Endeavour setzte seine Reise nach dem Norden fort. Es kam Cook darauf an zu erfahren, ob zwischen Neu-Guinea und Neu-Holland eine Meerenge existire. Nach neuen Gefahren, nachdem er zum zwanzigsten Male sein Schiff auf's Spiel gesetzt hatte, bemerkte er, daß das Meer sich ganz weit im Südwesten öffnete. Man konnte also durchfahren; das war günstig! Cook landete auf einer kleinen Insel und nahm dann im Namen Englands Besitz von der lang ausgestreckten Küste, die er entdeckt hatte und der er den echt englischen Namen Neu-Süd-Wales gab. Drei Jahre später, als der kühne Seefahrer die Aventure und Resolution befehligte, untersuchte der Kapitän Fourneaux auf der Aventure die Küste von Vandiemens-Land und sprach die Vermuthung aus, daß dasselbe ein Theil von Neu-Holland sei. – Das bestätigte sich indessen nicht, als Cook im Jahre 1777 zur Zeit seiner dritten Reise in der Bai von Vandiemens-Land anlegte. Von da segelte er weiter und starb einige Monate später auf den Sandwichs-Inseln.

– Es war ein großer Mann, sagte Glenarvan.

– Jedenfalls der berühmteste Seefahrer, der jemals gelebt. Sein Genosse Banks brachte dann die englische Regierung auf den Gedanken, in der Botany-Bai eine Straf- und Besserungs-Colonie zu gründen. In seinem letzten der in Botany-Bai unter'm Datum des 7. Februar 1787 geschriebenen [286] Briefe spricht der unglückliche Seemann seine Absicht aus, den Busen von Carpentaria und die ganze Küste von Neu-Holland bis zu Vandiemens-Land zu besuchen. Er reiste ab, um nicht wieder zu kommen. Im Jahre darauf gründete der Kapitän Philipp zu Port-Jackson die erste englische Colonie. Im Jahre 1791 nahm Vancouver in bedeutendem Umfang die Südküsten des neuen Continentes auf. 1792 schiffte d'Entrecasteaux auf seiner Expedition, die zum Zweck der Auffindung des La Pérouse unternommen wurde, in der Richtung nach Westen und Süden um Neu-Holland herum und entdeckte auf seiner Fahrt bis dahin noch nicht bekannte Inseln. Im Jahre 1795 und 1796 setzten zwei junge muthige Leute, Flinders und Baß, in einer acht Fuß langen Barke die Erforschung der Südküsten fort, und ebenfalls im Jahre 1797 fuhr Baß zwischen Vandie mens-Land und Neu-Holland durch die Meerenge, die seinen Namen trägt. In demselben Jahre kam Vlaming, der Entdecker der Insel Amsterdam, an der Ostküste zu dem Schwanenfluß, in dem sich die wunderschönsten schwarzen Schwäne ergötzten. Flinders nahm im Jahre 1801 seine interessante Entdeckungsreise wieder auf, und begegnete unter 138°58' östlicher Länge und 35°40' südlicher Breite in der Encounter-Bai dem ›Geographen‹ und dem ›Naturforscher‹, zwei französischen Schiffen, welche unter dem Commando der Kapitäne Baudin und Hamelin standen.

– Aha, der Kapitän Baudin? rief der Major aus.

– Ja, weshalb sind Sie so verwundert? fragte darauf Paganel.

– O, es ist Nichts, fahren Sie nur fort, mein lieber Paganel, sagte der Major.

– So fahre ich denn fort, und füge den genannten Schifffahrern noch den Namen des Kapitän King zu, der in den Jahren 1817 bis 1822 die Erforschung der zwischen den Wendekreisen gelegenen Küsten von Neu-Holland vollendete.

– Das wären bis jetzt also vierundzwanzig Namen, sagte Robert.

– Gut, meinte Paganel, so habe ich Ihr Gewehr schon halb, Herr Major. Und jetzt, da wir mit den Schifffahrern fertig sind, kommen wir zu den Reisen den.

– Vortrefflich, Herr Paganel, sagte Lady Helena, das muß man Ihnen lassen, daß Sie ein erstaunliches Gedächtniß haben.

– Das allerdings eine Seltenheit ist, zumal bei einem Menschen, meinte Glenarvan, der so ...

[287] – So zerstreut ist, sagte Paganel schnell. Ich habe übrigens nur ein Gedächtniß für Zahlen und Thatsachen, nachher hört es aber auf.

– Vierundzwanzig, sagte Robert noch einmal.

– Nun ja, Nummer fünfundzwanzig war der Lieutenant Daws im Jahre 1789, ein Jahr also nach der Gründung der Colonie zu Port-Jackson. Man hatte bis dahin bereits den neuen Continent umschifft, aber was er einschloß, vermochte Niemand zu sagen. Eine lange Reihe von Parallelgebirgen an der Ostküste schien jedes Vordringen in das Innere von vornherein zu verbieten. Nach einem Marsch von neun Tagen mußte Lieutenant Daws auf demselben Wege zurückkehren und kam wieder nach Port-Jackson. Noch im Laufe desselben Jahres versuchte es auch der Kapitän Tench, diese hohe Kette zu durchbrechen; aber auch ihm wollte es nicht gelingen. Diese beiden Mißerfolge hielten drei Jahre hindurch die Reisenden ab, die schwierige Aufgabe wieder aufzunehmen. Im Jahre 1792 indessen versuchte es der Oberst Paterson, ein kühner Afrika-Reisender, wieder, doch scheiterte auch er. Erst im folgenden Jahre kam ein kühner Mann, der nur Quartiermeister bei der englischen Marine war, Hawkins, um zwanzig Meilen über die Linie hinaus, über welche seine Vorgänger nicht hatten dringen können. Aus den nächsten achtzehn Jahren kann ich nur zwei Namen anführen, und zwar die berühmten Seefahrer Baß und Bareiller, einen Ingenieur aus der Colonie. Aber beide waren nicht viel glücklicher, als ihre Vorgänger. Ich komme jetzt zu dem Jahre 1813, wo denn endlich ein Engpaß im Westen von Sydney entdeckt wurde. Im Jahre 1815 wagte sich der Gouverneur Macquarie durch denselben, und jenseits der Blauen Berge entstand die Stadt Bathurst. Hiernach kommen dann im Jahre 1819 Throsby, dann Oxley, welcher dreihundert Meilen in's Land hineinging, Howel und Hume, die gerade von der Twofold-Bai ausgingen, wo der siebenunddreißigste Parallelkreis die Küste schneidet, und der Kapitän Sturt, der in den Jahren 1829 und 1830 den Lauf des Darling und Murray entdeckte. Alle die Genannten bereicherten die Wissenschaft mit neuen Thatsachen und trugen zur Entwicklung der Colonien bei.

– Bis jetzt haben wir sechsunddreißig, sagte Robert.

– Richtig! Ich habe schon einen Vorsprung, sagte Paganel. Weiterhin führe ich dann die Reisenden Eyre und Leichardt auf, die in den Jahren 1840 und 1841 einen Theil des Landes besuchten; ferner aus dem Jahre 1845 Sturt; im westlichen Australien reisten im Jahre 1846 die Gebrüder [288] Grégory und Helpmann; Kennedy nur ein Jahr später am Flusse Victoria, und im Jahre 1848 in Nordaustralien.


Der Duncan fährt mit Sturmsegel. (S. 294.)

Im Nordwesten des Continents waren im Jahre 1852 Grégory, 1854 Austin, von 1855 bis 1858 die Gebrüder Grégory; Babbage reiste vom Torrent- bis zum Eyre-See. Jetzt aber kommt der kühne Stuart, welcher im Buch der Geschichte Australiens als einer der berühmtesten Namen seine Reisen durch den Continent dreimal wiederholte. Seine erste Expedition in das Innere fand im Jahre 1860 statt. Vielleicht einmal später, wenn es Ihnen recht ist, will ich Ihnen [289] erzählen, wie Australien vier Mal von Süd nach Nord durchforscht wurde. Heute beschränke ich mich darauf, diese lange Aufzählung von Namen zu beschließen, und so reihe ich denn an die Namen der bereits aufgeführten zahlreichen Pionniere der Wissenschaft noch die der Brüder Dempster, außerdem Clarckson und Harper, ferner Burke und Wills, Neilson, Walker, Landsborough, Mackinlay, Howit.

– Schon sechsundfünfzig, rief Robert.

– Also Sie sehen, Herr Major, sagte Paganel, ich gebe Ihnen volles Maß und habe gleichwohl weder Duperry, noch Bougainville genannt, auch Fitz-Roy, Wickam, Stokes ...

– Lassen Sie es genug sein, sagte der Major, dem die Zahl schon allzugroß war.

– Auch habe ich noch Péron, Quoy, fuhr Paganel fort, der durch das Wehren des Majors nur in neuen Eifer gerieth, dann Bennet, Cuningham, Nutchelt, Tiers ...

– Um Gotteswillen! unterbrach ihn der Major.

– Ferner Dixon, Strelesky, Reid, Wilkes, Mitchell ...

– Halten Sie jetzt ein, sagte Glenarvan mit herzlichem Lachen, beugen Sie den armen Mac Nabbs nicht zu sehr. Seien Sie edelmüthig, denn er erklärt sich ja besiegt.

– Und wie steht es mit seinem Carabiner? fragte der Geograph mit triumphirender Miene.

– Er gehört leider Ihnen, Paganel, antwortete der Major, Sie haben allerdings ein Gedächtniß, um sich ein ganzes Zeughaus damit gewinnen zu können.

– Es ist allerdings nicht denkbar, daß Jemand Australien besser kennen kann, sagte Lady Helena; denn auch nicht der unbedeutendste Name, nicht die geringfügigste Thatsache, fuhr sie fort ... aber der Major unterbrach sie.

– Oho, auch nicht die geringfügigste Thatsache! rief er kopfschüttelnd.

– Nun, was meinen Sie denn, Mac Nabbs? fragte Paganel.

– O, ich meine nur, daß Ihnen vielleicht nicht Alles, was auf die Erforschung Australiens Bezug hat, bekannt ist.

– Zum Beispiel also? fragte Paganel mit überlegener, stolzer Miene.

– Ja, wenn ich Ihnen nun etwas angebe, was Sie nicht wissen, wollen Sie mir dann meinen Carabiner zurückgeben? fragte Mac Nabbs.

[290] – Den Augenblick, Herr Major.

– Soll das ein Wort sein?

– Jawohl!

– Nun wohl, wissen Sie, Paganel, warum Australien nicht zu Frankreich gehört?

– Ja, ich glaube wohl.

– Oder doch wenigstens, wie es die Engländer begründen?

– Nein, Herr Major, sagte Paganel jetzt mit der Miene eines Geprellten.

– Nun ganz einfach, weil der Kapitän Baudin, der sonst durchaus nicht furchtsam war, sich so sehr vor dem Quaken australischer Frösche fürchtete, daß er die Anker schleunigst lichtete und auf Nimmerwiedersehen abzog.

– Wie, rief der Gelehrte aus, sagt man wirklich so etwas in England? Es ist ja nur ein schlechter Spaß!

– Es ist allerdings ein sehr schlechter Witz, gestehe ich ein, antwortete der Major, aber im Vereinigten Königreiche gilt es als eine historische Thatsache.

– Das ist eine Beleidigung! rief der in seinem Patriotismus gekränkte Geograph. Wie kann man so etwas im Ernst wiedererzählen?

– Ich bin allerdings mit Ihnen darin einverstanden, lieber Paganel, sagte Glenarvan, während die ganze Gesellschaft in ein helles Lachen ausbrach. Aber wußten Sie die Geschichte wirklich nicht?

– Nein. Und ich erhebe dagegen Protest! Im Uebrigen nennen uns die Engländer ›Froschesser‹. Im Allgemeinen nun hat man keine Furcht vor dem, was man ißt.

– Das sagt auch Niemand, Paganel«, erwiderte der Major mit lächelnder Miene.

Der berühmte Carabiner von Purdey Moore und Dickson verblieb unter diesen Umständen im Besitze des Major Mac Nabbs.

[291]
Fußnoten

1 Dieser Vorübergang des Planeten Venus an der Sonnenscheibe muß im Jahre 1769 stattgefunden haben. Das Phänomen trifft sehr selten ein und bietet ein großes astronomisches Interesse dar; denn es gestattet in der That die Entfernung der Erde von der Sonne auf das Genaueste zu berechnen.

5. Capitel
Fünftes Capitel.
Der Indische Ocean in seinem Groll.

Es war zwei Tage nach dieser Unterredung. John Mangles hatte gerade seine Meridianbestimmung beendet und meldete, daß der Duncan sich unter 103°27' östlicher Länge befinde. Die Reisenden zogen die Schiffskarte zu Rathe und nahmen nicht ohne Befriedigung wahr, daß sie kaum noch fünf Grade vom Cap Bernouilli entfernt seien.

Zwischen diesem Cap aber und der Spitze Entrecasteaux beschreibt die Küste von Australien einen Bogen, zu dem der siebenunddreißigste Parallelkreis die Sehne bildet. Wenn jetzt der Duncan nach dem Aequator hingefahren wäre, so hätte er bald das Cap Chatam in Sicht bekommen, welches noch etwa hundertundzwanzig Meilen weit im Norden lag. Man fuhr dann in dem Theile des Indischen Meeres, der durch den Continent von Australien vor Wind und Wetter geschützt ist. In vier Tagen etwa durfte man so hoffen, daß das Cap Bernouilli sich am Horizonte zeigen werde.

Bis jetzt war der Westwind der Fahrt unserer Yacht günstig gewesen; seit einigen Tagen jedoch ward derselbe nach und nach schwächer, um allmälig ganz aufzuhören, am 13. December trat wirklich vollständige Windstille ein, und die Segel hingen schlaff längs den Masten nieder. Ohne seine mächtige Schraube hätte sich jetzt der Duncan hier festhalten lassen müssen.

Dieser Zustand der Atmosphäre konnte lange Zeit dauern. Glenarvan unterhielt sich am Abend über diesen Gegenstand mit John Mangles. Der junge Kapitän, der es vor Augen sah, wie seine Kohlenvorrathsräume sich leerten, schien über diese Windstille sehr ärgerlich. Er hatte bereits auf dem Schiffe alle Segel aufspannen und sämmtliche Bei- und Hilfssegel aufhissen lassen, um auch den geringsten Luftzug aufzufangen; jedoch es war auch nicht soviel Luft da, um, wenn ich mich eines Matrosenausdrucks bedienen darf, einen Hut damit füllen zu können.

»Jedenfalls, sagte Glenarvan, darf man nicht zu schwarz sehen, Windstille ist immer noch besser als widriger Wind.

– Ew. Herrlichkeit haben Recht, antwortete John Mangles; indessen führen in der Regel diese plötzlichen Windstillen Wetterveränderungen herbei.

[292] Und die fürchte ich ebenfalls sehr, wir fahren jetzt auf der Grenze der Jahreszeiten 1, die vom October bis April von Nordosten herkommen, und uns nur eine kurze Zeit direct entgegenzuwehen brauchen, um unsere Reise sehr aufzuhalten.

– Nun, was denken Sie, John? Wenn wir diesen Gegenwind bekommen, so unterwerfen wir uns einfach seiner Macht. Es kann uns doch höchstens etwas aufhalten.

– Ja, wenn wir nicht zugleich Sturm bekommen.

– Besorgen Sie denn etwa dergleichen wirklich, fragte Glenarvan, und besah sich den Himmel, der jedoch vom Horizont bis zum Zenith frei von Wolken erschien.

– In der That, antwortete der Kapitän. Ew. Herrlichkeit kann ich es sagen, aber Lady Glenarvan und Miß Grant möchte ich um keinen Preis einen Schreck einjagen.

– Das ist sehr vernünftig gedacht. Aber erklären Sie sich jetzt genauer.

– Alle Anzeichen lassen stürmisches Wetter befürchten. Sie dürfen sich nicht an das Aussehen des Himmels halten, mein Herr. Nichts täuscht mehr als dieses. Seit zwei Tagen aber fällt das Barometer in wirklich beunruhigender Weise; es ist im Augenblick bereits auf siebenundzwanzig Zoll 2 herab; sehen Sie, dieses Anzeichen darf man nicht unbeachtet lassen. Ich fürchte aber ganz insbesondere den Groll des Australischen Meeres, denn ich habe schon einmal schwer mit ihm ringen müssen. Durch die Verdichtung der Dunstmassen an den bedeutenden Südpolgletschern entsteht ein außerordentlich heftiger Luftzug, und daher in weiterer Folge jener Kampf der polaren und äquatorialen Winde, welcher die Windstöße und Wirbel, und alle die anderen Formen gefährlicher Seestürme erzeugt, mit denen sich ein Schiff nie ohne Nachtheil in einen Kampf einläßt.

– Aber John, antwortete Glenarvan, der Duncan ist ja ein solides Fahrzeug, und sein Kapitän ein geschickter Seemann. Bricht wirklich ein Sturm aus, nun so werden wir uns zu vertheidigen wissen.«

[293] Wenn John Mangles seine Befürchtungen hatte und sie aussprach, folgte er seinem Instinct als Seemann. Ein solcher ist aber eben ein Prophet, der sich auf die Beobachtung des Wetters wirklich versteht. Der tiefe Stand des Barometers ließ ihn alle Maßnahmen, welche ihm die Klugheit an die Hand gab, an Bord ergreifen. Er machte sich auf einen heftigen Sturm gefaßt, den ihm freilich der Zustand des Himmels noch nicht anzuzeigen vermochte, über dessen Nahen ihn aber sein sicheres Instrument nicht in Zweifel ließ. Die atmosphärischen Strömungen kommen aus Gegenden, wo die Quecksilbersäule hoch steht, zu solchen, wo sie sinkt; je mehr sich diese nahe kommen, desto rascher stellt sich das Niveau in den Luftschichten her, und der Windstoß ist um so heftiger.

John blieb während der ganzen Nacht auf dem Verdeck. Gegen ein Uhr verdüsterte sich der Himmel im Süden. Der Kapitän ließ darauf seine ganze Mannschaft aufklettern und die kleineren Segel fortnehmen.

An den übrigen Segeln änderte er Nichts. Gegen Mitternacht erhob sich ein frischer Wind, der bald eine Geschwindigkeit von sechs Toisen in der Secunde erreichte.

Das Krachen der Masten, das Aneinanderschlagen des Takelwerkes, das Pfeifen der auf den Wind gebraßten Segel, das Dröhnen der Verschläge im Innern – dies Alles gab den Passagieren kund, was sie bis jetzt noch nicht wußten.

Paganel, Glenarvan, der Major und Robert erschienen auf dem Verdeck, die einen, um neugierig zu fragen, die anderen sofort bereit, mit Hand an's Werk zu legen. Am Himmel, der, als sie hinabgegangen waren, noch mit Sternen bedeckt, klar und hell ausgesehen, flogen dichte Wolkenmassen dahin, und dazwischen Streifen, die wie Leopardenfelle gefleckt waren.

»Also wirklich Sturm? fragte Glenarvan John Mangles.

Wir haben ihn noch nicht, bekommen ihn aber bald«, antwortete der Kapitän, und zugleich gab er Befehl, die Segel zum Theil zu binden. Alsbald kletterten die Matrosen auf den Strickleitern in die Höhe, und es gelang ihnen mit schwerer Mühe, die Segeloberfläche zu verringern.

Es war John Mangles darum zu thun, den größten Theil des Segelwerkes möglichst so zu belassen, um die Yacht dadurch zu stützen und ihre schwankenden Bewegungen gelinder zu machen.

Nachdem diese Vorsichtsmaßregeln ergriffen waren, gab er Austin und [294] dem Rüstmeister Befehle, dem Anprall des Sturmes, der bald losbrechen mußte, zu begegnen. Alles geschah nach des Kapitäns Anordnung, und dieser stand da wie ein Officier auf der Höhe einer Schanze, wich und wankte nicht, und strebte von seinem Posten aus dem sturmbewegten Himmel seine Geheimnisse zu entreißen.

Das Barometer war jetzt auf sechsundzwanzig Zoll herabgesunken, ein so niedriger Stand der Quecksilbersäule, wie er nur selten vorkommt; das Sturmglas 3 zeigte den Sturm an.

Es war jetzt ein Uhr Mittags. Eben wagten es Lady Helena und Miß Grant, die in ihrer Kajüte zu heftig hin- und hergeschüttelt wurden, auf das Verdeck zu kommen. Der Wind, welcher im Augenblicke eine Schnelligkeit von vierzig Toisen in der Secunde hatte, pfiff durch das Takelwerk mit äußerster Heftigkeit und die Metallsaiten desselben tönten, wie die eines Instrumentes, als ob sie ein riesiger Bogen in heftige Schwingungen versetzt hätte. Die Zugwinden schlugen an einander, das Takelwerk aber pfiff scharf beim Hinausziehen. Die Segel donnerten wie Kanonenschläge, immer mächtiger wälzten sich die Wogen auf die Yacht los, die wie ein Eisvogel sich auf ihren schäumenden Spitzen schaukelte.

Sobald der Kapitän John die Passagiere bemerkt hatte, eilte er auf sie zu und bat sie inständig, in die Kajüte zurückkehren zu wollen. Gerade jetzt wurde das Schiff von einigen großen Wellen überspült.

In jedem nächsten Augenblicke konnte eine Welle hinwegfegen, was sich auf dem Verdeck befand.


»Nun gebt Acht!« rief der junge Kapitän. (S. 303.)

Das Toben der Elemente war damals so stark, daß Lady Helena den jungen Kapitän kaum verstehen konnte. Sobald der Sturm nur eine Minute nachließ, richtete sie die Frage an ihn:

»Es ist doch nicht etwa Gefahr vorhanden?

– O, durchaus nicht, meine Damen, antwortete John Mangles, aber Sie dürfen unter keinen Umständen auf dem Verdeck bleiben, und auch Sie nicht, Miß Mary.«

Lady Glenarvan und Miß Grant folgten der Weisung, die fast wie eine Bitte klang, unverzüglich, und gerade als sie wieder in die Kajüte traten, [295] brandete eine Welle über das Hinterverdeck hinaus und es zitterten die Scheiben des Treppenschutzdachs in ihren Fugen.

Im selben Moment verdoppelte sich die Heftigkeit des Sturmes; die Masten bogen sich unter dem Druck der Segel, und es schien fast, als ob die Yacht sich über die Fluthen erhebe.

»Den Vordermast aufgeien! Das Mars- und die Fockmastsegel einziehen!« commandirte jetzt John Mangles, und die Matrosen stürzten sich auf ihre [296] Posten. Die Hißtaue wurden schießen gelassen, die Geitaue stärker angezogen, die Vorderstagsegel mit lärmendem Getöse beigezogen, und der Duncan, dem schwarze Rauchsäulen entströmten, fuhr mit ungleichen Schlägen der Schraube die mitunter aus den Wogen herausragte.


Die Boote gehen an's Land. (S. 307.)

Mit Bewunderung und Entsetzen zugleich sahen Glenarvan, der Major, Paganel und Robert diesem Kampfe des Duncan mit den Wogen zu. Sie mußten sich aber dabei fest an die Geländer klammern; ein Wort mit einander zu wechseln war ihnen nicht möglich; stumm betrachteten sie die Reihen der [297] geflügelten Satansboten, die unglückseligen Sturmvögel, die in den entfesselten Winden flatterten.

Da vernahmen sie plötzlich neben dem Toben des Sturmes ein furchtbares Pfeifen. Gleichzeitig begann außerordentlich heftig der Dampf auszuströmen und zwar nicht auf dem gewohnten Wege, sondern durch die Ventilklappen; die Alarmpfeife ertönte mit einer ungewöhnlichen Stärke; Wilson aber, der am Rade stand, wurde plötzlich durch einen Schlag mit der Stange niedergeworfen. Der Duncan hatte keine Führung mehr.

»Was ist das? rief John Mangles, und lief auf den Steg.

– Das Schiff legt sich schief! antwortete Tom Austin.

– Um Gottes Willen, ist das Steuerrad entzwei?

– An die Maschine, an die Maschine!« rief jetzt der Ingenieur.

Alsbald stürzte John nach der Maschine hin und eilte die Treppe hinab. Der ganze Raum war eine Dampfwolke; die Stempel bewegten sich nicht in den Cylindern, das Triebwerk stand still.

Der Maschinist, der jetzt die Vergeblichkeit seiner Anstrengungen sah, und da er für seine Kessel fürchtete, schloß den Zulaßhahn und ließ den Dampf durch das Ventil ausströmen.

»Was giebt's denn? fragte der Kapitän.

– Entweder ist die Schraube zerbrochen oder gehemmt, antwortete der Maschinist; jedenfalls arbeitet sie nicht mehr.

– Und es ist schlechterdings nicht möglich, sie frei zu machen?

– Nein.«

Der Augenblick war jetzt nicht dazu geeignet, nach einem Mittel zur Abhilfe zu suchen. Die Thatsache war unbestreitbar, daß die Schraube nicht weiter arbeiten konnte, und der Dampf deswegen durch die Ventile fortgelassen werden mußte. Was blieb John nunmehr übrig, als wieder zu den Segeln zu greifen und mit Hilfe desselben Windes, der jetzt sein gefährlichster Feind war, seine Rettung zu suchen.

Er begab sich wieder auf das Verdeck und erklärte Lord Glenarvan mit zwei Worten die Sachlage, dann drang er in ihn, daß er zugleich mit den anderen Passagieren das Verdeck verlassen möge. Glenarvan aber wollte gern oben bleiben.

»Nein, Ew. Herrlichkeit, antwortete John Mangles mit fester Stimme. Ich muß durchaus mit meiner Mannschaft allein hier sein. Gehen Sie schnell [298] hinunter. Denn das Schiff kann jetzt jeden Augenblick in die bedenklichste Lage kommen, und die Wellen nehmen Sie dann ohne Erbarmen mit fort.

– Aber wir können uns doch unter Umständen hilfreich erweisen.

– Gehen Sie zurück, Mylord, ich wiederhole es. Es muß sein! Es können Fälle eintreten, wo ich unumschränkte Herrschaft an Bord habe! Ziehen Sie sich jetzt zurück, muß ich Sie auffordern.«

Wenn John Mangles seine Autorität in solcher Weise geltend machte, so mußte die Situation wirklich zum Aeußersten gekommen sein.

Glenarvan sah ein, daß er mit dem Beispiel des Gehorsams vorangehen müsse, und verließ mit seinen drei Genossen das Verdeck; sie trafen unten die beiden Damen, die mit Angst der Erlösung aus diesem Kampfe mit den Elementen entgegensahen.

»Es ist doch ein energischer Mensch, der wackere John, sagte Glenarvan, als sie in die Kajüte traten.

– Gewiß, antwortete Paganel, und ich habe eben lebhaft an den Steuermann denken müssen, den Ihr großer Landsmann Shakespeare im ›Sturm‹ auftreten und dem König, als er sich an Bord begeben will, zurufen läßt:


Hinweg, und gar kein Wort! In Eure Koje!

Wenn Ihr nicht Ruh' gebieten könnt den Elementen,

So schmiegt, und gehet selbst mir aus dem Wege.«


Inzwischen ließ John Mangles nicht eine Secunde unbenutzt, um das Schiff aus der gefahrvollen Lage, worin es durch die Unthätigkeit seiner Schraube gekommen, herauszuziehen. Es galt, die Kraft der Segel zu behalten, und diese schief zu richten.

Die Yacht, welche von großer Seetüchtigkeit war, drehte sich rasch wie ein Pferd, welches den Sporn fühlt, und bot den auf sie einstürmenden Wellen die Flanke dar. Aber war auch das Segelwerk im Stande zu halten? Es war zwar aus dem besten Dundeeleinen fabricirt, doch war auch das stärkste Gewebe im Stande, einer solchen Gewalt zu widerstehen?

Es hatte diese Vorkehrung den Vortheil, daß sie dem Anprall der Wogen die festesten Theile der Yacht darbot und dieser gestattete, ihre erste Richtung beizubehalten. Trotzdem war sie nicht gefahrlos, denn das Schiff konnte leicht zwischen den aufgethürmten Wogen in eine Lage gerathen, daß es nicht im Stande war, sich wieder aufzurichten. Indessen John Mangles hatte keine Wahl mehr, und entschloß sich deshalb, dem Schiffe die Haltung zu [299] geben, daß die Masten und Segel nicht abwärts kämen. Seine Mannschaft hielt sich unter seinen Augen, jeder einzelne stets bereit sich dahin zu begeben, wo seine Gegenwart erheischt wurde. Sich an dem Haupttau haltend, überwachte John das aufgeregte Meer.

In dieser Situation durchlebte man auch den Rest der Nacht und trug sich mit der Hoffnung, daß mit Anbruch des Tages der Sturm sich legen würde. Aber man hoffte vergeblich. Gegen acht Uhr Morgens wurde derselbe vielmehr noch stärker – seine Schnelligkeit kam auf achtzehn Toisen in der Secunde – man hatte jetzt Orkan.

John sprach kein Wort, aber er hatte nunmehr wirklich Besorgniß für sein Schiff, die Bemannung und Passagiere. Immer mehr kam der Duncan in eine so arg geneigte Lage, daß das Schlimmste zu befürchten war. Die Deckstützen krachten, und der Schaum der Wogen spritzte schon bis zum äußersten Ende des Vordermastes. Einen Augenblick glaubte man wirklich, die Yacht werde nicht wieder in die Höhe kommen. Schon standen die Matrosen, das Beil in der Hand, bereit, aufzuklettern und die Taue am Hauptmast abzuhauen, als die Segel losrissen und wie riesige Albatrosse davonflogen.

Der Duncan kam wieder in aufrechte Lage, doch jetzt inmitten der Wogen ohne Halt und ohne Richtung, mußte er sich dergestalt hin- und herwerfen lassen, daß die Masten Gefahr liefen, bis zu ihrer Einfügung hinab abzubrechen. Lange konnte ein solches Schwanken nicht dauern; es drohten die Fugen auseinander zu gehen, so daß die Wogen eindrangen.

John Mangles blieb jetzt nur das Eine übrig, einen Sturmfock herzustellen und mittels seiner dem Wetter zu entfliehen. Aber es kostete mehrere Stunden Arbeit, und bis man soweit war, konnte man zwanzigmal verloren sein. Erst um drei Uhr Nachmittags ward man damit fertig.

Der Duncan lief also in der Richtung nach Nordost, wohin ihn der Wind trieb. Die größtmögliche Schnelligkeit mußte er beibehalten, denn davon hing allein sein Heil ab.

Manchmal übertraf er an Schnelligkeit die Wellen, mit denen er dahingerissen wurde; er durchschnitt sie mit seinem Vordertheil, so daß das Verdeck von vorn bis hinten überfluthet wurde. Dann wieder kam seine Schnelligkeit der den Wogen gleich, so daß sein Steuerruder Nichts zu leisten vermochte, und er kam wiederholt in Gefahr umzuwerfen. Schließlich kam es[300] auch vor, daß unter dem Sturmeswehen die Wogen schneller liefen als das Schiff. Sie sprangen dann über Rand, und das Verdeck wurde mit einer Gewalt, der unmöglich Widerstand zu leisten war, vollständig abgespült.

In dieser aufregenden Situation, fortwährend zwischen Furcht und Hoffnung schwebend, blieb man den ganzen 15. December und die auf ihn folgende Nacht. John Mangles wich keinen Augenblick von seinem Posten, nicht einmal um nur Nahrung zu sich zu nehmen. Fortwährend quälte er sich mit den schlimmsten Befürchtungen, welche er nicht in seinen Gesichtszügen verrathen wollte; starr blickten seine Augen, als möchten sie die im Norden sich dicht lagernden Nebelschatten durchdringen können.

Aber er hatte in Wirklichkeit auch Grund das Schlimmste zu befürchten. Der Duncan konnte, ein mal aus seiner Bahn geworfen, wie er war, auf die australische Küste mit einer Schnelligkeit anlaufen, die zu hemmen nicht möglich war.

Jeden Augenblick fürchtete er den Anprall auf eine Klippe, wobei die Yacht in tausend Stücke zerschellen mußte. Er meinte, die Küste könne nur noch zwölf Meilen unter'm Wind entfernt sein.

Aber Land, das war gleichbedeutend mit Schiffbruch, mit dem Verlust des Schiffes. Dagegen war der unbegrenzte Ocean weit besser, denn gegen seine Wuth konnte ein Schiff sich schützen, wenn es auch weichen mußte. Wenn es aber der Sturm an's Land warf, war es unter allen Umständen verloren.

John Mangles suchte jetzt Glenarvan auf, und erstattete ihm ganz speciellen Bericht; er schilderte ihm die Lage, wie sie war, ohne ihr von ihrer Härte etwas zu nehmen; er schaute ihm dabei in's Gesicht mit der Kaltblütigkeit eines Seemannes, der zu Allem bereit sein muß, und sprach sich dann dahin aus, daß er vielleicht gezwungen sein würde, den Duncan an's Land zu werfen. Um, wenn es möglich ist, seine Passagiere zu retten, setzte er hinzu.

»Thun Sie das, John, antwortete Glenarvan.

– Und wie steht es mit Lady Helena und Miß Grant?

– Ich gedenke sie erst im letzten Moment, wenn alle Hoffnung, daß wir uns auf dem Meere halten können, geschwunden ist, davon zu benachrichtigen. Sie werden mir bei Zeiten einen Wink geben.

– Das will ich thun, Mylord.«

Darauf wandte sich Glenarvan zu den Damen, die, wenn sie auch die [301] Gefahr noch nicht in ihrer ganzen Größe erkannten, es sich immerhin bewußt waren, daß sie groß genug sei. Ihr Muth, den sie zeigten, war mindestens dem ihrer männlichen Gefährten gleich. Paganel erging sich nun in den unzeitigen Theorien über die Richtung der atmosphärischen Strömungen, und entwickelte Robert, der ihm zuhörte, interessante Vergleiche über die Wirbelströmungen, die Wasserhosen und die gradlinigen Stürme. Der Major aber erwartete das Ende mit dem Fatalismus eines Muselmannes.

Gegen elf Uhr schien sich der Sturm ein wenig zu legen; die feuchten Nebel zerstreuten sich, und als es mit einem Male klar geworden, erblickte John ein niedriges Land, etwa sechs Meilen unter'm Wind. Er lief jetzt mit vollen Segeln darauf los. Aber die See brandete dort zu außerordentlicher Höhe, wohl bis zu fünfzig Fuß und darüber. John nahm an, daß sich dort ein fester Stützpunkt befinden mußte, der sie bis zu einer solchen Höhe aufspringen ließ.

»Es sind da Sandbänke, sagte er zu Austin.

– Das ist auch meine Ansicht, antwortete der Steuermann.

– Wir sind in Gottes Hand, fuhr John fort. Will Er dem Duncan keinen irgendwie fahrbaren Ausweg weisen, und ihn nicht selbst führen, so sind wir verloren.

– Die Fluth ist in diesem Augenblicke auf der Höhe, Kapitän, vielleicht können wir über diese Sankbänke hinauskommen.

– Aber was meinen Sie, Austin, dieser Aufruhr der Wogen. Wie könnte ein Schiff ihm widerstehen? Flehen wir um Gottes Beistand.«

Inzwischen näherte sich der Duncan mit Hilfe seines Sturmsocks der Küste mit einer erschrecklichen Schnelligkeit. Schon waren es bald nur noch zwei Meilen bis zu den Sandbänken. Jeden Augenblick verdeckten die Nebel das Land auf's Neue. Nichtsdestoweniger glaubte John jenseits des schäumenden Gürtels ein ruhigeres Bassin wahrzunehmen. War man einmal dort, so befand sich der Duncan verhältnißmäßig sicher. Aber wie dahin durchkommen?

John ließ jetzt seine Passagiere auf's Verdeck kommen. Er wollte nicht, daß sie, wenn wirklich die Stunde des Schiffbruches gekommen sei, in der Kajüte eingeschlossen wären. Glenarvan und seine Gefährten betrachteten das fürchterliche Meer. Mary Grant erblaßte.

»John, begann Glenarvan leise zu dem jungen Kapitän, ich meinerseits [302] will versuchen meine Frau zu retten, wenn es nicht möglich, mit ihr untergehen. Nehmen Sie sich der Miß Grant an.

– Ja, Ew. Herrlichkeit«, antwortete John Mangles, und führte die Hand des Lords an seine feuchten Augen.

Der Duncan war jetzt nur noch einige Faden weit vom Fuße der Bänke entfernt.

Das Meer, gerade sehr hoch, hätte zweifellos genug Wasser unter dem Kiel der Yacht gelassen und ihr den Durchbruch der gefährlichen Sandbänke schon gestattet; aber damals mußte die Höhe der Wogen, das abwechselnde Steigen und Fallen, den Kiel unfehlbar auf den Grund stoßen lassen. Gab es nicht ein Mittel, die Bewegungen der Wellen zu besänftigen, das Gleiten ihrer flüssigen Elementartheile zu erleichtern, mit einem Worte, das stürmische Meer zu beruhigen?

Zuletzt kam John Mangles noch auf eine Idee.

»Oel! rief er, Kinder einen Strahl von Oel«, wiederholte er.

Augenblicklich verstand die gesammte Mannschaft diese Worte.

Es handelte sich darum, ein Mittel anzuwenden, das allerdings bisweilen glückte. Man konnte nämlich die aufgeregte Fluth dadurch besänftigen, daß man sie mit einer Oelschicht bedeckte, diese Schicht bleibt dann oben schwimmen, und wirkt dem Stoß der Wogen, die es schlüpfrig macht, entgegen. Die Wirkung folgt unmittelbar, aber sie dauert nicht an. Und sobald ein Schiff über diese Schicht hinaus ist, verdoppelt das Meer seine Wuth, und wehe dann dem, der sich danach noch hineinwagen sollte. 4


Hinauf zur Mühle. (S. 311.)

Die Tönnchen mit dem Vorrath von Seehundsöl wurden jetzt durch die Mannschaft, deren Kräfte inmitten der Gefahr hundertfach gesteigert waren, auf das Vorderdeck gezogen, mit dem Beil aufgeschlagen und an das Geländer des Steuer- und Backbords aufgehängt.

»Nun gebt Achtung!« rief John Mangles, der auf den richtigen Moment lauerte.


Es war ein Mann von fünfundvierzig Jahren. (S. 316.)

In zwanzig Secunden erreichte die Yacht den durch die brausende Springfluth versperrten Durchgang. Jetzt war der Augenblick da.

»Gott sei mit uns!« rief der junge Kapitän.

[303] Die Tonnen wurden umgewendet, und so ergoß sich denn aus ihnen die ölige Fluth. Augenblicklich wurde die schäumende Oberfläche von der Oelschicht überströmt. Der Duncan glitt rasch über die beruhigten Wogen, und befand sich bald in einem ruhigen Becken jenseits der gefährlichen Bänke, während der Ocean hinter ihm mit unbeschreiblicher Wuth tobte.

[304]
Fußnoten

1 Es sind dies die Winde, welche im Indischen Ocean mit einer außerordentlichen Heftigkeit auftreten. Ihre Richtung bleibt sich nicht gleich; sie ändert je nach den Jahreszeiten und die Sommer-Winde sind im Allgemeinen von der entgegengesetzten der des Winters.

2 Das sind 73,09 Centimeter. Die normale Höhe der Barometersäule ist 76,0 Centimeter.

3 Man versteht darunter Gläser, die eine chemische Mischung enthalten, welche je nach der Windrichtung und der elektrischen Spannung der Atmosphäre ihr Aussehen ändert.

4 Die Seegesetze verbieten daher auch dem Kapitän die Anwendung dieses verzweifelten Mittels für den Fall, daß ein zweites Schiff nachfolgt und den Durchgang mit benutzen will.

6. Capitel
Sechstes Capitel.
Cap Bernouilli.

Die erste Sorge John Mangles war, sein Schiff mit zwei Ankern fest zu legen. Er fand bei fünf Ellen Tiefe Grund, und dieser war gut, ein harter Kies, der einen vortrefflichen Halt gewährte. Es war also nicht zu befürchten, daß man bei niedrigem Wasser strandete. Nach so langer Gefahr [305] befand sich der Duncan in einer kleinen Bucht durch eine hohe, kreisrunde Uferwand gegen die Winde der hohen See geschützt.

Lord Glenarvan drückte dem jungen Kapitän die Hand und sprach: »Dank, John.« Diese zwei Worte erfüllten John mit edlem Stolz. Glenarvan vertraute ihm das Geheimniß seiner Besorgnisse, und weder Lady Helena, noch Mary Grant, noch Robert ahnten die Größe der Gefahr, welcher sie eben entronnen waren.

Ein wichtiger Punkt war noch nicht klar gestellt. An welche Stelle der Küste war der Duncan durch den furchtbaren Sturm geschleudert worden? Wo sollte er seinen Breitengrad wieder aufnehmen? Wie weit war Cap Bernouilli südwestlich entfernt? Dies waren die ersten Fragen, welche an John Mangles gerichtet wurden. Derselbe nahm sogleich den Höhestand auf und trug seine Beobachtungen auf der Karte des Schiffes ein.

Im Ganzen war der Duncan nicht allzuweit von seiner vorgezeichneten Richtung abgekommen; es betrug kaum zwei Grad. Er befand sich unter'm 136°12' Länge, und 35°0,7' Breite, beim Cap Katastrophe, an einer der Südspitzen Australiens, dreihundert Meilen vom Cap Bernouilli ab.

Dem Cap Katastrophe, unheimlicher Vorbedeutung, steht als Pendant das Cap Borda zur Seite, welches von einem Vorgebirge der Känguru-Insel gebildet wird. Zwischen diesen zwei Caps öffnet sich die Straße Investigator, welche zu zwei ziemlich tiefen Golfen führt, dem Spencer nördlich, und im Süden dem Golf Saint Vincent. Auf der Ostküste dieses letzteren befindet sich der Hafen Adelaide, Hauptort der Provinz Süd-Australien. Diese im Jahre 1836 gegründete Stadt zählt jetzt 40,000 Bewohner, und bietet ziemlich vollständige Hilfsquellen dar. Aber sie befaßt sich mehr mit dem Anbau eines fruchtbaren Bodens, dem Ausbeuten seiner Trauben und Orangen, sowie aller Reichthümer des Landbaues, als mit der Schöpfung großer industrieller Unternehmungen. Unter ihrer Bevölkerung finden sich weniger maschinenverständige Ingenieure, als Landbauer, und der allgemeine Geist ist Handelsunternehmungen oder mechanischen Künsten wenig geneigt.

Es fragte sich, ob der Duncan sich wieder ausbessern ließ. John Mangles untersuchte durch Taucher, was in der Hinsicht möglich sei. Sie berichteten, eine der Schaufeln der Schraube sei beschädigt, so daß ihre Bewegung stocken mußte. Diese Beschädigung war um so erheblicher, als Werkzeuge und Geräthe zur Ausbesserung nöthig waren, welche sich nicht zu Adelaide fanden.

[306] Glenarvan und der Kapitän faßten nach reiflicher Erwägung folgenden Beschluß: Der Duncan solle mit Hilfe seiner Segel den Küsten entlang nach Victoria zu fahren; er solle am Cap Bernouilli anlegen und weitere Erkundigungen einziehen, um die Fahrt bis nach Melbourne fortzusetzen, wo die Beschädigungen leicht auszubessern waren. Nach Wiederherstellung der Schraube sollte der Duncan an der Ostküste kreuzen, um seine Nachforschungen zum Ziel zu führen.

Dieser Plan fand Beifall, und John Mangles entschloß sich, den ersten günstigen Wind zur Ausführung zu benutzen. Gegen Abend legte sich der Sturm völlig, und es trat ein leidlicher Südwestwind ein. Man traf seine Vorkehrungen durch Aufziehen noch weiterer Segel, und um vier Uhr früh drehten die Matrosen den Spill. Bald stand der Anker senkrecht, lichtete, und der Duncan lief mit vollen Segeln dem Ufer so nahe wie möglich im Wind des Küstenlandes von Australien.

Nach zwei Stunden verlor man das Cap Katastrophe aus den Augen, und befand sich vor der Straße Investigator. Am Abend wurde Cap Borda umfahren, und einige Kabellängen weit längs der Känguru-Insel gesegelt. Dies ist die größere der kleinen australischen Inseln, welche den entronnenen Deportirten als Zufluchtsort dient. Ihr Aussehen war zum Entzücken schön. Weit ausgedehnte grüne Teppiche bekleideten die Felsen am Ufer. Man sah unzählige Trupps Kängurus quer über die Ebene und durch die Gehölze springen. Am folgenden Morgen, während der Duncan der Küste entlang fuhr, wurden seine Boote an's Land geschickt, um die Beschaffenheit des Ufers zu untersuchen. Der Duncan befand sich damals unter'm sechsunddreißigsten Breitengrade, und Glenarvan wollte bis zum achtunddreißigsten keinen Punkt undurchforscht lassen.

Im Laufe des 18. Decembers hielt sich die Yacht, die unter Preßwind wie ein echter Klipper mit vollen Segeln fuhr, nächst dem Gestade der Bai Encounter. Hier langte im Jahre 1828 der Reisende Sturt an, nachdem er den Murray, den größten Fluß des südlichen Australiens, entdeckt hatte. Es waren bereits nicht mehr die grünen Ufer der Känguru-Insel, sondern dürre Hügel, welche mitunter die Einförmigkeit einer niedrigen und ausgezackten Küste unterbrachen, hie und da ein grauer Bergabhang oder sandige Vorgebirge, kurz, die ganze Trockenheit eines polaren Continents.

Während dieser Fahrt hatten die Boote einen sehr angestrengten Dienst, [307] doch klagten die Matrosen nicht. Fast beständig waren sie von Glenarvan, seinem unzertrennlichen Paganel und dem jungen Robert begleitet, die mit eigenen Augen nach jeder Spur der Britannia forschen wollten. Doch gelang es der sorgfältigsten Untersuchung nicht, etwas von einem Schiffbruch zu erfahren. Die Gestade Australiens verhielten sich in der Hinsicht eben so stumm, wie die patagonischen Lande. Doch durfte man so lange, als man nicht den vom Document bezeichneten Punkt erreicht hatte, nicht alle Hoffnung aufgeben. So verfuhr man aus übergroßer Vorsicht, und um nichts dem Zufall anheim zu geben. Während der Nacht lag der Duncan aufgebraßt, um so viel wie möglich an derselben Stelle sich zu halten; bei Tage wurde sodann die Küste sorgfältig untersucht.

So kam man am 20 December dem Cap Bernouilli gegenüber, welches die Bai Lacépède abschließt; fand aber nicht das geringste Strandgut. Aber dieser Mißerfolg bewies nicht das Mindeste gegen den Kapitän der Britannia. In der That, seit zwei Jahren – der Zeit, wo das Unglück vorgefallen war – konnte, ja mußte das Meer die Reste des Dreimasters zerstreuen, von der Klippe wegspülen. Zudem mußten die Eingeborenen, welche Schiffbrüchige wittern, wie ein Geier das Aas, die kleinsten Trümmerreste weggenommen haben. Hernach wären Harry Grant und seine beiden Gefährten im Moment, als die Wellen sie an's Land warfen, zu Gefangenen gemacht und ohne Zweifel in das Innere des Festlandes geschleppt worden.

Damit fiel aber eine der sinnreichen Voraussetzungen Jacques Paganel's zusammen. So lange von argentinischem Gebiet die Rede war, konnte der Geograph mit vollem Recht annehmen, die Ziffern des Documentes bezögen sich nicht auf die Stelle des Schiffbruchs, sondern auf den Ort der Gefangenschaft. Da waren in der That die großen Ströme des Pampa-Landes, ihre zahlreichen Zuflüsse, um das werthvolle Document dem Meere zuzuführen. Hier dagegen, in diesem Theile Australiens, haben die fließenden Gewässer, welche den siebenunddreißigsten Breitengrad durchschneiden, keine überreichliche Strömung; ferner der Rio Colorado, der Rio Negro, fließen durch menschenleere, unbewohnbare und unbewohnte Landstriche dem Meere zu, während die Hauptströme Australiens, der Murray, die Yarra, der Torrens, der Darling, entweder in einander überfließen, oder sich durch Mündungen in's Meer ergießen, welche viel besuchte Rheden geworden sind, Häfen mit lebhafter Schifffahrt. War es nun wahrscheinlich, daß eine zerbrechliche Flasche [308] diese unaufhörlich befahrenen Gewässer hinab ihren Weg in den Indischen Ocean gefunden habe.

Diese Unwahrscheinlichkeit mußte scharfblickenden Geistern in die Augen springen. Paganel's Annahme, die in Patagonien, in den argentinischen Provinzen vieles für sich hatte, mußte in Australien zu einem Fehlschluß führen. Paganel erkannte dies in einer Besprechung an, welche der Major Mac Nabbs über diesen Gegenstand in Anregung gebracht hatte. Es stellte sich klar heraus, daß die im Document erwähnten Grade sich nicht auf den Ort des Schiffbruchs bezogen, daß folglich die Flasche an der Stelle, wo die Britannia scheiterte, an der Westküste Australiens, in's Meer geworfen worden war.

Doch war, wie Glenarvan richtig bemerkte, diese definitive Auslegung nicht im Widerspruch mit der Voraussetzung der Gefangenschaft des Kapitän Grant. Dieser hatte übrigens in seinem Document durch die beachtenswerthen Worte: »wo sie in Gefangenschaft grausamer Eingeborener gerathen werden«, die Vermuthung herbeigeführt. Aber es war kein Grund mehr vorhanden, um die Gefangenen lieber unter dem siebenunddreißigsten Breitengrade zu suchen, als unter einem andern.

Diese lange Zeit besprochene Frage erhielt so ihre definitive Lösung, und veranlaßte die Schlußfolgerung, daß, wenn sich nicht beim Cap Bernouilli Spuren der Britannia fänden, Lord Glenarvan nur nach Europa zurückzukehren hätte. Seine Forschungen waren fruchtlos gewesen, aber er hatte muthig und gewissenhaft seine Pflicht erfüllt.

Dieser Umstand mußte besonders die Passagiere der Yacht bekümmert, und Mary und Robert Grant trostlos machen. Als sich diese in Begleitung von Lord und Lady Glenarvan, John Mangles, Mac Nabbs und Paganel an's Ufer begaben, sagten sie sich, daß die Frage in Betreff der Rettung ihres Vaters sich nun unwiderruflich entscheiden werde. Unwiderruflich, kann man sagen, denn Paganel hatte in einer vorausgehenden Besprechung einsichtsvoll gezeigt, daß die Schiffbrüchigen längst in ihre Heimat zurückgekommen wären, wenn ihr Schiff an den Klippen der Ostküste gescheitert wäre.

»Nur die Hoffnung aufrecht erhalten! sagte Lady Helena wiederholt zu dem Mädchen, das neben ihr in dem Boote saß, welches sie an's Land brachte. Die Hand Gottes waltet über uns!

– Ja, Miß Mary, sagte der Kapitän John, wenn die Menschen ihre [309] letzten Kräfte und Mittel erschöpft haben, erbarmt sich der Himmel, indem er unverhofft neue Bahnen des Heils eröffnet.

– Das wolle Gott, Herr John«, erwiderte Mary Grant.

Das Ufer war nur noch zwei Kabellängen entfernt; das Cap, welches zwei Meilen weit in die See vorsprang, verlief sich in sanftem Abfall. Das Boot legte in einer kleinen natürlichen Hafenbucht an, zwischen den Korallenbänken, welche in Entstehung begriffen mit der Zeit einen Gürtel von Rissen um Süd-Australien herum bilden müssen. Es waren bereits manche solcher Korallenriffe vorhanden, welche den Rumpf eines Schiffes durchbohren konnten, so daß die Britannia mit Mannschaft und Gut konnte zu Grunde gegangen sein.

Die Passagiere des Duncan stiegen ohne Schwierigkeit an einem durchaus menschenleeren Gestade aus. Steile Uferwände bildeten aufgeschichtet eine sechzig bis achtzig Fuß hohe Wand; ohne Leitern, Haken und Klammern wäre es schwierig gewesen hinauf zu klimmen. Zum Glück entdeckte John Mangles eine halbe Meile südlich von da eine Bresche, welche durch theilweisen Einsturz der Felswand entstanden war. Ohne Zweifel hatten die wüthenden Aequinoctialstürme den zerreiblichen Tuff, woraus die Wand bestand, zertrümmert, so daß die oberen Theile des Gesteins vollends zusammenfallen mußten.

Glenarvan und seine Gefährten drangen in die Oeffnung ein, und gelangten über einen ziemlich steilen Abhang zum Gipfel. Robert kletterte wie eine junge Katze eine senkrechte Böschung hinan, und kam so zuerst oben auf den Grat, zu großem Verdruß Paganel's, der sich gedemüthigt fühlte, daß seine langen vierzigjährigen Beine von den kleinen zwölfjährigen übertroffen wurden. Doch blieb er weit hinter ihm zurück, sammt dem friedliebenden Major, dem nichts darauf ankam.

Die kleine Truppe, welche sich bald wieder zusammen fand, untersuchte die vor ihren Blicken ausgebreitete Ebene. Es war ein ungeheurer Landstrich ohne Anbau mit Buschwerk und Gesträuch, eine unfruchtbare Gegend, welche Glenarvan mit den »Glens« der schottischen Niederlande verglich, Paganel mit den dürren Haidesteppen der Bretagne. Schien jedoch diese Gegend längs der Küste unbewohnt, so gab sich doch die Anwesenheit menschlicher, nicht wilder Bewohner kund, da man nicht weit entfernt Werke der Menschenhand als gutes Vorzeichen gewahrte.

[310] »Eine Mühle!« rief Robert.

Drei Meilen weit entfernt sah man wirklich eine Windmühle ihre Flügel drehen.

»Ja wohl, eine Mühle, erwiderte Paganel, der eben sein Fernrohr auf den fraglichen Gegenstand gerichtet hatte.

– Es sieht ja wie ein Kirchthurm aus, sagte Lady Helena.

– Ja, Madame, die beiden Gegenstände gleichen einander; der eine mahlt Nahrung für den Körper, der andere für die Seele.

– So gehen wir hin zur Mühle«, versetzte Glenarvan.

Man schlug den Weg dahin ein. Nach einer halben Stunde gewährte der von Menschenhand bearbeitete Boden einen anderen Anblick. Die unfruchtbare Gegend ward plötzlich zur angebauten Landschaft. Ein kürzlich urbar gemachter Boden war von lebendem Gehäge umgeben; einige Ochsen und ein halbes Dutzend Pferde weideten auf dem Wiesengrunde, der von Akazien aus den Baumschulen der Känguru-Insel umgeben war. Nach und nach zeigten sich Getreidefelder, einige Hufen Landes mit fahlen Aehren bedeckt, Heuschober, die wie große Bienenkörbe emporragten, Baumgärten mit frischer Umzäunung, wo, nach Vorschrift des alten Horaz, das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden war, endlich eine einfache bequeme Wohnung, auf welche die Mühle mit ihrem spitzen Giebel heiter hinabragte und die sie mit dem beweglichen Schatten ihrer großen Flügel umspielte.

In diesem Augenblicke kam, auf das Gebell von vier großen Hunden, aus dem Hauptgebäude ein Mann von etwa fünfzig Jahren mit gewinnenden Gesichtszügen. Fünf hübsche, starke Jungen, seine Söhne, kamen hinter ihm drein, sammt ihrer Mutter, einer großen, kräftigen Frau. Dieser Mann mit seiner rüstigen Familie inmitten dieser noch neuen Anlagen, auf diesem noch jugendlichen Landgut, stellte ein vollendetes Musterbild des irländischen Colonisten dar, welcher, des heimischen Elends überdrüssig, Glück und Vermögen jenseits des Meeres aufsuchte.

Glenarvan hatte sich mit den Seinigen noch nicht vorgestellt, sie hatten noch nicht Zeit, ihre Namen und Eigenschaften kund zu geben, als sie mit der herzlichen Einladung begrüßt wurden:


Bald kenterte das Schiff. (322.)
»Fremde, seid willkommen im Hause des Paddy O'Moore.
– Irländer seid Ihr? sagte Glenarvan, und ergriff die dargereichte Hand.

In den Händen von Eingeborenen. (S. 322.)

– Vormals war ich Irländer, erwiderte Paddy O'Moore. Jetzt bin ich Australier. Treten Sie ein, meine Herren, wer Sie auch sein mögen, und betrach [311] ten Sie das Haus als das Ihrige.«

Eine so herzliche Einladung war ohne Complimente anzunehmen. Lady Helena und Mary Grant traten, geführt von Mrs. O'Moore, in die Wohnung ein, während die Söhne des Colonisten den Gästen ihre Waffen abnahmen.

Das Erdgeschoß des Hauses, welches aus starken, wagerecht gelegten [312] Bohlen errichtet war, bestand aus einem geräumigen, lustigen und hellen Saal. An den mit grellen Farben angestrichenen Wänden waren einige Bänke befestigt; ein Dutzend Schemel, zwei Truhen von Eichenholz, worin weißes Steingut und Kannen von glänzendem Zinn aufgehoben waren, ein langer und breiter Tisch, woran zwanzig Gäste bequem Platz hatten, bildeten eine Ausstattung, wie sie zu dem soliden Hause und seinen kräftigen Bewohnern paßte.

Das Mittagsmahl wurde aufgetragen. Die Suppenschüssel dampfte zwischen dem Roastbeef und der Hammelskeule, und umher standen reich belegte Teller mit Oliven, Trauben und Orangen; neben dem Nothwendigen also fehlte es auch [313] nicht am Ueberflüssigen. Wirth und Wirthin luden so freundlich ein, die lockende Tafel war so groß und reich besetzt, daß es unschicklich gewesen wäre, nicht daran Platz zu nehmen. Die Diener des Gutes, welche der Herr als seines Gleichen behandelte, kamen herbei und theilten die Mahlzeit. Paddy O'Moore wies mit der Hand auf die für die Fremden bestimmten Plätze.

»Ich erwartete Sie, sagte er einfach zu Lord Glenarvan.

– Sie erwarteten mich? versetzte der Lord mit Staunen.

– Ich erwarte stets Leute, die kommen«, erwiderte der Irländer.

Darauf sprach er, während seine Familie und sein Gesinde ehrfurchtsvoll standen, mit würdiger Stimme das Tischgebet. Lady Helena war von der musterhaften Einfachheit der Sitten innig gerührt, und ein Blick ihres Mannes gab ihr zu verstehen, daß er ihre Bewunderung theile.

Das Mahl glich einem Festschmaus. Auf allen Seiten entspann sich die lebhafteste Unterhaltung. Schotten und Irländer reichten sich die Hand. Der einige Klafter breite Tweed bildet eine weitere Kluft der Trennung, als der Irländische Canal zwischen Alt-Caledonien und dem grünen Alt-Irland. Paddy O'Moore erzählte seine Geschichte, welche der allen Heimatmüden glich, die das Elend aus ihrem Lande treibt. Viele suchen ihr Glück in der Fremde, finden aber nur Unglück und bittere Nachwehen. Sie klagen ihr Mißgeschick an, anstatt ihren eigenen Unverstand, ihre Trägheit und Laster. Wer nüchtern und muthig ist, sparsam und sittentüchtig, dem fehlt der Erfolg nicht.

Von solchem Charakter war Paddy O'Moore. Er verließ seine Heimat Dundalk, wo er den nothdürftigen Lebensunterhalt nicht fand, zog mit seiner Familie nach Australien, landete zu Adelaide, verschmähte die Grubenarbeit, zog die Beschwerden des weniger unsicheren Landbaues vor, und begann nach zwei Monaten seine jetzt so gesegnete Pflanzung.

Das ganze Gebiet von Süd-Australien ist in Portionen von achtzig Morgen Flächeninhalt vertheilt. Diese Loose werden von der Regierung den Colonisten zugetheilt, und auf solch einem Loos kann ein fleißiger Landmann nicht nur seinen vollständigen Lebensunterhalt gewinnen, sondern auch ein hübsches Capital von achtzig Pfund Sterling jährlich zurücklegen.

Paddy O'Moore verstand dies. Seine Kenntniß des Landbaues kam ihm dabei wohl zu Statten. Er fand seine Nahrung, sparte und erwarb mit dem [314] Ersparniß des ersten noch andere Loose. Mit dem Glück seiner Familie gedieh auch seine Schöpfung. Der irländische Bauer ward Grundeigenthümer, und schon nach zwei Jahren der Gründung besaß er fünfhundert Morgen von ihm urbar gemachten Landes mit einem Viehstand von fünfhundert Stück. Nun war er sein eigener Herr, vormals dagegen Sklave der Europäer; nun war er so unabhängig, wie man im freiesten Lande der Welt sein kann.

Diese Erzählung des irländischen Auswanderers beantworteten seine Gäste mit aufrichtigen, herzlichen Glückwünschen. Als Paddy O'Moore seine Erzählung beendet hatte, erwartete er wohl ein gleiches Vertrauen, wollte aber nicht dazu auffordern. Er gehörte zu den bescheidenen Leuten, welche sagen: So ein Mann bin ich, aber ich frage Euch nicht, wer Ihr seid. Glenarvan seinerseits hatte wohl ein unmittelbares Interesse, vom Duncan zu reden, dessen Anwesenheit am Cap Bernouilli, und von den Nachforschungen, welche er mit unermüdlicher Ausdauer verfolgte. Aber als ein Mann, der gerade auf sein Ziel zugeht, fragte er zuerst Paddy O'Moore über den Schiffbruch der Britannia.

Die Antwort des Irländers war nicht nach Wunsch. Er hatte nie von diesem Schiff ein Wort reden gehört. Seit zwei Jahren war kein Schiff an der Küste zu Grunde gegangen, weder oberhalb noch unterhalb des Caps. Vor zwei Jahren war der Schiffbruch vorgekommen; er konnte daher mit Zuverlässigkeit versichern, daß die Schiffbrüchigen nicht auf diesen Theil der Westküste geschleudert worden seien.

»Jetzt, Mylord, fuhr er fort, möcht' ich Sie fragen, aus welchem Interesse Sie diese Frage an mich richteten.«

Darauf erzählte Glenarvan dem Pflanzer den Vorfall mit dem Document, die Reise der Yacht, die angestellten Versuche, den Kapitän Grant wieder aufzufinden; er verhehlte nicht, daß so entschieden ausgesprochene Versicherungen seine theuersten Hoffnungen zu Boden schlügen, und daß er die Hoffnung aufgebe, jemals die Schiffbrüchigen wieder zu finden.

Diese Worte verfehlten nicht einen schmerzlichen Eindruck auf alle Zuhörer zu machen. Robert und Mary waren anwesend und hörten sie mit Thränen in den Augen. Paganel wußte kein Wort des Trostes und der Hoffnung zu finden. John Mangles empfand einen Schmerz, dessen er nicht Herr werden konnte. Bereits ergriff Hoffnungslosigkeit die Seele der edlen Menschen, [315] welche der Duncan vergeblich an diese fernen Gestade geführt hatte, – als man die folgenden Worte vernahm:

»Mylord, Gott sei Preis und Dank! Wenn der Kapitän Grant noch bei Leben ist, so befindet er sich lebend auf dem Boden Australiens!«

7. Capitel
Siebentes Capitel.
Ayrton.

Diese Worte machten einen erstaunlichen Eindruck, der sich nicht schildern läßt. Glenarvan stand hastig auf, stieß seinen Stuhl zurück, und rief:

»Wer spricht so?

– Ich, erwiderte einer der Diener des Paddy O'Moore, der am Ende des Tisches saß.

– Du, Ayrton! sagte der Pflanzer, ebenso überrascht, wie Glenarvan.

– Ich, erwiderte Ayrton, in bewegten, doch festem Ton, ich, ein Schotte, wie Sie, Mylord, ich, einer der Schiffbrüchigen der Britannia.«

Diese Erklärung machte einen unbeschreiblichen Eindruck. Mary Grant, halb ohnmächtig durch die Bewegung ihres Gemüths, halb sterbend vor Glück, sank in die Arme der Lady Helena. John Mangles, Robert, Paganel sprangen von ihren Sitzen auf und stürzten auf den zu, welchen Paddy O'Moore mit dem Namen Ayrton angeredet hatte.

Es war ein Mann von fünfundvierzig Jahren und von rauhem Aeußern, dessen leuchtender Blick sich unter tiefdunkeln Augenbrauen verlor. Trotz seiner Magerkeit schien er von außergewöhnlicher Körperstärke zu sein. Er war ganz Nerv und Knochen, und vergeudete, um einen schottischen Ausdruck zu gebrauchen, seine Zeit nicht damit, Fett anzusetzen. Ein mittelgroßer Wuchs, breite Schultern, ein entschiedener Gang, ein Gesicht, das trotz der Härte seiner Züge voller Intelligenz und Entschlossenheit war, nahmen für ihn ein. Die Sympathie, welche er einflößte, wuchs noch durch die Spuren eines noch jungen Leidens, welche auf seinem Gesicht abgeprägt waren. Man [316] sah, daß er gelitten, und zwar viel gelitten hatte, obgleich er der Mann zu sein schien, Leiden zu ertragen, ihnen zu trotzen und sie zu überwinden.

Glenarvan und seine Gefährten hatten diese Empfindungen auf den ersten Blick. Die Persönlichkeit Ayrton's imponirte von Anfang an. Glenarvan, der sich zum Dolmetscher der Anderen machte, bestürmte ihn mit Fragen, welche Ayrton beantwortete. Das Zusammentreffen Glenarvan's und Ayrton's hatte offenbar in Beiden eine gegenseitige Erregung erzeugt.

Die ersten Fragen Glenarvan's jagten sich auch ohne alle Ordnung, wie gegen seinen Willen.

»Sie sind Einer der Schiffbrüchigen von der Britannia? fragte er.

– Ja, Mylord, der Quartiermeister des Kapitän Grant, antwortete Ayrton.

– Und mit ihm nach dem Schiffbruche gerettet?

– Nein, Mylord, nein! In jenem schrecklichen Augenblicke wurde ich getrennt, vom Verdeck weggerissen und an die Küste geschleudert.

– Sie sind also Keiner der zwei Matrosen, deren das Document erwähnt.

– Nein. Das Vorhandensein dieses Documentes ist mir ganz unbekannt. Das hat der Kapitän in's Meer geworfen, als ich nicht mehr an Bord war.

– Aber der Kapitän? Der Kapitän?

– Ich hielt ihn für ertrunken, verschwunden, für untergegangen mit der ganzen Besatzung der Britannia. Ich glaubte der einzige Ueberlebende zu sein.

– Sie sagten aber, daß der Kapitän Grant noch lebe.

– Nein. Ich habe gesagt: Wenn der Kapitän noch lebt ...

– Sie fügten hinzu: – so befindet er sich auf dem australischen Festlande! ...

– Und er kann auch wirklich nur da sein.

– Sie wissen demnach nicht, wo er ist?

– Nein, Mylord. Ich wiederhole Ihnen, daß ich glaubte, er sei von den Fluthen verschlungen oder an den Felsen zerschellt. Erst von Ihnen höre ich, daß er noch leben könnte.

– Nun aber, was wissen Sie überhaupt? fragte Glenarvan.

– Das allein: Wenn Kapitän Grant noch am Leben ist, so ist er in Australien.

[317] – Wo hat denn der Schiffbruch stattgefunden?« sagte da der Major Mac Nabbs.

Offenbar hätte das die erste Frage sein müssen; in der Aufregung aber, die dieses Ereigniß veranlaßte, unterrichtete sich Glenarvan, dem es vor Allem darauf ankam, zu wissen, wo sich der Kapitän Grant befand, gar nicht über den Ort, wo die Britannia verloren gegangen war. Von jetzt an nahm die Unterredung, die bis dahin unbestimmt und unlogisch gewesen war, die sich nur in Sprüngen bewegte, die Gegenstände nur oberflächlich berührte, ohne sie zu erschöpfen, die die Thatsachen vermengte und die Zeitangaben umkehrte, einen geregelten Gang an, und bald standen die Einzelheiten dieser dunkeln Geschichte klar und bestimmt vor dem Geiste der Zuhörer.

Auf Mac Nabbs' Frage antwortete Ayrton folgendermaßen:

»Als ich vom Vordercastell, wo ich den Klüverbaum niederholte, weggerissen wurde, trieb die Britannia auf die Küste Australiens zu. Sie war kaum zwei Kabellängen davon entfernt. An der nämlichen Stelle hat der Schiffbruch stattgefunden.

– Auf dem siebenunddreißigsten Grade südlicher Breite? fragte John Mangles.

– Auf dem siebenunddreißigsten Breitengrade, antwortete Ayrton.

– An der westlichen Küste?

– O, nein, an der östlichen, erwiderte lebhaft der Quartiermeister.

– Und wann?

– In der Nacht des 27. Juni 1862.

– So ist es! So ist es! rief Glenarvan.

– Sie sehen also wohl, Mylord, fügte Ayrton hinzu, daß ich Recht hatte zu sagen: Wenn Kapitän Grant noch lebt, so ist er auf dem Festlande Australiens, und nirgends sonstwo, aufzusuchen.

– Und wir werden ihn suchen, finden und retten, mein Freund! rief Paganel aus. O, Du kostbares Document, setzte er in voller Naivetät hinzu, man muß gestehen, daß Du in die Hände scharfsinniger Leute gefallen bist.«

Ohne Zweifel hörte Niemand Paganel's schmeichelhafte Worte. Glenarvan, Lady Helena, Mary und Robert hatten sich um Ayrton gedrängt. Sie drückten ihm die Hände. Es schien, als ob die Gegenwart dieses Mannes eine Gewähr für die Rettung Harry Grant's darböte. Wenn der Matrose [318] den Gefahren des Schiffbruches entgangen war, warum sollte sich der Kapitän nicht aus dieser Katastrophe gerettet haben? Ayrton wiederholte willig, daß Kapitän Grant so gut wie er am Leben sein werde. Wo, wußte er nicht zu sagen, aber gewiß auf diesem Continent. Mit Intelligenz und bemerkenswerther Sicherheit beantwortete er tausend Fragen, die auf ihn einstürmten. Miß Mary hielt, während sie sprach, eine seiner Hände in den ihrigen. Es war ja ein Begleiter ihres Vaters, dieser Matrose, einer der Seeleute von der Britannia! Er hatte neben Harry Grant gelebt, mit ihm die Meere durchschifft, denselben Gefahren getrotzt! Mary vermochte ihre Augen gar nicht von dem rauhen Antlitz abzuwenden, und weinte vor Glück.

Bis dahin war es Niemand eingefallen, in die Wahrheitsliebe und Identität des Quartiermeisters einen Zweifel zu setzen. Nur der Major und vielleicht John Mangles, die sich nicht so schnell ergaben, fragten sich, ob denn die Worte Ayrton's wirklich unbedingtes Vertrauen verdienten. Sein unvorhergesehenes Zusammentreffen konnte wohl einige Zweifel, wenn nicht einigen Verdacht, erregen. Gewiß hatte Ayrton Thatsachen und Zeitpunkte mit schlagender Genauigkeit angegeben. Aber Einzelheiten, so zutreffend sie sind, bilden noch keine Gewißheit, und gewöhnlich sucht sich, wie Jeder beobachtet hat, die Lüge durch die Genauigkeit der Einzelheiten zu stützen. Mac Nabbs bewahrte seine Ansicht, sprach sie aber nicht aus.

Was John Mangles betrifft, so wichen seine Zweifel bald der Rede des Matrosen, und er hielt ihn wirklich für einen Begleiter des Kapitän Grant, als er ihn gegen das junge Mädchen von deren Vater sprechen hörte. Ayrton kannte Mary und Robert vollkommen. Er hatte sie in Glasgow noch bei der Abfahrt der Britannia gesehen. Er erinnerte sie an das Frühstück, welches den Freunden des Kapitäns zum Abschiede noch an Bord gegeben wurde. Der Sheriff Mac Intyre war mit dabei. Man hatte Robert, – der damals gegen zehn Jahre alt war – der Fürsorge des Rüstmeisters Dick Turner anvertraut, aber er entwischte diesem und kletterte in den Bramstengen herum.


Endlich an Paddy's Wohnung. (S. 323.)

»Das ist wahr, das ist wahr!« rief Robert Grant.

So erinnerte Ayrton an tausend geringfügige Umstände, ohne ihnen ein so besonderes Gewicht, wie es John Mangles that, beizulegen.

Als er schwieg, bat ihn Mary mit sanfter Stimme:

»Erzählen Sie doch noch mehr von unserem Vater, Herr Ayrton!«

Der Quartiermeister befriedigte, so gut er konnte, die Wünsche des [319] Mädchens. Glenarvan wollte ihn nicht unterbrechen, und doch drängten sich zwanzig nützlichere Fragen in seinem Geiste; doch hielt Lady Helena, die ihn auf Mary's freudige Rührung aufmerksam machte, seine Worte zurück.

Bei dieser Gelegenheit erzählte Ayrton auch die Geschichte der Britannia und ihre Reise über den Stillen Ocean. Mary Grant kannte schon einen großen Theil derselben, da die Schiffsnotizen bis zum Mai 1862 reichten. Während jenes Zeitraumes eines Jahres lief Harry Grant alle Hauptländer Oceaniens an. Er berührte die Hebriden, Neu-Guinea, Neu-Seeland, war entrüstet über die oft wenig gerechtfertigten Besitzergreifungen, und litt von [320] dem bösen Willen der britischen Behörden, denn sein Fahrzeug war in den englischen Colonien vorher angemeldet. Indeß hatte er einen wichtigen Punkt auf der Westseite von Papuasien gefunden; dort erschien ihm die Gründung einer schottischen Colonie nicht schwierig, und ihr Gedeihen gesichert; wirklich mußte ja wohl ein guter Hafen auf dem Wege nach den Molukken und den Philippinen Schiffe herbeiziehen, vorzüglich wenn die Durchstechung der Landenge von Suez den Weg um das Cap der Guten Hoffnung unnöthig machte.


Die Passagiere kehren an Bord zurück. (S. 329.)

Harry Grant gehörte zu denen, welche in England das Unternehmen des [321] Herrn von Lesseps lobend würdigten und nicht politische Eifersüchteleien mit einem großen internationalen Interesse vermengten.

Nach dieser Erforschung des Papualandes segelte die Britannia, um frischen Proviant einzunehmen, nach Callao, und verließ diesen Hafen wieder am 30. Mai 1862, um durch den Indischen Ocean und um das Cap herum nach Europa zurückzukehren. Drei Wochen nach seiner Abfahrt wurde das Schiff von einem furchtbaren Sturm verschlagen. Die Masten mußten gekappt werden. Da zeigte sich auch ein Leck, das man nicht zu stopfen vermochte. Die Besatzung war bald erschöpft und am Ende ihrer Kräfte. Man vermochte das Wasser nicht völlig auszupumpen. Acht Tage lang war die Britannia ein Spiel des Orkanes. Sie hatte sechs Fuß Wasser im Raume und sank allmälig. Die Boote waren ihr durch den Sturm entrissen worden. Alles hätte an Bord umkommen müssen, als in der Nacht des 27. Juni, wie es Paganel ganz richtig verstanden hatte, die Ostküste Australiens in Sicht kam. Bald scheiterte nun das Schiff mit einem furchtbaren Stoße. In diesem Augenblicke wurde Ayrton durch eine Woge weggerissen und mitten in die Brandung geschleudert, wo er das Bewußtsein verlor. Als er wieder zu sich kam, befand er sich unter den Händen von Eingeborenen, die ihn in das Innere des Landes hineinschleppten. Seitdem hatte er nichts wieder von der Britannia gehört, und nahm nicht ohne Ursache an, daß dieselbe an den gefährlichen Rissen der Twofold-Bai mit Mann und Maus zu Grunde gegangen sei.

Hier endete der Bericht, soweit er Kapitän Grant betraf. Mehr als einmal veranlaßte er schmerzliche Ausrufe. Nur ungerechter Weise hätte der Major an der Echtheit desselben zweifeln können. Nach der Geschichte der Britannia aber mußte die besondere Geschichte Ayrton's ein noch lebhafteres Interesse erwecken.

Gewiß hatte Grant, daran zweifelte man wegen des Vorhandenseins des Documentes nicht, mit zwei seiner Matrosen, ebenso wie Ayrton, den Schiffbruch überlebt. Von dem Schicksal des Einen ließ sich voraussichtlich auf das des Andern schließen.

Ayrton wurde also veranlaßt, seine Abenteuer zu erzählen. Sein Bericht war sehr einfach und kurz.

Der schiffbrüchige Matrose wurde als Gefangener eines eingeborenen Stammes nach den Gegenden, durch welche der Darling fließt, in das Innere, [322] vierhundert Meilen nördlich vom siebenunddreißigsten Breitengrade, abgeführt. Dort lebte er zwar im Elend, da der Stamm selbst elend war, aber doch nicht mißhandelt. Es waren zwei lange Jahre einer peinlichen Sklaverei, doch hielt ihn die Hoffnung, seine Freiheit wiederzuerlangen, aufrecht. Er spähte die geringste Gelegenheit zur Flucht aus, und sollte sie ihn auch mitten in unzählige Gefahren stürzen.

In einer Octobernacht des Jahres 1864 täuschte er die Wachsamkeit der Wilden und verschwand in der Tiefe ungeheurer Wälder. Während eines Monats lebte er dort von Wurzeln, eßbaren Farrnkräutern und Mimosengummi, irrte mitten durch die ungeheure Einöde und nahm am Tage die Sonne, in der Nacht die Sterne zum Führer, oft niedergeschlagen von der Verzweiflung. So streifte er über Moräste, Ströme, Berge, kurz jenen ganzen Theil des menschenleeren Continents, welchen nur selten Reisende auf ihren kühnen Zügen berührt haben. Endlich gelangte er, halbtodt vor Erschöpfung, in der gastlichen Wohnung Paddy O'Moore's an, wo er durch seiner Hände Arbeit eine glückliche Existenz fand.

»Und wenn Ayrton mich lobt, sagte der irländische Colonist nach Beendigung dieses Berichts, so kann ich meinerseits nur ihn beloben. Er ist ein intelligenter, braver Mann, ein guter Arbeiter, und wenn es ihm recht ist, kann Paddy O'Moore's Haus noch lange das seinige sein.«

Ayrton dankte mit einer Handbewegung dem Irländer und wartete, daß weitere Fragen an ihn gerichtet würden. Er sagte sich, daß die berechtigte Neugierde seiner Zuhörer befriedigt werden müsse. Auf was hätte er hinfort nicht geantwortet, das nicht hundertmal gesagt worden wäre? Glenarvan wollte eben, unter Benutzung des Zusammentreffens mit Ayrton und der Nachrichten, welche dieser gab, einen neu aufzustellenden Plan zur Sprache bringen, als der Major an den Matrosen die Frage richtete:

»Sie waren also Quartiermeister an Bord der Britannia?

– Ja«, erwiderte Ayrton ohne Zögern.

Da er aber herausfühlte, daß dem Major eine Art von Mißtrauen, von vielleicht ganz leisem Zweifel diese Frage eingegeben hatte, setzte er hinzu:

»Ich habe übrigens auch meinen Schiffervertrag aus dem Schiffbruche gerettet.«

Sofort verließ er den Saal, um diese officiellen Papiere zu holen. Nur eine Minute war er abwesend, aber diese genügte Paddy O'Moore, zu sagen:

[323] »Mylord, ich empfehle Ihnen Ayrton als rechtschaffenen Mann. In den zwei Monaten, die er in meinen Diensten stand, hatte ich keinerlei Klage über ihn zu führen. Ich kannte die Geschichte seines Schiffbruchs und seiner Gefangenschaft. Es ist ein ergebener Mensch, der Ihres ganzen Vertrauens werth ist.«

Glenarvan wollte eben antworten, daß er nie an Ayrton's Wahrhaftigkeit gezweifelt habe, als dieser wieder eintrat und sein ganz regelrechtes Engagement vorlegte. Es war ein von den Rhedern der Britannia und dem Kapitän Grant, dessen. Handschrift Mary sogleich wiedererkannte, unterzeichnetes Papier. Es bestätigte, daß »Tom Ayrton, Matrose erster Classe, als Quartiermeister an Bord des Dreimasters Britannia, von Glasgow, angenommen worden war«. Ueber die Identität Ayrton's konnte also kein Zweifel mehr bestehen, denn es war schwer anzunehmen, daß dieser Vertrag in seinen Händen wäre, ohne ihm wirklich zu gehören.

»Jetzt, sagte Glenarvan, spreche ich den Beirath Aller an, und möchte sogleich darüber verhandelt haben, was nun zu thun angemessen sei. Ihre Ansichten, Ayrton, sind für uns von besonderem Werthe, und ich würde Ihnen sehr verbunden sein, wenn Sie uns dieselben mittheilten.«

Nach einigen Augenblicken Ueberlegung erwiderte Ayrton:

»Ich danke Ihnen sehr, Mylord, für das Zutrauen, welches Sie mir schenken, und hoffe mich dessen würdig zu zeigen. Ich habe einige Kenntniß von dem Lande, von den Sitten der Eingeborenen, und wenn ich Ihnen nützlich sein kann ...

– Ganz gewiß, unterbrach ihn Glenarvan.

– Ich glaube so wie Sie, nahm Ayrton wieder das Wort, daß sich der Kapitän Grant mit seinen zwei Matrosen aus dem Schiffbruche gerettet hat; da sie aber die englischen Besitzungen nicht erreicht haben und nicht wieder aufgetaucht sind, so bezweifle ich nicht, daß auch sie mein Loos ereilt hat und sie die Gefangenen eines Stammes wilder Ureinwohner sind.

– Sie wiederholen da, Ayrton, sagte Glenarvan, dieselben Gründe, welche ich schon erwogen habe. Offenbar sind die Schiffbrüchigen Gefangene von Eingeborenen, so wie sie es auch befürchteten. Ist man aber zu der Annahme berechtigt, daß Jene auch, wie Sie, nordwärts vom siebenunddreißigsten Breitengrade weggeschleppt worden sind?

– Das ist anzunehmen, mein Herr, antwortete Ayrton; die feindlichen [324] Stämme wohnen nicht in der Nachbarschaft der unter englischer Herrschaft stehenden Districte.

– Das würde unsere Nachforschungen freilich sehr erschweren, sagte Glenarvan ganz betroffen. Wie soll man die Spuren der Gefangenen im Innern eines so großen Landes wiederfinden?«

Ein längeres Schweigen folgte dieser Betrachtung. Lady Helena fragte mit den Augen Einen ihrer Gefährten nach dem Andern, ohne eine Antwort zu erlangen. Selbst Paganel blieb ganz gegen seine Gewohnheit stumm. Sein gewöhnlicher Scharfsinn ließ ihn im Stiche. John Mangles durchmaß mit großen Schritten den Saal, als ob er auf dem Verdeck seines Schiffes irgendwie in Verlegenheit gewesen wäre.

»Und Sie, Herr Ayrton, sagte endlich Lady Helena zu dem Matrosen, was würden Sie thun?

– Madame, erwiderte lebhaft der Gefragte, ich würde mich wieder an Bord des Duncan einschiffen und direct nach dem Orte des Schiffbruchs begeben. Dort würde ich nach den Umständen handeln und vielleicht nach den Fingerzeigen, die der Zufall darbietet.

– Gut, sagte Glenarvan, aber wir werden warten müssen, bis der Duncan reparirt ist.

– Ah, Sie haben Havarie erlitten? fragte Ayrton.

– Ja, erwiderte John Mangles.

– Schwere?

– Nein, die Schäden machen aber Werkzeuge nöthig, welche wir nicht an Bord haben. Einer der Schraubenflügel hat sich verbogen, und das kann nur in Melbourne wieder ausgebessert werden.

– Können Sie dahin nicht segeln? fragte der Quartiermeister.

– Ja wohl; aber wenn wir nur ein wenig widrigen Wind hätten, würden wir bis zur Twofold-Bai sehr lange Zeit brauchen; jedenfalls muß das Schiff wieder nach Melbourne.

– Nun gut, rief da Paganel, so gehe es nach Melbourne, wir gehen ohne dasselbe zur Twofold-Bai.

– Und wie? fragte John Mangles.

– Wir reisen durch Australien, wie wir zuvor durch Amerika gezogen sind, immer längs dem siebenunddreißigsten Breitengrade.

[325] – Aber der Duncan? warf Ayrton ein, der dabei ganz eigenthümlich beharrte.

– Der Duncan wird uns wiedertreffen, oder wir den Duncan, je nach den Umständen. Wird der Kapitän Grant auf unserm Wege aufgefunden, so kehren wir zusammen nach Melbourne zurück. Haben wir dagegen unsere Nachforschungen bis zur Küste fortzusetzen, so wird uns der Duncan dort treffen. Wer hat Etwas an diesem Plane auszusetzen? Vielleicht der Major?

– Nein, erwiderte Mac Nabbs, wenn die Reise durch Australien ausführbar ist.

– Sie ist so leicht ausführbar, daß ich Lady Helena und Miß Grant einlade, uns zu begleiten.

– Sprechen Sie im Ernste, Paganel? fragte Glenarvan.

– Ganz im Ernste, mein bester Lord. Es ist das eine Reise von dreihundertundfünfzig (englischen) Meilen, nicht mehr! Bei zwölf Meilen täglich dauert sie kaum einen Monat, d.h. gerade so lange, als für die Reparaturen des Duncan Zeit nöthig ist. Ja, wenn es sich darum handelte, das australische Festland unter niedrigerer Breite zu durchmessen, wenn man da, wo es seine größte Breite hat, auf geradem Wege hindurchgehen, jene ungeheuren wasserarmen Wüsten mit ihrer fürchterlichen Hitze passiren, und überhaupt das unternehmen müßte, was die kühnsten Reisenden noch nicht versucht haben, das wäre etwas ganz Anderes. Der siebenunddreißigste Breitengrad aber durchschneidet die Provinz Victoria, ein durchweg englisches Land, mit gegebahnten Wegen und Eisenbahnen, und in unserer Richtung zum großen Theil gut bevölkert. Das ist eine Reise, die man nach Belieben in der Kutsche, oder noch besser mit dem Karrenwagen macht. Es ist eine Spazierfahrt von London nach Edinburgh, nichts weiter.

– Aber die wilden Thiere? sagte Glenarvan, der alle etwa möglichen Hindernisse zu erwähnen suchte.

– In Australien giebt es keine wilden Thiere.

– Aber die wilden Menschen?

– Unter dieser Breite giebt es keine Wilden, und in jedem Falle sind sie nicht so grausam, als in Neu-Seeland.

– Aber die freien Verbrecher?

– In den südlichen Provinzen Australiens giebt es deren nicht, nur im [326] Osten. Die Provinz Victoria hat diese nicht nur zurückgewiesen, sondern sogar ein Gesetz erlassen, um freigelassene Verurtheilte aus anderen Provinzen auszuschließen. Die Regierung zu Victoria hat in diesem Jahre sogar der Peninsular-Compagnie angedroht, ihr ihre Unterstützungsgelder zu entziehen, wenn die Schiffe Jener fortfahren würden, in den Häfen des Westens, wo die Verurtheilten zugelassen sind, Kohlen einzunehmen. Und das wissen Sie nicht, Sie, ein Engländer?

– Ich bin für's Erste kein Engländer, erwiderte Glenarvan.

– Was Herr Paganel sagte, ist vollkommen richtig, bestätigte Paddy O'Moore. Nicht allein die Provinz Victoria, sondern das ganze südliche Australien, Queensland, selbst Tasmania, sind übereingekommen, die Deportirten von ihren Territorien fern zu halten. Seit ich diese Farm bewohne, habe ich noch von keinem Einzigen reden hören.

– Und ich meinestheils bin noch Keinem begegnet, sagte Ayrton.

– Sie sehen also, meine Freunde, fuhr Paganel fort, sehr wenig Wilde, keine Raubthiere, keine Verbrecher! Es wird wenig Gegenden in Europa geben, von denen man dasselbe sagen könnte. Nun, sind wir einig darüber?

– Was denkst Du darüber, Helena? fragte Glenarvan.

– Was wir Alle darüber denken, mein lieber Edward«, antwortete Lady Helena, und wandte sich mit einem »Vorwärts! Vorwärts!« zu ihren Gesellschaftern.

8. Capitel
Achtes Capitel.
Die Abreise.

Es war nicht Lord Glenarvan's Gewohnheit, zwischen der Aufnahme eines Gedankens und seiner Ausführung viel Zeit zu verlieren. Als Paganel's Vorschlag einmal gebilligt war, erließ er sofort seine Anordnungen, um die Vorbereitungen zur Landreise in kürzester Frist zu vollenden. Für den übernächsten Tag, den 22. December, wurde die Abreise festgesetzt.

[327] Welche Erfolge würde die Reise durch Australien haben? Da die Anwesenheit Harry Grant's zur unbestrittenen Thatsache geworden war, so konnten die Folgen dieses Ausflugs sehr wichtig sein. Die günstigen Aussichten nahmen zu. Niemand schmeichelte sich, den Kapitän Grant gerade auf der Linie des siebenunddreißigsten Breitengrades anzutreffen, die strenge innegehalten werden sollte; aber vielleicht kreuzte sie seine Fährte und jedenfalls führte sie genau auf den Schauplatz des Schiffbruchs; das war der Hauptpunkt.

Wenn sich überdies Ayrton den Reisenden anschließen wollte, um sie durch [328] die Wälder der Provinz Victoria zu führen und bis an die Ostküste zu geleiten, so lag darin eine neue Gewähr für den Erfolg. Glenarvan fühlte das wohl; er hielt ganz vorzüglich darauf, sich der nützlichen Mitwirkung des Genossen von Harry Grant zu versichern, und er fragte seinen Wirth, ob es ihm nicht zu unangenehm sein werde, wenn er Ayrton den Vorschlag mache, ihn zu begleiten.


Der Bau eines australischen Reisewagens. (S. 331.)

Paddy O'Moore gab seine Zustimmung, doch nicht ohne den Verlust eines so ausgezeichneten Dieners zu bedauern.

»Nun, Ayrton, werden Sie uns bei dieser Expedition zur Aufsuchung der Schiffbrüchigen von der Britannia begleiten?«

Ayrton beantwortete diese Frage nicht sofort; er schien selbst einige Augenblicke in Zweifel zu sein, doch nach einiger Ueberlegung sagte er:

»Ja, Mylord, ich werde Ihnen folgen, und wenn ich Sie auch nicht auf die Fährte des Kapitän Grant zu führen vermag, mindestens führe ich Sie nach der Stelle, wo sein Schiff zertrümmert wurde.

– Ich danke, Ayrton, erwiderte Glenarvan.

– Eine einzige Frage, Mylord.

– Und die wäre, mein Freund?

– Wo werden Sie den Duncan wieder treffen?

– In Melbourne, wenn wir Australien nicht von einer Küste bis zur andern durchziehen. An der Ostküste, wenn unsere Nachforschungen sich so weit ausdehnen ...

– Aber der Kapitän des Schiffes? ...

– Wird im Hafen von Melbourne meine Instructionen erwarten.

– Gut, Mylord, rechnen Sie auf mich.

– Ich rechne auf Sie, Ayrton«, antwortete Glenarvan.

Der Quartiermeister der Britannia empfing die lebhaftesten Dankes bezeigungen seitens der Passagiere des Duncan. Die Kinder seines Kapitäns überhäuften ihn mit den zärtlichsten Liebkosungen. Alle waren glücklich über seinen Entschluß, bis auf den Irländer, der mit ihm einen einsichtigen und treuen Gehilfen verlor. Paddy begriff aber den Werth, den Glenarvan auf die Anwesenheit des Quartiermeisters legte, und gab sich dabei zufrieden. Glenarvan beauftragte ihn, die Transportmittel zu dem Zuge durch Australien zu besorgen, und die Passagiere gingen, nachdem diese Angelegenheit geordnet und das Zusammentreffen mit Ayrton verabredet war, an Bord zurück.

[329] Der Rückweg war ein sehr erfreulicher. Alles war verändert, jeder Zweifel geschwunden. Die kühnen Sucher sollten nun nicht mehr wie Blinde auf dieser Linie der siebenunddreißigsten Parallele wandern. Harry Grant hatte, daran war nicht zu zweifeln, eine Zuflucht auf dem Festlande gefunden, und Jedermann fühlte sich voll von der Befriedigung, welche die Gewißheit nach langem Zweifel verleiht.

Unter günstigen Umständen konnte der Duncan schon in zwei Monaten Harry Grant an der schottischen Küste an's Land setzen!

Als John Mangles den Vorschlag, quer durch Australien und das mit den Passagieren zu reisen, unterstützte, rechnete er wohl darauf, daß auch er die Expedition diesmal begleiten werde. Er sprach darüber mit Lord Glenarvan. Er führte allerlei Argumente zu Gunsten seiner Absicht an, seine Ergebenheit für Lady Helena, für Se. Herrlichkeit selbst, seine Nützlichkeit als Ordner der Karawane und seine Unnöthigkeit als Kapitän an Bord des Duncan, endlich noch tausend vorzügliche Gründe, außer dem allerwichtigsten, von dem er Glenarvan nicht erst zu überzeugen brauchte.

»Eine einzige Frage, John, sagte Glenarvan, haben Sie vollständiges Vertrauen zu Ihrem zweiten Officier?

– Vollständiges, versetzte John Mangles. Tom Austin ist ein ganz guter Seemann. Er wird den Duncan an den Ort seiner Bestimmung führen, ihn mit Geschick ausbessern und am festgesetzten Tage zurückführen. Tom ist ein Sklave der Pflicht und der Disciplin. Nie würde er es auf sich nehmen, die Ausführung eines Befehles zu ändern oder zu verzögern. Ew. Herrlichkeit können auf ihn, wie auf mich selbst, zählen.

– Zugestanden, John, sagte Glenarvan, Sie begleiten uns; denn es wird gut sein, fügte er lächelnd hinzu, daß Sie anwesend sind, wenn wir den Vater Mary Grant's auffinden.

– O, Ew. Herrlichkeit!« ... stammelte John Mangles.

Doch, das war Alles, was er sagen konnte. Er erbleichte einen Augenblick und ergriff die Hand, die ihm Lord Glenarvan darbot.

Andern Tages kehrte John Mangles in Begleitung des Zimmermanns und einiger für den Transport von Lebensmitteln bestimmter Matrosen nach der Meierei Paddy O'Moore's zurück. Er sollte mit Unterstützung des Irländers die Transportmittel in Ordnung bringen.

[330] Die ganze Familie, bereit, seine Anordnungen auszuführen, erwartete ihn. Ayrton war auch da und mit seinem erfahrenen Rath nicht sparsam.

Paddy war über den Punkt mit ihm einverstanden, daß die reisenden Frauen den Weg mittels Ochsengespanns, die Herren aber zu Pferde machen sollten. Paddy war in der Lage, die Thiere und das Gefährte zu stellen.

Das Fahrzeug war einer jener zwanzig Fuß langen Planwagen, der auf vollen Rädern, ohne Speichen und Felgen und ohne eisernen Radreifen, kurz auf vier einfachen Holzscheiben ruhte. Der Vorderwagen war mit dem Hintertheil nur auf sehr rohe und einfache Weise verbunden, so daß ein kurzes Wenden unmöglich war. Daran war eine fünfunddreißig Fuß lange Deichsel befestigt, an welcher der Länge nach sechs Ochsen paarweise Platz finden sollten. Die so angeschirrten Thiere zogen mit dem Kopfe und dem Nacken, indem ein Joch auf ihrem Nacken durch ein Quereisen mit einem Kummet in Verbindung stand. Es erforderte große Gewandtheit, dieses schmale, lange, hin- und herwiegende, zum Abweichen vom Wege geneigte Fuhrwerk zu lenken und diese Bespannung mit dem Treibstachel zu leiten. Ayrton hatte jedoch seine Lehrzeit auf der irischen Farm bestanden, und Paddy trat für seine Geschicklichkeit ein. Ihm wurde also die Rolle des Schaffners zu Theil.

Das Gefährt, welches auch keine Federn hatte, bot keinerlei Bequemlichkeit, doch man mußte es nehmen, wie es eben war. John Mangles ließ es, da er an seiner Construction im Ganzen nichts zu ändern vermochte, wenigstens im Innern so gut als möglich herstellen. Zunächst theilte man es mittels einer Bretterwand in zwei Theile. Die hintere Abtheilung war zur Aufnahme des Proviants, des Gepäcks und Mr. Olbinetis tragbaren Herdes bestimmt; die vordere war ganz den Frauen zugetheilt. Unter den Händen des Zimmermanns verwandelte sich diese in ein bequemes Zimmerchen, das mit einem dicken Teppich belegt, mit einer Toilette ausgestattet und mit zwei für Lady Helena und Miß Mary bestimmten Lagerstätten versehen war. Dicke Ledervorhänge schlossen dasselbe, wenn es nöthig war, ab und schützten es gegen die kalte Nachtluft. Zur Noth konnten bei Platzregen auch die Männer darin eine Zuflucht finden, aber gewöhnlich sollten diese die Zeit während des Lagerns unter dem Schutz eines Zeltes verbringen. John Mangles war darauf bedacht, in dem engen Raume alles für zwei Frauen Nothwendige unterzubringen, was ihm auch gelang. Lady Helena und Miß Grant sollten [331] in diesem fahrenden Stübchen die bequemen Cabinen des Duncan nicht allzu sehr vermissen.

Was die Herren betraf, so lag die Sache sehr einfach: sieben kräftige Pferde waren für Lord Glenarvan, Paganel, Robert Grant, Mac Nabbs, John Mangles und die beiden Seeleute Wilson und Mulrady bestimmt, die ihren Herrn bei dieser neuen Expedition begleiteten. Ayrton hatte natürlich seinen Sitz auf dem Bocke des Wagens, und Mr. Olbinett, der zum Reiten nicht viel Lust hatte, richtete sich in dem Bagageraum ganz gut ein.

Pferde und Ochsen weideten auf den Wiesen der Ansiedelung und konnten im Augenblick der Abreise schnell zusammengeholt werden.

Nachdem John Mangles seine Anordnungen getroffen und seine Weisungen hinterlassen hatte, kehrte er mit der irischen Familie, welche Lord Glenarvan ihren Besuch abstatten wollte, an Bord zurück. Ayrton hatte es für passend erachtet, sich ihnen anzuschließen, und um vier Uhr kamen John Mangles und seine Begleiter in den Salon des Duncan.

Sie wurden mit offenen Armen empfangen. Glenarvan bot ihnen ein Mittagsmahl an Bord an. Er wollte an Höflichkeit nicht zurückstehen, und seine Gäste nahmen gern die Erwiderung ihrer australischen Gastfreundschaft in dem Salon der Yacht an. Paddy O'Moore war ganz verwundert. Die Ausstattung der Kajüten, die Tapeten und Teppiche, die ganze Verkleidung von Ahorn und Palisander erregten sein Staunen. Ayrton dagegen schenkte diesen überflüssigen Kostbarkeiten nur einen mäßigen Beifall.

Dagegen prüfte der Quartiermeister der Britannia die Yacht mehr von seemännischem Gesichtspunkte; er durchsuchte sie bis auf den Grund des Schiffsraumes; er stieg zu dem Gemach der Schraube hinab, beobachtete die Maschine, unterrichtete sich über ihre effective Stärke, er durchstöberte die Kohlenbehälter, die Kombüse, den Pulvervorrath; er interessirte sich vorzüglich für das Waffenmagazin, für die Kanone auf dem Vordercastell und ihre Tragweite. Glenarvan hatte es mit einem Manne zu thun, der seine Sache verstand; er hörte das aus den Einzelfragen Ayrton's. Dieser beschloß endlich seinen Rundgang mit der Besichtigung der Masten und der Takelage.

»Sie haben da ein schönes Schiff, Mylord, sagte er.

– Wenigstens ein gutes, erwiderte Glenarvan.

– Und sein Tonnengehalt?

– Es mißt zweihundertzehn Tonnen.

[332] – Werde ich mich sehr täuschen, fuhr Ayrton fort, wenn ich sage, daß der Duncan bei vollem Dampfe bequem seine fünfzehn Knoten läuft?

– Sagen Sie siebenzehn, versetzte John Mangles, und Sie werden richtiger rechnen.

– Siebenzehn! rief der Quartiermeister, dann kann er aber von keinem Kriegsschiffe, und ich spreche von den besten, die es giebt, eingeholt werden.

– Von keinem! erwiderte John Mangles, der Duncan ist eine wahre Schnellyacht, die sich in keiner Art der Fahrt besiegen lassen würde.

– Auch nicht beim Segeln? fragte Ayrton.

– Auch dabei nicht!

– Nun, Mylord, und Sie, Kapitän, empfangen Sie die Complimente eines Seemannes, der es weiß, was ein Schiff werth ist.

– Schön, Ayrton, erwiderte Glenarvan, so bleiben Sie bei unserm Schiffe, und es wird ganz von Ihnen abhängen, daß es auch das Ihrige sei.

– Ich werde darauf bedacht sein«, entgegnete einfach der Quartiermeister.

Jetzt kam Mr. Olbinett, um Sr. Herrlichkeit zu melden, daß die Mahlzeit aufgetragen sei. Glenarvan und seine Gäste begaben sich nach dem Oberdecksalon.

»Ein sehr intelligenter Mann, dieser Ayrton, sagte Paganel zu dem Major.

– Zu intelligent!« murmelte Mac Nabbs, dem, er wußte nicht weshalb, die Erscheinung und das Benehmen des Quartiermeisters nicht recht gefiel.

Während der Tafel lieferte Ayrton sehr interessante Mittheilungen über den australischen Continent, den er vollkommen kannte. Er fragte nach der Anzahl Matrosen, die Glenarvan bei der Expedition mitnahm. Als er vernahm, daß ihn nur zwei, Mulrady und Wilson, begleiten sollten, war er erstaunt. Er wollte Glenarvan veranlassen, zu der Reisegesellschaft die besten Seeleute des Duncan heranzuziehen. Er kam immer darauf zurück, eine Beharrlichkeit, welche, nebenbei gesagt, in den Augen des Majors jeden Verdacht auslöschen mußte.

– »Aber, meinte Glenarvan, unsere Reise durch das südliche Australien bietet doch keinerlei Gefahr?

– Keinerlei, antwortete Ayrton schnell.

– Nun wohl, so lassen wir an Bord so viele Leute, als möglich. Es [333] ist Mannschaft nöthig, um den Duncan unter Segel zu führen und ihn zu repariren. Vor Allem kommt es darauf an, daß er pünktlich an dem Orte, der ihm endgiltig bezeichnet wird, eintrifft. Also soll seine Besatzung nicht geschwächt werden.«

Glenarvan's Bemerkungen schienen Ayrton einzuleuchten, und er widersprach nicht weiter.

Als der Abend gekommen war, trennten sich Schotten und Irländer. Ayrton und Paddy O'Moore's Familie kehrten nach ihrer Behausung zurück. Pferde und Wagen sollten für den andern Tag bereit sein. Die Abreise wurde auf acht Uhr Morgens festgesetzt.

Lady Helena und Miß Mary trafen ihre letzten Vorbereitungen. Sie waren kurz und jedenfalls weniger umständlich, als die Jacques Paganel's. Der Gelehrte verbrachte einen Theil der Nacht mit dem Abschrauben, Reinigen und Wiederanschrauben der Gläser seines Fernrohrs. So schlief er denn auch noch, als ihn der Major bei Tagesanbruch mit schallender Stimme erweckte.

Schon war durch die Fürsorge John Mangles' das Gepäck nach der Ansiedelung geschafft worden. Ein Boot erwartete die Reisenden, die sogleich darin Platz nahmen. Der junge Kapitän ertheilte seine letzten Befehle an Tom Austin. Er empfahl ihm auf's dringendste, in Melbourne Lord Glenarvan's Weisungen abzuwarten, und dieselben, sie möchten sein, welche sie wollten, auf's Genaueste auszuführen.

Der alte Seemann erwiderte John Mangles, daß er auf ihn bauen könne. Im Namen der Mannschaft brachte er Sr. Herrlichkeit seine Glückwünsche für das Gelingen der Expedition. Das Boot stieß ab, und ein donnerndes Hurrah erschallte in den Lüften.

In zehn Minuten erreichte das Boot das Ufer; eine Viertelstunde später kamen die Reisenden an der irischen Farm an.

Alles war bereit. Lady Helena war ganz erfreut über die für sie getroffene Einrichtung. Der ungeheure Wagen mit seinen roh gearbeiteten Rädern und dicken Planken gefiel ihr ausnehmend. Das Gespann von drei Ochsenpaaren verlieh ihm ein ganz patriarchalisches Aussehen. Ayrton harrte, den Treibstachel in der Hand, der Befehle seines neuen Herrn.

»Wahrhaftig, sagte Paganel, das ist ja ein prächtiges Fuhrwerk, das alle Postkutschen der Erde aufwiegt. Ich kenne keine bessere Art und Weise, die[334] Welt wie ein Marktschreier zu bereisen. Ein Haus, das seinen Ort verändert, mit geht und still steht, wo es Einem gut dünkt, was kann man mehr wünschen? Das hatten auch die Sarmaten, die gar nicht anders reisten, schon lange eingesehen.

– Herr Paganel, erwiderte Lady Helena, ich hoffe das Vergnügen zu haben, Sie in meinen Salons empfangen zu können?

– Wie so, Madame? erwiderte der Gelehrte; das wäre ja eine Ehre für mich. Haben Sie schon einen Empfangstag bestimmt?

– Für meine Freunde bin ich alle Tage zu sprechen, entgegnete lachend Lady Helena, und Sie sind ...

– Der ergebenste von Allen, Madame«, erwiderte Paganel galant.

Dieser Austausch von Höflichkeiten wurde durch das Eintreffen der sieben Pferde unterbrochen, welche ein Sohn Paddy's mit Sattel und Geschirr herbeiführte. Lord Glenarvan einigte sich mit dem Irländer über den Preis der verschiedenen Erwerbungen und fügte noch seinen herzlichen Dank hinzu, den der wackere Colonist den Guineen mindestens gleich achtete.


Die Abreise in's Binnenland. (S. 335).

Das Zeichen zum Aufbruch wurde gegeben. Lady Helena und Miß Grant nahmen in ihrer Wagenabtheilung Platz, Ayrton auf dem Bocke, Olbinett im Hintertheile. Glenarvan, der Major, Paganel, Robert, John Mangles und die beiden Matrosen, alle mit Carabinern und Revolvern bewaffnet, gaben ihren Pferden die Sporen. »Gott sei mit Ihnen!« rief Paddy O'Moore noch der Karawane nach, und seine Familie wiederholte es im Chore. Ayrton ließ ein eigenthümliches Geschrei vernehmen, und trieb seine Bespannung an. Der Wagen setzte sich in Bewegung, die Axen knarrten in den Naben der Räder, und bald verschwand bei einer Biegung des Weges die gastliche Pflanzung des braven Irländers ihren Blicken.

[335]
9. Capitel
Neuntes Capitel.
Die Provinz Victoria.

Es war am 23. December 1864. Diesen, in der nördlichen Hemisphäre so traurigen, düsteren, feuchten December hätte man auf diesem Continent Juni nennen können. Nach astronomischer Berechnung zählte man schon zwei Sommertage, denn am 21. hatte die Sonne den Wendekreis des Steinbocks [336] erreicht, und ihr Stand über dem Horizont nahm schon einige Minuten ab. So sollte also in der heißesten Jahreszeit und unter fast tropischen Sonnenstrahlen diese neue Reise Lord Glenarvan's zur Ausführung kommen.

Die englischen Besitzungen in diesem Theil des Stillen Oceans heißen insgesammt Austral-Asien. Dieses umfaßt Neu-Holland, Tasmanien, Neu-Seeland und einige umliegende Inseln. Das australische Festland ist in große Colonien eingetheilt, die an Größe und Reichthum sehr ungleich sind. Wer einen Blick auf die von den Herren Petermann oder Peschel aufgenommenen [337] neuesten Karten wirst, dem fällt sogleich das Gradlinige dieser Eintheilungen auf. Die Engländer haben die vertragsmäßigen Striche, welche diese großen Provinzen von einander trennen, nach der Meßschnur gezogen. Sie haben weder den Gebirgsströmen, noch dem Lauf der Flüsse, weder der Verschiedenheit des Klimas, noch dem Unterschied der Racen Rechnung getragen.


In den Moskitos-Ebenen. (S. 339.)

Diese Colonien grenzen rechtwinklig eine an die andere, und fügen sich in einander, wie die Stücke einer eingelegten Arbeit. An dieser Vertheilung von rechten Linien, rechten Winkeln, erkennt man das Werk des Geometers und nicht des Geographen. Schon die Küsten mit ihren verschiedenen Krümmungen, ihren Fjords, ihren Buchten, ihren Vorsprüngen, ihren Untiefen, erheben im Namen der Natur Einsprache durch ihre reizende Unregelmäßigkeit.

Dieses schachbrettartige Aussehen erregte stets und mit vollem Recht die Laune Jacques Paganel's. Wäre Australien französisch gewesen, so würde der Geograph sehr wahrscheinlich sich nicht so leidenschaftlich des Richtscheites und des Lineals bedient haben.

Die Colonien der Hauptinsel sind gegenwärtig sechs an der Zahl:

Neu-Süd-Wales, Hauptstadt Sidney; Queensland mit der Hauptstadt Brisbaula; die Provinz Victoria, Hauptstadt Melbourne; Süd-Australien, Hauptstadt Adelaide; West-Australien, Hauptstadt Perth, und endlich Nord-Australien, noch ohne Hauptstadt. Nur die Küsten sind von Colonisten bevölkert. Kaum hat sich eine Stadt von einiger Wichtigkeit zweihundert Meilen weiter in's Land hinein gewagt. Das Innere des Festlandes, d.h. ein Flächeninhalt, der etwa zwei Drittel Europas an Größe gleichkommt, ist fast ganz unbekannt.

Glücklicherweise durchschneidet der siebenunddreißigste Breitengrad nicht diese unendliche Einöde, diese unzugänglichen, jämmerlichen Gegenden, die der Wissenschaft schon so zahlreiche Opfer gekostet haben. Glenarvan hätte der Versuchung nicht wider stehen können. Er hatte es nur mit dem südlichen Theil Australiens zu thun, mit folgender Unterabtheilung: Ein kleiner Theil der Provinz Adelaide, die ganze Breite der Provinz Victoria, und endlich die Spitze des verkehrten Dreiecks, welches Neu-Süd-Wales bildet.

Nun sind es kaum zweiundsechzig Meilen vom Cap Bernouilli bis an die Grenze der Provinz Victoria, also nicht mehr als zwei Tagemärsche, und Ayrton rechnete darauf, am folgenden Abend in Aspley, der westlichsten Stadt der Provinz Victoria, zu übernachten.

[338] Im Anfang einer Reise sind Reisende und Pferde immer frisch und kräftig; doch, hatte man auch gegen die Lebhaftigkeit der ersteren nichts einzuwenden, schien es doch geboten, den Gang der Letzteren zu mäßigen. Wer weit kommen will, muß sein Thier schonen. Es wurde also bestimmt, täglich nicht mehr als fünfundzwanzig bis dreißig Meilen durchschnittlich zu machen. Außerdem mußten sich die Pferde nach dem langsameren Gang der Ochsen richten, die, wie leibhaftige mechanische Maschinen, an Zeit verlieren, was sie an Kräften voraushaben. Der Wagen mit seinen Passagieren, Lebensmitteln, war der Kern der Karawane, die wandernde Festung. Die Reiter konnten ihm zur Seite die Gegend durchstreifen, doch niemals sich weit entfernen.

Da man also keine bestimmte Marschregel ertheilt hatte, stand es Jedermann frei, innerhalb einer gewissen Grenze zu thun, was ihm beliebte, dem Jäger, die Ebene zu durchstreifen; den liebenswürdigen Gesellschaftern, mit den Insassen des Wagens zu plaudern; den Philosophen, unter einander zu philosophiren. Paganel, der alle diese verschiedenen Eigenschaften besaß, mußte überall zugleich sein, und war es auch.

Der Zug durch die Provinz Adelaide bot nichts Interessantes dar.

Eine Reihe kleiner, aber staubreicher Hügel, lange, wüste Strecken, die im Lande »Bush« genannt werden, einige mit salzhaltigem Gesträuch bedeckte Wiesen, dessen stachlige, eckige Blätter von den Schafen gerne gefressen werden, folgten sich mehrere Meilen lang. Hier und dort erblickte man einige »Pigsfaces«, Schafe mit einem Schweinskopf, eine Neu-Holland eigenthümliche Art, welche zwischen den Signalstangen der neuerdings von Adelaide bis zur Küste errichteten Telegraphenlinie weideten.

Bis hierher erinnerten diese Ebenen merkwürdig an die einförmigen Strecken der argentinischen Pampas; sogar der glatte, rasige Boden, und derselbe, am Himmel scharf abgegrenzte Horizont. Mac Nabbs behauptete, das Land sei da gar nicht anders; aber Paganel äußerte, die Gegend werde sich bald ändern. Seiner Versicherung nach erwartete man also wunderbare Dinge.

Gegen drei Uhr fuhr der Wagen durch einen großen, baumleeren Raum, der unter dem Namen »Moskitos-Ebene« bekannt ist. Der Gelehrte hatte die Genugthuung, seine Tüchtigkeit als Geograph beweisen zu können. Die Reisenden und ihre Thiere litten viel von den unaufhörlichen Stichen dieser [339] lästigen Insecten; sie zu vermeiden war unmöglich; die Schmerzen ihrer Stiche zu mildern leichter, Dank der Ammoniakflaschen aus der Reiseapotheke. Paganel konnte sich nicht enthalten, diese blutdürstigen Thiere, welche seine lange Person mit ihren prickelnden Stichen quälten, zu allen Teufeln zu wünschen.

Gegen Abend sah man die Ebene heiter, frische Akazienhecken; hier und dort Gruppen weißer Gummibäume; weiterhin eine frische Wagenspur; ferner Bäume europäischer Abkunft, wie Oliven-, Citronenbäume und grüne Eichen, endlich gut unterhaltene Zäune. Um acht Uhr erreichten die Ochsen, von Ayrton mit dem Treibstachel angetrieben, die Station »Red-Gum«. Unter dem Wort Station versteht man die Niederlassungen im Innern des Landes, in denen Viehzucht, dieser größte Reichthum Australiens, getrieben wird. Viehzüchter sind die »Squatters«, das heißt Leute, welche sich auf den Boden setzen. Dies thut nämlich wirklich vor allen Dingen der durch seine Fußwanderungen über diese unendlich ausgedehnten Gegenden ermüdete Colonist.

Die Station Red-Gum war ein wenig bedeutender Platz, doch fand Glenarvan dort die herzlichste Gastfreundschaft. Der Tisch ist unablässig für den Reisenden unter dem Dach dieser einsamen Wohnungen gedeckt, und in einem australischen Colonisten trifft man stets einen gefälligen Gastgeber.

Am folgenden Morgen schirrte Ayrton schon bei Tagesanbruch seine Ochsen an, da er noch am selben Abend die Grenze von Victoria erreichen wollte. Der Boden wurde nach und nach unregelmäßiger. Eine Reihenfolge kleiner Hügel, sämmtlich mit scharlachrothem Sande bedeckt, zog sich wellenförmig hin, soweit der Gesichtskreis reichte. Es sah aus, als sei ein unendlich großes rothes Tuch, dessen Falten der Windhauch schwellte, über die Ebene geworfen. Einige »Malleys«, eine Art weißfleckiger Tannen mit glattem, geradem Stamm, breiteten ihre Zweige und ihr dunkelgrünes Laubwerk über fette Wiesen aus, auf denen es von munteren Springhasen wimmelte. Weiterhin erschienen große Felder voll Strauchwerk und jungen Gummibäumen; dann theilten sich die Gruppen auseinander, die einzelnen Büsche wurden Bäume und boten die erste Probe der australischen Wälder dar.

Indeß veränderte sich das Aussehen des Landes bei Annäherung an die victorische Grenze merklich. Die Reisenden fühlten einen neuen Boden unter ihren Füßen. Ihre unveränderliche Richtung war immer die gerade Linie, ohne daß irgend ein Hinderniß, See oder Berg, sie nöthigte, eine krumme [340] oder winkelige Linie einzuschlagen. Sie wandten unabänderlich den ersten theoretischen Lehrsatz der Geometrie praktisch an, und verfolgten, ohne Umweg, den kürzesten Weg von einem Ende zum andern. Von Mühseligkeiten und Schwierigkeiten kein Gedanke. Sie richteten sich nach dem langsamen Schritt der Ochsen; und kamen diese ruhigen Thiere auch nicht schnell voran, so gingen sie doch wenigstens ohne anzuhalten. So erreichte die Karawane nach einer Reise von sechzig Meilen in zwei Tagen, am 23. Abends, die Gemeinde Aspley, die erste Stadt der Provinz Victoria, auf dem hundertundeinvierzigsten Längengrade, im Kreise Wimerra.

Der Wagen wurde durch Ayrton im Crowns Inn eingestellt, einem Wirthshause, welches sich in Ermangelung eines Bessern den Namen »Gasthof zur Krone« beigelegt. Das Abendessen, einzig und allein aus Hammelfleisch bestehend, das in allen möglichen Arten zubereitet war, dampfte auf dem Tisch. Man aß viel, aber man plauderte noch mehr. Jeder, begierig sich über die Merkwürdigkeiten des australischen Festlandes zu unterrichten, befragte eifrig den Geographen. Paganel ließ sich nicht bitten, und erzählte von dieser Provinz Victoria, welche das glückliche Australien genannt wurde.

»Falsche Bezeichnung! sagte er. Man sollte es lieber das reiche Australien nennen, denn es ist mit den Ländern wie mit den Menschen: der Reichthum macht das Glück nicht aus. Australien ist, Dank seinen Goldminen, der verheerenden und wilden Rotte der Abenteurer anheimgefallen. Sie werden das sehen, wenn wir durch die goldhaltigen Landstriche kommen werden.

– Ist die Colonie Victoria nicht ziemlich neuen Ursprungs? fragte Lady Glenarvan.

– Ja, Madame, sie besteht erst seit dreißig Jahren. Es war am 6. Juni 1835, einem Dienstag ...

– Um sieben ein Viertel Uhr Abends, fügte der Major hinzu, der sich gern mit Paganel über die Genauigkeit der Daten neckte.

– Nein, um sieben Uhr zehn Minuten, versetzte der Geograph ernsthaft, als Batman und Falkner eine Niederlassung am Fort Philipp, in der Bucht, wo sich heute die große Stadt Melbourne ausbreitet, gründeten. Während fünfzehn Jahren machte die neue Colonie einen Theil von Neu-Süd-Wales aus, und hatte Sidney zur Hauptstadt. Im Jahre 1851 wurde sie für selbständig erklärt und nahm den Namen Victoria an.

[341] – Und seitdem ist sie sehr emporgeblüht? fragte Glenarvan.

– Urtheilen Sie, mein lieber Freund, antwortete Paganel, nach den durch die letzte Statistik erlangten Ziffern, und was auch Mac Nabbs davon halten mag, ich kenne nichts Beredteres als die Ziffern.

– Fangen Sie an, sagte der Major.

– Im Jahre 1836 hatte die Colonie am Fort Philipp 244 Einwohner. Heute zählt die Provinz Victoria 550,000. Sieben Millionen Quadratfuß Weinbergsland liefern jährlich 121,000 Gallonen Wein. 103,000 Pferde galopiren über ihre Ebenen und 675,272 Stück Hornvieh nähren sich auf ihren unendlichen Weiden.

– Hat sie nicht auch eine bestimmte Anzahl Schweine? fragte Mac Nabbs.

– Ja wohl, Major, 79,625, wenn Sie nichts dagegen haben.

– Und wie viel Schafe, Paganel?

– 7,115,943, Mac Nabbs.

– Auch das mit inbegriffen, welches wir jetzt eben essen, Paganel?

– Nein, dies nicht inbegriffen, denn ist es schon zu drei Viertel verzehrt.

– Bravo, Herr Paganel! rief Lady Glenarvan mit herzlichem Lachen aus. Man muß gestehen, daß Sie in diesen geographischen Fragen sehr bewandert sind, und mein Vetter Mac Nabbs mag es anfangen, wie er will, er wird Sie auf keiner Blöße ertappen.

– Dies ist ja mein Gewerbe, Madame, ich muß diese Dinge kennen und sie im Nothfall lehren. Auch können Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß dieses sonderbare Land uns noch Wunder aufspart.

– Bisher, indessen, ... antwortete Mac Nabbs, welchem es Vergnügen machte, den Geographen zu reizen und seinen Eifer anzuregen.

– Aber warten Sie doch, ungeduldiger Major! rief Paganel. Sie haben kaum den Fuß über die Grenze gesetzt und sind schon unwillig! Nun wohl, ich sage Ihnen, und wiederhole es nochmals, daß ich behaupte, diese Gegend sei die merkwürdigste auf der ganzen Welt. Seine Gestaltung, seine Natur, seine Producte, sein Klima, ja sogar sein Verschwinden in der Zukunft, haben alle Gelehrten der Erde in Erstaunen gesetzt und werden es noch thun. Stellen Sie sich, meine Freunde, ein Festland vor, dessen äußere Theile und nicht der Mittelpunkt, sich ursprünglich aus den Fluthen wie ein riesenhafter Ring emporgehoben haben; ein Festland, welches vielleicht in [342] seinem Mittelpunkt ein halb verdunstetes, unterirdisches Meer birgt; dessen Flüsse von Tag zu Tag austrocknen; wo die Feuchtigkeit weder in der Luft, noch im Boden existirt; wo die Bäume alle Jahre ihre Rinde statt der Blätter verlieren, wo die Blätter der Sonne ihre Seiten zuwenden, nicht ihre Oberfläche, so daß sie keinen Schatten geben; wo das Holz oft unverbrennbar ist; wo die Wälder niedrig, die Gräser riesenhaft sind, und die Thiere seltsam; wo die Vierfüßler Schnäbel haben wie der Ameisenigel und das Schnabelthier; wo das Känguru auf seinen ungleichen Füßen hüpft; wo die Schafe Schweinsköpfe haben, wo die Füchse von Baum zu Baum springen; wo die Schwäne schwarz sind; wo die Ratten Nester bauen; wo die Vögel durch die Mannigfaltigkeit ihres Gesanges oder Geschreies und ihrer Fähigkeiten den Geist in Erstaunen versetzen; wo der eine als Uhr dient, der andere mit einer Postillonspeitsche knallt, der eine den Ruderschlag nachahmt, der andere die Secunden schlägt wie ein Uhrperpendikel, der eine des Morgens bei Sonnenaufgang lacht, und der Andere Abends bei Sonnenuntergang weint! O, seltsames, närrisches, unlogisches, regelwidriges Land!«

Der hastig vordringende Redefluß Paganel's schien nicht zum Stillstand kommen zu können. Der beredte Secretär der Geographischen Gesellschaft konnte sich nicht mehr zurückhalten. Er sprach und sprach, wobei er heftig gesticulirte, und seine Gabel zur größten Gefahr für seine Tischnachbarn schwang. Aber zuletzt wurde seine Stimme durch einen Sturm von schallenden Bravos überboten, so daß er endlich zum Schweigen kam.

Nach dieser Aufzählung der Merkwürdigkeiten Australiens dachte sicher Niemand mehr daran, ihn noch weiter zu fragen. Dennoch konnte sich der Major nicht enthalten, mit ruhiger Stimme zu sagen:

»Und ist dies Alles, Paganel?

– Ei nein, das ist nicht Alles, versetzte der Gelehrte mit neuer Heftigkeit.

– Wie? fragte Lady Helena, der es ganz unheimlich wurde, es giebt noch staunenswerthere Dinge in Australien?


Station Red-Gum. (S. 340.)

– Ja, Madame, sein Klima! Es übertrifft durch seine Seltsamkeit noch seine Erzeugnisse.

– Zum Beispiel! rief man.

– Ich spreche nicht von den der Gesundheit zuträglichen Eigenschaften des an Sauerstoff so reichen und an Stickstoff so armen Australischen Festlandes; es hat keine feuchten Passatwinde, weil die Winde parallel an seinen Küsten [343] wehen; die meisten Krankheiten kennt man dort nicht, vom Typhus an bis zu den Masern und den chronischen Leiden.

– Dies ist indeß kein geringer Vorzug, bemerkte Glenarvan.

– Ohne Zweifel, aber davon spreche ich nicht, erwiderte Paganel, das Klima hat hier eine ... unwahrscheinliche Eigenschaft.

– Welche? fragte John Mangles.

– Sie werden es niemals glauben.

[344] – Doch, doch, riefen die auf's höchste gespannten Zuhörer.

– Nun also ...

– Was denn?

– Es wirkt auf die Sitten wohlthätig!

– Auf die Sitten wohlthätig?

– Ja! antwortete der Gelehrte voller Ueberzeugung. Ja, sittenverbessernd. Hier oxydiren die Metalle nicht in der Luft, die Menschen ebenfalls nicht.

[345] Hier bleicht die reine, trockene Luft Alles auf's Schnellste, die Wäsche und die Seelen! Und man hatte in England wohl die Vorzüge dieses Klimas erkannt, als man sich entschloß, dies Land zu einer Besserungsanstalt zu machen.


Der Riesenkranich. (S. 347.)

– Wie! Macht sich dieser Einfluß wirklich fühlbar? fragte Lady Glenarvan.

– Ja, Madame, auf die Thiere und auf die Menschen.

– Sie scherzen nicht, Herr Paganel?

– Ich scherze nicht. Die Pferde und die Hausthiere sind hier von merkwürdiger Gelehrigkeit; Sie werden sehen.

– Nicht möglich!

– Aber es ist so! Und die in diese belebende und heilsame Luft verpflanzten Missethäter werden dort in einigen Jahren sittlich neu geboren. Diese Wirkung ist allen Philanthropen bekannt, in Australien werden alle Naturen besser.

– Aber Sie, Herr Paganel, der Sie schon so gut sind, sagte Lady Helena, wie weit werden Sie es in diesem bevorzugten Lande bringen?

– Zu einem ausgezeichneten Höhegrad«, Madame, antwortete Paganel, ganz einfach.

10. Capitel
Zehntes Capitel.
Wimmerra-River.

Am folgenden Morgen, 24. December, brach man mit dem Grauen des Tages auf. Die Hitze war bereits stark, aber erträglich, der Weg fast eben und dem Schritt der Pferde angemessen. Die kleine Schaar kam nun in einen ziemlich lichten Waldschlag. Am Abend, nach einer tüchtigen Tagereise, rastete sie an den Ufern des Weißen Sees, dessen Wasser salzig und nicht trinkbar ist.

Dort war Jacques Paganel gezwungen, einzugestehen, daß dieser See nicht weißer als das Schwarze Meer schwarz und das Rothe Meer roth, der Gelbe Fluß gelb und die Blauen Berge blau seien. Doch stritt der [346] Geograph heftig aus wissenschaftlichem Selbstbewußtsein, aber man ließ seine Beweisgründe nicht gelten.

Mr. Olbinett bereitete mit gewohnter Pünktlichkeit das Abendessen; darauf legten sich die Reisenden zur Ruhe, die einen im Wagen, die anderen im Zelt, und schliefen ungeachtet des kläglichen Geheuls der »Dingos«, der Schakale Australiens, unverzüglich ein.

Eine wunderschöne Ebene, ganz mit Chrysanthemum bedeckt, erstreckte sich jenseits des Weißen Sees. Am folgenden Morgen hätten Glenarvan und seine Gefährten beim Erwachen dem prachtvollen Schmuck, der sich ihren Blicken darbot, gern länger ihre Bewunderung gezollt, doch mußte man aufbrechen. In der Ferne verriethen einige kleine Höhen die Erhebung des Bodens. Bis zum Horizont standen Wiese und Blumen im röthlichen Frühlingsschmuck. Der blaue Schimmer der Flachsblume mit den seinen Blättern vermischte sich mit dem Scharlachroth einer dieser Gegend eigenthümlichen wachsenden Distelblume. Reicher Blüthenschmuck zierte die Grasfläche und der salzhaltige Boden prangte von buntblühenden Kräutern, aus welchen eine vorzügliche Soda gewonnen wird. Paganel nannte die verschiedenen Gewächse bei ihrem Namen, und bei seiner Liebhaberei, Alles zu beziffern, theilte er mit, daß die australische Flora bis jetzt 4200 Pflanzenarten in 120 Familien zähle.

Späterhin, nachdem der Wagen ungefähr zehn Meilen in größter Schnelligkeit zurückgelegt hatte, fuhr er rings umgeben von hohen Akazien-Mimosen und weißen Gummibäumen.

Das Thierreich hingegen war weniger ergiebig an Erzeugnissen. Einige Kasuare sprangen durch die Ebene, ohne daß man sich ihnen hätte nähern können. Indessen war der Major so geschickt, ein sehr seltenes Thier zu erlegen. Es war ein »Jabiru«, der Riesenkranich der englischen Colonisten. Dieser Vogel war fünf Fuß groß und sein schwarzer, breiter, kegelförmiger, spitz zulaufender Schnabel achtzehn Zoll lang. Der violette Purpurglanz seines Kopfes stach grell ab von dem glänzenden Grün seines Halses, dem blendenden Weiß seiner Brust und dem hellen Roth seiner langen Beine.

Man bewunderte den Vogel sehr, und der Major hätte die Ehre des Tages davongetragen, wenn nicht der junge Robert einige Meilen weiter ein unförmliches Thier tapfer erlegt hätte, das halb Igel, halb Maulwurf war, ein Wesen von unfertiger Gestalt, wie die ersten Thiere der Schöpfung.

[347] Eine dehnbare, lange, schlüpfrige Zunge hing aus dem zahnlosen Maule heraus und fing die Ameisen, welche seine Hauptnahrung bilden.

»Das ist ein Ameisenigel! sagte Paganel. Haben Sie je ein solches Thier gesehen?

– Ein abscheuliches Thier, antwortete Glenarvan.

– Abscheulich, aber merkwürdig, versetzte Paganel, außerdem ist's ein Australien eigenthümliches Product; man würde es in jedem andern Welttheil vergeblich suchen.«

Natürlich wollte Paganel das scheußliche Thier mitnehmen und beim Gepäck unterbringen. Doch war Mr. Olbinett so empört darüber, daß der Gelehrte darauf verzichtete, dieses Probeexemplar aufzubewahren.

An diesem Tage kamen die Reisenden dreißig Minuten über den hunderteinundvierzigsten Längengrad hinaus. Bis hierher hatten sie wenig von Ansiedlern geschehen. Das Land schien öde, von Eingeborenen war keine Spur, denn die wilden Stämme durchziehen mehr die endlosen, von den Nebenflüssen des Darling und des Murray bewässerten nördlichen Einöden.

Doch erregte ein merkwürdiges Schauspiel das Interesse der Gesellschaft Glenarvan's. Sie sollten eine jener unendlich großen Heerden zu sehen bekommen, welche kühne Speculanten aus den östlichen Gebirgen bis in die Provinz Victoria und nach Süd-Australien treiben.

Gegen vier Uhr Nachmittags signalisirte John Mangles drei Meilen vor ihnen eine ungeheure Staubsäule, die sich am Horizont entwickelte. Woher kam diese Erscheinung? Man konnte sich dieselbe nicht erklären, und Paganel war geneigt, sie für ein Meteor zu halten, für welches seine lebhafte Einbildungskraft schon eine natürliche Ursache suchte. Ayrton that jedoch seinen Vermuthungen Einhalt, indem er erklärte, diese Staubwolke komme von einer auf dem Zuge befindlichen Heerde. Der Quartiermeister täuschte sich nicht; das dicke Gewölk kam näher; man vernahm ein Concert von Blöcken, Wiehern und Brüllen. Menschenstimmen in der Form von Schreien, Pfeifen, Schelten vermischten sich mit dieser Pastoral-Symphonie. Ein Mann trat aus der lärmenden Masse her vor. Es war der Hauptanführer dieser vierfüßigen Armee. Glenarvan ging auf ihn zu, und es entspann sich ohne weiteres ein Gespräch. Der Führer oder »Stockeeper« war Besitzer eines Theiles der Heerde. Er hieß Sam Machell und kam in der That aus den Provinzen im Osten, um sich nach der Bai Portland zu begeben. Seine Heerde bestand [348] aus 12,075 Stück, nämlich 1000 Ochsen, 11,000 Schafen und 75 Pferden. Alle diese Thiere, die in den Ebenen der Blauen Berge im magern Zustande angekauft worden waren, sollten auf den gesunden Weiden Süd-Australiens fett gemacht und dann mit großem Vortheil verkauft werden; denn Sam Machell gewann dabei zwei Pfund Sterling am Ochsen und ein halbes Pfund Sterling am Schaf. Es war also ein bedeutendes Geschäft! Aber welche Geduld, welche Energie, welche Kraft zur Ertragung der Anstrengungen gehörte dazu, diese störrische Heerde an ihren Bestimmungsort zu führen!

Sam Machell erzählte in wenig Worten seine Geschichte, während die Heerde ihren Zug zwischen den Mimosengebüschen fortsetzte. Lady Helena, Mary Grant und die Reiter waren abgestiegen und hatten sich in den Schatten eines großen Gummibaumes gesetzt, wo sie der Erzählung des Stockeepers zuhörten. Sam Machell war seit sieben Monaten unterwegs. Er machte ungefähr zehn Meilen täglich, und seine endlose Reise mußte noch drei Monate dauern. Um ihm bei seiner mühseligen Aufgabe zu helfen, hatte er zwanzig Hunde und dreißig Männer bei sich, unter denen sich fünf Schwarze befanden, die sehr geschickt waren, abirrende Thiere wieder aufzusuchen. Sechs Wagen folgten dem Heere. Treiber mit stockneipps, Peitschen mit achtzehn Zoll großen Stielen und neun Fuß langen Riemen bewaffnet, machten die Runde, um die oft gestörte Ordnung wiederherzustellen, während die leichte Cavallerie der Hunde um die Flügel des Heeres streifte.

Die Reisenden bewunderten die in der Heerde herrschende Ordnung. Die verschiedenen Racen gingen gesondert, denn wilde Ochsen und Schafe vertragen sich ziemlich schlecht; die ersteren wollen niemals dort weiden, wo die letzteren gezogen waren. Deshalb war es nöthig, die Ochsen an die Spitze zu stellen, und diese, in zwei Bataillone getheilt, marschirten voran. Dann folgten fünf Regimenter Schafe, commandirt von zwanzig Führern, und die kleine Schwadron der Pferde bildete den Nachtrab.

Sam Machell machte seine Zuhörer darauf aufmerksam, daß die Leiter der Armee weder Hunde noch Männer seien, sondern Ochsen, kluge »Leitochsen«, deren Ueberlegenheit von ihren Stammesgenossen anerkannt wird.

Sie wandelten mit größter Würde voran, instinctmäßig den besten Weg einschlagend, und sehr bewußt ihres Rechtes, rücksichtsvoll behandeit zu werden. Man schonte sie auch, denn die Heerde folgte ihnen ohne Widerstand. Wenn es ihnen beliebte anzuhalten, mußte man ihnen nachgeben, und vergeblich [349] hätte man den Marsch fortsetzen wollen, wenn sie nicht das Zeichen zum Aufbruch gegeben. So lange das Heer in der Ebene einherzog, war es gut, da gab es wenig Verwirrung, wenig Strapazen. Die Thiere weideten auf dem Wege, tränkten sich an den zahlreichen Flüßchen der Weideplätze, schliefen des Nachts, wanderten am Tage und sammelten sich friedlich auf den Ruf der Hunde. Aber in den großen Wäldern des Festlandes, durch die Eucalypten- und Mimosengebüsche hindurch, gab es schon mehr Schwierigkeiten. Schwadronen, Bataillone und Regimenter mischten sich durch einander, oder kamen von einander ab, und man brauchte lange Zeit, sie wieder zusammenzutreiben. Wenn unglücklicherweise ein Leitochse sich verirrte, mußte man ihn um jeden Preis wiedersinden, wollte man die Gefahr einer allgemeinen Unordnung vermeiden, und oft brauchten die Schwarzen mehrere Tage zu diesen schwierigen Nachforschungen. Wenn starker Regen fiel, so weigerten sich die trägen Thiere vorwärts zu gehen, und bei heftigen Gewittern bemächtigte sich eine Panik voll Verwirrung der vor Schrecken toll gewordenen Thiere.

Doch der Stockeeper überwand durch Willenskraft und Thätigkeit diese stets wiederkehrenden Schwierigkeiten. Er zog immer weiter Meile für Meile; ließ Ebenen, Wälder und Berge hinter sich. Aber neben so vielen vorzüglichen Fähigkeiten war der große Vorzug der Geduld erforderlich. Einer standhaften Geduld, nicht allein für Stunden, Tage, sondern für Wochen, bedurfte es beim Uebergang über Flüsse. Hier sah sich der Stockeeper von einem Gewässer, das nicht gerade zu tief war, gehemmt; ein Hinderniß entstand einzig durch den Eigensinn der Heerde, die sich weigerte, hinüber zu gehen. Die Ochsen, nachdem sie an dem Wasser geschlürft hatten, kehrten um. Die Schafe flohen nach allen Richtungen aus einander, um nicht dem nassen Elemente Trotz zu bieten. Man erwartete die Nacht, um die Truppe an den Fluß zurückzutreiben, es gelang nicht. Man warf die Böcke mit Gewalt hinein, die Schafe machten keine Miene, ihnen zu folgen. Man versuchte die Heerde durch Durst zu zwingen, indem man ihr mehrere Tage das Wasser vorenthielt; sie trank nicht und ging dennoch nicht vorwärts. Man trug die Lämmer an's andere Ufer, in der Hoffnung, daß die Mütter auf ihr Geschrei nachkommen würden; die Lämmer blökten und die Mütter rührten sich nicht am jenseitigen Ufer. Dies dauerte manchmal einen Monat, und der Stockeeper wußte nicht mehr was er mit seiner brüllenden, wiehernden, blökenden Armee machen sollte. Dann plötzlich, eines Tages, ohne Grund, [350] aus Laune, man weiß nicht wie, durchschwimmt eine Abtheilung den Fluß, und jetzt entstand eine neue Schwierigkeit, die Heerde zu verhindern, sich in Unordnung hineinzustürzen. Die Verwirrung reißt in ihre Reihen ein, und viele Thiere kommen in den Stromschnellen um.

Solche Einzelheiten hatte Sam Machell mitzutheilen. Während seiner Erzählung war ein großer Theil seiner Heerde in guter Ordnung vorbeigezogen. Es war Zeit, daß er sich an die Spitze seines Heeres begab, um die besten Weideplätze auszuwählen. Er verabschiedete sich also von Lord Glenarvan, bestieg ein ausgezeichnetes eingeborenes Pferd, welches einer der Männer am Zügel gehalten hatte, und bot Allen mit herzlichen Händedrücken Lebewohl. Nach einigen Augenblicken war er in einer Staubwolke verschwunden.

Der Wagen setzte in entgegengesetzter Richtung seine kurze Zeit unterbrochene Fahrt fort und hielt erst Abends am Fuß des Talbotberges an.

Paganel machte die richtige Bemerkung, daß nun der 25. December sei, das von den englischen Familien so sehr gefeierte Christfest. Der Steward hatte es nicht vergessen, und ein erquickendes, unter dem Zelt aufgetragenes Abendessen trug ihm die aufrichtigen Lobsprüche der Theilnehmer ein.

Man muß gestehen, Herr Olbinett hatte sich wirklich selbst übertroffen. Seine Vorrathskammer hatte einen Beitrag europäischer Gerichte geliefert, welche man selten in den australischen Wüsten antrifft. Ein Rennthierschinken, Stücke eingepökelten Rindfleisches, geräucherter Lachs, ein Hafer- und Gerstenkuchen, Thee nach Belieben, Branntwein im Ueberfluß, einige Flaschen Portwein machten dies stattliche Mahl aus. Man glaubte sich in den großen Speisesaal von Malcolm-Castle, mitten in den Hochlanden Schottlands versetzt. Gewiß, Nichts fehlte bei diesem Fest, von der Ingwersuppe an bis zur Fleischpastete des Desserts. Indeß glaubte Paganel noch die Früchte eines wilden Orangenbaumes, der am Fuß des Hügels wuchs, hinzufügen zu müssen. Es war der »Maccaly« der Eingeborenen; seine Früchte waren ziemlich ungenießbar, aber seine zerdrückten Kerne brannten im Munde wie Cayennepfeffer.

Der Geograph war aus Liebe zur Wissenschaft darauf versessen, sie so gewissenhafter Weise zu essen, daß er sich den Gaumen verbrannte und nicht mehr auf die Fragen antworten konnte, mit denen ihn der Major über die Eigenthümlichkeiten der Wüsten Australiens bestürmte.

[351] Am folgenden Tage, den 26. December, begab sich nichts Erzählenswerthes. Man traf auf die Quellen des Norton-Creek und später auf den halb eingetrockneten Mackenzie-Fluß. Das Wetter blieb anhaltend schön, bei erträglicher Hitze; der Wind kam aus Süden und erfrischte die Atmosphäre wie der Nordwind in der nördlichen Hemisphäre, worauf Paganel seinen Freund Robert Grant aufmerksam machte.


Der Reisewagen in bedenklicher Lage. (S. 355.)

»Ein glücklicher Umstand, fügte er hinzu, denn die Hitze ist durchschnittlich in der südlichen Hemisphäre viel größer als in der nördlichen.

[352] – Und warum? fragte der Knabe.

– Warum? Robert, antwortete Paganel. Hast Du denn nie sagen hören, daß die Erde im Winter der Sonne viel näher ist?

– Ja wohl, Herr Paganel.


Ein Nachtlager im Walde. (S. 357.)

– Und daß die Winterkälte nur von den schrägen Sonnenstrahlen herrührt?

– Gewiß.

– Nun wohl, mein Junge, aus eben diesem Grunde ist es in der südlichen Hemisphäre wärmer.

[353] – Das verstehe ich nicht, antwortete Robert mit verwunderten Blicken.

– Denke doch nach, versetzte Paganel. Wenn wir in Europa Winter haben, welche Jahreszeit herrscht dann hier in Australien, bei den Antipoden?

– Der Sommer, sagte Robert.

– Nun gut, weil genau zu dieser Zeit die Erde sich der Sonne nähert ... begreifst Du?

– Ich begreife ...

– So ist der Sommer der südlichen Himmelsstriche wärmer, in Folge der Nähe der Erde bei der Sonne, als der Sommer der nördlichen Gegenden.

– Wirklich, Herr Paganel.

– Also, wenn man sagt, die Sonne steht der Erde ›im Winter‹ näher, so gilt dies nur für uns, die wir den nördlichen Theil der Erdkugel bewohnen.

– Daran hatte ich nicht gedacht, antwortete Robert.

– Und jetzt geh', mein Junge, und vergiß es nicht mehr.«

Robert nahm diese kleine kosmographische Lection gern an und lernte bald, daß die Temperatur der Provinz Victoria durchschnittlich 74 Grad Fahrenheit (+23°33 hunderttheilig) betrage.

Am Abend lagerte die Truppe fünf Meilen jenseits des Lonsdalesees, zwischen dem Drummont-Berg, der sich im Norden erhob, und dem Dryden, dessen mäßig hoher Gipfel sich am südlichen Horizont abzeichnete.

Am folgenden Morgen, um elf Uhr, erreichte der Wagen die Ufer der Wimerra auf dem hundertunddreiundvierzigsten Meridian.

Der eine halbe Meile breite Fluß floß in blauen Streifen zwischen zwei hohen Reihen von Gummi-und Akazienbäumen. Einige prachtvolle Myrthenbäume streckten bis fünfzehn Fuß hoch ihre langen, niederhängenden, mit rothen Blüthen verzierten Zweige aus. Tausende von Vögeln, Goldammern, Zeisigen, goldgeflügelten Tauben, der geschwätzigen Papageien nicht zu vergessen, flatterten in dem grünen Gezweig umher. Auf der Oberfläche des Wassers belustigten sich ein paar schwarze Schwäne, die so scheu waren, daß man ihnen nicht nahe kommen konnte. Dieser seltene Vogel der australischen Flüsse verlor sich bald bei den geschlängelten Krümmungen der Wimerra, welche launisch durch diese anmuthige Landschaft floß. Indessen hielt der Wagen auf einem Rasenteppich, dessen Ränder auf das reißende Gewässer herabhingen. Es gab kein Floß, keine Brücke. Dennoch mußte man hinüber, [354] und Ayrton ging, um zum Hinüberfahren eine Furth zu suchen. Eine Viertelmeile aufwärts schien ihm der Fluß weniger tief, und er beschloß, hier an's andere Ufer überzusetzen.

Verschiedenes Sondiren zeigte an, daß das Wasser nur drei Fuß hoch sei, deshalb konnte der Wagen es unternehmen, an dieser seichten Stelle ohne Gefahr hinüber zu fahren.

»Es giebt kein anderes Mittel über diesen Strom zu kommen? fragte Glenarvan den Quartiermeister.

– Nein, Mylord, antwortete Ayrton. Mir scheint dieser Uebergang nicht gefährlich; so werden wir uns aus der Verlegenheit ziehen.

– Sollen Lady Glenarvan und Miß Grant den Wagen verlassen?

– Keineswegs. Meine Ochsen gehen sicher, und ich nehme es auf mich, sie auf dem richtigen Wege zu erhalten.

– Dann vorwärts, antwortete Glenarvan, ich vertraue mich Ihnen an.«

Die Reiter umgaben das schwerfällige Gefährt, und man fuhr entschlossen in den Fluß hinein. Gewöhnlich werden die Wagen, wenn sie durch eine Furth gehen, mit einem Ring leerer Tonnen, die sie über dem Wasser erhalten, umgeben; hier fehlte aber dieser Schwimmgürtel. Man mußte sich deshalb den scharfen Sinnen der vom klugen Ayrton geführten Ochsen anvertrauen. Dieser leitete von seinem Sitze aus das Fuhrwerk; der Major und die beiden Matrosen durchschnitten den reißenden Strom einige Klaftern voraus; Glenarvan und John Mangles hielten sich zu beiden Seiten des Wagens, bereit den reisenden Damen zu Hilfe zu kommen. Paganel und Robert beschlossen die Reihe.

Alles ging gut bis in die Mitte der Wimerra. Dort war der Grund tiefer und das Wasser stieg bis über die Radspeichen. Die aus der Furth gedrängten Ochsen konnten den Boden verlieren und die schwankende Maschine mit sich reißen. Ayrton bewies muthige Hingebung; er stieg in's Wasser und es gelang ihm, an die Hörner der Ochsen geklammert, sie auf den rechten Weg zurückzubringen.

In diesem Augenblick erfolgte unversehens ein Ruck; es krachte und der Wagen neigte sich bedenklich auf die Seite; das Wasser drang an die Füße der Damen; der ganze Apparat kam aus dem Geleise, ungeachtet sich Glenarvan und John Mangles an die Wagenleitern anklammerten. Es war ein Moment höchster Angst. Glücklicherweise brachte ein heftiger Zug an der [355] Halskette das Gefährt dem jenseitigen Ufer nahe. Die Füße der Ochsen und Pferde fanden unter sich einen aufwärts steigenden Bodengrund, und bald befanden sich Menschen und Thiere, sehr zufrieden, wenn auch durchnäßt, sicher am andern Ufer.

Nur das Vordertheil des Wagens war von dem Stoß zerbrochen, und das Pferd Glenarvan's hatte die Vorderhufen verloren. Dieser Unfall erforderte eine sofortige Ausbesserung. Man sah sich ziemlich verlegen an, als Ayrton zuletzt vorschlug, bis an die Station Black-Point, zwanzig Meilen nördlich, zu gehen und von dort einen Hufschmied zu holen.

»Gehen Sie, gehen Sie, mein guter Ayrton, sagte Glenarvan. Wie viel Zeit brauchen Sie hin und zurück?

– Fünfzehn Stunden vielleicht, antwortete Ayrton, mehr aber nicht.

– Gehen Sie also, und in Erwartung Ihrer Rückkehr werden wir am Ufer der Wimerra lagern.«

Nach einigen Minuten verschwand der Quartiermeister auf dem Pferde Wilson's hinter dichtem Mimosengebüsch.

11. Capitel
Elftes Capitel.
Burke und Stuart.

Der Rest des Tages wurde in Unterhaltungen und Spaziergängen verbracht. Die Reisenden durchstreiften plaudernd und bewundernd die Gegend an den Ufern der Wimerra. Die grauen Kraniche und die Ibis entflohen laut kreischend bei ihrem Nahen. Der Seidenvogel verbarg sich auf den hohen Aesten des wilden Feigenbaumes, Goldammern flatterten zwischen den herrlichen Liliaceen, die Martinsfischer verließen ihren gewöhnlichen Fischfang, während die ganze mehr civilisirte Familie der Papageien, der »Blue-Mountain«, in allen sieben Farben des Prismas schillernd, der kleine »Roschill« mit dem rothen Kopfe und der gelben Brust, und der »Lori« mit dem rothen und blauen Gefieder, – unaufhörlich bis zum Betäuben im Gipfel der blühenden [356] Gummibäume schwatzten. So bewunderten die Spaziergänger diese schöne Natur bis zum Sonnenuntergang, bald im Grase am Rande murmelnder Bäche hingelagert, bald auf gut Glück in den Mimosengebüschen umherschweifend. Die Nacht kam nach kurzer Abenddämmerung überraschend schnell heran, als sie noch eine halbe Meile vom Lager entfernt waren. Sie kehrten zurück, geleitet nicht durch den Polarstern, der in der südlichen Hemisphäre unsichtbar ist, sondern durch das Kreuz des Südens, welches halbwegs vom Horizont nach dem Zenith glänzte.

Mr. Olbinett hatte das Abendessen unter dem Zelte angerichtet, das einen besonderen Reiz durch ein Salmi von Papageien erhielt, welche Wilson zu erlegen und der Steward geschickt zuzubereiten verstanden hatte.

Als die Mahlzeit beendet war, suchte man um die Wette einen Vorwand, um die ersten Stunden einer so schönen Nacht nicht dem Schlafe zu opfern. Lady Helena verständigte sich mit Allen, um Paganel zu bitten, ihnen von den großen australischen Reisenden zu erzählen, was er ihnen schon lange versprochen hatte.

Paganel war mit Vergnügen dazu bereit. Seine Zuhörer lagerten sich am Fuß einer prächtigen Banksia; Cigarrendampf stieg bald bis zu dem schattigen Laubwerk auf, und der Geograph ergriff, seinem unerschöpflichen Gedächtniß vertrauend, das Wort:

»Sie erinnern sich, meine Freunde, und der Major hat es gewiß nicht vergessen, an die Aufzählung der Reisenden, die ich Ihnen an Bord des Duncan gab. Von all' Denen, die in's Innere des Festlandes vorzudringen versuchten, ist es nur Vieren gelungen, dasselbe von Süden nach Norden oder umgekehrt zu durchziehen. Es sind dies Burke im Jahre 1860 und 1861; Mac Kinlay 1861 und 1862; Landsborough 1862 und Stuart ebenfalls 1862. Von Mac Kinlay und Landsborough kann ich Ihnen nicht viel sagen. Ersterer ging von Adelaide bis an den Golf von Carpentaria, der Zweite vom Golf Carpentaria bis Melbourne. Beide waren von australischen Comités zur Erforschung Burke's ausgesandt, der nicht wieder erschienen, und niemals wieder erscheinen sollte.

Burke und Stuart, das sind die beiden kühnen Forscher, von denen ich weiter sprechen will.

Im Jahre 1860, am 20. August, begann unter dem Schutze der königlichen Gesellschaft von Melbourne ein ehemaliger irländischer Officier, früher [357] Polizei-Inspector von Castlemaine, O'Hara Burke, seine Reise. Er war von 11 Männern begleitet. Diese waren: William John Wills, ein junger ausgezeichneter Astronom, der Doctor Becker, ein Botaniker, Gray, King, ein junger Officier der indischen Armee, Landells, Brahe und mehrere Seapoys; fünfundzwanzig Pferde und fünfundzwanzig Kameele dienten den Reisenden, sowohl zum Reiten, als um ihr Gepäck und Lebensmittel auf achtzehn Monate zu befördern. Die Expedition sollte zu dem Golf von Carpentaria an der nördlichen Küste dringen. Dabei hielt sie zuerst längs dem Lauf des Flusses Cooper. Sie kamen ohne Mühe über die Ufer des Murray und Darling und erreichten die Station Menindie an der Grenze der Colonien.

Da machte man die Wahrnehmung, daß das zahlreiche Gepäck sehr hinderlich sei. Diese Unbequemlichkeit und eine gewisse Härte in Burke's Charakter, erzeugten eine Verstimmung in der Truppe. Landells, der Kameelführer, trennte sich, gefolgt von einigen hindostanischen Dienern, von der Expedition und kehrte an die Ufer des Darling zurück, während Burke seine Reise fortsetzte, bald durch prachtvolle, reich bewässerte Weideplätze, bald durch steinigte und wasserarme Gegenden bis zu dem Coopers-Creek hinab. Am 20. November, drei Monate nach seiner Abreise, errichtete er das erste Depot für Lebensmittel an dem Ufer des Flusses.

Hier wurden die Reisenden einige Zeit lang aufgehalten, da sie keinen Weg nach Norden fanden, auf dem sie sicher sein konnten, Wasser zu haben. Nach großen Mühseligkeiten erreichten sie einen Lagerplatz, den sie Fort Wills nannten. Dort errichteten sie einen von Palissaden umzäunten Posten, auf dem halben Wege von Melbourne nach dem Golf von Carpentaria. Hier theilte Burke seine Truppe in zwei Theile. Der eine unter dem Befehl Brahe's sollte drei Monate, und wenn es nicht an Lebensmitteln fehlte, noch länger im Lager bleiben, und die Rückkehr des andern erwarten. Dieser bestand nur aus Burke, King, Gray und Wills. Sie nahmen sechs Kameele mit und Nahrungsmittel auf drei Monate, das heißt drei Centner Mehl, fünfzig Pfund Reis, fünfzig Pfund Hafermehl, einen Centner getrocknetes Pferdefleisch, hundert Pfund gesalzenes Schweinefleisch und Speck und dreißig Pfund Zwieback; dieser Vorrath sollte reichen, um eine Reise von sechshundert Meilen hin und zurück zu machen.

Die vier Männer brachen auf. Nach einem mühseligen Weg durch eine steinigte Wüste, kamen sie an den Fluß Eyre, den äußersten Punkt, welchen [358] Stuart 1845 erreicht hatte, und schlugen, indem sie sich so genau als möglich an den vierzigsten Meridian hielten, den Weg nach Norden ein.

Am 7. Januar passirten sie den Wendekreis unter einer glühenden Sonne. Sie wurden oft von trügerischen Luftbildern getäuscht, litten Wassermangel, wurden wieder durch Gewitter erfrischt, fanden hier und da umherstreifende Eingeborene, über die sie sich nicht zu beklagen hatten, kurz, sie waren im Ganzen wenig von Schwierigkeiten belästigt, da ihr Weg weder durch Seen, Flüsse oder Berge gehemmt wurde.

Am 12. Januar zeigten sich im Norden einige Sandsteinhügel; unter andern der Forbesberg und eine Reihe von Granitfelsen. Jetzt wurde die Mühsal groß, und man kam kaum vorwärts, da auch die Thiere sich weigerten, weiter zu gehen. ›Immer noch in Granitfelsen! Die Kameele schwitzen vor Angst!‹ schrieb Burke in sein Reisebuch. Trotzdem erreichten die Reisenden durch Ausdauer die Ufer des Turnerflusses, dann den obern Lauf des Flinders, den Stokes im Jahre 1841 sah, und der sich in den Golf von Carpentaria zwischen Palmen und Eucalyptengebüschen ergießt.

Die Nähe des Oceans gab sich durch eine weite Strecke Sumpflandes kund. Eins der Kameele kam darin um, und die übrigen weigerten sich hindurch zu gehen. King und Gray mußten deshalb mit ihnen zurückbleiben, während Burke und Wills weiter nordwärts gingen und nach großen, in ihren Notizen nur dunkel angegebenen Schwierigkeiten an einem Punkt ankamen, wo die Meeresfluth die Sümpfe überdeckt; doch vom Ocean sahen sie nichts. Dies war am 11. Februar 1861.

– Also, sagte Lady Glenarvan, konnten diese kühnen Männer nicht darüber hinaus?

– Nein, Madame, antwortete Paganel. Der sumpfige Boden wich unter ihren Füßen, und sie mußten daran denken, zu ihren Gefährten am Fort Wills zurückzukehren. Eine traurige Rückkehr, versichere ich Sie! Schwach und erschöpft sich hinschleppend, kamen sie zu King und Gray zurück. Darnach wandte sich die Expedition auf der bisher verfolgten Straße südwärts dem Coopers-Creek zu. Die weitere Entwickelung dieser Reise, die Gefahren und Leiden derselben, kennen wir nicht genau, denn die Notizen fehlen im Taschenbuch der Erforscher. Sie mußten aber schrecklich gewesen sein.

In der That, als sie im Monat April im Thale des Cooper anlangten, waren es nur noch ihrer drei.


Burke's Tod. (S. 362.)

Gray war den Mühsalen unterlegen, desgleichen waren vier Kameele gefallen. Indeß, wenn es Burke gelang, das Fort Wills zu erreichen, wo ihn Brahe mit [359] seinem Lebensmitteldepot erwartete, so war er mit seinen Gefährten gerettet. Sie verdoppelten ihre Energie, sie schleppten sich noch einige Tage fort, am 21. April bemerkten sie die Umzäunungen des Forts, sie erreichten es! ... An diesem Tage war Brahe nach fünfmonatlichem vergeblichen Warten fortgezogen.


Stuart hißt die australische Flagge. (S. 365.)

– Fort! rief der junge Robert aus.

– Ja, fort! Am selben Tage, durch ein beklagenswerthes Verhängniß!

[360] Die von Brahe zurückgelassene Notiz war nicht sieben Stunden alt! Burke konnte nicht daran denken, ihn einzuholen. Die unglücklichen Verlassenen erholten sich ein wenig durch die Lebensmittel des Depot, doch fehlten ihnen die Transportmittel, und vom Darling waren sie noch hundertundfünfzig Meilen entfernt.

Nun dachte Burke, der Meinung Wills' entgegen, daran, die Australischen Niederlassungen am Berg Hopeleß, sechzig Meilen vom Fort Wills, zu erreichen. Man machte sich auf den Weg. Von den zwei übrig gebliebenen [361] Kameelen kommt eins in einem sumpfigen Zufluß des Coopers-Creek um; das andere will keinen Schritt mehr machen; man muß es tödten und sich von seinem Fleische nähren; bald sind die Lebensmittel aufgezehrt. Die drei Unglücklichen sind genöthigt, von ›Nardu‹, einer Wasserpflanze, deren Wurzelknoten eßbar sind, zu leben. Aus Mangel an Wasser, an Transportmitteln, können sie sich nicht von den Ufern des Cooper entfernen. Eine Feuersbrunst verzehrt ihre Hütte und ihre Lagereffecten. Sie sind verloren! Es bleibt ihnen nichts übrig, als sterben!

Burke rief King zu sich und sagte ihm: ›Ich habe nur noch einige Stunden zu leben, hier ist meine Uhr und meine Notizen. Wenn ich todt bin, so wünsche ich, daß Sie mir eine Pistole in die rechte Hand geben, und daß Sie mich so lassen, wie ich bin, ohne mich in die Erde zu graben!‹ Dies waren seine letzten Worte; er verschied am nächsten Morgen um acht Uhr. King, voll Schrecken und Bestürzung, machte sich auf den Weg, einen australischen Stamm aufzusuchen.

Als er zurückkam, war auch Wills erlegen. King fand bei Eingeborenen Aufnahme, und wurde im Monat September von der Expedition des Mr. Howitt aufgefunden, der zugleich mit Mac Kinlay und Landsborough ausgeschickt war, Burke aufzusuchen. So überlebte also von den vier Forschern nur einer diese Reise durch das Australische Festland.«

Die Erzählung Paganel's machte auf das Gemüth seiner Zuhörer einen schmerzlichen Eindruck. Jeder dachte an den Kapitän Grant, der vielleicht wie Burke und die Seinigen mitten in diesem traurigen Lande umherirrte. Waren die Schiffbrüchigen den Leiden entgangen, welche jene kühnen Bahnbrecher aufrieben? Diese Gedanken waren so natürlich, daß Mary Grant die Thränen in die Augen traten.

»Mein Vater, mein armer Vater, murmelte sie.

– Miß Mary, Miß Mary! rief John Mangles aus, um solche Leiden zu erdulden, muß man sich in die inneren Gegenden wagen! Der Kapitän Grant ist aber in den Händen der Eingeborenen wie King, und wie die ser wird er gerettet werden! Er hat sich niemals in eben so schlimmen Verhältnissen befunden!

– Niemals, fügte Paganel hinzu, und ich wiederhole Ihnen, mein liebes Fräulein, die Australier sind gastfrei!

– Gott gebe es! antwortete das Mädchen.

[362] – Und Stuart? fragte Glenarvan, welcher die traurigen Gedanken ablenken wollte.

– Stuart? antwortete Paganel. O, Stuart ist glücklicher gewesen und sein Name ist in den Annalen Australiens berühmt. Vom Jahre 1848 an bereitete sich John Mac Doual Stuart, Ihr Landsmann, meine Freunde, auf seine Reisen vor, indem er sich in die im Norden von Adelaide belegenen Wüsten begab. Im Jahre 1860 versuchte er, nur von zwei Männern begleitet, vergeblich in's Innere Australiens zu dringen. Er war kein Mann, der sich leicht entmuthigen ließ. Am 1. Januar 1861 verließ er an der Spitze von elf entschlossenen Männern den Chambers-Creek und hielt erst sechzig Meilen vom Golf von Carpentaria an; da die Lebensmittel aber ausgingen, mußte er nach Adelaide zurückkehren, ohne das furchtbare Festland durchziehen zu können. Indeß versuchte er sein Glück noch einmal, und organisirte eine dritte Expedition, welche diesmal das so heiß ersehnte Ziel erreichen sollte.

Das südaustralische Parlament begünstigte dies neue Unternehmen aufs Wärmste und setzte eine Summe von zweitausend Pfund Strl. als Unterstützung aus. Stuart traf alle Vorkehrungen, die ihm seine Erfahrungen als Wegbahner an die Hand gaben. Seine Freunde, der Naturforscher Waterhouse, seine früheren Begleiter Thring, Kekwick, sodann Woodforde, Auld, zehn im Ganzen, vereinigten sich mit ihm. Er nahm zwanzig amerikanische Lederschläuche mit, von denen jeder sieben Gallonen hielt, und am 5. April 1862 befand sich die Expedition am Newcastle-Water beisammen, jenseits des achtzehnten Breitengrades, an demselben Punkte, über den Stuart nicht hatte hinauskommen können. Seine Reiseroute folgte ungefähr dem hundertundeinunddreißigsten Meridian, und wich demgemäß sieben Grad westlich von der Burke's ab.

Das Becken des Newcastle-Waters sollte als Basis neuer Forschungen dienen. Vergeblich versuchte Stuart durch dichte Wälder von Norden nach Nordosten vorzudringen. Dieselbe Erfolglosigkeit, westlich den Victoriafluß zu erreichen; undurchdringliche Gebüsche versperrten jeden Ausgang. Stuart entschloß sich nun, sein Lager zu wechseln, und es gelang ihm, dasselbe ein wenig weiter nach Norden in die Sümpfe des Hower zu verlegen. Von dort nun, nach Osten zu, traf er inmitten von Grasflächen auf den Dailybach, an welchem er ungefähr dreißig Meilen weit hinauszog.

[363] Die Gegend wurde prachtvoll; ihre Weiden würden einem Squatter das Herz erfreut und ein Vermögen gebracht haben; die Eucalypten wuchsen dort bis zu einer erstaunlichen Höhe. Stuart drang immer weiter und erreichte die Ufer des Strangway-Flusses und des Ropers-Creek, den Leichhardt entdeckt hat; ihre Gewässer flossen rings unter Palmen, welche dieser Tropengegend entsprachen. Hier lebten Stämme von Eingeborenen, welche die Naturforscher freundlich aufnahmen. Von diesem Punkte aus nahm die Expedition ihre Richtung nach Nord-Nordwesten, und versuchte durch ein Terrain von Sandstein- und eisenhaltigen Felsen die Quellen des Adelaideflusses zu finden, welcher sich in den Golf Van-Diemens ergießt.

Darauf zog sie durch das Arnhem-Land, rings umgeben von Kohl-Palmen, Bambus, Pinien und Pendanis. Der Adelaide wurde breiter, seine Ufer sumpfig; man war dem Meere nahe.

Dienstag, den 22. Juli, lagerte Stuart in den Sümpfen des Fresh-Water; hier setzten ihn zahllose Bäche, die den Weg abschnitten, in Verlegenheit. Er schickte drei seiner Gefährten aus, um eine Furth aufzusuchen; am nächsten Tage erreichte er, nachdem er bald hemmende Buchtenflüßchen umgehen mußte, bald in kothigen Morästen stecken blieb, einige höher gelegene grasbewachsene Ebenen, die mit Gruppen von Gummi- und faserrindigen Bäumen bedeckt waren. Hier fanden sich Schaaren von Gänsen, Ibis und anderen äußerst scheuen Wasservögeln, die umherflatterten. Von Eingeborenen traf man wenige oder keine, nur in der Ferne sah man den Rauch aus den Lagern aufsteigen.

Am 24. Juli, neun Monate nach seiner Abreise von Adelaide, brach Stuart um acht Uhr zwanzig Minuten morgens nach Norden zu auf, um das Meer noch am selben Tage zu erreichen; das Land steigt da leicht an, mit Eisenerzen und vulkanischem Gestein bedeckt; die Bäume werden kleiner und man sieht ihnen an, daß sie dem Seeufer angehören; ein weites Thal angeschwemmten Landes zeigt sich, das jenseits durch dichtes Gesträuch verdeckt ist. Stuart hört deutlich das Tosen der brandenden Wellen; doch sagt er seinen Gefährten Nichts. Man dringt in einen von Ranken wilder Reben versperrten Schlag. Noch einige Schritte, da sind sie am Ufer des Indischen Oceans! ›Das Meer! Das Meer!‹ ruft Thring voll Erstaunen aus. Die Anderen laufen herbei, und drei weitschallende Hurrahs begrüßen den Indischen [364] So war man zum vierten Male quer durch das Festland gedrungen.

Seinem, dem Gouverneur, Sir Richard Macdonnell, gegebenen Versprechen gemäß, badete Stuart seine Füße, und wusch sich das Gesicht und die Hände in den Meeresfluthen. Dann kehrte er in das Thal zurück und schnitt in einen Baum die Anfangsbuchstaben seines Namens J.M.D.S. ein. Ein Lager wurde neben einem kleinen Loch mit fließendem Wasser aufgeschlagen.

Am nächsten Tage ging Thring aus, um zu untersuchen, ob man in südwestlicher Richtung die Mündung des Adelaideflusses erreichen könne; doch war der Boden für die Füße der Pferde zu sumpfig; man mußte darauf verzichten.

Stuart wählte nun in einer Lichtung einen hochstehenden Baum aus. Er schnitt die niedrigen Zweige ab, und ließ vom Gipfel die australische Flagge wehen. In die Rinde des Baumes wurden folgende Worte geschnitten:


›Einen Fuß südlich von hier grabe den Boden auf.‹


Und wenn eines Tages ein Reisender am angezeigten Ort nachgräbt, wird er eine Blechkapsel finden, und in derselben folgendes Document, dessen Worte sich meinem Gedächtniß eingeprägt haben:


›Große Forschungsreise

quer durch Australien von Süden

nach Norden.


Hier langten die Naturforscher unter Anführung von John Mac Doual Stuart am 25. Juli 1862 an, nachdem sie ganz Australien von dem südlichen Meer bis an die Ufer des Indischen Oceans mitten durch das Festland durchzogen. Sie hatten Adelaide am 26. October 1861 verlassen, und am 21. Januar 1862 verließen sie die letzte Coloniestation in nördlicher Richtung. Zur Erinnerung an dies glückliche Ereigniß haben sie die australische Fahne mit dem Namen des Führers der Expedition hier entfaltet. Alles steht gut. Gott schütze die Königin.‹


Folgen die Unterschriften Stuart's und seiner Gefährten.

So wurde dies große Ereigniß, welches in der ganzen Welt einen unendlichen Wiederhall fand, beglaubigt und festgestellt.«

»Und haben diese muthigen Männer ihre Freunde im Süden wiedergesehen? fragte Lady Helena.

– Ja, Madame, antwortete Paganel; alle, aber nicht ohne entsetzliche [365] Mühsale. Stuart wurde am meisten geprüft; seine Gesundheit war vom Scorbut ernsthaft erschüttert, als er den Rückweg nach Adelaide einschlug. Anfangs September hatte seine Krankheit solche Fortschritte gemacht, daß er glaubte, er würde die bewohnten Gegenden nicht wiedersehen. Er konnte sich nicht mehr im Sattel erhalten und mußte sich in einem zwischen zwei Pferden aufgehängten Palankin tragen lassen. Ende October brachten ihn Bluterbrechungen an den Rand des Grabes. Man tödtete ein Pferd, um ihm Bouillon zu bereiten; am 28. October glaubte er sterben zu müssen, als ihn eine heilbringende Krisis rettete, und am 10. December erreichte die ganze Truppe die ersten Ansiedelungen.

Am 17. December zog Stuart in Adelaide mitten unter einer begeisterten Bevölkerung ein. Aber seine Gesundheit war erschüttert und bald nachdem er die große goldene Medaille der Geographischen Gesellschaft erhalten hatte, schiffte er sich auf dem Indus nach seinem lieben Schottland, seinem Vaterlande, ein, wo wir ihn bei unserer Rückkehr wiedersehen werden. 1

– Er war ein Mann, der im höchsten Grade moralische Willenskraft besaß, sagte Glenarvan, und diese führt noch eher als die körperliche Stärke zum Vollbringen großer Dinge. Schottland kann mit gutem Recht darauf stolz sein, ihn unter seine Kinder zu zählen.

– Und seit Stuart, fragte Lady Helena, hat kein anderer Reisender neue Entdeckungen unternommen?

– Doch, Madame, erwiderte Paganel. Ich habe oft von Leichhardt zu Ihnen gesprochen. Dieser hatte schon 1844 eine merkwürdige Entdeckungsreise in Nord-Australien gemacht. 1848 unternahm er eine zweite Expedition nach Nordosten, und seit siebenzehn Jahren hat man nichts mehr von ihm gehört. Im vergangenen Jahre hat der berühmte Botaniker Dr. Müller in Melbourne eine öffentliche Subscription veranstaltet, welche die Kosten einer neuen Expedition decken sollte. Diese Expedition ist schnell zu Stande gekommen, und eine Schaar muthiger Squatters, unter Anführung des klugen und kühnen Mac Intyre, hat am 21. Juli 1864 die Weideplätze am Ufer des Parooflusses verlassen. In dem Augenblick, in dem ich mit Ihnen spreche, muß [366] sie tief in den Nachforschungen nach Leichhardt im Innern des Festlandes begriffen sein.

– Möge es ihnen gelingen und könnten wir selbst, wie sie, die uns theuern Freunde wiederfinden!«

So endete die Erzählung des Geographen. Die Zeit war vorgeschritten. Man dankte Paganel, und Jedermann schlief nach einigen Augenblicken ruhig ein, während im Laube der weißen Gummibäume verborgen die Uhr regelmäßig die Secunden dieser ruhigen Nacht anschlug.

Fußnoten

1 Jacques Paganel hat Stuart bei seiner Rückkunft nach Schottland gesehen; doch konnte er sich nicht lange der Gesellschaft dieses berühmten Reisenden erfreuen. Stuart starb am 5. Juni 1866 in einem bescheidenen Hause zu Nottingham-Hill.

12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Von Melbourne nach Sandhurst.

Der Major sah nicht ohne Besorgniß Ayrton die Lagerstätte am Wimerra verlassen, um einen Schmied auf der Station Black-Point aufzusuchen. Aber er ließ kein Wort von persönlichem Mißtrauen laut werden, und beschränkte sich darauf, die Umgebung des Flusses zu überwachen. Die Ruhe dieser friedlichen Fluren wurde nicht im Mindesten getrübt, und nach einigen Stunden der Nacht erschien die Sonne wieder am Horizont.

Seinerseits fürchtete Glenarvan nur, Ayrton möge allein zurückkommen. Aus Mangel an Werkleuten konnte dann der Wagen nicht weiter fahren. Es gab dann vielleicht einen Aufenthalt von einigen Tagen, und Glenarvan, voll ungeduldiger Begierde, seinen Zweck zu erreichen, wollte durchaus keine Verzögerung.

Ayrton hatte glücklicher Weise weder Zeit, noch Wege verloren. Am andern Morgen erschien er schon ganz frühzeitig. Ihn begleitete ein Mann, der sich für den Hufschmied der Black-Point-Station ausgab. Es war ein starker, hochgewachsener Kerl, aber von niedrigem, thierischem Aussehen, das keineswegs für ihn einnahm. Verstand er nur sein Handwerk, so machte das hier ja Nichts aus. Jedenfalls sprach er nur wenig, und sein Mund machte keine unnützen Worte.

[367] »Ist's denn ein brauchbarer Handwerker? fragte John Mangles den Quartiermeister.

– Ich kenne ihn nicht mehr, als Sie, Kapitän, antwortete Ayrton. Wir werden es ja sehen.«

Der Schmied ging an's Werk. Es war ein Mann von Fach, man sah es an der Art und Weise, wie er den Vordertheil des Wagens reparirte. Er arbeitete geschickt und mit ungewöhnlicher Kraft. Der Major machte die Beobachtung, daß sich an seinen aufgeriebenen Handgelenken ein schwärzlicher Ring von ausgetretenem Blute zeigte, der ein Beweis einer neuerlichen Verwundung war und von den Aermeln eines schlechten wollenen Hemdes nur unvollkommen verdeckt wurde. Mac Nabbs fragte den Hufschmied nach der Ursache dieser Hautwunden, welche doch sehr schmerzhaft sein müßten. Der aber antwortete nicht, sondern setzte seine Arbeit fort. Zwei Stunden nachher waren die Beschädigungen des Wagens wieder hergestellt. Glenarvan's Pferd war schnell besorgt. Der Schmied hatte vollkommen vorbereitete Hufeisen mitgebracht, welche eine Eigenthümlichkeit darboten, die dem Major nicht entgehen konnte. Diese bestand in einem roh zugehauenen Kleeblatt in deren vorderen Theile. Mac Nabbs zeigte es Ayrton.

»Es ist das Zeichen von Black-Point, erwiderte der Quartiermeister. Es gestattet, die Spur der Pferde zu verfolgen, welche sich von der Station entfernen, um diese nicht mit der von andern zu verwechseln.«

Bald waren die Eisen an den Hufen des Pferdes befestigt Dann verlangte der Schmied seine Bezahlung und ging weg, ohne vier Worte gesprochen zu haben.

Eine halbe Stunde später waren die Reisenden wieder unterwegs. Jenseit der Mimosengebüsche erstreckte sich ein weiter, unbewachsener Raum, der seinen Namen »open plain« mit Recht verdiente. Einige Trümmer von Quarz und eisenhaltigem Gestein lagen da und dort zwischen dem Gebüsch, dem hohen Grase und den Umzäunungen, in denen sich zahlreiche Heerden aufhielten. Einige Meilen weiter sanken die Räder des Wagens tief im sumpfigen Boden ein, über dem ungleichmäßig fließende Bäche murmelten, welche halb hinter riesigem Röhricht verdeckt waren. Dann zog man an ausgedehnten Salzlagunen, die im vollen Verdunsten waren, vorbei. Die Reise ging ohne Mühe und wie hinzuzufügen ist, ohne Langeweile vorwärts.

Lady Helena lud die Herren ein, sie nach einander zu besuchen, denn ihr Salon war ausnehmend klein. Jeder erholte sich so von der Anstrengung [368] des Reitens und vergnügte sich an der Unterhaltung mit dieser liebenswürdigen Frau. Lady Helena machte, unterstützt von Miß Grant, in ihrem wandernden Salon mit aller Anmuth die Honneurs.


Ein entsetzlicher Eisenbahnunfall. (S. 373.)

John Mangles wurde bei diesen täglichen Einladungen natürlich nicht vergessen, und seine etwas ernsthafte Unterhaltung mißfiel keineswegs; im Gegentheil.

So kreuzte man diagonal die Poststraße von Crowland nach Horsham, einen sehr staubigen, von Fußgängern wenig benutzten Weg. Dann streifte [369] man am Ende der Grafschaft Talbot eine Gruppe niedriger Hügel, und am Abend kam die Gesellschaft drei Meilen oberhalb Maryborough an. Ein seiner Regen, der in jedem andern Lande den Boden durchweicht hätte, fiel nieder; hier verzehrte die Luft so vollkommen und schnell alle Feuchtigkeit, daß das Nachtlager nicht belästigt wurde.

Am andern Tage, den 29. December, wurde die Reise durch eine Reihe kleiner Berge, welche eine Miniatur-Schweiz bildeten, etwas verzögert. Immer ging es hinauf und herab und gab es sehr unangenehme Stöße. Die Reisenden machten deshalb einen Theil des Weges zu Fuße.

Um elf Uhr kam man in Carlsbrook, einer ziemlich beträchtlichen Stadt, an. Ayrton war der Ansicht, um die Stadt herumzufahren, ohne selbst hineinzugelangen, um Zeit zu gewinnen, wie er sagte. Glenarvan stimmte ihm bei, Paganel aber, der auf alles Neue begierig war, wünschte Carlsbrook zu besuchen. Man ließ ihn gewähren, und der Wagen fuhr langsam weiter.

Paganel nahm, wie er immer zu thun pflegte, Robert mit sich. Sein Besuch der Stadt war nur kurz, doch genügte er, ihm eine genaue Vorstellung von den australischen Städten zu geben. Es befand sich dort eine Bank, ein Justizpalast, ein Markt, eine Schule, eine Kirche und etwa hundert ganz gleichmäßige Steingebäude. Alles das war in einem regelmäßigen Viereck untergebracht, welches von parallel laufenden Straßen, ganz nach englischer Weise, durchschnitten wurde. Es giebt nichts Einfacheres, aber auch nichts Trostloseres. Vermehrt sich die Stadt, so verlängert man die Straßen, wie die Höschen eines Kindes, wenn es wächst, und so wird die anfängliche Symmetrie in keiner Weise gestört.

In Carlsbrook herrschte eine rege Thätigkeit, das bemerkenswerthe Kennzeichen aller dieser Städte von gestern. Die Städte scheinen in Australien, wie die Bäume, unter der Sonnenhitze aufzuschießen. Beschäftigte Leute durcheilten die Straßen; Goldversender drängten sich an den Landungsbureaux; das kostbare Metall, das von eingeborenen Polizisten begleitet wurde, kam von Bentigo und vom Berg Alexander.

Alle diese von eigenem Interesse gereizten Leute hatten nur ihre Angelegenheiten im Kopfe, und die Fremden gingen ganz unbeachtet mitten durch diese geschäftige Bevölkerung.

Nach einstündigem Aufenthalt in Carlsbrook schlossen sich die Besucher ihren Genossen auf einem sorgfältig cultivirten Felde wieder an. Darauf [370] folgten lange Prairien, welche unter dem Namen »Low lewel plains« bekannt sind, mit unzähligen Schafheerden und Schäferhütten. Dann kam wieder Wüstenei, ohne allen Uebergang, in einer der australischen Natur eigenthümlichen Schroffheit. Die Simpson-Hügel und der Tarrangower-Berg bezeichneten die Spitze, in welche der District Loddo im Süden auf dem hundertvierundvierzigsten Längengrade ausläuft.

Bis dahin hatte man noch keine im Zustande der Wildniß lebenden Eingeborene getroffen. Glenarvan legte sich die Frage vor, ob die Australier in Australien wohl ebenso fehlen möchten, wie die Indianer in den argentinischen Pampas. Paganel belehrte ihn jedoch, daß die Wilden unter dieser Breite die Ebenen des Murray, welche hundert Meilen weiter östlich liegen, bevölkern.

»Wir nähern uns dem Goldlande, sagte er. Noch vor Verlauf zweier Tage werden wir durch die reiche Gegend am Berg Alexander kommen, wohin sich im Jahre 1852 der Schwarm der Goldgräber wendete. Die Ureinwohner mußten in die Wüsten des Innern entweichen. Wir befinden uns, ohne daß es den Anschein hat, in civilisirtem Lande, und unser Weg muß noch heute die Eisenbahn schneiden, welche den Murray und das Meer verbindet. Nun, meine Freunde, braucht man es noch auszusprechen, eine Eisenbahn in Australien, das ist doch ein erstaunlich Ding!

– Und warum, Paganel, fragte Glenarvan.

– Warum?! Weil das nicht zusammenpaßt! O, ich weiß recht wohl, daß Ihr Anderen, gewohnt, entlegene Besitzungen zu colonisiren, die Ihr elektrische Telegraphen und allgemeine Ausstellungen in Neu-Seeland habt, das sehr einfach finden werdet! Das stört aber den Geist eines Franzosen, wie ich es bin, und verwirrt alle seine Anschauungen über Australien.

– Weil Ihr Blick auf die Vergangenheit, und nicht auf die Gegenwart gerichtet ist, sagte John Mangles.

– Zugestanden! antwortete Paganel; aber Locomotiven, welche durch die Wüste keuchen und Dampfwolken, die sich in den Zweigen der Mimosen, Eucalypten, Echidneen und Ornythorhynchen verlieren, Kasuare, die vor einem Eilzuge fliehen, und Wilde, die den Expreßzug drei Uhr dreißig Minuten benutzen, um von Melbourne nach Kyneton, Castlemaine, Sandhurst oder Echuca zu fahren, das setzt jeden Andern, als einen Engländer oder Amerikaner, in Erstaunen. Mit dem Dampfwagen entflieht die Poesie der Wüste.

[371] – Immerzu, wenn der Fortschritt dafür einzieht!« antwortete der Major. Da unterbrach ein greller Pfiff die Unterhaltung. Die Reisenden waren kaum noch eine Meile von dem Schienenwege entfernt. Eine von Süden kommende und nur mäßig schnell fahrende Locomotive hielt genau an dem Kreuzungspunkte des Schienenstranges und des von dem Wagen verfolgten Weges.

Diese Eisenbahn verband, wie Paganel gesagt hatte, die Hauptstadt Victoria mit dem Murraystrome, dem größten Flusse Australiens. Dieser großartige, im Jahre 1828 von Sturt entdeckte Wasserlauf, der von den australischen Alpen entspringt, und sich durch Aufnahme des Lachlan und des Darling vergrößert, benetzt die ganze Nordgrenze der Provinz Victoria und ergießt sich bei Adelaide in die Encounter-Bay. Er durchströmt reiches und fruchtbares Land, und immer nimmt, Dank der bequemen Eisenbahnverbindung mit Melbourne, die Anzahl der Stationen von Squattern längs seines Laufes zu.

Diese Eisenbahn war damals in einer Länge von hundertfünf Meilen, zwischen Melbourne und Sandhurst, mit Kyneton und Castlemaine dazwischen, im Betriebe. Die im Bau befindliche Strecke reichte noch siebenzig Meilen weiter bis Echuca, der Hauptstadt der Colonie Riverine, welche in eben diesem Jahre am Murray gegründet worden war.

Der siebenunddreißigste Breitengrad durchschnitt den Schienenweg einige Meilen oberhalb Castlemaine, genau an der über den Lutton, einen der zahlreichen Nebenflüsse des Murray, führenden Brücke.

Nach diesem Punkte führte Ayrton den Wagen, im Gefolge der Reiter, welche bis zur Camden-Brücke im Galop liefen. Dorthin trieb sie übrigens auch die Neugierde.

Nach eben dieser Stelle der Eisenbahn drängte sich nämlich eine beträchtliche Menschenmenge. Die Bewohner der benachbarten Stationen verließen ihre Häuser, die Schäfer ihre Heerden und füllten die Zugänge des Weges. Wiederholt war der Ruf: »Zur Bahn! Zur Bahn!« zu hören.

Es mußte irgend ein wichtiges Ereigniß vorliegen, das diese Bewegung veranlaßte. Vielleicht ein großes Unglück.

Glenarvan spornte sein Pferd und sprengte, gefolgt von seinen Begleitern, in wenigen Minuten zur Camden-Brücke. Dort wurde ihm die Ursache dieser Ansammlung klar.

[372] Es hatte ein schreckliches Unglück stattgefunden, zwar kein Zusammenstoß von Zügen, aber eine Entgleisung und ein Sturz, der an die schwersten Katastrophen auf amerikanischen Eisenbahnen erinnerte. Der unter der Bahn hinlaufende Fluß war mit Wagen-und Locomotivtrümmern angefüllt. Mochte nun die Brücke unter der Last des Zuges nachgegeben haben, oder dieser aus den Schienen gesprungen sein, kurz, von sechs Wagen waren fünf der Locomotive nach in den Lutton gestürzt. Der letzte Wagen nur war durch Reißen der Verbindungsketten wie durch ein Wunder erhalten geblieben und stand, eine halbe Klafter vor dem Abgrunde, noch auf den Schienen. Unten war nur eine traurige Anhäufung von geschwärzten und verbogenen Achsen, eingedrückten Wagen, verdrehten Schienen und halbverbrannten Schwellen zu sehen. Der Dampfkessel, der bei dem Stoße gesprungen war, hatte Stücken seiner Platten auf ungeheure Entfernungen geschleudert. Aus diesem ganzen Wirrwarr formloser Massen züngelten da und dort Flammen, und kleine Dampfstrahlen stiegen neben schwarzem Rauche daraus auf. Nach dem entsetzlichen Sturz die noch schrecklichere Feuersbrunst! Breite Blutspuren, abgerissene Gliedmaßen und verkohlte Rumpfe sahen hier und da hervor, und Niemand wagte die Zahl der unter diesen Trümmern begrabenen Opfer zu schätzen.

Glenarvan, Paganel, der Major und Mangles, die mitten unter der Menge waren, hörten die Ansichten, welche darüber von Einem zu dem Andern gingen. Jeder suchte eine Erklärung für die Katastrophe, während man an dem Rettungswerke arbeitete.

»Die Brücke ist zerbrochen, sagte der Eine.

– Zerbrochen! erwiderten Andere, sie ist so wenig zerbrochen, daß sie noch völlig ganz daneben steht. Es ist vergessen worden, sie für den Uebergang des Zuges zu schließen. Das ist Alles!«

Es war nämlich hier eine Drehbrücke, welche zum Zwecke der Schifffahrt geöffnet wurde. Hatte sie der Wächter durch unverzeihliche Nachlässigkeit zu schließen vergessen, und war der in voller Fahrt begriffene Zug, dessen Weg plötzlich abgeschnitten war, in das Bett des Lutton hinabgestürzt? Diese Annahme hatte viel für sich, denn wenn eine Hälfte der Brücke unter den Wagentrümmern lag, so hing doch die andere, nach dem entgegengesetzten Ufer zu gedreht, ganz unversehrt an ihren Ketten. Es war also kein Zweifel [373] mehr! Eine Nachlässigkeit des Bahnwärters hatte diese Katastrophe herbeigeführt.

Das Unglück war in der Nacht dem von Melbourne um elf Uhr fünfundvierzig Minuten abgelassenen Expreßzug Nr. 37 begegnet. Es mochte drei und ein Viertel Uhr Morgens sein, etwa fünfundzwanzig Minuten nach der Abfahrt von der Station Castlemaine, als der Zug bei der Camden-Brücke anlangte und dort seinen Untergang fand. Sofort suchten die Reisenden und Beamten des letzten Waggons nach Hilfe, der Telegraph aber, dessen Stangen auf der Erde lagen, functionirte nicht. Drei Stunden brauchten die Behörden von Castlemaine, um an der Stelle des Unheils zu erscheinen. Es war also gegen sechs Uhr Morgens, als das Rettungswerk unter Leitung des Herrn Mitchell, Generalaufsehers der Colonie, organisirt und von einer Abtheilung durch einen ihrer Officiere commandirter Polizisten in Angriff genommen wurde Die Squatters und deren Leute unterstützten Jene, und waren zunächst beschäftigt, die Feuersbrunst zu löschen, welche die Trümmer mit unerhörter Gier verzehrte. Einige unkenntliche Leichname wurden an der Böschung des Bahndammes niedergelegt. Darauf aber, ein lebendes Wesen aus diesem Schmelzofen zu retten, war von Anfang an zu verzichten. Das Feuer hatte das Werk der Zerstörung schnell beendet. Von den Reisenden des Zuges, deren Zahl man nicht kannte, lebten nur noch zehn, die in dem letzten Waggon sich befanden. Die Bahnverwaltung hatte eben eine Hilfslocomotive gesendet, um sie nach Castlemaine zurückzuführen.

Inzwischen sprach Lord Glenarvan, der sich dem Surveyor-General zu erkennen gegeben hatte, mit diesem und dem Polizeiofficier. Der Letztere war ein großer und magerer Mann von unerregbar kaltem Blute, der, wenn er überhaupt ein Gefühl im Herzen hatte, dasselbe wenigstens in seinen rührungslosen Zügen nicht sichtbar werden ließ. Er stand vor diesem Unglück wie der Mathematiker vor einem Problem: er suchte es zu lösen und die unbekannte Größe darin zu finden. Auf Glenarvan's Worte: »Das ist ein furchtbares Unglück!« erwiderte er ruhig:

»Nicht so schlimm, Mylord.

– Nicht so schlimm? rief Glenarvan, betroffen von dieser Redensart, aus, und ist ein solches Unglück nicht etwas sehr Schlimmes?

– Schlimmer wäre ein Verbrechen!« antwortete gelassen der Polizeiofficier.

[374] Glenarvan hielt sich nicht länger bei dem Unpassenden dieser Worte auf und wandte sich mit fragendem Blicke an Mr. Mitchel.

»Ja wohl, Mylord, entgegnete der Surveyor-General, unsere Berathung hat die Gewißheit ergeben, daß diese Katastrophe die Folge eines Verbrechens ist. Der letzte Packwagen ist beraubt, die überlebenden Reisenden sind von einer Rotte von fünf bis sechs Verbrechern angefallen worden. Die Brücke hat man absichtlich offen gelassen und nicht aus Nachlässigkeit; wenn man dazu diese Thatsache mit dem Verschwinden des Bahnwärters zusammen hält, so muß man zu dem Schlusse kommen, daß dieser Elende der Mitschuldige jener Uebelthäter ist.«

Der Polizeiofficier schüttelte zu dieser Schlußfolgerung des Beamten etwas den Kopf.

– »Sie theilen meine Ansicht nicht? fragte ihn Mr. Mitchell.

– Nein; mindestens nicht bezüglich der Mitschuld des Wärters.

– Diese Mitschuld, fuhr der Surveyor-General fort, gestattet es indessen, das Verbrechen den in den Murrayländern umherschweifenden Wilden zuzuschreiben. Ohne den Wächter konnten die Eingeborenen die Drehbrücke, deren Mechanismus ihnen unbekannt war, nicht öffnen.

– Richtig, sagte der Polizeiofficier.

– Ferner, fuhr Mr. Mitchell fort, ist durch die Aussage eines Schiffers, dessen Fahrzeug die Camden-Brücke um zehn Uhr vierzig Minuten Abends passirte, constatirt, daß dieselbe hinter ihm wieder regelrecht geschlossen worden ist.

– Vollkommen.


Es war die Leiche des Bahnwärters. (S. 375.)

– Demnach scheint mir die Mitschuld des Bahnwärters unwiderleglich bewiesen.«

Fortwährend schüttelte der Polizeiofficier den Kopf.

In diesem Augenblicke entstand etwa eine halbe Meile stromaufwärts ein gewaltiger Lärm. Es bildete sich ein Menschenhaufen, der zusehends anwuchs. Bald kam er bei der Station an. In der Mitte der Menschenmasse trugen zwei Männer einen Leichnam. Es war der schon erkaltete Körper des Bahnwärters. Ein Dolchstoß hatte ihn in's Herz getroffen. Die Mörder wollten offenbar dadurch, daß sie den Körper weit von der Camden-Brücke wegschleppten, den Verdacht der Polizei bei den ersten Nachsuchungen ablenken.

[375] Diese Entdeckung bestätigte vollkommen den Verdacht des Polizeiofficiers. Die Wilden waren an diesem Verbrechen unbetheiligt.

»Die diesen Stoß geführt haben, sagte er, sind Leute, welche mit dem Gebrauche dieses kleinen Instrumentes schon vertraut waren.«

So sprechend zeigte er ein Paar Handschellen, die aus einem doppelten mit einem Schlosse versehenen Eisenring bestehen.

»In kurzer Zeit, fuhr er fort, werde ich das Vergnügen haben, Jenen dieses Armband als Neujahrsgeschenk anzubieten.

[376] – Nun, so haben Sie Verdacht ...?


Ein adressirter junger Eingeborner. (S. 380.)

– Auf Leute, welche ›auf Schiffen Ihrer Majestät unentgeldlich gefahren sind‹.

– Wie? Deportirte? rief Paganel, dem diese in den Colonien Australiens beliebte Bezeichnungsweise bekannt war.

– Ich glaubte, bemerkte Glenarvan, die Deportirten hätten nicht das Recht, sich in der Provinz Victoria aufzuhalten?

– Pah! erwiderte der Polizeiofficier, wenn sie es nicht haben, so nehmen [377] sie sich es eben! Das kommt so manchmal vor, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn die Deportirten, um die es sich hier handelt, nicht geraden Wegs von Perth kämen. Nun wohl, sie werden auch dahin zurückkehren, glauben Sie mir.«

Mr. Mitchell bestätigte durch eine Handbewegung die Worte des Polizeiofficiers. Jetzt kam auch der Wagen an der Stelle an, wo man auf gleichem Niveau der Eisenbahn über dieselbe kommen kann. Glenarvan wollte den Frauen den schrecklichen Anblick der Camden-Brücke ersparen. Er grüßte den Surveyor-General, verabschiedete sich von ihm, und winkte seinen Freunden, ihm zu folgen.

»Das ist doch wohl kein Grund, unsere Reise zu unterbrechen?« sagte er.

Beim Wagen angekommen, sprach er Lady Helena gegenüber nur von einem Eisenbahnunglücke, ohne des Antheils zu erwähnen, den das Verbrechen an dieser Katastrophe hatte; ebenso wenig that er der Anwesenheit einer Bande Deportirter in der Gegend Erwähnung, und behielt sich nur vor, Ayrton speciell zu instruiren. Dann fuhr die kleine Gesellschaft einige hundert Klafter oberhalb der Brücke über die Bahn und nahm ihren gewohnten Weg nach Osten.

13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Ein erster Preis in der Geographie.

Einzelne Hügel zeichneten am Horizont ihre leichten Umrisse ab und begrenzten die Ebene zwei Meilen von dem Schienenwege. Der Wagen fuhr bald durch enge, regellos gewundene Hohlwege, die in eine reizende Gegend ausliefen, wo schöne, vereinzelte Baumgruppen in üppiger Fülle des Tropenlandes prangten. Unter den bewundernswerthesten zeichneten sich die »Casuarinas« aus, die von der Eiche den starken Bau des Stammes, von der Akazie die duftenden Blüthen und von der Tanne die rauhen, grau-grünen Blätter entliehen zu haben scheinen. Ihre Zweige durchdrangen die kegelförmigen Gipfel der »Banksia lacifolia«, die sehr schlank, doch äußerst zierlich[378] sind. Große Sträucher mit herniederhängenden Aestchen gaben dem dichten Gebüsch das Ansehen grünen, aus übervollen Gefäßen sprudelnden Wassers.

Das Auge schwankte, wo es unter all' diesen Naturwundern den staunenden Blick sollte haften lassen.

Die kleine Truppe hatte einen Augenblick angehalten und Ayrton auf Befehl der Lady Helena ebenfalls seinen Wagen. Die großen Karrenräder knarrten nicht mehr in dem quarzigen Sande. Ein weiter grüner Teppich erstreckte sich unter den Baumgruppen, und einzelne Bodenerhöhungen theilten ihn in regelrechte Felder, so daß er das Aussehen eines großen Schachbrettes bekam.

Paganel täuschte sich nicht beim Anblick dieser grünen, so schön für die ewige Ruhe geeigneten Einsamkeit. Er erkannte diese Begräbnißfelder, deren letzte Spuren jetzt das Gras verwischt, und welche der Reisende so selten auf australischem Boden antrifft.

»Todtenhaine«, sagte er.

Wirklich lag ein Friedhof der Eingeborenen vor ihren Blicken, doch so frisch, so schattig, so heiter durch muntere Vögelschaaren, so einladend, daß er keine traurigen Gedanken erregte. Man hätte ihn gern für einen der Gärten Edens, als der Tod noch von der Erde verbannt war, gehalten. Er schien für die Lebenden geschaffen!

Doch verschwanden diese von den Wilden mit frommer Sorgfalt unterhaltenen Gräber schon unter hohem, wallendem Graswuchs. Die Eroberungen hatten den Australier weit von der Erde, worin seine Vorfahren ruhten, vertrieben, und die Ansiedler sollten bald diese Todtenfelder den weidenden Heerden Preis geben.

Diese Haine sind auch schon selten geworden, und wie viele, die eine ganze neue Generation bedecken, werden bereits vom Fuß des gleichgiltigen Reisenden betreten.

Unterdeß waren Paganel und Robert ihren Gefährten voraus zwischen den Grabhügeln durch kleine schattige Alleen geritten.

Sie plauderten und belehrten einander, denn der Geograph behauptete, viel aus der Unterhaltung des jungen Grant zu gewinnen. Doch hatten sie noch keine Viertelmeile zurückgelegt, als Lord Glenarvan sie anhalten, vom Pferde steigen und sich zur Erde bücken sah. Nach ihren ausdrucksvollen Geberden zu urtheilen, schienen sie einen sehr merkwürdigen Gegenstand zu [379] untersuchen. Ayrton trieb die Ochsen an, und bald hatte der Wagen die beiden Freunde eingeholt. Man erkannte sofort die Ursache ihres Haltes und ihres Erstaunens. Ein eingeborener Knabe von acht Jahren, europäisch gekleidet, schlummerte friedlich im Schatten einer prachtvollen Banksia. Es war nicht schwer, die charakteristischen Merkmale seiner Race zu erkennen. Die krausen Haare, die ungewöhnliche Länge der Arme, die fast schwarze Gesichtsfarbe, die platte Nase, dicken Lippen, reihten ihn sofort in die Classe der Eingeborenen im Innern des Landes. Doch sein Gesichtsausdruck zeigte entwickelten Verstand, und sicherlich hatte die Erziehung diesen jungen Wilden schon über seinen niedern Ursprung emporgehoben.

Lady Helena, die bei seinem Anblick ihm volle Theilnahme schenkte, stieg aus, und bald umgab die ganze Truppe den tiefschlummernden Knaben.

»Das arme Kind, sagte Mary Grant, hat sich wohl in dieser Wüste verloren?

– Ich vermuthe, antwortete Lady Helena, daß er weit hergekommen ist, um den Todtenhain zu besuchen! Hier ruhen ohne Zweifel die, welche er liebt!

– Aber man darf ihn nicht verlassen! sagte Robert, er ist allein und ...«

Die mitleidigen Worte Roberts wurden durch eine Bewegung des kleinen Eingeborenen unterbrochen, welcher sich umwandte, ohne aufzuwachen; doch wie groß war die Ueberraschung Aller, als man an seinen Schultern eine Tafel befestigt sah, auf welcher Folgendes geschrieben stand:


»Toline.


Nach Echuca zu bringen, durch Vermittelung des Eisenbahnbeamten Jeffries Smith. Fahrt vorausbezahlt.«


»So sind die Engländer! rief Paganel aus, sie verschicken ein Kind wie einen Ballen Waare! Sie bezeichnen es wie ein Packet! Man hat mir's wohl schon gesagt, aber ich wollte es immer nicht glauben.

– Armer Kleiner! sagte Lady Helena. War er in dem Zuge, der bei Camde-Bridge entgleiste? Vielleicht sind seine Eltern dabei um's Leben gekommen, und er steht nun allein in der Welt!

– Ich glaube nicht, gnädige Frau, antwortete John Mangles. Diese Schrifttafel zeigt im Gegentheil an, daß er allein reist.

– Er wird wach«, sagte Mary Grant.

[380] Wirklich wurde das Kind munter. Nach und nach öffneten sich seine Augen und schlossen sich, vom Tageslicht geblendet, alsbald wieder. Lady Helena nahm den Knaben jedoch bei der Hand; er stand auf und warf einen erstaunten Blick auf die Gruppe der Reisenden. Ein Gefühl der Schüchternheit machte anfangs seine Züge befangen, doch die Gegenwart Lady Glenarvan's beruhigte ihn wieder.

»Verstehst Du Englisch, mein Lieber? fragte ihn die junge Frau.

– Ich verstehe und spreche es«, erwiderte der Knabe in der Sprache der Reisenden, doch mit stark ausgeprägtem Accente.

– Seine Aussprache erinnerte an die der Franzosen, wenn sie sich der Sprache des Vereinigten Königreichs bedienen.

»Wie heißt Du? fragte Lady Helena.

– Toline, antwortete der kleine Eingeborene.

– Ah, Toline! rief Paganel aus. Täusche ich mich nicht, so bedeutet dies Wort ›Baumrinde‹ auf australisch?«

Toline machte ein Zeichen der Bejahung und wandte seine Blicke den Damen wieder zu.

»Woher kommst Du, mein Kind? begann Lady Helena wieder.

– Aus Melbourne, mit der Bahn von Sandhurst.

– Du warst in dem Zuge, der auf der Brücke bei Camden aus den Schienen ging? fragte Glenarvan.

– Ja, mein Herr, erwiderte Toline, aber der Gott der Bibel hat mich beschützt.

– Du reisest allein?

– Allein. Der Ehrwürdige Herr Paxton hatte mich Jeffries Smith anvertraut; unglücklicherweise ist der arme Beamte bei dem Unfall getödtet worden.

– Und Du kanntest Niemand in diesem Zug?

– Niemand, mein Herr, aber Gott wacht über die Kinder und verläßt sie nie!«

Toline sagte Alles dies mit sanfter, zu Herzen gehender Stimme. Wenn er von Gott sprach, wurden seine Worte ernster, seine Augen glänzten und man empfand die ganze Inbrunst, welche diese junge Seele erfüllte.

Diese fromme Begeisterung in so zartem Alter ist leicht zu erklären.

Dies Kind war eins jener jungen Eingeborenen, die von den englischen [381] Missionären getauft und von ihnen in den strengen Gebräuchen der methodistischen Religion erzogen werden. Seine ruhigen Antworten, sein sauberes Aeußere, seine dunkle Kleidung, gaben ihm schon das Aussehen eines kleinen Geistlichen.

Aber wohin ging er durch diese einsame Gegend, und warum hatte er Camden-Bridge verlassen? Darüber befragte ihn Lady Helena.

»Ich wollte zu meinem Stamm im Lachlan zurückkehren und meine Familie wiedersehen.

– Australier? fragte John Mangles.

– Australier vom Lachlan, antwortete Toline.

– Und Du hast noch Eltern? sagte Robert Grant.

– Ja, mein Bruder«, erwiderte Toline, seine Hand dem jungen Grant reichend, welchen der Name Bruder empfindsam berührte. Er küßte den kleinen Wilden, und es bedurfte nicht mehr, um sie zu Freunden zu machen.

Unterdeß hatten sich die Reisenden, welche an den Antworten des Knaben lebhaften Antheil nahmen, um ihn herum gesetzt und hörten ihm zu. Schon senkte sich die Sonne hinter den großen Bäumen. Da der Ort zu einem Halteplatz günstig schien, und es wenig darauf ankam, noch einige Meilen mehr vor Anbruch der Nacht zu machen, gab Glenarvan den Befehl, Alles zur Errichtung des Lagers vorzubereiten. Ayrton spannte die Ochsen ab; mit Hilfe Mulrady's und Wilsons legte er ihnen die Spannketten an und ließ sie nach Belieben weiden. Das Zelt wurde aufgespannt, und Olbinett bereitete die Mahlzeit zu. Toline nahm Theil daran, nicht, ohne vorher Umstände zu machen, obgleich er Hunger hatte. Man setzte sich also zu Tisch, die beiden Knaben neben einander Robert wählte die besten Stücke für seinen neuen Kameraden aus und Toline nahm sie mit furchtsamer, doch anmuthsvoller Grazie an.

Die Unterhaltung stockte indessen nicht. Jeder nahm Theil an dem Kinde und befragte es. Man wollte seine Geschichte wissen. Diese war sehr einfach. Seine Vergangenheit war die armer Eingeborener, die von frühester Kindheit an den mildthätigen Gesellschaften von den der Colonie benachbarten Stämmen anvertraut werden. Die Australier sind von sanften Sitten. Sie legen nicht jenen wilden Haß gegen ihre Unterdrücker an den Tag, welcher die Neuseeländer und vielleicht einige Völkerschaften des nördlichen Australiens kennzeichnet. Man sieht sie die großen Städte besuchen, wie Adelaide, Sidney, [382] Melbourne und dort in ziemlich naturgemäßen Costümen umherspazieren. Sie verhandeln dort verschiedene Gegenstände ihrer Industrie, Jagd- und Fischfanggeräthschaften, Waffen, und manche Stämme lassen, ohne Zweifel aus Sparsamkeit, ihre Kinder gern die Wohlthat der englischen Erziehung genießen.

So thaten auch die Eltern Toline's, wirkliche Wilde aus dem Lachlan, einem großen, jenseit des Murray gelegenen Landstrich. Seit den fünf Jahren, daß der Knabe in Melbourne wohnte, hatte er Niemand von den Seinigen wiedergesehen. Und dennoch lebte das unverlierbare Gefühl für die Familie immer noch in seinem Herzen, und um seinen vielleicht auseinander getriebenen Stamm, seine wahrscheinlich kleiner gewordene Familie wiederzusehen, hatte er den beschwerlichen Weg durch die Wüste gemacht.

»Und wenn Du Deine Eltern umarmt hast, kehrst Du nach Melbourne zurück, mein Kind? fragte ihn Lady Glenarvan.

– Ja, Madame, erwiderte Toline, indem er die junge Frau mit aufrichtiger Zärtlichkeit ansah.

– Und was wirst Du einmal für einen Lebensberuf haben?

– Meine Brüder dem Elend und der Unwissenheit entreißen! Ich werde sie lehren, Gott zu kennen und zu lieben! Ich will ein Missionär werden!«

Diese, von einem achtjährigen Kinde mit Empfindung ausgesprochenen Worte konnten leichtfertige, spöttische Geister zum Lachen veranlassen; von den ernsten Schotten jedoch wurden sie verstanden und geachtet; sie bewunderten den frommen Muth dieses jungen, schon zum Kampf bereiten Schülers. Paganel fühlte sich bis in's Innerste des Herzens gerührt, und er empfand eine echte Sympathie für den kleinen Eingeborenen.

Offen gesagt, hatte ihm bis hierher dieser europäisch gekleidete Wilde nicht gefallen. Er war nicht nach Australien gekommen, um Australier im Ueberrock zu sehen! Er wollte sie nur einfach mit Tättowirung bekleidet haben, und dieser »anständige« Anzug brachte seine Ideen aus dem Geleise.

Von dem Augenblick aber an, daß Toline so eifrig gesprochen hatte, kam er von seiner Ansicht zurück und wurde sein Bewunderer.

Das Ende der Unterhaltung sollte außerdem den braven Geographen zum besten Freunde des kleinen Australiers machen.

Auf eine Frage der Lady Helena antwortete Toline, er mache seine Studien [383] auf der »Normalschule« in Melbourne, die vom Ehrwürdigen Herrn Paxton geleitet wurde.

»Und was lehrt man Dich in dieser Schule? fragte Lady Glenarvan.

– Man unterrichtet mich in der Bibel, Mathematik, Geographie ...

– Ah! Geographie! rief Paganel, an seiner empfindlichen Stelle getroffen.

– Ja, mein Herr, antwortete Toline, ich habe sogar vor den Januarserien den ersten Preis in der Geographie erhalten.

– Du hast einen Preis in der Geographie erhalten, mein Junge?

– Da ist er, mein Herr«, sagte Toline, und zog ein Buch aus der Tasche.

Es war eine schön gebundene Bibel in Duodezformat.

Auf der Rückseite des ersten Blattes stand: »Normalschule zu Melbourne, erster geographischer Preis, Toline vom Lachlan.«

Paganel konnte sich kaum fassen! Ein Australier und groß in der Geographie! Das entzückte ihn, und er küßte den Knaben auf beide Wangen, gerade als wenn er an einem Preisvertheilungstage der Ehrwürdige Paxton selbst gewesen wäre. Paganel hätte indeß wissen müssen, daß diese Thatsache in den australischen Schulen nicht selten vorkommt. Die jungen Wilden sind sehr fähig, die geographische Wissenschaft zu begreifen; sie zeigen sich dazu sehr geneigt, dem Rechnen dagegen können sie wenig Geschmack abgewinnen.

Toline hatte für die plötzlichen Liebkosungen des Gelehrten kein Verständniß. Lady Helena mußte ihm erklären, daß Paganel ein berühmter Geograph, und nach Bedürfniß auch ein ausgezeichneter Professor sei.

»Ein Professor der Geographie! rief Toline aus. O, mein Herr, bitte, fragen Sie mich!

– Dich fragen, mein Junge! sagte Paganel, ich wünsche gar nichts Besseres! Ich hätte es schon ohne Deine Erlaubniß gethan. Ich bin nicht böse zu erfahren, wie man in der Normalschule von Melbourne die Geographie lehrt!

– Und wenn das Ei klüger wäre als die Henne, Paganel! sagte Mac Nabbs.

– Oho! rief der Geograph, klüger als der Secretär der Geographischen Gesellschaft von Frankreich!«


»Schüler Toline, steh' auf!« (S. 385.)

Dann setzte er seine Brille auf der Nase zurecht, [384] richtete sich etwas in die Höhe, nahm einen ernsthaften Ton an, wie es einem Professor geziemt, und begann sein Verhör:

»Schüler Toline, sagte er, steh' auf!«

Toline, welcher stand, konnte nicht noch mehr aufstehen, er erwartete also in bescheidener Stellung die Fragen des Geographen.

»Schüler Toline, begann Paganel wieder, welches sind die fünf Erdtheile?

[385] – Australien, Asien, Afrika, Amerika und Europa.

– Gut. Sprechen wir zuerst von Australien, da wir einmal gerade jetzt dort sind. Welches sind seine Haupttheile?

– Es wird eingetheilt in Polynesien, Malesien, Mikronesien und in Megalesien. Seine größten Inseln sind Australien, das den Engländern gehört, Neu-Seeland, Tasmanien, die Inseln Chatham, Auckland, Maguarie, Kermadec, Makin, Maraki u.s.w., die alle den Engländern gehören.

– Gut, sagte Paganel, aber Neu-Caledonien, die Sandwich-, Mendana-, Pomotu-Inseln?

– Diese stehen unter dem Schutze Großbritanniens.

– Wie, unter dem Schutze Großbritanniens! rief Paganel aus. Mir scheint, als ob im Gegentheil Frankreich ...

– Frankreich! sagte der Knabe mit erstauntem Gesicht.

– Sieh, sieh! sprach Paganel, das also lehrt man Euch in der Normalschule zu Melbourne?

– Ja, Herr Professor, ist dies nicht richtig?

– Ja wohl, vollkommen, erwiderte Paganel. Ganz Australien gehört den Engländern! Das ist selbstverständlich! Fahren wir fort.«

Paganel sah halb ärgerlich, halb überrascht aus, was dem Major viel Freude machte.

Das Verhör ging weiter.

»Gehen wir zu Asien über, sagte der Geograph.

– Asien, antwortete Toline, ist ein ungeheures Land. Hauptstadt: Calcutta. Große Städte: Bombay, Madras, Calicut, Aden, Malakka, Singapore, Pegu, Colombo; die Inseln Laquedivia, Maldivia, Chagos u.s.w., gehören den Engländern.

– Gut, gut, Schüler Toline. Und Afrika?

– Afrika umfaßt zwei Haupt-Colonien, die am Cap, mit Capstadt als Hauptort, und im Westen die englischen Niederlassungen, Hauptstadt: Sierra Leona.

– Gut geantwortet! sagte Paganel, der anfing, sich in diese anglophantastische Geographie zu finden, die so vollkommen gelehrt wurde. Was Algerien, Marokko, Egypten anbetrifft, ... gestrichen vom britannischen Atlas! Ich möchte jetzt gern ein wenig von Amerika reden!

– Es wird eingetheilt, begann Toline wieder, in Nord-Amerika und [386] Süd-Amerika. Das erstere gehört den Engländern, durch Canada, Neu-Braunschweig, Neu-Schottland, und den Vereinigten Staaten unter der Verwaltung des Gouverneurs Johnson.

– Des Gouverneurs Johnson! rief Paganel aus, dieser Nachfolger des großen und guten Lincoln, den ein für die Sklaverei fanatisirter Narr ermordete! Vortrefflich, es geht nichts darüber hinaus! Und Süd-Amerika mit Guyana, den Maluinen, dem Archipel von Shetland, Georgien, Jamaika, Trinidad u.s.w., es gehört auch den Engländern! Ich möchte nicht darüber streiten. Nun aber, Toline, wünschte ich Deine Meinung, oder vielmehr die Deiner Lehrer über Europa zu hören.

– Europa? fragte Toline, dem die Aufregung des Geographen unverständlich war.

– Ja, Europa! Wem gehört Europa?

– Nun, Europa gehört den Engländern, antwortete das Kind im Tone der Ueberzeugung.

– Ich dachte es wohl, versetzte Paganel. Aber wie? Das wünschte ich zu wissen.

– Durch England, Schottland, Irland, Malta, die Inseln Jersey und Guernsey, die Ionischen Inseln, die Hebriden, die Shetland- und Orkney-Inseln ...

– Wohl, wohl, Toline, aber Du vergißt noch andere Staaten zu erwähnen, mein Junge!

– Welche, mein Herr? antwortete das Kind, das nicht die Fassung verlor.

– Spanien, Rußland, Oesterreich, Preußen, Frankreich!

– Das sind Provinzen und keine Staaten, sagte Toline.

– Wahrhaftig! rief Paganel, indem er die Brille von seinen Augen riß.

– Ohne Zweifel. Spanien, Hauptstadt Gibraltar.

– Bewundernswerth! Vortrefflich! Göttlich! Und Frankreich, denn ich bin Franzose – ich wäre nicht böse, zu erfahren, wem ich gehöre?

– Frankreich, antwortete Toline ruhig, ist eine englische Provinz, Hauptort: Calais.

– Calais! rief Paganel. Was! Du glaubst, daß Calais den Engländern noch gehört?

– Ohne Zweifel.

[387] – Und daß es der Hauptplatz Frankreichs ist?

– Ja, mein Herr, und dort wohnt der Gouverneur, Lord Napoleon.«

Bei diesen Worten kam Paganel außer sich. Toline wußte nicht, was er dabei denken sollte. Man hatte ihn gefragt, und er hatte nach bestem Wissen geantwortet. Man konnte ihm die Sonderbarkeit seiner Antworten nicht zur Last legen, er ahnte sie nicht einmal. Er schien indeß nicht außer Fassung gebracht und erwartete ernsthaft das Ende dieser unverständlichen Heiterkeit.

»Sie sehen, sagte der Major lachend zu Paganel, daß ich Recht hatte zu behaupten, der Schüler würde den Meister belehren?

– Gewiß, Freund Major, versetzte der Geograph. So also lehrt man die Geographie in Melbourne! Die Lehrer der Normalschule verstehen ihre Sache gut! Europa, Asien, Afrika, Amerika, Australien, die ganze Welt, Alles gehört den Engländern! Wahrlich, bei dieser sinnreichen Erziehung begreife ich, daß die Eingeborenen sich unterwerfen. Sag' doch, Toline, mein Junge, und der Mond, ist der auch den Engländern.

– Er wird es werden«, antwortete der junge Wilde ernsthaft.

Nun aber stand Paganel auf. Er konnte nicht mehr auf seinem Platze bleiben. Er mußte sich auslachen, und ging eine Viertelmeile spazieren, um seine Anwandlung los zu werden.

Unterdessen hatte Glenarvan ein Buch aus seiner kleinen Reisebibliothek geholt. Es war der »Abriß der Geographie« von Samuel Richardson, ein in England geschätztes Werk und mehr auf dem Laufenden der Wissenschaft, als die Lehrer von Melbourne.

»Hier, mein Kind, sagte er zu Toline, nimm und behalte dies Buch. Du hast einige falsche Begriffe in der Geographie, die Du zu verbessern nöthig hast. Ich schenke es Dir als Andenken an unsere Begegnung.«

Toline nahm das Buch, ohne zu antworten; er betrachtete es aufmerksam, schüttelte den Kopf mit ungläubiger Miene, ohne sich entschließen zu können, das Buch in die Tasche zu stecken.

Inzwischen war es völlig Nacht geworden; es war zehn Uhr Abends und man mußte an's Schlafengehen denken, um in aller Frühe aufstehen zu können. Robert bot seinem Freunde Toline an, sein Lager mit ihm zu theilen, und der Knabe nahm es an.

Unverweilt nahmen Lady Helena und Mary Grant wieder Platz im [388] Karren, und die Reisenden streckten sich unter dem Zeltdach auf ihre Lagerstätten, während Paganel mit hellem Lachen die sanften und tiefen Töne der wilden Elstern accompagnirte.

Als aber am folgenden Morgen die Schläfer um sechs Uhr vom Sonnenstrahl aus dem Schlafe geweckt wurden, sahen sie sich vergebens nach dem australischen Knaben um. Toline war verschwunden. Eilte er wieder heim an den Lachlan-See? Hatte Paganel's Lachen ihn verletzt? Man wußte es nicht.

Aber als Lady Helena aufstand, fand sie auf ihrer Brust einen frischen Strauß Sensitiven, und Paganel in seiner Westentasche das »Handbüchlein der Geographie« von Samuel Richardson.

14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Die Minen des Alexander-Berges.

Im Jahre 1844 entdeckte Sir Robert Impey Murchison, damals Präsident der Königlichen Geographischen Gesellschaft zu London, beim Studium der Gebirgsformationen sehr bemerkenswerthe Aehnlichkeiten zwischen der Uralkette und dem Gebirgszuge, der sich unsern der Südküste Australiens von Norden nach Süden erstreckt.

Da nun der Ural ein goldführendes Gebirge ist, fragte sich der gelehrte Geolog, ob dieses kostbare Metall sich nicht auch in der australischen Cordillere wiederfinden möchte, und er täuschte sich nicht.

Wirklich wurden ihm zwei Jahre später einige Goldproben aus Neu-Süd-Wales zugesendet, und er entschied die Auswanderung einer großen Anzahl Arbeiter aus Cornwallis nach den Goldregionen Neu-Hollands.

Als der erste Anstoß gegeben war, strömten Minengräber aus allen Theilen der Erdkugel, und zwar Engländer, Amerikaner, Italiener, Franzosen, Deutsche und Chinesen zusammen. Erst am 3. April 1851 entdeckte indessen Mr. Hargraves reiche Goldlager, und schlug dem Gouverneur der Provinz Sidney, [389] Sir Ch. Fitz-Roy, vor, gegen die mäßige Summe von fünfhundert Pfund Sterling 1 ihm Kenntniß von den Lagerstätten zu geben.

Sein Anerbieten wurde abgelehnt, doch das Gerücht von dieser Entdeckung verbreitete sich allerwärts. Die Goldsucher wandten sich nach Summerhill und dem Leni's Pond. Die Stadt Ophir ward gegründet und machte sich durch die ausgebeuteten Reichthümer bald ihres biblischen Namens würdig.

Bis dahin war von der Provinz Victoria noch gar nicht die Rede, sie sollte jedoch bald durch den Reichthum ihrer Goldlager weitaus die wichtigste werden.

Wirklich wurden einige Monate später, im August 1851, die ersten Goldgeschiebe der Provinz ausgegraben, und bald befanden sich vier Districte reichlich in Ausbeutung. Diese vier Districte waren die von Bellarat, vom Ovens, von Bentigo und der des Alexander-Berges. Sie waren alle sehr reich; beim Flusse Ovens aber erschwerte die große Wassermenge ungemein die Arbeit; in Bellarat täuschte eine sehr ungleiche Vertheilung des Goldes oft die Berechnungen der Suchenden; in Bentigo endlich entsprach der Erdboden nicht den Anforderungen der Arbeiter. Am Berge Alexander fanden sich alle Bedingungen des Erfolges bei einem gleichmäßigen Boden vereinigt, und dieses kostbare Metall, welches bis 1441 Francs 2 per Pfund galt, erreichte die höchste Taxe von allen Märkten der Welt.

Gerade über diesen an traurigen Verlusten und unverhofften Glückszufällen so reichen Ort führte der Weg auf dem siebenunddreißigsten Breitengrade die Sucher nach dem Kapitän Grant.

Nachdem sie am 31. December den ganzen Tag über auf sehr unebenem Terrain, welches Pferde und Stiere ermüdete, gezogen waren, kamen ihnen die abgerundeten Gipfel des Alexander-Berges zu Gesicht. Sie schlugen ihr Lager in einer engen Schlucht dieser kleinen Bergkette auf. Die Thiere suchten sich, mit den Spannriemen an den Füßen, ihr Futter selbst zwischen den Quarzblöcken, die da und dort den Boden bedeckten. Hier war noch nicht die Gegend der ausgebeuteten Terrain-Loose. Erst am anderen Tage, dem ersten des Jahres 1866, drückte ihr Gefährt seine Furchen in die Wege dieser überreichen Landschaft.

[390] Jacques Paganel und seine Begleiter waren hoch erfreut, im Vorüberfahren jenen berühmten Berg, der in australischer Sprache Geboor heißt, zu sehen. Dahin strömte der ganze Schwarm von Abenteurern, Räubern und ehrlichen Leuten. Solche, welche hängen lassen, und Solche, welche es dazu bringen, daß man sie hängt.

Beim ersten Bekanntwerden jener großen Entdeckung, im Goldjahre 1851, wurden die Städte, die Felder und die Schiffe von den Bewohnern, den Anbauern und den Seeleuten verlassen. Das Goldfieber wurde epidemisch, ansteckend wie die Pest, und wie Viele gingen daran zu Grunde, die schon ihr Glück fest in der Hand zu halten glaubten! Die verschwenderische Natur hatte, so sagte man, Millionen über mehr als fünfundzwanzig Breitengrade in diesem Wunderlande Australien ausgesäet. Jetzt war die Zeit der Ernte, und die Schnitter eilten zum Einbringen derselben. Das Geschäft des »Diggers«, des Goldgräbers, stand allen anderen voran, und wenn auch nicht zu leugnen ist, daß Viele schon beim Anfange den Strapazen unterlagen, so gelangten doch auch Einige manchmal durch einen einzigen Hieb der Hacke zu Reichthümern. Man schwieg die mißlichen Fälle todt, und hing die Glücksfälle an die große Glocke. Die Letzteren fanden in allen fünf Erdtheilen ihr Echo. Bald strömte eine Fluth Ehrgeiziger aller Classen an den Küsten Australiens zusammen; während der letzten vier Monate des Jahres 1852 landeten in Melbourne allein 54,000 Auswanderer, eine Armee, aber ohne Führer, ohne Disciplin, eine Armee am Tage nach einem Siege, der noch nicht errungen war, kurz, 54,000 Raubgesellen der schlimmsten Art.

Während dieser ersten Jahre toller Trunkenheit herrschte eine unbeschreibliche Unordnung. Doch wußten sich die Engländer mit gewohnter Energie zu Herren der Situation zu machen. Die Policemen und die eingeborenen Gendarmen verließen die Partei der Diebe zum Besten der ehrlichen Leute. Es trat nun ein Umschwung ein.


Eine Stadt im Goldlande. (S. 394.)

Auch Glenarvan sollte von den gewaltthätigen Auftritten des Jahres 1852 Nichts mehr sehen. Dreizehn Jahre waren schon seit dieser Zeit vergangen, und jetzt vollzog sich die Ausbeutung der Goldfelder mit Methode und nach den Vorschriften einer strengen Organisation.


Das mineralogische Museum der Bank. (S. 396.)

Dazu begannen die Terrain-Loose sich auch zu erschöpfen. Bei der Hast, sie zu durchwühlen, kam man auf ihren Grund. Und wie hatte man nicht diese von der Natur aufgespeicherten Schätze ausgesaugt, da die Goldgräber [391] von 1852 bis 1858 dem Erdboden von Victoria 63,107,478 Pfund Sterling 3 entnommen haben? Die Auswanderer haben sich deshalb in bemerklichem Grade vermindert und haben sich auf noch unangetastete Gegenden geworfen. So werden die in Otago und in Marlborough auf Neu-Seeland neuentdeckten [392] »Goldfelder« thatsächlich von Tausenden zweifüßiger ungefiederter Termiten durchlöchert. 4

[393] Gegen elf Uhr kam man im Mittelpunkte der Goldgräbereien an. Da erhob sich eine wirkliche Stadt mit Hüttenwerken, Bankgebäude, Kirche, Kaserne, Landhäuser und Journalbureaux; Hôtels, Meiereien, Villen fehlten ebenso wenig. Auch gab es ein sehr besuchtes Theater mit Plätzen zu zehn Schilling. Mit großem Erfolge führte man dort ein locales Schauspiel, mit dem Titel »Francis Obadiah, oder der glückliche Digger« auf. Die Lösung desselben läuft darauf hinaus, daß der Held in der Verzweiflung noch einen letzten Hieb mit der Hacke thut, und einen Goldklumpen von ganz unglaublichem Gewicht findet.

Glenarvan ließ, da er begierig war, die weitverbreitete Ausbeutung des Alexander-Berges zu besuchen, den Wagen unter Ayrton's und Mulrady's Leitung vorausgehen, und wollte ihn einige Stunden später wieder treffen. Paganel war über diesen Entschluß hocherfreut und gab, ganz nach seiner Gewohnheit, den Führer und Erklärer für die kleine Gesellschaft ab.

Auf seinen Rath hin begab man sich nach der Bank. Die breiten Straßen waren macadamisirt und sorgfältig gesprengt. Ungeheure Anschlagzettel derGolden Company (limited), der Digger's General Office und der Nugget's Union fielen in die Augen. Die Association der Kräfte und des Capitals waren an die Stelle des einzelnen Goldgräbers getreten. Ueberall hörte man die Maschinen arbeiten, welche den Sand wuschen oder den kostbaren Quarz pulverisirten.

Außerhalb der Wohngebäude erstreckten sich die Placers, das sind ausgedehnte zur Ausbeutung bestimmte Terrains. Dort arbeitete die Hacke der von den Gesellschaften angestellten und hochgelöhnten Grubenleute. Kein Auge vermochte alle die Löcher zu zählen, welche die Erde zum Siebe machten. Das Eisen der Spaten erglänzte in der Sonne und warf unaufhörlich strahlende Blitze zurück. Unter den Arbeitenden waren die Typen aller Nationen vertreten. Kein Streit war zu hören; als wohlbezahlte Leute vollendeten sie schweigend ihr Tagewerk.

»Deshalb darf man aber nicht glauben, sagte Paganel, daß auf australischem Boden kein einziger fieberhitziger Goldsucher mehr sei, der sein Glück vom Zufalle in den Goldminen abhängig machte. Ich weiß recht wohl, daß der größte Theil seine Arme den Compagnien vermiethet, und das geht nicht wohl an ders, da die goldhaltigen Ländereien alle verkauft oder von der Regierung verpachtet sind. Für Denjenigen aber, der Nichts besitzt, der [394] weder pachten, noch kaufen kann, giebt es doch noch einen Weg, sich zu bereichern.

– Und welchen? fragte Lady Helena.

– Durch den Gebrauch des ›Jumping‹, erwiderte Paganel. So könnten wir, die wir kein Recht auf diese Placers haben, dennoch – versteht sich bei sehr günstigen Umständen – unser Glück machen.

– Aber auf welche Weise? fragte der Major.

– Durch das ›Jumping‹, wie ich eben die Ehre hatte, Ihnen zu sagen.

– Aber was ist das Jumping? fragte wiederholt der Major.

– Es ist das eine Art stillschweigender Uebereinkunft zwischen den Goldsuchern, die nicht selten heftige Auftritte und Unordnungen herbeiführt, welche die Behörden aber nie abzuschaffen vermochten.

– Nun denn, Paganel, sagte Mac Nabbs, Sie machen ja, daß uns der Mund wässert.

– Nun gut; es wird angenommen, daß jede Grube innerhalb des in Angriff genommenen Terrains, an welcher, mit Ausnahme der kirchlichen Festtage, vierundzwanzig Stunden lang nicht gearbeitet wird, der Allgemeinheit verfällt. Wer von ihr Besitz ergreift, kann darin graben und sich Reichthümer sammeln, wenn ihm der Himmel hilft. Also Robert, mein Sohn, suche ein verlassenes Loch zu finden, und es gehört Dir!

– Herr Paganel, sagte Mary Grant, setzen Sie meinem Bruder nicht solche Gedanken in den Kopf.

– Ich scherze ja nur, meine liebe Miß, entgegnete Paganel, und Robert weiß das sehr wohl. Er – und Goldgräber! Niemals! Die Erde zu furchen, zu wenden, zu cultiviren, dann zu besäen, und ihr eine Ernte für die gehabten Mühen abzuzwingen – recht schön! Aber sie so wie ein Maulwurf, und ebenso blind wie dieser, zu durchwühlen, um ihr ein wenig elendes Gold zu entreißen, das ist ein trauriges Geschäft, und man muß von Gott und den Menschen verlassen sein, um dieses zu ergreifen.«

Nachdem sie die Hauptstätten der Minen besucht, auch ein aufgelassenes Grundstück, das zum großen Theil aus Quarz, dann aus Thonschiefer und Sand bestand, welcher von verwitterten Felsen herrührte, betrachtet hatten, gelangten die Reisenden nach dem Bankgebäude.

Es war das ein sehr umfassendes Bauwerk mit der Nationalflagge am [395] Giebel. Lord Glenarvan wurde durch den Generalinspector empfangen, der im Hause die Honneurs machte.

Dort deponiren die Gesellschaften nämlich gegen Empfangschein das den Eingeweiden des Bodens entzogene Gold. Längst war die Zeit vorüber, daß der Goldgräber durch die Kaufleute der Colonie ausgebeutet wurde. Diese bezahlten ihm in den Placers dreiundfünfzig Schilling für die Unze, die sie in Melbourne für fünfundsechzig wieder verkauften! Freilich ist es wahr, daß der Kaufmann das Risico des Transportes auf sich nahm, und als die Speculanten der Heerstraße sich vermehrten, war nicht immer genügende Schutzbedeckung zur Hand.

Den Besuchern wurden ganz merkwürdige Goldproben vorgelegt, und der Inspector begleitete sie mit sehr interessanten Einzelheiten über die verschiedenen Arten der Gewinnung dieses Metalles.

Im Allgemeinen trifft man es unter zwei verschiedenen Formen, als Waschgold und als Staubgold. Als rohes Metall findet es sich entweder gemengt mit dem angeschwemmten Lande oder in Quarzgänge eingeschlossen. Auch verfährt man behufs seiner Gewinnung je nach der Natur des Bodens, indem man einmal nur die Oberfläche weggräbt, das andere Mal in die Tiefe eindringt.

Das Waschgold liegt im Grunde der Bergströme, der Thäler und Schluchten, nach der Schwere seiner Theile geschichtet, zunächst die Körnchen, dann die Blättchen und endlich die gröberen Körner.

Das Gold dagegen, dessen Muttergestein durch Einwirkung der Luft zersetzt ist, findet sich zusammengehäuft und bildet das, was die Goldgräber »Täschchen« nennen.

Solche Täschchen schließen öfter allein einen ganzen Reichthum ein.

Am Alexander-Berg wird das Gold vorwiegend in thonigen Schichten und den Spalten von Schiefergestein gefunden. Dort finden sich ganze Lager von Goldgeschiebe; dort hat ein glücklicher Gräber manchmal die Hand auf das große Loos in den Placers gelegt.

Nachdem die Besucher die verschiedenen Goldsorten einer genaueren Betrachtung unterzogen hatten, gingen sie noch durch das mineralogische Museum der Bank. Sie sahen, wohl bezeichnet und classificirt, alle Producte, welche den australischen Boden bilden. Das Gold bildet nicht seinen einzigen Reichthum, sondern er kann vollberechtigt als ein großer Schrank betrachtet werden, in [396] welchem die Natur ihre kostbarsten Kleinode bewahrte. Unter den durchsichtigen Mineralien erglänzte der weiße Topas, ein Rival der brasilianischen Topase; der Karfunkel-Granat; der Thallit, eine Art Silicat von schönem Grün; der Rubinbalbaß, der durch scharlachrothe Spinelle und eine rosafarbene Varietät von hoher Schönheit vertreten war; hell- und dunkelblaue Saphire, wie z.B. der Corindon, der ebenso gesucht ist, wie der von Malabar oder Tibet; ferner röthliche Brillanten und endlich ein kleiner Diamantenkrystall, der an den Ufern des Turon gefunden wird. Nichts fehlte an dieser glänzenden Sammlung edler Steine, und das Gold zu ihrer Fassung war ja nicht weit zu suchen. Außer daß man sie alle schon gefaßt gewünscht hätte, blieb wirklich nichts zu wünschen übrig.

Glenarvan verabschiedete sich von dem Inspector der Bank mit herzlichem Danke für seine Freundlichkeit, von der sie so ausgedehnten Gebrauch gemacht hatten. Dann wurde der Besuch der Placers fortgesetzt.

So wenig auch Paganel an den Schätzen dieser Welt hing, so that er doch keinen Schritt, ohne diesen freigebigen Boden mit den Blicken zu mustern. Er unterlag der Versuchung, und die Neckereien seiner Begleiter vermochten das nicht zu ändern. Jeden Augenblick bückte er sich und hob einen Kiesel auf, ein Stückchen Erz oder verwitterten Quarz; er prüfte sie aufmerksam und warf sie dann verächtlich weg. Das dauerte während des ganzen Spazierganges fort.

»He, Paganel, fragte ihn der Major, haben Sie Etwas verloren?

– Gewiß, entgegnete Paganel, man hat in diesem an Gold und Edelsteinen reichen Lande immer verloren, was man nicht gefunden hat. Warum sollte ich nicht gern ein kleines Gewicht von einigen Unzen, oder auch ein solches von einigen zwanzig Pfund mit weg nehmen.

– Und was thäten Sie damit, mein werther Freund? sagte Glenarvan.

– O, darum würde ich nicht verlegen sein, erwiderte Paganel, ich würde es meinem Vaterlande widmen. Ich deponirte es bei der Bank von Frankreich ...

– Die es auch annehmen sollte?

– Gewiß, in Form von Eisenbahnobligationen!«

Man beglückwünschte Paganel wegen der Art und Weise, wie er seinen etwaigen Goldfund »seinem Heimatlande widmen« werde, und Lady Helena wünschte ihm, den größten Nugget der Welt zu finden.

[397] Immer scherzend durchzogen so die Reisenden den größten Theil des in Abbau befindlichen Terrains. Ueberall ging die Arbeit regelmäßig, mechanisch, aber ohne allen Eifer von statten.

Nach zweistündigem Spaziergange machte Paganel auf ein sehr anständig erscheinendes Gasthaus aufmerksam, wo er auszuruhen und die Zeit bis zum Wiedereintreffen des Wagens abzuwarten vorschlug. Lady Helena stimmte zu, und da es in einem Gasthause nicht ohne Erfrischungen abgeht, so ließ Paganel den Gastwirth einige landesübliche Getränke auftragen.

Man brachte für jede Person einen »Nobler«. Ein Nobler aber ist ein ganz ehrlicher Grog, nur ein umgekehrter. Statt daß nämlich ein kleines Glas Branntwein in ein großes Glas Wasser gegeben wird, nimmt man hierbei ein kleines Glas Wasser zu einem großen Glase Branntwein, versetzt es mit Zucker und trinkt es. Das war doch etwas zu australisch, und zum großen Erstaunen des Gastwirths ward der Nobler, gekühlt durch eine große Flasche Wasser, zum gewöhnlichen englischen Grog.

Dann plauderte man von den Minen und Minirern. Trotzdem Paganel von dem Gesehenen sehr befriedigt war, meinte er doch, daß es früher, in den ersten Jahren der Ausbeutung des Alexander-Berges, weit merkwürdiger ausgesehen haben müsse.

»Die Erde war damals, sagte er, siebartig durchlöchert, von einer Legion emsiger Ameisen, und welcher Ameisen, angegriffen! Alle Emigranten hatten deren Begierde, aber nicht deren Vorsicht. Das Gold wurde in Thorheiten weggeworfen. Man vertrank, man verspielte es, und das Gasthaus, wo wir uns befinden, war ›eine Hölle‹, wie man früher sagte. Der Fall der Würfel führte zu Messerstreitigkeiten. Die Polizei vermochte Nichts dagegen, und manchmal mußte der Gouverneur der Colonie mit den regulären Truppen gegen die empörten Goldgräber ausrücken. Doch gelang es ihm, sie zur Vernunft zu bringen; er verlieh jedem Goldgräber ein Patent, welches indeß nicht ohne Mühe zu erhalten war, und so waren Alles in Allem die Unordnungen hier geringer, als in Californien.

– Kann denn, fragte Lady Helena, Jedermann das Geschäft als Minengräber treiben?

– Ja, Madame, dazu braucht man keinen akademischen Grad. Es genügen schon ein Paar tüchtiger Arme. Die vom Elend getriebenen Abenteurer kamen bei den Minen meist ohne alles Geld an; die Reichen mit einer Axt, [398] die Armen mit einem Messer; Alle brachten zu der Arbeit aber einen Feuereifer mit, den sie einer gewöhnlichen ehrlichen Beschäftigung gewiß nicht gewidmet hätten. Der Anblick dieser Goldfelder war einzig in seiner Art! Der Boden war bedeckt mit Zelten, mit Pfortsegeln, kleinen Hütten und Baracken aus Lehm, aus Brettern und aus Laubwerk. In der Mitte ragte das Zelt des Gouvernements, mit der britischen Flagge geziert, hervor, die blauen Zwillichzelte der Regierungsagenten und die Etablissements der Wechsler, der Goldhändler, der Handelsleute, die auf diesen ganzen Reichthum und die Armuth speculirten. Diese Alle haben sich gewiß bereichert. Man mußte die Diggers sehen im rothwollenen Hemd, wie sie im Wasser und im Kothe lebten. Die Luft war erfüllt von dem fortwährenden Geräusch der Aexte und von übelriechenden Ausdünstungen, die von in Fäulniß übergehenden Thiergerippen herrührten. Ein erstickender Staub umhüllte wolkenähnlich diese Unglücklichen, die ein ungeheures Sterblichkeitscontingent lieferten; ja in einem Lande mit weniger gesunder Luft wären sie wohl bald vom Typhus decimirt worden. Und dann, wenn diese Abenteurer noch einen endlichen Erfolg gehabt hätten! Aber gar so viel Elend fand keinen Ersatz, und wenn man genau nachzählte, würde sich herausstellen, daß auf einen Gräber, der sich bereicherte, hundert, zweihundert, ja vielleicht tausend elend und verzweifelt umgekommen sind.

– Könnten Sie uns wohl sagen, Paganel, fragte Glenarvan, wie bei der Goldgewinnung verfahren wurde?

– Das war höchst einfach, antwortete Paganel. Die ersten Gräber betrieben das Geschäft als Goldwäscher, wie es noch in einigen Theilen der Cevennen in Frankreich in Gebrauch ist. Die Gesellschaften gehen jetzt anders zu Werke; sie gehen gleich bis zu der Quelle selbst, bis zu dem Erzgange zurück, der den Goldstaub, die Flitter und das Geschiebe liefert. Die Goldwäscher begnügten sich aber, den goldhaltigen Sand zu waschen, und damit genug. Sie höhlten den Erdboden aus, sammelten die Erdschichten, die ihnen Etwas zu enthalten schienen, und behandelten sie mit Wasser, um das kostbare Metall daraus abzuscheiden. Dieses Waschen geschah mittels eines Instrumentes amerikanischen Ursprungs, das ›Craddie‹ oder ›Wiege‹ hieß. Es bestand aus einem fünf bis sechs Fuß langen Kasten, einer Art offenen und in zwei Felder getheilten Bahre.


Paganel hebt taube Kiesel auf. (S. 397.)

Das erste war mit einem groben Siebe ausgestattet, das über anderen Sieben mit immer engeren Maschen angebracht war. Das andere Feld wurde nach unten zu enger. An dem einen Ende [399] brachte man nun den Sand auf das Sieb, schaffte Wasser darauf, und bewegte oder wiegte vielmehr den Apparat mit der Hand. Die Steine blieben dabei auf dem ersten Siebe, das Mineral und der Sand je nach ihrer Größe auf den anderen und die ausgewaschene Erde ging sammt dem Wasser an dem unteren Ende wieder heraus. Das war die am gewöhnlichsten benutzte Hilfsmaschine.


Ein Eucalyptenwald. (S. 404.)

– Aber diese mußte man doch zunächst haben, sagte John Mangles.

[400] – Man kaufte sie von reich gewordenen oder ruinirten Goldgräbern, antwortete Paganel, je nachdem sich das traf, oder man behalf sich eben, so gut es ging.

– Und wie ersetzte man sie dann, fragte Mary Grant.

– Durch eine Platte, meine liebe Mary, durch eine einfache Eisenplatte; man schwang die Erde, so wie es mit dem Korne geschieht, nur sammelte man statt der Getreidekörner manchmal Goldkörner. Im ersten Jahre hat mancher [401] Goldgräber ohne andere Auslagen sein Glück gemacht. Sehen Sie, meine Freunde, das war die gute Zeit, trotzdem ein Paar Stiefeln hundertfünfzig Francs (= hundertzwanzig Mark = sechzig österr. Gulden) kosteten und man zehn Schilling für ein Glas Limonade bezahlte! Wer zuerst kommt, hat doch immer den Vorzug. Das Gold war da überall, im Ueberfluß, auf der Oberfläche des Bodens; die Bäche flossen in einem Bette von Metall: man fand solches fast in den Straßen von Melbourne; man macadamisirte mit Goldpulver. So betrug der Werth des kostbaren Metalls, das vom 26. Januar bis zum 24. Februar unter Regierungsschutz vom Alexander-Berg nach Melbourne gebracht wurde: 8,238,750 Francs (= 6,591,000 Mark = 3,295,500 österr. Gulden). Das macht im Mittel 164,725 Francs den Tag.

– Ungefähr die Civilliste des Kaisers von Rußland, sagte Glenarvan.

– Der arme Mann! versetzte der Major.

– Berichtet man auch von besonderen Glücksfällen? fragte Lady Helena.

– Von einigen, Madame.

– Und sie sind Ihnen bekannt? sagte Glenarvan.

– O, gewiß! erwiderte Paganel. Im Jahre 1852 fand man in dem Districte von Ballarat einen Goldklumpen, welcher 573 Unzen wog; einen anderen in Gippsland von 782 Unzen und im Jahre 1861 einen von 834 Unzen. Endlich entdeckte ein Goldgräber in Ballarat einen Klumpen von 65 Kilogramm (= 130 Pfund), der, das Pfund zu 1722 Francs (= 1377 6/10 Mark = 688 österr. Gulden 80 Kreuzer) gerechnet, 223,860 Francs (= 179,088 Mark = 89,544 österr. Gulden) werthete! Eine Hacke, welche mit einem Hieb 11,000 Francs = 8800 Mark = 4400 österr. Gulden Rente einbringt, ist denn doch eine schöne Hacke.

– In welchem Verhältniß wuchs die Production des Goldes seit der Entdeckung dieser Gruben? fragte John Mangles.

– In ganz enormem Maße, lieber John. Diese Production, welche im Anfang des Jahrhunderts nur 47,000,000 Francs (= 376/10 Millionen Mark = 189/10 Millionen österr. Gulden) betrug, wird gegenwärtig, inbegriffen die Minen von Europa, Asien und Amerika, auf 900,000,000 Francs (= 720,000,000 Mark = 360,000,000 österr. Gulden), ja eine Milliarde Francs (= 800,000,000 Mark = 400,000,000 österr. Gulden) angeschlagen.

– Also, Herr Paganel, sagte der junge Robert, giebt's an der Stelle, worauf wir eben stehen, vielleicht viel Gold?

[402] – Ja, lieber Junge, es stecken da Millionen! Wir gehen darüber umher! Wir mißachten es!

– Australien ist also ein bevorzugtes Land?

– Nein, Robert, versetzte der Geograph. Die golderzeugenden Länder gehören nicht zu den gesegneten. Da sind die Leute nur Faulenzer, niemals ein kräftiger, arbeitsamer Menschenschlag. So geht's in Brasilien, Mexico, Californien, Australien. Wie weit ist's im neunzehnten Jahrhundert gekommen! Ein Land, wo Eisen wächst, nicht Gold, mein Lieber, hat den Vorzug vor den anderen.«

Fußnoten

1 5000 österr. Gulden.

2 Gegen 1200 Mark.

3 1262 Millionen 149,560 Mark = eine und eine Viertel Milliarde = 631 Millionen 74,780 österr. Gulden.

4 Immerhin ist es möglich, daß sich die Emigranten getäuscht haben. In der That sind die goldführenden Lager noch lange nicht erschöpft. Laut neueren Nachrichten aus Australien schätzt man die Loose von Victoria und Neu-Süd-Wales auf fünf Millionen Hectaren; das annähernde Gewicht des goldhaltigen Quarzes würde 20,650 Milliarden Kilogramm betragen und die Aufarbeitung desselben mit den gebräuchlichen Hilfsmitteln die Arbeit von 100,000 Mann während dreier Jahrhunderte erfordern. In Summa schätzt man den Goldreichthum Australiens auf 664 Milliarden 250 Millionen Francs = 531 Milliarden 400 Millionen Mark = 265 Milliarden 700 Millionen österr. Gulden.

15. Capitel
Fünfzehntes Capitel.
Die »Australian und New-Zealand Gazette.«

Am 2. Januar, mit Sonnenaufgang, erreichten die Reisenden das Ende der Goldregionen und die Grenzen der Grafschaft Talbot. Ihre Pferde betraten nun die staubigen Pfade der Grafschaft Dalhousia. Einige Stunden später gingen sie unter 144°35' und 144°45' der Länge durch den Colban- und Campaspe-Fluß. Die Hälfte der Reise war zurückgelegt. Noch vierzehn Tage eines ebenso glücklichen Zuges, und die kleine Gesellschaft mußte die Küste der Twofold-Bai erreichen.

Im Uebrigen waren Alle im besten Wohlsein. Paganel's Vorhersagungen in Betreff der gesundheitlichen Verhältnisse des Klimas trafen vollkommen ein. Von Nässe hatten sie wenig oder gar nicht zu leiden, und die Temperatur war erträglich. Weder von den Thieren, noch von den Menschen war eine Klage darüber zu vernehmen.

Eine einzige Aenderung war seit Camden-Bridge in der Zugordnung eingetreten. Das auf ein Verbrechen zurückzuführende Eisenbahnunglück veranlaßte Ayrton, sobald es ihm bekannt wurde, einige bis dahin unnöthige Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen. Die Jäger durften sich nicht mehr aus dem Gesichtskreis des Wagens entfernen. Während der Zeit der Rast hielt immer [403] Einer von ihnen Wache. Morgens und Abends wurden die Zündhütchen der Gewehre erneuert. Offenbar machte eine Uebelthäterbande das Land unsicher; und wenn auch keine unmittelbare Gefahr drohte, so mußte man sich doch gegen jeden Zufall decken.

Wir brauchen wohl nicht hinzuzufügen, daß die Maßregeln ohne Vorwissen der Lady Helena und der Miß Grant ergriffen wurden, da Lord Glenarvan diese nicht ängstigen wollte.

Im Grunde hatte man wohl Recht, so zu handeln. Eine Unklugheit, selbst eine bloße Nachlässigkeit konnte theuer zu stehen kommen. Glenarvan richtete sich übrigens nicht allein nach diesem Stande der Sachlage ein. In den einsamen Flecken und Stationen waren die Bewohner und die Squatters gegen jeden Angriff und jede Ueberrumpelung wohl vorbereitet. Mit sinkender Nacht schlossen sich die Häuser. Die hinter den Umzäunungen losgekoppelten Hunde erhoben ihr Gebell, wenn irgend etwas nahe kam.

Kein Schäfer sammelte mit Eintritt des Abends zu Pferde seine zahlreichen Heerden, ohne einen Carabiner am Sattelknopf zu tragen. Die Nachricht von dem an der Camden-Brücke begangenen Verbrechen rechtfertigte diese außergewöhnliche Vorsicht, und mancher Colonist, der sonst vielleicht bei offenen Thüren und Fenstern zu schlafen pflegte, verriegelte sich sorgsam mit Einbruch der Dämmerung.

Die Provinzverwaltung entwickelte einen löblichen Eifer und Scharfsinn. Abtheilungen eingeborener Gendarmen wurden in's Land gesendet. Man sicherte den Depeschendienst ganz besonders. Bis dahin fuhr die Post auf der Landstraße ohne Bedeckung. An jenem Tage, gerade als Glenarvan's Truppe die Straße von Kilmore nach Heatcote überschritt, sauste die Post, so schnell die Pferde laufen konnten, in dicken Staubwolken dahin. So schnell sie aber auch den Blicken entschwand, so hatte Glenarvan doch die Carabiner der Policemen, welche neben dem Schlage ritten, aufblitzen sehen. Man konnte sich in jene traurige Zeit zurückversetzt glauben, wo die Entdeckung der ersten Placers den Abschaum Europas nach Australien wälzte.

Nachdem man nun eine Meile weit auf der Straße von Kilmore gekommen war, gelangte der Wagen in ein dickes Gehölz von Riesenbäumen, und die Reisenden kamen vom Cap Bernouilli aus zum ersten Male in einen jener Wälder, welche oft mehrere Längengrade bedecken.

Ein Ausruf der Verwunderung erscholl bei dem Anblick der zweihundert [404] Fuß hohen Eucalypten, deren schwammige Rinde bis fünf Zoll Dicke hatte. Stämme von zwanzig Fuß im Umfang, die von Streifen eines wohlriechenden Harzes gefurcht erschienen, erhoben sich bis hundertfünfzig Fuß über den Boden. Kein Ast, kein Zweig, kein wilder Schößling, nicht einmal ein Knoten unterbrach ihr Profil. Aus der Hand des Drechslers hätten sie nicht glätter hervorgehen können. Es waren ganz genau calibrirte Säulen, welche nach Hunderten zählten. In gewaltiger Höhe erst breiteten sie ihre Kronen mit rund herum stehenden Aesten aus, die erst an den Enden mit wechselständigen Blättern besetzt waren; aus den Blattwinkeln hingen dann Einzelblüthen herab, deren Kelch die Form einer gestürzten Urne hatte.

Unter dieser immergrünen Decke hatte die Luft freien Zugang; eine fortwährende Ventilation sog die Feuchtigkeit des Bodens auf. Pferde, Rinderheerden und Wagen konnten bequem unter diesen weit von einander stehenden Bäumen durchziehen, welche mehr den Absteckpfählen eines in Angriff genommenen Holzschlages glichen. Das war kein Holz mit niedrigem Gebüsch und knorrigen Wurzeln, kein jungfräulicher Wald, der von gestürzten Stämmen versperrt und von unentwirrbaren Lianen durchschlungen war, durch welche nur das Eisen und das Feuer einen Weg zu bahnen vermögen. Ein Grasteppich am Fuße der Bäume, ein grüner Ueberhang an ihren Wipfeln, lange Durchblicke durch kühne Pfeiler, wenig Schatten, wenig Kühle, in Summa eine auf fallende Art von Helligkeit, wie von Lichtstrahlen, welche durch ein seines Gewebe dringen, merkwürdige Reflexe, scharfe Spiegelbilder am Boden, alles Das bildete ein bizarres und an neuen Effecten reiches Schauspiel. Der Wald dieses oceanischen Festlandes erinnerte in keiner Weise an die Wälder der neuen Welt, und der Eucalyptus, der »Tara« der Ureinwohner, der in die Familie der Myrtaceen mit ihren kaum zählbaren Unterarten gehört, ist der hervorragendste Baum der australischen Flora.

Wenn unter diesem grünen Blätterdome der Schatten nicht dicht und die Dunkelheit nicht tief ist, so rührt das von einer sonderbaren Regelwidrigkeit her, welche diese Bäume bezüglich ihrer Blattstellung aufweisen. Keines wendet seine Fläche der Sonne zu, sondern immer nur den scharfen Rand. In diesem merkwürdigen Blätterwerk erblickt das Auge nur Profile. So gleiten auch die Sonnenstrahlen bis zur Erde, als ob sie durch die aufgerichteten Brettchen einer Jalousie drängen.

Ein Jeder machte mit Erstaunen diese Beobachtung. Welchen Zweck hatte [405] diese sonderbare Anordnung? Diese Frage wurde natürlich an Paganel gestellt. Er beantwortete sie als ein Mann, der nie in Verlegenheit war.

»Was mich hier Wunder nimmt, sagte er, ist nicht etwa die Bizarrerie der Natur; diese weiß schon, was sie thut, aber die Botaniker wissen nicht immer, was sie sagen. Die Natur ist nicht fehl gegangen, als sie diesen Bäumen eine abweichende Blätterhaltung verlieh, aber die Menschen haben neben das Ziel geschossen, als sie dieselben ›Eucalyptus‹ nannten.

– Was bedeutet dieses Wort? fragte Mary Grant.

– Seine Bedeutung im Griechischen sagt es, daß es ›gut decke‹. Man hat Sorge getragen, diesen Irrthum durch Beibehalten des griechischen Ausdrucks minder fühlbar zu machen; aber es ist doch einleuchtend, daß der Eucalyptus nur schlecht bedeckt.

– Zugestanden, lieber Paganel, sagte Glenarvan, aber nun erklären Sie uns, warum diese Blätter eben so wachsen.

– Aus einem rein physikalischen Grunde, meine Freunde, erwiderte Paganel, den Sie unschwer einsehen werden. In dieser Gegend mit trockener Luft, seltenem Regen und ausgedörrtem Boden bedürfen die Bäume weder des Windes, noch der Sonne. Da die Feuchtigkeit mangelt, haben sie auch wenig Saft. Daher rühren diese schmalen Blätter, welche sich selbst gegen das Tageslicht und eine zu starke Verdunstung zu schützen suchen. Eben deshalb bieten sie den Sonnenstrahlen nur ihr Profil, und nicht ihre volle Fläche. Es giebt gar nichts Gescheiteres, als solch ein Blatt.

– Und nichts Selbstsüchtigeres! versetzte der Major, denn diese haben nur an sich selbst, nicht aber an etwaige Reisende gedacht!«

Alle theilten wohl in Etwas Mac Nabbs' Ansicht, bis auf Paganel, der sich die Stirn abtrocknete und doch beglückwünschte, auch einmal unter schattenlosen Bäumen dahinzuziehen. Dennoch hat diese Blätterhaltung ihre unangenehmen Seiten. Die Wege durch diese Wälder sind oft sehr lang und folglich beschwerlich, da den Reisenden Nichts gegen die Hitze des Tages schützt.

Den ganzen Tag über rollte der Wagen zwischen diesen endlosen Eucalyptusreihen. Weder ein Thier noch ein Eingeborener kam zu Gesicht. Einige Kakadus bevölkerten die Laubkronen des Waldes, aber in dieser Höhe konnte man sie kaum unterscheiden, und ihr Geschwätz verschwamm zum unverständlichen[406] Gemurmel. Nur manchmal trabte ein Schwarm von Straußen durch eine entfernte Allee und belebte sie mit rasch eilendem, vielfarbigem Scheine.

Ueberhaupt aber herrschte ein tiefes Schweigen in diesem ungeheuren grünen Tempel, und nur die Tritte der Pferde, einige in unzusammenhängender Unterhaltung gewechselte Worte, und zeitweilig ein Zuruf Ayrton's, der seine stumpfsinnige Bespannung antrieb, unterbrachen diese unendliche Einsamkeit.

Am Abend schlug man das Lager am Fuße von Eucalypten auf, welche noch die Spuren eines neuerlichen Feuers zeigten. Diese bildeten gewissermaßen hohe Schornsteine, denn die Flammen hatten sie im Innern ihrer ganzen Länge nach ausgehöhlt. Nur auf der zurückgebliebenen Rinde standen sie doch noch ganz fest.

Doch wird diese üble Gewohnheit der Squatters oder der Eingeborenen diese prächtigen Bäume noch ganz vernichten, bis sie verschwinden, wie die vierhundertjährigen Cedern des Libanon, welche die ungeschickt angelegten Lagerfeuer zerstört haben.

Olbinett zündete auf Paganel's Rath das Feuer zum Abendessen in einem dieser röhrenartigen Stämme an; sofort entwickelte sich eine beträchtliche Zugluft und der Rauch verlor sich in dem düstern Blätterwerke. Man ordnete dann die nöthigen Maßnahmen für die Nacht, und Ayrton, Mulrady, Wilson und John Mangles hielten abwechselnd Wache bis zum Aufgange der Sonne.

Während des ganzen 3. Januars setzten sich in dem endlosen Walde die symmetrischen Baumgänge fort. Er schien gar nicht endigen zu wollen. Gegen Abend jedoch lichteten sich die Bäume, und in der Entfernung einiger Meilen erschien auf einer kleinen Ebene ein Häuschen regelmäßig gestellter Häuser.

»Seymour! rief Paganel aus. Das ist die letzte Stadt, auf die wir in der Provinz Victoria stoßen.

– Ist sie von Bedeutung? fragte Lady Helena.

– Madame, erwiderte Paganel, es ist einfach eine Pfarrgemeinde, welche im Zuge ist, eine Stadt zu werden.

– Werden wir dort ein passendes Hôtel finden? sagte Glenarvan.


Nachtlager am Fuße einer Eucalypte. (S. 407.)

– Ich hoffe es, antwortete der Geograph.

– Nun denn, so ziehen wir in die Stadt ein, denn unsere muthigen Damen werden, wie mir scheint, nicht böse darüber sein, dort eine Nacht auszuruhen.


Es waren etwa dreißig Menschen. (S. 416.)

– Mein lieber Edward, sagte Lady Helena, Mary und ich, wir gehen darauf ein, aber nur unter der Bedingung, daß dadurch keine Störung und keine Verzögerung verursacht wird.

– Keineswegs, erwiderte Lord Glenarvan, unsere [407] Zugthiere sind zudem ermüdet; morgen mit Tagesanbruch reisen wir weiter.«

Es war nun neun Uhr geworden. Der Mond sank schon zum Horizonte und warf nur noch schiefe, im Nebeldunst verschwimmende Strahlen. Nach und nach ward es dunkel. Die ganze Gesellschaft zog unter Führung [408] Paganel's in die breiten Straßen Seymours ein. Derselbe schien stets auch das völlig zu kennen, was er noch nie zuvor gesehen hatte. Ihn leitete sein Instinct und er kam direct vor Campell's »North British Hôtel« an.

Die Pferde und Ochsen wurden in die Ställe geführt, der Wagen untergebracht, die Reisenden aber erhielten ganz erträglich hübsche Zimmer. Gegen zehn Uhr nahmen Alle an einer Tafel Platz, über welche Olbinett seinen Kennerblick schweifen ließ.

Paganel hatte schon mit Robert das Städtchen durchstreift und berichtete [409] mit sehr lakonischer Kürze über den Eindruck, den er nächtlicher Weile empfangen hatte. Er hatte nämlich gar Nichts gesehen.

Dennoch hätte, wer weniger zerstreut war, als er, wohl eine gewisse Bewegung in den Straßen von Seymour bemerken müssen; da und dort hatten sich Gruppen gebildet, die nach und nach anwuchsen; man sprach vor den Hausthüren; man befragte sich mit offenbarer Unruhe; einige Tagesblätter wurden laut vorgelesen, erläutert und besprochen. Diese Symptome konnten auch dem unaufmerksamsten Beobachter nicht entgehen; Paganel aber hatte darin nichts Besonderes gefunden.

Der Major unterrichtete sich, ohne so weit zu gehen, ja, ohne das Haus zu verlassen, über die gerechtfertigten Befürchtungen der kleinen Stadt. Nach einem Gespräche von zehn Minuten mit dem geschwätzigen Dickson, dem Oberkellner des Hôtels, wußte er, woran er war. Aber er verlor darüber zunächst nicht ein Wort.

Erst als nach aufgehobener Tafel Lady Glenarvan, Mary und Robert Grant sich auf ihre Zimmer zurückgezogen hatten, hielt der Major seine Genossen zurück und sagte:

»Man kennt nun die Urheber des Verbrechens auf der Sandhurster Bahn.

– Sie sind gefangen? fragte lebhaft Ayrton.

– Nein, entgegnete Mac Nabbs, ohne daß er den Eifer des Quartiermeisters zu bemerken schien, ein Eifer, der doch unter den gegebenen Verhältnissen ganz begründet erschien.

– Desto schlimmer, meinte Ayrton.

– Nun, fragte Glenarvan, wen klagt man dieser Unthat an?

– Lesen Sie, erwiderte der Major, der ihm eine Nummer der ›Australian and New-Zealand Gazette‹ hinhielt, und Sie werden sehen, daß der Polizei-In spector sich nicht getäuscht hat.«

Glenarvan las folgende Stelle laut vor:


»Sidney, am 2. Januar 1866. – Man erinnert sich, daß in der Nacht vom 29. zum 30. des vergangenen December an der Camden-Brücke ein Unglück stattgefunden hat, das heißt fünf Meilen oberhalb der Station Castlemaine, an der Eisenbahn von Melbourne nach Sandhurst. Der mit voller Schnelligkeit dahinfahrende Nachtschnellzug von elf Uhr fünfundvierzig Minuten ist in den Luttonfluß hinabgestürzt.

[410] Die Camden-Brücke ist beim Passiren des Zuges offen gewesen.

Zahlreiche Diebstähle nach dem Unfall, und die Auffindung der Leiche des Bahnwärters eine halbe Meile von der Brücke, deuten darauf hin, daß diese Katastrophe die Folge eines schweren Verbrechens sei.

Wirklich geht aus der Untersuchung des Coroners hervor, daß dasselbe einer Bande Sträflinge zuzuschreiben ist, welche seit sechs Monaten aus dem Besserungshause in Perth, West-Australien, in dem Augenblicke entsprungen sind, als sie nach der Insel Norfolk übergeführt werden sollten. 1

Die Sträflinge sind ihrer neunundzwanzig, angeführt von einem gewissen Ben Joyce, einem Verbrecher der gefährlichsten Art, der seit einigen Monaten, man weiß nicht auf welchem Schiffe, nach Australien gekommen ist, und den der Arm der Justiz noch nicht hat erreichen können.

Die Bewohner der Städte, die Colonisten und die Squatters in den Stationen werden hiermit veranlaßt, auf ihrer Hut zu sein und dem Surveyor-General Alles mitzutheilen, was seine weiteren Nachforschungen unterstützen könnte.


J. P. Mitchell, S.-G.«


Als Lord Glenarvan die Vorlesung dieses Artikels beendet hatte, wandte sich Mac Nabbs an den Geographen mit den Worten:

»Sie sehen, Paganel, daß man hier in Australien Sträflingen begegnen kann.

– Entsprungenen, das liegt auf der Hand! antwortete Paganel, aber regelrecht zugelassenen Deportirten, nein. Die Leute, um die es sich dort handelt, sind unberechtigter Weise hier.

– Ja, aber sie sind doch hier, warf Glenarvan ein, doch denke ich nicht, daß ihre Anwesenheit unser Vorhaben ändern, oder gar unsere Reise verhindern soll. Was meinen Sie, John?«

John Mangles antwortete nicht sogleich; er schwankte zwischen dem [411] Schmerze, den das Aufgeben der begonnenen Nachsuchung den beiden Kindern bereiten würde, und der Furcht, die Expedition einer Gefahr auszusetzen.

»Wäre Lady Glenarvan und Miß Grant nicht mit uns, sagte er, so würde ich mich um die Bande dieser Elenden wenig kümmern.«

Glenarvan verstand ihn und fügte hinzu:

»Es versteht sich von selbst, daß von einem Verzichten auf unser Vorhaben nicht die Rede sein kann; vielleicht wäre es aber rathsam, den Duncan in Melbourne wieder zu besteigen, und die Spuren Harry Grant's vom Osten her zu verfolgen. Wie denken Sie darüber, Mac Nabbs?

– Bevor ich mich ausspreche, erwiderte dieser, möchte ich Ayrton's Ansicht kennen lernen.«

Der so unmittelbar befragte Quartiermeister sah Glenarvan an.

»Ich denke, sagte er, daß wir zweihundert Meilen von Melbourne entfernt sind, und daß die Gefahr, wenn eine solche vorhanden, auf dem Wege nach Süden ebenso groß, als auf dem nach Osten ist. Alle beide sind wenig belebt und auch gleich lang. Uebrigens glaube ich nicht, daß an die dreißig Bösewichte im Stande sind, acht wohlbewaffnete und entschlossene Männer zu schrecken. Bis auf besseren Rath also würde ich vorwärts gehen.

– Wohl gesprochen, Ayrton, entgegnete Paganel. Wenn wir weiter gehen, können wir den Weg des Kapitän Grant schneiden. Gehen wir nach Süden zurück, so entfernen wir uns im Gegentheil davon. Ich denke also, wie Sie, und ich würde nicht viel Federlesens machen mit den Entsprungenen aus Perth, auf welche ein Mann von Muth keine weitere Rücksicht zu nehmen hat.«

Darauf wurde der Vorschlag, an dem Reiseprogramm Nichts zu ändern, zur Abstimmung gebracht und mit Einstimmigkeit angenommen.

»Noch eine Bemerkung, Mylord, sagte Ayrton, als man schon auseinander gehen wollte.

– Reden Sie, Ayrton.

– Möchte es sich nicht empfehlen, dem Duncan die Weisung zugehen zu lassen, sich nach dem Küstenpunkte zu begeben?

– Zu welchem Zwecke? antwortete John Mangles. Wenn wir an der Twofold-Bai angekommen sind, wird es dazu Zeit sein. Sollte uns nun gar ein unvorhergesehenes Ereigniß veranlassen, uns nach Melbourne zu wenden, so würden wir sehr zu unserem Leidwesen den Duncan dort nicht [412] antreffen. Uebrigens können seine Beschädigungen noch nicht wohl ausgebessert sein. Ich glaube demnach aus diesen verschiedenen Gründen, daß es besser ist, damit zu warten.

– Gut«, entgegnete Ayrton, der sich zufrieden gab.

Am anderen Tage verließ die kleine Gesellschaft, bewaffnet und für jeden Fall vorbereitet, Seymour. Eine halbe Stunde später war sie wieder in dem Eucalyptuswalde, der sich auch nach Osten hin fortsetzte. Glenarvan hätte es vorgezogen, über offenes Feld zu reisen. Eine Ebene ist für Hinterhalte und zum Auflauern natürlich weniger günstig, als ein dichter Wald. Aber man hatte keine Wahl, und so schlich der Wagen den ganzen Tag über zwischen den einförmigen Bäumen hin. Man zog längs der nördlichen Grenze der Grafschaft Anglesey, erreichte am Abend den hundertsechsundvierzigsten Meridian, und schlug auf der Grenze des Murray-Districtes das Lager auf.

Fußnoten

1 Die Insel Norfolk liegt im Osten von Australien, wo das Gouvernement die rückfälligen und unverbesserlichen Sträflinge detinirt. Dort sind sie einer ganz speciellen Ueberwachung unterworfen.

16. Capitel
Sechzehntes Capitel.
Worin der Major behauptet, Affen vor sich zu haben.

Am folgenden Morgen, den 5. Januar, betraten die Reisenden das große Territorium von Murray. Dieser ausgedehnte und unbewohnte District reicht bis an die hohe Kette der Australischen Alpen. Noch hat die Civilisation ihn nicht in bestimmte Grafschaften getheilt. Er ist der mindest bekannte und unbelebteste Theil der Provinz. Auch seine Wälder werden einst unter der Axt des Buschmannes fallen, seine Wiesenflächen die Heerde des Squatters nähren, aber noch ist's ein jungfräulicher Boden, wie er dereinst dem Indischen Ocean entstieg; noch ist es eine Wüstenei.

Der ganze Landstrich trägt auf den englischen Karten den bezeichnenden Namen: »Reserve for the blacks«, das Revier für die Schwarzen. Dorthin sind die Eingeborenen durch die Colonisten gewaltsam zurückgedrängt worden. In weit entlegenen Ebenen hat man ihnen in unzugänglichen Wäldern einige bestimmte Landstrecken überlassen, wo die Race der Ureinwohner langsam [413] erlischt. Jeder Weiße, jeder Colonist, Auswanderer, Squatter oder Buschmann hat das Recht, die Grenzen dieses Gebietes zu überschreiten, der Schwarze allein darf sie niemals verlassen.

Paganel befaßte sich während des Reitens mit dieser wichtigen Frage der eingeborenen Stämme. Er hatte darüber nur das eine Urtheil, daß das britische System die überwundenen Völkerschaften der Vernichtung entgegenführe, schon indem es sie der Wohnsitze beraubt, die ihre Vorfahren inne hatten. Diese verderbliche Tendenz zeigte sich überall, und in Australien am meisten. In den ersten Jahren der Colonie betrachteten die Deportirten, ja selbst auch die freien Colonisten, die Schwarzen als wilde Thiere. Sie machten Jagd auf dieselben und schossen sie nieder. Man tödtete sie und rief auch noch den Wahrspruch der Gerichtshöfe an, daß der Australier außer den Gesetzen der Natur stehe und die Ermordung dieser Unglücklichen kein Verbrechen sei. Die Journale von Sidney schlugen sogar als durchgreifendes Mittel, sich von den am See Hunter lebenden Stämmen zu befreien, vor, dieselben in Masse zu vergiften.

Man erkennt, wie die Engländer bei ihrem ersten Auftreten den Mord der Colonisirung zu Hilfe riefen. Ihre Grausamkeit war abscheulich. Sie verfuhren in Australien wie in Indien, wo fünf Millionen Indier spurlos verschwanden, oder wie am Cap, wo eine Bevölkerung von einer Million Hottentotten auf hunderttausend Köpfe zusammenschmolz. So ist auch hier die eingeborene Bevölkerung, welche durch Mißhandlung und Trunksucht decimirt wird, dabei, vor jener menschenmörderischen Civilisation von dem Festlande zu verschwinden. Manche Gouverneure haben allerdings Verordnungen gegen jene blutgierigen Bushmen erlassen. Mit einigen Peitschenhieben bestraften sie den Weißen, der einem Schwarzen die Nase oder die Ohren abschnitt, oder ihn auch des kleinen Fingers beraubte, »um sich einen Pfeifenräumer daraus zu machen«. Leere Drohungen! Die Mordgesellen organisirten sich in größerem Maßstabe und ganze Tribus verschwanden von der Erde. Hier sei beispielsweise nur die Vandiemens-Insel angeführt, deren 5000 Eingeborene zu Anfang des Jahrhunderts im Jahre 1863 auf – sieben herabgekommen waren! Und kürzlich erst, konnte der »Mercure« melden, daß in Hobart-Town der Letzte der Tasmanier angekommen sei.

Weder Glenarvan, noch der Major oder John Mangles widersprachen Paganel. Und wenn sie selbst Engländer gewesen wären, sie hätten ihre [414] Landsleute nicht vertheidigen können. Die Thatsachen sprachen zu offenkundig und unbestreitbar.

»Vor fünfzig Jahren, fügte Paganel hinzu, wären wir auf unserem Wege schon manchem Stamme Eingeborener begegnet, heut ist uns bis jetzt noch kein Einziger zu Gesicht gekommen. In einem Jahrhundert wird sich dieser Continent seiner schwarzen Race vollkommen entledigt haben.«

Wirklich zeigte sich das Negerrevier völlig verlassen. Keine Spur von Lagerplätzen oder Hütten war bemerkbar. Freie Ebenen und große Gehölze reihten sich an einander, und mehr und mehr nahm die Gegend den Charakter der Wildniß an. Es schien fast, als ob kein lebendes Wesen, weder Mensch noch Thier, in diesen entlegenen Gegenden vorkäme, als Robert vor einer Eucalyptusgruppe hielt und ausrief:

»Ein Affe! Da ist ein Affe!«

Er zeigte dabei nach einem großen schwarzen Körper, der mit wunderbarer Behendigkeit von Ast zu Ast glitt und sich von einem Wipfel zum andern schwang, als wenn irgend ein Hilfsmittel, etwa eine Flughaut, ihn in der Luft erhielte. Sollten in diesem fremdartigen Lande vielleicht auch die Affen fliegen können, so wie jene Füchse, welche die Natur mit Fledermausfittichen ausgestattet hat?

Inzwischen hatte der Wagen Halt gemacht, und jedes Auge folgte dem Geschöpf, welches sich nach und nach in der Krone des Eucalyptus verlor. Bald darauf sah man es mit Blitzesschnelle wieder herabsteigen, mit tausend Verrenkungen und Sprüngen auf der Erde dahinlaufen und endlich seine langen Arme nach dem glatten Stamme eines gewaltigen Gummibaumes ausstrecken. Man fragte sich, wie es wohl an diesem geraden und glatten Baum, den es nicht zu umspannen vermochte, emporklimmen werde. Der Affe aber hackte mit einer Art Beil kleine Stufen in den Stamm, und mit Hilfe dieser gleichweit von einander entfernten Stützpunkte gelangte er bis zur Gabeltheilung desselben. In wenigen Secunden verschwand er in dem Blätterdickicht.

»Ei! Was ist das für ein Affe? fragte der Major.

– Dieser Affe, erwiderte Paganel, ist ein Vollblut-Australier!«

Noch hatten die Begleiter des Geographen nicht Zeit gehabt, mit den Achseln zu zucken, als aus geringer Entfernung Rufe, welche man schriftlich etwa mit »cooh-eeh! cooh-eeh!« wiedergeben könnte, an ihr Ohr schlugen.

[415] Ayrton trieb seine Ochsen an, und hundert Schritte weiterhin trafen die Reisenden unerwartet auf ein Lager von Eingeborenen.

Welch ein trauriger Anblick! Ein Dutzend Zelte erhoben sich auf dem nackten Erdboden. Diese »Gunyos«, welche aus Rindenstücken, die man gleich Dachziegeln übereinander geschichtet hatte, gefertigt waren, gewährten ihren elenden Bewohnern nur nach einer Seite hin einigen Schutz. Diese durch Elend heruntergekommenen Wesen waren wirklich abstoßend. Es waren etwa dreißig, Männer, Frauen und Kinder, mit zerfetzten Kängurusellen bekleidet.

Bei der Annäherung des Wagens suchten sie zunächst zu entfliehen, einige von Ayrton in unverständlichem Kauderwälsch ausgesprochene Worte schienen sie aber wieder zu beruhigen, so daß sie halb vertrauensvoll, halb furchtsam, wie Thiere, denen man einen leckeren Bissen hinhält, zurückkehrten.

Diese Eingeborenen von fünf Fuß und vier bis sieben Zoll Körpergröße, hatten nußbraune Hautfarbe, wolliges Haupthaar, lange Arme, hervorstehenden Unterleib, und ihr Körper war mit Narben vom Tätowiren oder von Schnitten, die bei Leichenfeierlichkeiten beigebracht wurden, bedeckt. Es giebt nichts Abschreckenderes, als ihre wahrhaft ungeschlachten Gesichter, mit dem ungeheuren Munde, der platten Stumpf-Nase, dem vorstehenden Unterkiefer mit weißen, aber schiefstehenden Zähnen. Niemals können menschliche Wesen so ausgeprägt den Typus des Thierischen aufweisen.

»Robert hat sich nicht geirrt, sagte der Major, das sind Affen, – meinetwegen Vollblut –, aber es bleiben doch Affen!

– Aber, Mac Nabbs, erwiderte sanft Lady Helena, möchten Sie Denen Recht geben, die Jene wie wilde Thiere jagen? Diese armen Wesen sind doch Menschen!

– Menschen! rief Mac Nabbs, höchstens Zwischengeschöpfe zwischen Mensch und Orang-Utang! Wenn ich ihren Gesichtswinkel mäße, würde ich ihn ebenso klein finden, wie beim Affen!«

In dieser Hinsicht hatte Mac Nabbs wohl Recht; der Gesichtswinkel des australischen Eingeborenen ist sehr spitz und nähert sich auffallend dem des Orang-Utang, er beträgt nämlich sechzig bis zweiundsechzig Grade. Auch ist der Vorschlag de Rienzi's nicht unbegründet zu nennen, diese Unglücklichen als besondere Race der »Pithecomorphen«, das sind affenähnliche Menschen, zu betrachten.

Aber mehr als Mac Nabbs war Lady Helena im Rechte, wenn sie diese [416] Eingeborenen als seelenbegabte Wesen, wenn auch auf der untersten Stufe der Menschheit, auffaßte. Zwischen dem Thiere und dem Australneger bleibt immer noch eine nie zu überbrückende Kluft, welche die Arten scheidet. Pascal hatte gewiß Recht zu sagen, daß der Mensch nie und nirgends gleich dem Thiere ist; freilich setzte er nicht minder weise hinzu: »daß er auch nie zum Engel werde.«

Nun bewiesen aber gerade Lady Helena und Miß Mary Grant die Unhaltbarkeit jenes Nachsatzes des großen Denkers. Die beiden liebenswürdigen [417] Frauen hatten den Wagen verlassen; liebevoll streckten sie den elenden Geschöpfen die Hand entgegen und boten ihnen Nahrungsmittel, welche die Wilden mit natürlicher Gier verschlangen. Die Eingeborenen mußten Lady Helena desto leichter für ein überirdisches Wesen halten, als nach ihrer religiösen Anschauung die Weißen früher Schwarze waren, welche nach ihrem Tode gebleicht sind.


Ein Kampfspiel aus Dankbarkeit. (S. 421.)

Vorzüglich aber riefen die Frauen das Mitleid der reisenden Damen wach. Für die Verhältnisse einer Australierin existirt kein Vergleich; von einer stiefmütterlichen Natur auch nicht mit dem mindesten Liebreiz ausgestattet, ist sie eine von roher Gewalt entführte Sklavin, die kein anderes Hochzeitsgeschenk kennen lernt, als Schläge mit dem »Waddie«, das heißt, einem derben Stocke in der Hand ihres Herrn. Von dieser Zeit an muß sie sich, früh und schnell gealtert, den mühseligsten Arbeiten auf dem Wanderleben unterziehen, wobei sie auch mit ihren Kindern die in einem Binsenbündel eingepackten Jagd- und Fischergeräthschaften trägt, neben dem Vorrathe von »Phormium tenax«, aus dem sie die nöthigen Fäden herstellt. Sie muß die Nahrungsmittel für die Familie besorgen, sie verfolgt Dachse, Opossums und Schlangen bis in die Wipfel der Bäume; sie zerkleinert das Feuerholz, und schafft die Baumrinde zum Zelte herbei; ein geplagtes Lastthier, kennt sie keine Ruhe und verzehrt erst nach ihrem Herrn die unappetitlichen Reste, die Jener verschmähte.

Jetzt waren einige dieser Bedauernswerthen, die vielleicht schon lange jeder Nahrung entbehrten, dabei, mittels hingestreuter Körner einige Vögel herbeizulocken.

Sie lagen unbeweglich, todtenähnlich, ganze Stunden lang auf dem glühenden Boden ausgestreckt, und lauerten, bis ein naiver Vogel in das Bereich ihrer Hände kam. Ihre Kunst, Fallen zu stellen, reichte nicht weiter, und es gehörte eben ein gefiederter Bewohner Australiens dazu, um sich auf diese Weise fangen zu lassen.

Unterdessen umringten die durch das Entgegenkommen der Reisenden vertrauter gewordenen Eingeborenen die Ersteren, welche alle Mühe hatten, sich der vorzüglich entwickelten Diebesgelüste derselben zu erwehren. Diese sprachen ein vorwiegend aus Zungenlauten bestehendes pfeifendes Idiom, das dem Schrei mancher Thiere ähnelte. Manchmal hatte ihre Sprache jedoch auch Schmeicheltöne von großer Zartheit; häufig wiederholte sich das Wort [418] »Noki, noki«, welches die begleitenden Handbewegungen genügend verständlich machten. Es hieß »Gebt mir, gebt mir!« und wurde auch bezüglich des Besten, was die Reisenden besaßen, laut. Olbinett hatte viel zu thun, um den Lagerraum und vor Allem den Proviant der Expedition zu schützen. Die armen Verhungerten warfen erschreckende Blicke auf den Wagen und wiesen ihre scharfen Zähne, denen wohl auch Menschenfleisch nichts Fremdes war. Die meisten australischen Stämme sind zwar im Friedenszustande gewiß keine Anthropophagen, aber es giebt ja nur wenig Wilde, welche den Körper des besiegten Feindes zu verzehren verschmähen.

Auf Helena's Wunsch ließ Glenarvan indeß einige Nahrungsmittel vertheilen.

Die Eingeborenen benahmen sich dabei auf eine Art und Weise, welche auch das fühlloseste Herz bewegt hätten; sie stießen Laute ähnlich denen wilder Thiere aus, wenn der Wärter diesen das tägliche Futter bringt. Ohne dem Major völlig beizustimmen, war es doch nicht zu leugnen, daß diese Menschenrace dem Thiere sehr nahe stand.

Olbinett glaubte galanter Weise erst die Frauen befriedigen zu sollen. Diese unglücklichen Creaturen wagten es aber nicht, vor ihren gefürchteten Herren zu essen. Letztere stürzten sich wie auf gute Beute auf das Backwerk und getrocknete Fleisch.

Mary Grant traten bei dem Gedanken, daß ihr Vater unter ebenso rohen Eingeborenen gefangen sein sollte, die Thränen in die Augen. Sie stellte sich vor, was ein Mann, wie Harry Grant, als Sklave eines solchen umherziehenden Stammes, zu leiden haben möchte, wo er dem Elend, dem Hunger und jeder Mißhandlung preisgegeben war.

John Mangles, der sie mit sorgenvoller Aufmerksamkeit betrachtete, errieth die Gedanken, von denen ihr Herz voll war, und kam ihren Wünschen durch einige Fragen an den Quartiermeister der Britannia zuvor.

»Ayrton, sagte er, sind Sie den Händen derartiger Wilden entlaufen.

– Ja wohl, Kapitän, antwortete Ayrton. Diese Völkerschaften des Binnenlandes sind alle einander ähnlich. Hier sehen Sie indeß nur eine Handvoll dieser armen Teufel, doch wohnen an den Ufern des Darling noch zahlreiche Stämme, die von Häuptlingen beherrscht werden, welche mit furchtbarer Machtvollkommenheit handeln.

[419] – Was kann aber, fragte John Mangles, ein Europäer inmitten dieser Eingeborenen beginnen?

– Das, was auch ich gethan habe, erwiderte Ayrton; er jagt und fischt mit ihnen, nimmt Theil an ihren Kämpfen und wird, wie ich schon erwähnte, je nachdem, was er leistet, behandelt. Ist er intelligent und tapfer, so nimmt er bei dem Stamme auch eine angesehene Stellung ein.

– Aber er ist doch ein Gefangener? sagte Mary Grant.

– Und so überwacht, fügte Ayrton hinzu, daß er weder bei Tage, noch bei Nacht einen Schritt thun kann.

– Aber Ihnen, Ayrton, sagte der Major, der sich in das Gespräch mischte, ist es doch gelungen, zu entwischen.

– Ja, Herr Mac Nabbs, und zwar gelegentlich eines Kampfes zwischen meinem Stamme und einer benachbarten Völkerschaft. Ich habe es durchgesetzt, nun wohl, jetzt bedauere ich es auch nicht. Sollte ich es aber noch einmal ausführen, ich glaube, ich zöge eine ewige Sklaverei den Qualen vor, die ich beim Marsch durch die Wüsten des Innern erduldet habe. Gott bewahre den Kapitän Grant davor, einen ähnlichen Rettungsversuch zu wagen!

– Ja, gewiß muß es unser Wunsch sein, Miß Mary, meinte John Mangles, daß Ihr Vater bei irgend einem Stamme Eingeborener zurückgehalten werde. So werden wir weit leichter auf seine Fährte kommen, als wenn er in den Wäldern des Continentes umherirrte.

– Sie haben noch immer Hoffnung? fragte das junge Mädchen.

– Noch immer die eine, Miß Mary, Sie dereinst mit Gottes Hilfe glücklich zu sehen.«

Die feuchten Augen Mary Grant's allein konnten dem jungen Kapitän danken.

Während dieses Gesprächs entstand unter den Wilden eine ungewöhnliche Bewegung; sie stießen gellende Schreie aus, liefen verschiedentlich durch einander, ergriffen ihre Waffen und schienen von wilder Wuth erregt zu sein.

Glenarvan wußte nicht, wo das hinauswolle, als der Major an Ayrton die Frage richtete:

»Da Sie lange Zeit unter den Australnegern gelebt haben, verstehen Sie zweifelsohne auch die Mundart Dieser hier?

– So ziemlich, entgegnete der Quartiermeister, aber so viel Stämme, so [420] viel Mundarten. Doch glaube ich annehmen zu dürfen, daß diese Wilden aus Dankbarkeit Seiner Herrlichkeit ein Kampfspiel aufführen wollen.«

Wirklich war das die Ursache jener Bewegung. Ohne weitere Umstände griffen sich die Eingeborenen mit erheuchelter Wuth an, und das so täuschend, daß der weniger Unterrichtete einen ernsthaften Kampf vor sich zu haben glauben mußte. Die Australier sind aber nach Aussage aller Reisenden ganz perfecte Schauspieler und bei vorliegender Gelegenheit entwickelten sie ein ganz bemerkenswerthes Talent.

Ihre Angriffs- und Vertheidigungswaffen bestanden in einer Art hölzerner Keule, welche auch für den dicksten Schädel genügen würde, und eine Art »Tomahawk«, einem spitzen, sehr harten Steine, der zwischen zwei Stäben durch einen Klebstoff befestigt war. Diese Hacke hat einen zehnfüßigen Griff, und ist ein ebenso furchtbares Werkzeug für den Krieg, wie nützlich für die Beschäftigungen des Friedens, und dient je nach Bedarf zum Abhacken der Aeste und der Köpfe, und zum Zerschneiden der Leiber und der Bäume. Alle diese Waffen wurden unter wildem Geschrei von wahnsinnigen Händen geschwungen, die Kämpfer warfen sich auf einander, Einige stürzten wie todt zusammen, Andere erhoben ein Siegesgeschrei. Die Frauen, vorzüglich die älteren, feuerten, wie von der Furie des Krieges besessen, zum Kampfe an, fielen über die falschen Leichname her und verstümmelten sie scheinbar mit einer Wildheit, die auch in der Wirklichkeit nicht schrecklicher erscheinen konnte. Jeden Augenblick fürchtete Lady Helena das Spiel in einen ernsthaften Kampf ausarten zu sehen. Doch gingen die Kinder, die auch daran Theil genommen hatten, dabei nicht frei aus. Die kleinen Knaben und Mädchen, die übrigens noch wüthender erschienen, behandelten sich mit ganz respectablen Ohrfeigen.

Schon währte das Scheingefecht an zehn Minuten, als die Streiter plötzlich inne hielten. Die Waffen entfielen ihren Händen. Ein tiefes Schweigen folgte dem betäubenden Lärmen. Die Eingeborenen verharrten in ihrer zuletzt inne gehabten Stellung, wie die Figuren eines lebenden Bildes. Man hätte sie für versteinert halten können.

Was war die Ursache dieses Wechsels und was veranlaßte plötzlich diese marmorne Bewegungslosigkeit?

Eine Schaar Kakadus wurde in den Kronen der hohen Gummibäume bemerkbar; sie erfüllten die Luft mit ihrem Geschwätz und glichen mit den [421] lebhaften Farben ihres Gefieders einem fliegenden Regenbogen. Die Erscheinung dieser glänzenden Wolke von Vögeln hatte das Gefecht unterbrochen. Die Jagd, welche doch nutzbringender erschien, folgte auf den Kampf.

Einer der Eingeborenen ergriff ein roth gefärbtes, eigenthümlich construirtes Instrument, verließ seine noch immer bewegungslosen Genossen und verfügte sich zwischen Bäumen und Gebüschen näher nach der Gesellschaft der Kakadus hin. Er kroch lautlos dahin, streifte kein Blatt und verrückte kein Steinchen; es war ein gleitender Schatten.

Als der Wilde bis auf geeignete Entfernung nahe gekommen war, schleuderte er sein Instrument in wagerechter Richtung etwa zwei Fuß über den Boden hin. So flog diese Waffe etwa vierzig Fuß weit; plötzlich aber stieg sie, ohne die Erde zu berühren, senkrecht gegen hundert Fuß hoch aufwärts, verletzte ein Dutzend Vögel tödtlich und kam, eine Parabel beschreibend, zu den Füßen des Jägers zurück.

Glenarvan und seine Begleiter waren erstaunt; sie trauten ihren Augen nicht.

»Das war ein ›Boomerang‹! sagte Ayrton.

– Der Boomerang! rief Paganel, der australische Boomerang!«

Wie ein Kind lief er nach dem Instrumente, das er aufhob, um zu sehen, »was denn daran sei.«

Man konnte wirklich zu dem Glauben verführt werden, daß ein innerer Mechanismus, etwa eine plötzlich losschnellende Feder, dem Wege desselben eine andere Richtung gegeben hätte. Aber nichts von dem Allen fand sich.

Der Boomerang bestand einfach in einem Stücke langen, krummen, dreißig bis vierzig Zoll langen Holzes; in der Mitte etwa drei Zoll dick, spitzte er sich nach den Enden hin scharf zu. Seine concave Seite trat um sechs Linien ein, während die convexe zwei scharfe vorspringende Ränder aufwies. Das Ganze war ebenso einfach als unerklärlich.

»Das ist also dieser berühmte Boomerang! sagte Paganel, nachdem er das sonderbare Instrument genau betrachtet hatte. Ein Stück Holz und Nichts weiter. Wie steigt er aber von einem gewissen Punkte seines horizontalen Laufes auf in die Luft, um auch wieder nach der Hand, die ihn schleuderte, zurückzukehren? Nie haben Gelehrte oder Reisende den Grund dieser Erscheinung anzugeben vermocht.

– Sollte das nicht eine Wirkung ähnlich derjenigen sein, nach welcher [422] ein in gewisser Art geworfener Reisen zu seinem Ausgangspunkte zurückkehrt? fragte John Mangles.

– Oder vielmehr, meinte Glenarvan, ein Rückschlag, ähnlich dem der Billardkugel, die an einen bestimmten Punkt antrifft?

– Keineswegs, erwiderte Paganel; in beiden Fällen ist ein bestimmter fester Punkt die Ursache der Reaction; der Erdboden für den Reisen, die Billardbande für die Kugel. Aber hier fehlt jener völlig; das Instrument berührt die Erde nicht und steigt doch zu beträchtlicher Höhe auf!

– Nun, Paganel, wie erklären Sie aber diese Erscheinung, fragte Lady Helena.

– Ich erkläre sie gar nicht, Madame, ich bestätige sie nur von Neuem; gewiß hängt sie von der Art und Weise des Schleuderns und der eigenthümlichen Gestaltung des Boomerangs ab. Was das Schleudern betrifft, so ist dies übrigens noch ein Geheimniß der Australier.

– Jedenfalls ist die Sache ziemlich geistreich .... für Affen«, sagte Lady Helena mit einem Seitenblick auf den Major, der wenig überzeugt den Kopf senkte.

Dabei verfloß unversehens die Zeit, und Glenarvan war dafür, den Weiterzug nach Osten nicht noch mehr zu verzögern; er ersuchte also die Reisenden, den Wagen wieder zu besteigen, als einer der Wilden im vollen Laufe daher kam und sehr lebhaft einige Worte aussprach.

»O, übersetzte Ayrton, sie haben Kasuare gesehen!

– Wie? Handelt es sich um eine Jagd? fragte Glenarvan.

– Das müssen wir noch sehen! rief Paganel, das wird merkwürdig; vielleicht spielt der Boomerang dabei wieder seine Rolle.

– Was meinen Sie, Ayrton?

– Es wird uns das nicht lange aufhalten, Mylord«, erwiderte der Quartiermeister.

Die Eingeborenen hatten keinen Augenblick verloren; für sie ist es ein Glücksfall, Kasuare zu erlegen. Der Stamm sichert sich dadurch für einige Tage Nahrung. Auch verwenden die Jäger alle Schlauheit, eine solche Beute zu erlangen. Aber wie ist es ihnen möglich, ohne Gewehre und ohne Hunde ein so schnelles Thier zu erlegen oder zu erlangen? Darin lag die interessante Seite des Schauspiels, das Paganel nicht versäumen wollte.

Der Emu oder haubenlose Kasuar, in der Ursprache »Murenk« genannt, [423] ist ein in den australischen Ebenen schon seltener werdendes Thier. Dieser große, zweiundeinhalb Fuß hohe Vogel hat ein weißes, dem des Truthahns ähnliches Fleisch; auf dem Kopfe trägt er eine hornige Platte, seine Augen sind hellbraun, der Schnabel nach unten zu gekrümmt; seine dreizehigen Füße haben mächtige Krallen; seine abgestutzten Flügel können ihm nicht zum Fliegen dienen; am Halse ist sein Gefieder, um nicht zu sagen sein Fell, dunkler als an der Brust. Wenn er aber auch nicht fliegt, so läuft er doch, und würde im Wettrennen das schnellste Pferd überholen. Man kann ihn also nur durch List, und zwar durch nicht ganz gewöhnliche, fangen.

Auf den Anruf der Eingeborenen verstreuten sich etwa zehn Australneger nach Art der Tirailleurs. Das Ganze ging in einer wunderbaren Ebene vor sich, wo der Indigo wild wuchs und den Boden mit seinen blauen Blumen bedeckte. Die Reisenden postirten sich an dem Saume eines Mimosenwäldchens.

Bei der Annäherung der Eingeborenen erhoben sich ein halbes Dutzend Emus, flohen davon und setzten sich etwa in einer Meile Entfernung wieder nieder. Als der Jäger des Stammes sich über ihren Standpunkt vergewissert hatte, machte er seinen Kameraden ein Zeichen, stehen zu bleiben. Jene streckten sich platt auf den Boden, während er selbst aus seinem Netze zwei geschickt genähte Kasuarbälge zog, mit denen er sich auf der Stelle vermummte. Den rechten Arm streckte er über den Kopf in die Höhe und ahmte die Bewegung eines Emu nach, der sich Nahrung sucht.

Der Eingeborene wandte sich gegen die Heerde; bald machte er Halt, um scheinbar einige Körner aufzupicken, bald wirbelte er mit den Füßen den Staub um sich auf, und umhüllte sich mit einer dichten Wolke. Das ganze listige Verfahren war vollendet in seiner Art. Nicht treuer konnte die ganze Art und Weise eines Emu copirt werden. Der Jäger ließ noch ein dumpfes Gurren ertönen, durch welches selbst ein Vogel sich täuschen lassen mußte. So geschah es auch. Bald befand sich der Wilde mitten in der sorglosen Gesellschaft, aber plötzlich schwang sein Arm die Keule und fünf Emu von jenen sechs fielen ihm zur Seite nieder.

Der Jäger hatte seinen Erfolg, die Jagd war zu Ende.

So nahm denn Glenarvan nebst den Damen und die ganze kleine Truppe von den Eingeborenen Abschied. Diese zeigten keinerlei Betrübniß bei der Trennung. Vielleicht hatte die Frucht der Kasuarjagd sie ihren befriedigten [424] Heißhunger vergessen lassen.


Paganel legte sich nicht nieder. (S. 427.)

Sie besaßen nicht einmal jene Dankbarkeit des Magens, welche bei uncultivirten Naturmenschen und Thieren stärker ist, als die des Herzens.

Doch wie dem auch sei, nach gewissen Richtungen hin konnte man ihrer Intelligenz und Geschicklichkeit nicht alle Achtung versagen.

»Jetzt, mein lieber Mac Nabbs, sagte Lady Helena, werden Sie doch zugestehen, daß die Australier keine Affen sind?

[425] – Weil sie ein Thier so vollendet nachzuahmen verstehen? versetzte der Major; das sollte vielmehr meine Annahme erhärten.

– Ein Scherz ist keine Antwort, sagte Lady Helena, ich wünsche, Major, daß Sie auf Ihren Ausspruch zurückkommen.

– Nun gut; ja! liebe Cousine, oder vielmehr, nein. Die Australier sind keine Affen, sondern die Affen sind Australier.

– Potz tausend!

– Uebrigens, erinnern Sie sich wohl, was die Neger bezüglich der interessanten Race der Orang-Utangs annehmen?

– Das wäre? fragte Lady Helena.

– Sie nehmen an, erwiderte der Major, daß diese Affen Neger sind, wie sie selbst, nur boshaftere. ›Sprechen nur nicht, um nicht arbeiten zu müssen‹, sagte ein Schwarzer in seiner Eifersucht auf einen zahmen Orang-Utang, den sein Herr nährte, ohne daß er zu arbeiten brauchte.«

17. Capitel
Siebenzehntes Capitel.
Viehzüchter-Millionäre.

Nach einer unter 146°15' Länge ruhig verbrachten Nacht setzten die Reisenden, am 6. Januar um sieben Uhr Morgens, ihren Weg durch den weitausgedehnten District fort. Sie zogen immer gegen den Aufgang der Sonne und ihre Fußspuren bildeten auf der Ebene eine genau gerade Linie. Zweimal kreuzten sie die Spuren nach Norden ziehender Squatters, wodurch die hinterlassenen Eindrücke sich leicht verwirrt hätten, wenn nicht Glenarvan's Pferd die an zwei Kleeblättern erkennbare Marke von Black-Point dem Boden eingeprägt hätte.

Da und dort war das Land von launenhaften Uferflüßchen, mit Buchsbaum umgeben und durchzogen, deren Wasser bald versiegten. Sie verdanken ihren Ursprung den Gebirgsbächen aus den »Buffalos-Ranges«, einer Kette mittelhoher Berge, deren pittoreske Linie den Horizont begrenzte.

[426] An einer solchen Stelle beschloß man zu übernachten. Ayrton trieb seine Bespannung an, und nach einem Tageszug von fünfunddreißig Meilen erreichten die Ochsen ziemlich ermüdet ihr Ziel. Unter großen Bäumen wurde das Zelt aufgeschlagen, und, da die Nacht schon hereinbrach, die Abendmahlzeit schnell abgemacht. Nach einer solchen Tagereise lag Jedem das Schlafen näher, als das Essen.

Paganel, der zuerst die Wache hatte, legte sich nicht nieder, sondern patrouillirte, das Gewehr auf der Schulter, hin und her, um sich des Schlafes besser zu erwehren.

Trotz mangelnden Mondscheins war die Nacht, Dank dem Glanze der Sternbilder Australiens, doch ziemlich hell. Der Gelehrte ergötzte sich, in diesem großen Buche des Firmamentes zu lesen, das immer offen und für Jeden, der es versteht, so überaus anziehend ist. Das tiefe Schweigen der schlummernden Natur wurde nur durch das Geräusch unterbrochen, welches die Spannketten an den Füßen der Pferde zeitweilig verursachten.

Paganel überließ sich ganz seinen astronomischen Betrachtungen und war weit mehr mit den Angelegenheiten des Himmelsgewölbes, als mit denen der Erde beschäftigt. Da drang aus der Entfernung ein Ton in sein Ohr, der ihn aus seinen Träumereien herauszog.

Er horchte aufmerksam und glaubte zu größter Verwunderung die Klänge eines Pianos zu vernehmen. Einige gebrochene langsame Accorde sandten ihre zitternden Schallwellen bis zu ihm hin Es konnte keine Täuschung sein.

»Ein Piano in der Wüste! sagte sich Paganel. Das hätt' ich doch nimmermehr erwartet!«

Es war wirklich zu erstaunlich, und Paganel mochte lieber annehmen, daß ein fremdartiger Vogel Australiens hier die Töne eines Pleyelschen oder Erard'schen Flügels nachahme.

In diesem Augenblicke aber vernahm man auch eine klangvolle Stimme. Der Pianist wurde von einem Sänger begleitet. Noch immer horchte Paganel voll Mißtrauen, bald aber mußte er die herrliche Melodie erkennen, die an sein Ohr schlug.

Es was Il mio tresoro tanto aus Don Juan.

»Potz Blitz! dachte der Geograph, so wunderbar auch die australischen Vogelarten sein mögen, nein, und wären es die musikalischsten Papageien der Welt, aber Mozart können sie doch nicht singen!«

[427] Er hörte das herrliche Werk des Meisters bis zum Ende mit an. Die Wirkung dieser durch die helle Nacht tönenden reizenden Melodie war ganz unbeschreiblich. Lange genoß Paganel dieses unaussprechliche Vergnügen, dann schwieg die Stimme und rings war es wieder still, wie zuvor.

Als Wilson zur Ablösung Paganel's kam, fand er diesen in tiefes Träumen versunken. Paganel machte dem Matrosen keine Mittheilung; er behielt sich vor, Glenarvan am andern Morgen von dem Gehörten zu unterrichten, und verschwand unter dem Zelte.

Am andern Tage wurde die ganze Gesellschaft durch ein unerwartetes Gebell munter gemacht. Glenarvan erhob sich sogleich.

Zwei prächtige, hochfüßige »Pointers«, wahre Musterexemplare von englischen Vorstehhunden, sprangen am Saum eines kleinen Gehölzes hin und her. Bei der Annäherung der Reisenden wichen sie unter die Bäume zurück und verdoppelten ihr Bellen.

»Sicher ist hier eine Station in der Wüste, sagte Glenarvan, und auch Jäger müssen in der Nähe sein, denn das sind Jagdhunde.«

Schon öffnete Paganel den Mund, um von den Eindrücken der verflossenen Nacht zu berichten, als zwei jüngere Männer sichtbar wurden, welche zwei Racepferde von hoher Schönheit, ganz leibhaftige »Hunters« ritten.

Die beiden Gentlemen in eleganter Jagdkleidung machten beim Anblick der zigeunerartig gelagerten Gesellschaft Halt. Sie schienen sich zu fragen, was die Anwesenheit bewaffneter Männer in dieser Gegend bedeute, als sie auch die Damen bemerkten, welche eben den Wagen verließen.

Sofort stiegen sie von den Pferden und gingen, den Hut in der Hand, auf diese zu.

Lord Glenarvan schritt ihnen entgegen und nannte als Fremder zuerst seinen Namen und Stand. Die beiden jungen Herren verneigten sich, und Einer von ihnen, scheinbar der Aeltere, sprach:

»Mylord, würden diese Damen, Ihre Begleiter und Sie uns die Ehre erweisen, in unserer Behausung auszuruhen?

– Meine Herren –? sagte Glenarvan.

– Michel und Sandy Patterson, Eigenthümer der Hottam-Station. Sie befinden sich schon auf unseren Grundstücken, und haben nur eine Viertelmeile weit.

[428] – Meine Herren, erwiderte Glenarvan, ich möchte eine so zuvorkommend angebotene Gastfreundschaft nicht mißbrauchen ...

– Mylord, nahm Michel Patterson wieder das Wort, wenn Sie davon Gebrauch machen, so verpflichten Sie sich nur zwei arme Verbannte, die sehr glücklich sein würden, in ihrer Verlassenheit Ihnen ihre Honneurs machen zu dürfen.«

Glenarvan verneigte sich als Zeichen der Zustimmung.

»Mein Herr, fragte da Paganel, der sich an Michel Patterson wandte, darf ich mir die bescheidene Frage erlauben, ob Sie es waren, der in vergangener Nacht jenes himmlische Lied von Mozart sang?

– Das war ich, mein Herr, erwiderte der Gefragte, und mein Bruder Sandy begleitete mich dabei.

– So genehmigen Sie, fuhr Paganel fort, den aufrichtigsten Glückwunsch eines Franzosen, der ein leidenschaftlicher Bewunderer dieser Musik ist.«

Paganel bot dem jungen Gentlemen die Hand, der sie liebenswürdig annahm. Dann zeigte Michel Patterson den rechtshin zu verfolgenden Weg. Die Pferde wurden der Fürsorge Ayrtons und der Matrosen anvertraut, die Reisenden aber begaben sich, von den beiden jungen Männern geleitet, plaudernd und bewundernd, zu Fuße nach dem Herrschaftshause der Hottam-Station.

Es war ein wirklich herrliches Besitzthum und mit der peinlichen Strenge altenglischer Parks in Ordnung gehalten. Unendliche, mit grauen Staketen umzäunte Wiesen erstreckten sich, so weit das Auge reichte. Dort weideten Rinder zu Tausenden und Schafe zu Millionen. Viele Schäfer und noch mehr Hunde hüteten dieses lärmende Heer. Zu dem Gebrüll und Geblöke kam das Anschlagen der Doggen und das scharfe Knallen der Stockwips.

Nach Westen zu wurde der Blick durch einen Saum von Gummibäumen begrenzt, der bei 7500 Fuß Höhe den Gipfel des Hottam-Berges krönte. Lange Alleen immergrüner Bäume strahlten nach allen Richtungen aus. Da und dort drängten sich dichtere Gehölze von »grass-trees« zusammen, Sträuche von zehn Fuß Höhe, die der Zwergpalme ähnlich, aber ganz in ihren langen und schmalen Blättern versteckt waren. Die Luft erschien geschwängert von dem Dufte von Lorbeerbäumen, deren weiße Blumensträuße, die jetzt in voller Blüthe waren, die feinsten aromatischen Gerüche ausströmten.

Mit den Gruppen dieser prächtigen einheimischen Bäume vermählten sich [429] die hierher verpflanzten Erzeugnisse europäischer Klimate. Der Pfirsich-, Birnen-, Apfel- und Feigenbaum, die Orange und selbst die Eiche wurden von den Hurrahs der Reisenden begrüßt, und wenn diese noch nicht genug erstaunt gewesen wären, in dem Schatten heimatlicher Bäume zu wandeln, so wurde ihre Verwunderung doch durch den Anblick der Vögel erregt, die in den Zweigen hüpften, der »Satin-birds«, mit seidenartigem Gefieder und der »Sericutes«, die halb mit Gold, halb mit schwarzem Sammet geschmückt erschienen.

Unter Anderen war ihnen zum ersten Male Gelegenheit geboten, einen »Leierschwanz« zu bewundern, nämlich einen Lyravogel, dessen Schwanzfedern die Form von Orpheus' schönem Instrumente bilden. Er floh zwischen dem baumartigen Farrenkraut daher, und wenn sein Schwanz die Zweige berührte, war man fast erstaunt, die harmonischen Accorde Amphion's nicht zu hören.

Lord Glenarvan begnügte sich indeß nicht, die Märchenpracht dieser in der Wüste improvisirten Oase zu bewundern. Er lauschte auf den Bericht der jungen Gentlemen. In England, inmitten der civilisirten Gesellschaft, hätte der Ankömmling seinem Wirthe zuerst mitgetheilt, wo er herkomme und wohin er gehe. Hier glaubten in Folge eines gewissen seinen Gefühles Michel und Sandy Patterson die Pflicht zu haben, sich den Reisenden, denen sie ihre Gastfreundschaft anboten, möglichst bekannt zu geben. Sie erzählten demnach ihre Geschichte.

Es war die aller jungen, intelligenten und strebsamen Engländer, welche nicht in dem Glauben befangen sind, daß sie der Reichthum der Arbeit enthebe. Michel und Sandy Patterson waren die Söhne eines Londoner Banquiers. Als sie zwanzig Jahre alt waren, hatte das Familienhaupt zu ihnen gesagt: »Hier, Ihr jungen Leute, ist eine Million. Nun geht in eine entlegene Colonie, gründet Euch eine nützliche Beschäftigung und schöpft die Lebenserfahrung aus der Thätigkeit. Habt Ihr gute Erfolge, desto besser; schlägt es Euch fehl, so schadet das nicht viel. Wir werden die Million nicht beklagen, die dazu diente, Euch zu Männern zu erziehen.« Die beiden jungen Leute gehorchten. Sie erwählten in Australien die Colonie Victoria, um die väterlichen Banknoten anzulegen, und hatten keine Ursache, es zu bereuen. Nach drei Jahren war ihr Etablissement in schönster Blüthe.

Man zählt in den Provinzen Victoria, Neu-Süd-Wales und Süd-[430] Australien mehr als dreitausend Stationen, die einen bewirthschaftet von Squatters, welche Viehzucht betreiben, die anderen von Settlers, deren Hauptthätigkeit die Bodencultur bildet. Bis zur Ankunft der beiden jungen Engländer war das beträchtlichste Besitzthum dieser Art das eines gewissen Jamieson, welches einen Flächenraum von hundert Hectaren bedeckte, und in einer Länge von fünfundzwanzig Kilometern an den Paroo, einen der Zuflüsse des Darling, grenzte.

Jetzt überragte die Station Hottam jene an Flächengehalt und Geschäftsumfang. Die beiden jungen Leute waren gleichzeitig Squatters und Settlers. Sie verwalteten ihr ungeheures Besitzthum mit seltener Geschicklichkeit, und, was noch schwerer wiegt, mit ungewohnter Energie.

Man sieht leicht, daß diese Station weit entfernt lag von den Hauptstädten, mitten in der wenig besuchten Einöde des Murray Sie reichte von 146°48' bis 147° der Länge, das heißt, das Terrain war fünf Stunden lang und breit, zwischen dem Buffalo-Ranges und dem Hottam. An den zwei nördlichen Winkeln dieses gewaltigen Vierecks erhoben sich zur Linken der Berg Aberdeen, zur Rechten die Gipfel des High-Barven. Es war auch an schönen buchtenreichen Gewässern kein Mangel, Dank den Creeks und den Zuflüssen des Oven-Flusses, der sich im Norden in das Bett des Murray ergießt. So vereinten sich also gleichmäßig Viehzucht und Bodencultur. Zehntausend Acker Land, die bewundernswürdig eingetheilt und nutzbar gemacht waren, vereinten die heimischen Ernten mit exotischen Erzeugnissen, während mehrere Millionen Thiere sich auf den grünen Weideplätzen nährten. Die Producte der Hottam-Station wurden auch auf den Märkten von Castlemaine und Melbourne zu hohem Course notirt.


Der Leiervogel Neu-Hollands. (S. 430.)

Michel und Sandy Patterson schlossen eben diese Mittheilungen über ihr gewerbfleißiges Leben, als am Ende einer Kasuarbaum-Allee das Wohnhaus derselben sichtbar wurde.

Es war ein niedliches, in Holz- und Rohziegelbau ausgeführtes Gebäude, das unter Emerophilis-Bosquets versteckt lag. In elegantem Schweizerstyl errichtet, umzog es eine mit chinesischen Lampions geschmückte Veranda, gleich einem Impluvium des Alterthums. Die Fenster schützten noch vielfarbige Marquisen, die selbst im Blühen begriffen schienen. Es läßt sich nichts Coquetteres, und dem Auge Wohlthuenderes, aber auch nichts Comfortableres denken. Auf den Rasenplätzen und in den dichteren Pflanzengruppen der [431] Umgebungen erhoben sich bronzene Candelaber mit geschmackvollen Laternen; bei einbrechender Nacht erstrahlte der ganze Park in weißem Gaslicht, das aus einem kleinen Gasometer, der unter Laubgängen von Myalls und baumartigem Gesträuche verdeckt lag, gespeist wurde.

Uebrigens sah man hier weder Gesindewohnungen, noch Ställe, oder Wagenschuppen, überhaupt Nichts, was an den Betrieb der Landwirthschaft erinnerte. Alle diese Dependenzen, – ein vollständiges Dorf, welches aus mehr denn zwanzig Hütten und Häusern bestand, – lagen in der Entfernung [432] einer Viertelmeile in einem Thalgrunde. Elektrische Drähte vermittelten die augenblickliche Verbindung zwischen diesem Dörfchen und dem Herrenhause, welch' Letzteres fern von allem Geräusche unter exotischen Bäumen versteckt erschien.


Eine prächtige Besitzung in der Wildniß. (S. 433.)

Bald war die Allee durchschritten; über ein leicht hingeworfenes eisernes Brückchen von höchster Eleganz, unter der ein munterer Bach plätscherte, gelangte man in die reservirte Parkabtheilung. Ein Aufseher von stattlichem Aussehen erschien vor den Reisenden; die Pforten des Hauses thaten sich auf und die Gäste der Hottam-Station traten in die kostbaren von Steinen und Blüthen verdeckten Räumlichkeiten ein.

[433] Aller Luxus eines kunstliebenden und vornehmen Lebens bot sich ihren Augen. Eine mit decorativen Gegenständen von Turf- und Jagdgeräthen geschmückte Vorhalle führte in einen fünffenstrigen Salon. In diesem befanden sich ein Piano, auf welchem classische und moderne Musikstücke lagen; Staffeleien mit angefangenen Malereien; kleine Piedestale mit Marmorstatuen; an den Wänden einige Meisterwerke aus der Niederländischen Schule; reiche Teppiche, auf die der Fuß so sanft wie auf dichten Rasen trat; Tapeten mit zierlichen Episoden aus der Mythologie; an der Decke ein antiker Lustre; kostbare Fayencewaaren; tausenderlei schöne und geschmackvolle Nippgegenstände, die man in einer australischen Niederlassung nur mit höchstem Erstaunen sah, gaben ein vollkommen harmonisches Bild der Kunst und der Behaglichkeit. Alles, was zu gefallen, Alles, was die Langeweile eines freiwilligen Exils zu erheitern, Alles, was die Gedanken auf die Erinnerung europäischer Lebensgewohnheiten zu führen vermochte, war zur Ausstattung dieses feenhaften Salons verwendet, der den Besucher unwillkürlich in ein fürstliches Schloß von Frankreich oder England versetzte.

Die fünf Fenster ließen durch das seine Gewebe der Marquisen nur ein gedämpftes und schon durch den Halbschatten der Veranda gemildertes Tageslicht eindringen. Als Lady Helena sich diesen näherte, war sie ganz entzückt. Die Wohnung beherrschte von dieser Seite ein breites Thal, das sich bis zu dem Fuße der Berge im Osten erstreckte. Die Abwechselung von Wiesen und Wäldern, da und dort weite Lichtungen, die angenehm abgerundeten Hügel und das Reliefbild des unebenen Erdbodens bot einen Anblick, der über jede Beschreibung ging. Keine andere Gegend der Welt möchte diesem Bilde zu vergleichen sein, selbst nicht das so berühmte Thal des Paradieses an den norwegischen Grenzen von Telemarken. Dieses ausgedehnte Panorama, in dem große lichtvolle und schattige Stellen abwechselten, änderte stündlich sein Aussehen, je nach Stellung der Sonne. Selbst die Phantasie konnte nichts Schöneres träumen, als diesen bezaubernden Anblick, der alle Wünsche des Auges befriedigte.

Inzwischen war auf Sandy Patterson's Anordnung von dem Küchenchef der Station schnell ein Frühstück hergerichtet worden, und kaum eine Viertelstunde nach ihrer Ankunft nahmen die Reisenden an einer verschwenderisch besetzten Tafel Platz. Ueber die Güte der Gerichte und der Weine war gar kein Wort zu verlieren; am meisten aber gefiel Allen, mitten unter dieser [434] raffinirten Opulenz, die Freude der beiden jungen Squatters, welche ganz glücklich erschienen, unter ihrem Dache solche freigebige Gastlichkeit üben zu können.

Dabei wurde ihnen auch der Endzweck der Expedition bekannt gemacht, wobei sie den Nachforschungen Glenarvan's das lebhafteste Interesse widmeten. Auch den Kindern des Kapitäns flößten sie frohe Hoffnung ein.

»Harry Grant, sagte Michel, ist offenbar Eingeborenen in die Hände gefallen, da er in den Küstenansiedelungen nicht wieder aufgetaucht ist. Er kannte nach dem Zeugniß des Documentes seine örtliche Lage ganz genau, und wenn er da keine englische Colonie zu erreichen im Stande war, muß er in dem Augenblicke, wo er an's Land kam, von Wilden gefangen worden sein.

– Genau dasselbe, was auch seinem Quartiermeister Ayrton widerfahren ist.

– Aber Sie, meine Herren, fragte Lady Helena, Sie haben selbst nie von der Katastrophe der Britannia sprechen hören?

– Niemals, Madame, erwiderte Michel.

– Und welcher Behandlung ist Ihrer Ansicht nach der Kapitän Grant, als Gefangener der Australneger, wohl ausgesetzt?

– Die Australier sind nicht gerade grausam, Madame, entgegnete der junge Squatter, und Miß Grant darf in dieser Hinsicht ganz beruhigt sein. Man er zählt sogar häufigere Beispiele von einer gewissen Milde ihres Charakters, und einige Europäer haben lange Zeit unter ihnen gelebt, ohne je Grund gehabt zu haben, sich über Brutalitäten zu beklagen.

– Unter Anderen King, warf Paganel ein, der letzte Ueberlebende von Burke's Expedition.

– Nicht dieser kühne Forscher allein, fuhr Sandy fort, auch ein englischer Soldat, Namens Buckley, der im Jahre 1803 an der Küste von Port-Philippe entwichen war, wurde von den Eingeborenen aufgefangen und lebte dreiunddreißig Jahre lang mit ihnen.

– Und nach dieser Zeit, fügte Michel Patterson hinzu, meldet uns eine der letzten Nummern der ›Australian‹, daß ein gewisser Morin nach sechzehnjähriger Sklaverei in die Mitte seiner Landsleute zurückgekehrt ist. Die Geschichte des Kapitäns wird auch die Seinige sein, denn gleich nach dem Scheitern der Peruvienne, im Jahre 1846, wurde er von den Einheimischen [435] gefangen und in das Innere abgeführt. Also glaube ich, daß Sie berechtigt sind, das Beste zu hoffen.«

Diese Worte erfreuten die Zuhörer des jungen Squatters auf's Höchste. Sie bekräftigten die schon von Paganel und Ayrton gemachten Angaben.

Nach aufgehobener Tafel sprach man von den Deportirten. Die Squatters kannten die Katastrophe an der Camden-Brücke, aber eine Bande entsprungener Verbrecher flößte ihnen keine Unruhe ein. Die Uebelthäter konnten keinen Angriff auf eine Station von über hundert Menschen wagen. Uebrigens war auch anzunehmen, daß sie sich gar nicht in den Einöden des Murray-Gebietes umhertrieben, wo sie nichts auszurichten vermochten, und auch nicht nahe den Colonien von Neu-Süd-Wales, wo die Wege sehr gut überwacht sind. Das war auch Ayrton's Ansicht.

Lord Glenarvan konnte seinen liebenswürdigen Wirthen nicht abschlagen, diesen Tag auf der Hottam-Station zuzubringen. Die zwölf Stunden Verzögerung wurden zu zwölf Stunden der Ruhe; die Pferde und Ochsen erholten sich zu ihrem Vortheil in den bequemen Stallungen der Station.

Die Sache galt als abgemacht und die beiden jungen Leute legten ihren Gästen für den Tag ein Programm vor, das mit eifriger Freude angenommen wurde.

Zu Mittag stampften sieben kräftige Jagdpferde den Boden vor der Thür des Hauses. Ein für die Damen bestimmter eleganter Break, mit glänzender Ausstattung, gab seinem Kutscher Gelegenheit, seine Geschicklichkeit in der regelrechten Handhabung des »four in hand« 1 zu beweisen. Die Reiter, denen Rüdenknechte vorausgingen, und die mit ausgezeichneten Jagdflinten bewaffnet waren, saßen auf und galopirten neben dem Kutschenschlage, während die Jagdhundmeute lustig in dem Holze bellte.

Vier Stunden lang bewegte sich der Reiterzug in den Alleen und Gängen dieses Riesenparks, der so groß wie ein deutscher Kleinstaat war. Reuß-Schleiz oder Sachsen-Koburg-Gotha hätten darin vollständig Platz gefunden. Wenn man darin weniger Einwohnern begegnete, so wog das die Anzahl der Schafheerden vollkommen auf. Was das Wild betrifft, so hätte auch eine ganze Armee von Treibern nicht mehr vor die Gewehre der Jäger bringen können. So entwickelte sich denn bald auf der ganzen Linie ein wahres [436] Pelotonfeuer zum Schrecken für die friedlichen Bewohner der Wälder und Wiesen. An Major Mac Nabbs' Seite that der junge Robert wahre Wunder. Der kühne Knabe war trotz der Abmahnungen seiner Schwester immer weit voran und im dichtesten Feuer. John Mangles übernahm es aber, über ihn zu wachen, und Mary Grant beruhigte sich dabei.

Bei dieser Treibjagd wurden auch gewisse landeseigenthümliche Thiere, die Paganel bis jetzt nur dem Namen nach kannte, unter Anderen der »Wombat« und der »Bandicool«, erlegt.

Der Wombat ist ein Pflanzenfresser, der sich einen Bau, ähnlich dem des Dachses, aushöhlt; er hat die Größe eines Schafes und giebt ausgezeichnetes Fleisch.

Der Bandicool ist eine Art Beutelthier, das an List den Fuchs Europas übertrifft, und diesem in der Beraubung der Hühnerhöfe Unterricht ertheilen könnte. Dieses seinem Aeußern nach abschreckende, anderthalb Fuß lange Thier fiel von Paganel's Schuß, der es mit der Eigenliebe des Jägers ganz reizend fand. »Ein bewundernswerthes Thier«, sagte er.

Robert erlegte neben anderen tüchtigen Stücken Wild ein merkwürdiges Beutelthier, einer kleinen Fuchsart zugehörig, dessen schwarzes, weißgesprenkeltes Fell dem des Marders gleichsteht, und ein Opossumpärchen, welches sich in dem dichten Blätterwerk der großen Bäume versteckte.

Unter allen diesen Großthaten war indeß ohne Widerrede eine Kängurujagd das Interessanteste. Gegen vier Uhr trieben die Hunde eine Rotte dieser merkwürdigen Beutelthiere auf. Die Kleinen flüchteten eiligst in den Beutel der Mutter, und die ganze Gesellschaft entfloh in einer Reihe. Es giebt gar nichts Erstaunlicheres, als die enormen Sprünge des Känguru, dessen Hinterfüße zweimal länger als die Vorderfüße sind, und die es wie eine Feder aufschnellen.

An der Spitze der flüchtigen Truppe zog ein fünf Fuß hohes Thier, ein Prachtexemplar von »Macropus giganteus«, ein »Alter Mann«, in der Sprache der Bushmen.

Vier bis fünf Meilen weit wurde die Jagd unablässig fortgesetzt. Die Kängurus ermüdeten nicht, und die Hunde, welche nicht mit Unrecht ihre kräftige, mit einem spitzen Nagel bewehrte Tatze fürchten, bemühten sich nicht, ihnen näher zu kommen. Endlich hielt der Haufen, vom Laufen erschöpft, [437] an, und der »Alte Mann« stützte sich, zur Abwehr bereit, gegen einen Baumstamm.

Einer der Jagdhunde, den sein Eifer zu weit trieb, stürzte bis zu ihm hin. Einen Augenblick später flog der arme Hund in die Luft und fiel mit aufgeschlitztem Bauche nieder.

Gewiß wäre die ganze Meute nicht mit dem mächtigen Beutelthiere fertig geworden. Man mußte also zu den Gewehren greifen, da nur die Kugeln allein jenes gigantische Thier überwinden konnten.

Ebendabei wäre Robert fast ein Opfer seiner Unvorsichtigkeit geworden. Um recht sicher zu schießen, näherte er sich dem Känguru so sehr, daß dieses mit einem mächtigen Satze auf ihn zusprang. Robert kam zum Fallen; man vernahm ein Jammergeschrei. Mary Grant streckte erschreckt, sprachlos, fast ohne sehen zu kennen, vom Break aus die Arme nach ihrem Bruder. Kein Jäger wagte auf das Thier zu schießen, da er den Knaben ebenso leicht treffen konnte.

Plötzlich aber stürzte sich, auf die Gefahr hin, selbst aufgeschlitzt zu werden, John Mangles mit offenem Jagdmesser auf das Thier und stieß es ihm in's Herz. Als dieser Feind abgethan war, konnte sich Robert, ohne Schaden genommen zu haben, erheben. Einen Augenblick darauf lag er in den Armen seiner Schwester.

Fußnoten

1 Englischer Ausdruck für ein Viergespann.

18. Capitel
Achtzehntes Capitel.
Die Australischen Alpen.

Eine ungeheure Schranke versperrte den Weg nach Südosten. Es war die Australische Alpenkette, ein ungeheures Bollwerk, dessen Wälle sich launenhaft unregelmäßig 1500 Meilen weit erstrecken und 4000 Fuß in die Wolken reichen.

Der bedeckte Himmel ließ nur durch eine dicke Nebelschicht Wärme auf den Erdboden dringen. Die Temperatur war daher erträglich, aber der Weg auf einem schon sehr unebenen Terrain schwierig. Die Bodenschwellungen [438] in der Ebene traten immer deutlicher auf, und hier und da zeigten sich kleine, mit jungen, grünen Gummibäumen bewachsene Hügel. Weiterhin bildeten diese deutlich hervortretenden Anhöhen die ersten Stufen der großen Alpen. Man mußte fortwährend bergan und merkte dies wohl an der Anstrengung der Ochsen, deren Joch beim Ziehen des schweren Wagens krachte; sie keuchten laut, und die Muskeln ihrer Gelenke spannten sich, als müßten sie zerreißen.

Die Bretter des Gefährtes stöhnten unter den plötzlichen Stößen, welche Ayrton, so geschickt er auch war, nicht zu vermeiden vermochte; die Reisenden ergaben sich heiter in ihr Loos.

John Mangles und seine beiden Matrosen untersuchten einige hundert Schritt voraus den Weg; sie wählten die fahrbaren Stellen, um nicht zu sagen Pässe; alle diese Bodenerhebungen bildeten gleichsam Klippen, zwischen welchen der Wagen die beste Durchfahrt zu wählen hatte. Es war eine wahrhafte Schifffahrt durch unruhig aufgeregte Wogen.

Eine schwierige, oft gefährliche Aufgabe. Manchmal mußte Wilson mit dem Beil mitten durch das dichte Gestrüpp einen Weg bahnen. Der feuchte Thonboden gab unter den Füßen nach und der Weg verlängerte sich durch die Umwege, welche man durch tausenderlei unübersteigliche Hindernisse, wie große Granitblöcke, tiefe Schluchten, verdächtige Wasserlachen, zu machen genöthigt war. So hatte man gegen Abend kaum einen halben Grad zurückgelegt. Man lagerte am Fuß der Alpen, am Ufer des Flüßchens Cobougra, am Saume einer kleinen, mit vier Fuß hohen Sträuchern bedeckten Ebene, deren hellrothe Blätter das Auge erfreuten.

»Wir haben einen schlimmen Weg zu machen, sagte Glenarvan, indem er die Bergkette betrachtete, deren Umrisse schon im Abendschatten verschwammen. Alpen! Das ist eine Benennung, die zum Nachdenken veranlaßt.

– Man muß doch den Anschlag etwas geringer machen, mein lieber Glenarvan, antwortete Paganel. Glauben Sie nicht, daß sie eine ganze Schweiz zu durchreisen haben. Es giebt in Australien Grampian-Gebirge, Pyrenäen, Alpen, Blaue Berge, wie in Europa und Amerika, aber in verkleinertem Maßstabe. Dies beweist ganz einfach, daß die Einbildungskraft der Geographen nicht gar weit reicht, oder die Sprache für die Eigennamen sehr arm ist.


Känguru-Jagd. (S. 437.)

[439]

– Also sind diese Australischen Alpen? ... fragte Lady Helena.


Der Hagel pfundweise. (S. 444.)

– Gebirge in einer Miniatur-Ausgabe, antwortete Paganel. Wir werden über sie hinaus kommen, ohne es zu merken.

– Sprechen Sie in eigenem Namen! sagte der Major. Nur ein zerstreuter Mensch kann eine Gebirgskette passiren, ohne es wahrzunehmen.

– Zerstreut! rief Paganel aus. Aber ich bin nicht mehr zerstreut. Ich berufe mich auf die Damen. Seitdem ich den Fuß auf das Festland gesetzt, [440] habe ich nicht mein Versprechen gehalten? Habe ich mich einer einzigen Zerstreutheit schuldig gemacht? Hat man mir einen Irrthum vorzuwerfen?

– Keinen, Herr Paganel, sagte Mary Grant. Sie sind jetzt ein höchst vollkommener Mann.

– Allzu vollkommen! fügte Lady Helena lachend hinzu. Ihre Zerstreutheit stand Ihnen so gut.

– Nicht wahr, Madame? erwiderte Paganel. Wenn ich keinen Fehler mehr besitze, so bin ich im Begriff, ein Mensch zu werden, wie Jedermann.

[441] Ich hoffe also, daß ich binnen Kurzem irgend einen gehörigen Bock schieße, worüber Sie herzlich lachen werden. Sehen Sie, wenn ich nicht einen Verstoß mache, scheine ich aus meiner Rolle zu fallen.«

Am nächsten Tage, den 9. Januar, unternahm die kleine Truppe, ungeachtet der Versicherungen des zuversichtlichen Geographen, nicht ohne große Schwierigkeiten den Uebergang über die Alpen. Man mußte auf gut Glück vorwärts gehen, in enge und tiefe Hohlwege eindringen, welche zuletzt in einen Sack auslaufen konnten. Ayrton wäre ohne Zweifel sehr in Verlegenheit gewesen, wenn man nicht, nachdem man eine Stunde weit gestiegen, unversehens auf ein Wirthshaus, ein elendes »Tap«, auf einem der Bergpfade gestoßen wäre.

»Wahrlich! rief Paganel aus, der Besitzer dieser Schenke kann an einem solchen Orte nicht reich werden! Wozu kann es wohl dienen?

– Uns auf unserem Wege die Auskunft zu geben, deren wir nöthig haben, antwortete Glenarvan. Laßt uns hinein gehen.«

Glenarvan trat, von Ayrton gefolgt, in das Wirthshaus ein. Der Besitzer des »Bush-Inn« – so besagte das Schild der Herberge, – war ein grober Mann von widerwärtigem Aussehen, der sich als seinen Hauptkunden in Bezug auf Gin, Branntwein und Whisky betrachten mußte. Für gewöhnlich sah er kaum einige reisende Squatters oder Heerdenführer.

Er antwortete mit einer Miene übler Laune auf die an ihn gerichteten Fragen. Doch genügten diese Antworten, um Ayrton's Entschluß über seinen Weg zu bestimmen. Glenarvan belohnte die Mühe des Wirthes mit einigen Kronen, und war im Begriff die Schenke zu verlassen, als ein an die Mauer geklebter Anschlag seine Blicke auf sich zog.

Es war eine Bekanntmachung der Colonie-Polizei. Sie verkündete das Entweichen der Sträflinge zu Perth und setzte auf den Kopf Ben Joyce's einen Preis von hundert Pfund Sterling aus.

»Entschieden, sagte Glenarvan zum Quartiermeister, ist dies ein Elender, den man hängen sollte.

– Vor Allem einfangen! erwiderte Ayrton. Hundert Pfund! Das ist eine schöne Summe, die er nicht werth ist.

– Was den Schenkwirth anlangt, fügte Glenarvan hinzu, scheint er mir trotz seines Maueranschlages nicht sehr Vertrauen erregend.

– Mir auch nicht«, versetzte Ayrton.

[442] Glenarvan und der Quartiermeister kehrten zum Wagen zurück.

Man wandte sich dem Punkte zu, wo der Weg nach Lucknow aufhört. Dort schlängelte sich ein schmaler Paß, der zu Umwegen nöthigte; man fing an bergauf zu steigen; ein mühsames Stück Arbeit. Mehr als einmal mußten die Reisenden aussteigen, und dem schweren Gefährt zu Hilfe kommen, indem sie es an den Rädern vorwärts schoben; oft an gefährlichen Abhängen mußte man es zurückhalten, die Ochsen abspannen, deren Zug bei plötzlichen Wendungen sich nicht entwickeln konnte; es that Noth den Wagen zu stützen, der rückwärts zu gleiten drohte; und öfter mußte Ayrton die Hilfe der Pferde in Anspruch nehmen, die vom eigenen Hinaufsteigen schon ermüdet waren.

Sei's nun in Folge dieser langen Anstrengung oder aus sonst einem Grunde, eins der Pferde fiel an diesem Tage. Es stürzte plötzlich nieder, ohne daß man irgend dieses Unfalls sich hätte versehen können.

Es war das Pferd Mulrady's, und als dieser es wieder aufrichten wollte, fand sich, daß es todt war.

Ayrton untersuchte das zur Erde gestreckte Thier und schien diesen plötzlich eingetretenen Tod nicht zu begreifen.

»Das Thier muß sich irgend ein Gefäß zerrissen haben, sagte Glenarvan.

– Wahrscheinlich, antwortete Ayrton.

– Nimm mein Pferd, Mulrady, setzte Glenarvan hinzu, ich werde mich zu Lady Helena in den Wagen setzen.«

Mulrady gehorchte, und die kleine Truppe setzte ihre anstrengende Bergfahrt fort, nachdem sie den Raben den Cadaver des Pferdes zurückgelassen.

Die Australische Alpenkette ist nicht sehr stark, und ihr Fuß hat kaum acht Meilen Breite.

Wenn also der von Ayrton ausgewählte Uebergangspaß auf der östlichen Rückseite auslief, konnte man binnen achtundvierzig Stunden über diese hohe Schranke hinaus sein. Dann würde bis an's Meer von unübersteiglichen Hindernissen oder schwierigen Wegen keine Rede mehr sein.

Im Laufe des 11. erreichten die Reisenden den höchsten Punkt des Passes, ungefähr 2000 Fuß hoch. Sie befanden sich auf einem freiliegenden Plateau, welches den Blicken eine weite Aussicht gestattete. Nach Norden zu spiegelten sich die ruhigen Gewässer des Omeo-Sees, mit buntem Gewimmel von Wasservögeln, und weiter hinaus die großen Ebenen des Murray. Im [443] Süden entrollten sich die grünen Flächen von Gippsland, des goldreichen Terrains mit seinen hohen Wäldern, das einem Lande der Urzeit gleicht. Dort war die Natur noch die Herrin ihrer Erzeugnisse, des Laufes ihrer Ströme, ihrer großen, von dem Beil noch unberührten Bäume, und die damals noch seltenen Ansiedler wagten es nicht, gegen sie zu kämpfen. Es schien, als ob die Alpenkette zwei verschiedene Landstriche trenne, von denen der eine seine natürliche Wildniß beibehalten habe. Die Sonne ging jetzt unter, und einige durch röthliche Wolken schimmernde Strahlen belebten die Beleuchtung des Districtes Murray. Im Gegensatz hierzu verlor sich das Gippsland, welches hinter dem Bergschirm im Schatten lag, in unbestimmtem Helldunkel, und man hätte sagen können, der Schatten tauche diese transalpinische Region in eine frühe Nacht. Dieser Contrast ward von den Zuschauern auf ihrem Standpunkt zwischen diesen beiden Ländern lebhaft empfunden, und eine gewisse Gemüthsbewegung bemächtigte sich ihrer beim Anblick dieser fast unbekannten Gegend, welche sie bis an die Victorischen Grenzen durchwandern sollten.

Man übernachtete auf dem Plateau selbst, und am folgenden Tage begann das Hinabsteigen. Es ging ziemlich schnell von Statten, doch überfiel ein außerordentlich heftiger Hagel die Reisenden und zwang sie unter den Felsen eine Zuflucht zu suchen. Es waren keine Hagelkörner, sondern wirkliche handgroße Eisstücke, welche aus den Gewitterwolken niederstürzten. Eine Schleuder hätte sie nicht mit größerer Gewalt werfen können, und einige tüchtige Verletzungen belehrten Paganel und Robert, daß es gerathen sei, sich diesen Würfen zu entziehen. Der Wagen wurde an mehreren Stellen durchlöchert, und wenig Dächer hätten diesem Hagel spitzer Eisstücke widerstanden, welche sich sogar in den Stamm der Bäume einbohrten. Man mußte das Ende dieses merkwürdigen Niedersturzes abwarten, wenn man nicht gesteinigt werden wollte. In einer Stunde war jedoch Alles vorüber, und die Truppe begann auf's Neue die abschüssigen Felsen hinabzusteigen, die von dem Abfluß des schmelzenden Hagels noch ganz schlüpfrig waren.

Gegen Abend fuhr der Wagen, sehr zusammengerüttelt und an verschiedenen Theilen des Gestelles zerbrochen, doch noch sicher auf seinen Holzrädern ruhend, die letzten Stufen der Alpen, zwischen großen, vereinzelt stehenden Tannen hinunter. Der Paß lief auf den Ebenen des Gippslandes aus.

[444] Die Alpenkette war glücklich überschritten und die gebräuchlichen Anordnungen für das Nachtlager wurden getroffen.

Am 12. bei Tagesanbruch nahm man die Reise mit einem Eifer wieder auf, der nicht zu verkennen war. Jeder hatte Eile, an's Ziel zu kommen, d.h. an den Stillen Ocean, an denselben Ort, wo die Britannia gescheitert war. Dort erst konnte man wieder auf die Spur der Schiffbrüchigen kommen und nicht in den wüsten Gegenden des Gippslandes. Auch drängte Ayrton Lord Glenarvan, dem Duncan den Befehl zu schicken, sich an die Küste zu begeben, um alle Nachforschungsmittel zur Verfügung zu haben. Seiner Meinung nach mußte man den Weg, der von Lucknow nach Melbourne führt, benutzen. Später würde dies schwieriger sein, denn die directe Verbindung mit der Hauptstadt fehlte dann gänzlich.

Dieser Rath des Quartiermeisters schien gut zu befolgen. Paganel war gleicher Ansicht, denn er glaubte ebenfalls, daß die Anwesenheit der Yacht unter solchen Umständen nützlich sein könne, und er fügte hinzu, daß, wenn der Weg nach Lucknow einmal hinter ihnen, jede Verbindung nach Melbourne abgeschnitten sei.

Glenarvan war unentschieden, und vielleicht hätte er den Befehl, den Ayrton so besonders verlangte, ertheilt, wenn nicht der Major diesen Vorschlag lebhaft bekämpft hätte. Er bewies, daß Ayrton's Anwesenheit bei der Expedition nöthig sei; bei Annäherung an die Küste sei er es, dem das Land bekannt sei; und, wenn der Zufall die Karawane auf die Spuren Grant's bringe, sei der Quartiermeister mehr als jeder Andere im Stande, sie zu verfolgen; endlich, er könne allein den Ort angeben, wo die Britannia zu Grunde gegangen.

Mac Nabbs stimmte also für die Fortsetzung der Reise ohne verändertes Programm. Er fand einen Verbündeten in John Mangles, der sich seiner Ansicht anschloß.

Der junge Kapitän bemerkte sogar, daß die Befehle Seiner Gnaden dem Duncan leichter zugehen würden, wenn man sie von der Twofold-Bai expedirte, als durch das Ueberbringen eines Boten, der zweihundert Meilen durch ein wildes Land reiten müsse.

Diese Ansicht gewann die Oberhand. Es wurde entschieden, daß man warten wolle, bis die Twofold-Bai erreicht sei. Der Major beobachtete [445] Ayrton, der ziemlich ärgerlich schien. Doch sagte er Nichts und behielt, seiner Gewohnheit zu Folge, seine Beobachtung für sich.

Die Ebenen am Fuß der Australischen Alpen waren flach, mit einer leichten Senkung nach Osten. Große Gruppen von Mimosen und Eucalypten, mannigfach duftende Gummibäume unterbrachen hier und da die Einförmigkeit. Einige Creeks, einfache mit Binsen und Orchideen bedeckte Bäche, welche oft den Weg versperrten, wurden an seichter Stelle durchwatet. In der Ferne entflohen bei der Annäherung der Reisenden Schaaren von Trappen und Kasuaren. Ueber die Sträucher hinweg sprangen Kängurus wie eine Truppe beweglicher elastischer Gliedermännchen hinüber und herüber. Doch dachten die Jäger der Expedition kaum daran, sie zu jagen, und ihre Pferde waren gern einer größeren Anstrengung überhoben.

Außerdem lag eine dumpfe Schwüle über der Gegend. Eine starke Elektricität sättigte die Atmosphäre. Thiere und Menschen unterlagen ihrem Einflusse. Sie gingen mechanisch vorwärts, und die Stille ward nur durch den Ruf Ayrton's unterbrochen, der seine müden Thiere antrieb.

Von Mittag bis zwei Uhr passirte man einen merkwürdigen Wald von Farrnkräutern. Diese baumartigen, in voller Blüthe stehenden Pflanzen hatten bis zu dreißig Fuß Höhe. Pferde und Reiter gingen bequem unter ihren niederhängenden Zweigen durch. Unter diesen unbeweglichen Sonnenschirmen herrschte eine Kühle, über die sich Niemand beklagte. Jacques Paganel, der sich immer äußern mußte, verscheuchte mit seinen Auslassungen der Befriedigung Schaaren von Papageien und Kakadus. Es war ein Concert betäubenden Geplappers.

Der Geograph fuhr in seinen Ausrufungen des Entzückens fort, als seine Begleiter ihn plötzlich auf sei nem Pferde schwanken und wie eine Masse niederstürzen sahen.

War es Folge einer Betäubung oder hatte die hohe Temperatur eine Beklommenheit verursacht? Man eilte auf ihn zu.

»Paganel, Paganel, was fehlt Ihnen? rief Glenarvan aus.

– Was mir fehlt, lieber Freund? Ich habe kein Pferd mehr, antwortete Paganel, indem er sich aus den Steigbügeln losmachte.

– Was! Ihr Pferd?

– Todt, vom Schlage gerührt, wie das Mulrady's!«

[446] Glenarvan, John Mangles, Wilson untersuchten das Thier. Paganel täuschte sich nicht, sein Pferd war plötzlich vom Schlage getroffen.

»Das ist sonderbar, sagte John Mangles.

– Sehr sonderbar, in der That«, murmelte der Major.

Glenarvan gerieth durch diesen neuen Unfall in große Besorgniß. Er konnte in dieser Wüste keine neuen Pferde anschaffen; wenn nun unter den Thieren der Expedition eine Epidemie ausbrach, so war er sehr in Verlegenheit, wie er die Reise fortsetzen solle.

Leider sollte vor Ende des Tages das Wort »Epidemie« gerechtfertigt erscheinen. Ein drittes Pferd, das Wilson's, stürzte und, ein vielleicht noch ernsterer Umstand, einer der Ochsen gleichfalls.

Die Transport- und Zugmittel waren jetzt auf drei Ochsen und vier Pferde beschränkt.

Die Lage wurde bedenklich. Die Reiter konnten zwar absitzen und zu Fuß gehen. Viele Squatters hatten dies bereits in diesen wilden Regionen gethan. Wenn man aber den Wagen zurücklassen mußte, was sollte dann aus den reisenden Frauen werden? Konnten sie die hundertundzwanzig Meilen, welche sie noch von der Twofold-Bai trennten, zurücklegen?

John Mangles und Glenarvan, die sehr beunruhigt waren, untersuchten die noch überlebenden Pferde. Vielleicht konnte man neuen Unglücksfällen zuvorkommen. Nach geschehener Untersuchung ergab sich kein Zeichen von Krankheit oder auch nur von Hinfälligkeit. Die Thiere befanden sich vollkommen gesund und ertrugen tapfer die Reiseanstrengungen.

Glenarvan hoffte also, daß diese sonderbare Epidemie kein neues Opfer fordern würde.

Dies war auch Ayrton's Ansicht, der gestand, daß ihm diese plötzlichen Todesfälle unbegreiflich seien.

Man machte sich wieder auf den Weg. Die Fußgänger ruhten sich abwechselnd im Wagen aus. Am Abend wurde, wenn man auch nur zehn Meilen zurückgelegt hatte, das Zeichen zum Halt gegeben und das Lager errichtet. Die Nacht verfloß ruhig, ohne Störung, unter einem großen Busch von Farrnkraut, zwischen denen ungeheure Fledermäuse, fliegende Füchse genannt, hin und her flatterten.


Ein Wald von Baumfarrn. (S. 446.)

Der folgende Tag, der 13. Januar, war ein guter. Die Unfälle des vorigen Tages erneuerten sich nicht, und der Gesundheitszustand der Expedition [447] blieb ein befriedigender. Pferde und Ochsen thaten munter ihren Dienst. Der Salon Lady Helenas war sehr belebt, Dank der großen Zahl der Besucher, die ein- und ausströmten. Herr Olbinett war sehr thätig, Erfrischungen zu reichen, welche bei dreißig Grad Hitze Bedürfniß waren. Ein halbes Fäßchen Schottisch Ale wurde ganz vertilgt, und man erklärte Barklay & Comp. für den größten Mann Großbritanniens, sogar über Wellington, der niemals solch gutes Bier gebraut hatte.


Einige Blitze erleuchteten den Horizont. (S. 450.)

Ein so gut angefangener Tag schien auch gut enden zu wollen. Man hatte gute fünfzehn Meilen mitten durch ein ziemlich unebenes Land mit röthlichem Boden zurückgelegt. Alles ließ hoffen, daß man denselben Abend [448] noch an den Ufern des Snowy übernachten würde, eines ansehnlichen Flusses, der südlich von Victoria sich in den Stillen Ocean ergießt.

Bald gruben die Räder des Wagens ihre Spuren in die weiten Strecken schwärzlichen angeschwemmten Bodens, zwischen wucherndem Grase.

Der Abend kam, und ein am Horizont sich deutlich abzeichnendre Nebelstreif zeigte den Lauf des Snowy an.

Noch einige Meilen wurden mit aller Anstrengung gemacht. Hinter einer kleinen Bodenerhebung zeichnete sich ein Wald hoher Bäume ab, und dorthin richtete Ayrton das Gefährt über die im Schatten verlorenen Baumstämme. Er war schon eine halbe Meile vom Fluß über den Saum des [449] Waldes hinausgekommen, als der Wagen plötzlich bis zur Hälfte der Räder einsank.

»Aufgepaßt! schrie er den ihm nachfolgenden Reitern zu.

– Was giebt es denn? fragte Glenarvan.

– Wir stecken im Morast«, antwortete Ayrton.

Mit Zurufen und dem Treibstachel regte er die Ochsen an, welche, bis zur Mitte der Beine im Schlamm steckend, sich nicht bewegen konnten.

»Wir wollen hier übernachten, sagte John Mangles.

– Das ist das Beste, was wir thun können, erwiderte Ayrton. Morgen, bei Tage, werden wir sehen, wie wir herauskommen.

– Halt!« rief Glenarvan.

Die Nacht war nach einer kurzen Dämmerung schnell hereingebrochen, doch war die Hitze nicht mit dem Tageslicht verschwunden. Die Atmosphäre war mit erstickenden Dünsten erfüllt. Einige Blitze, blendender Widerschein eines entfernten Gewitters, leuchteten am Horizont.

Das Lager wurde eingerichtet. Man machte sich so gut als möglich in dem eingesunkenen Wagen Platz. Der finstere Dom der Bäume schützte das Zelt der Reisenden. Wenn sich der Regen nicht hereinmischte, waren sie entschlossen, sich nicht zu beklagen.

Nicht ohne große Mühe gelang es Ayrton, die drei Ochsen aus dem Schlammboden zu befreien. Die muthigen Thiere staken bis an den Bauch darin. Der Quartiermeister pferchte sich mit den vier Pferden ein und überließ niemand Anderem die Sorge für ihr Futter. Gewöhnlich verrichtete er diesen Dienst mit Einsicht, doch diesen Abend bemerkte Glenarvan, daß seine Sorgfalt sich verdoppelte, und er dankte ihm dafür, denn die Erhaltung des Gespannes war von großer Wichtigkeit.

Währenddessen nahmen die Reisenden ein ziemlich kurzes Abendessen ein. Hitze und Müdigkeit überwogen den Hunger, und sie hatten weniger der Nahrung als der Ruhe nöthig.

Lady Helena und Miß Grant zogen sich in ihre gewöhnliche Lagerstätte zurück, nachdem sie ihren Gefährten Gute Nacht gewünscht hatten.

Von den Männern schlichen sich einige in das Zelt, andere streckten sich aus Neigung auf das dichte Gras am Fuße der Bäume, was in diesen gefunden Ländern ohne Nachtheil ist.

Nach und nach sank Jeder in tiefen Schlaf. Die Finsterniß nahm unter [450] einem großen Wolkenschleier, der den Himmel umhüllte, zu. Es regte sich kein Lüftchen, und das Schweigen der Nacht wurde nur durch krächzende Nachtvögel unterbrochen.

Gegen elf Uhr, nach einem schweren und ermattenden Schlafe, wachte der Major auf. Seine halbgeschlossenen Augen blendete ein unsicheres Licht, welches sich unter den großen Bäumen bewegte. Man hätte meinen können, es sei ein weißliches Tuch, sich spiegelnd, wie das Wasser eines Sees, und Mac Nabbs glaubte zuerst, es sei der erste Schein eines sich auf dem Erdboden fortpflanzenden Feuers.

Er stand auf und ging auf das Gehölz zu. Seine Ueberraschung war außerordentlich, als er sich einem rein natürlichen Phänomen gegenüber sah. Vor seinen Augen erstreckte sich ein ungeheures Feld mit Pilzen bedeckt, die ein phosphorisches Licht ausströmten.

Die leuchtenden Körperchen strahlten mit ziemlicher Stärke durch die Dunkelheit. 1

Der Major, welcher kein Egoist war, stand im Begriff, Paganel aufzuwecken, damit der Gelehrte dies Naturwunder mit eigenen Augen feststelle. Ein Vorfall hielt ihn ab.

Der Phosphorschimmer erhellte das Gehölz auf eine halbe Meile weit, und Mac Nabbs glaubte am Rande des Scheines Schatten schnell dahingleiten zu sehen.

Täuschten ihn seine Blicke? War es ein Wahngesicht, dem er sich hingab?

Mac Nabbs legte sich auf die Erde, und nach genauer Beobachtung bemerkte er deutlich mehrere Männer, welche, sich bückend und wiedererhebend, auf dem Boden nach frischen Spuren zu suchen schienen.

Er mußte wissen, was diese Männer suchten.

Der Major zögerte nicht länger, und ohne seine Gefährten zu wecken, und auf dem Boden wie ein Wilder der Prairien dahinkriechend, verschwand er im hohen Grase.

Fußnoten

1 Diese Erscheinung ist schon von Drummond in Australien bei Pilzen beobachtet worden.

19. Capitel
Neunzehntes Capitel.
Ein Theater-Coup.

Es war eine ganz abscheuliche Nacht. Um zwei Uhr Morgens fing es an zu regnen und bis in den Tag hinein ergossen sich die Gewitterwolken in Strömen. Das Zelt gewährte ungenügenden Schutz, so daß sich Glenarvan und seine Gefährten in das Gefährt zurückzogen. An Schlafen war nicht zu denken, man plauderte über dies und jenes. Nur der Major, dessen kurze Abwesenheit Niemandem aufgefallen war, bildete den stummen Zuhörer. Aber der schreckliche Platzregen strömte unaufhörlich. Man befürchtete deshalb mit Recht, daß der Snowy austreten möge, was für das Gefährt, das im aufgeweichten Boden stak, sehr bedenklich war.

Mehr als einmal gingen Mulrady, Ayrton und John Mangles aus, untersuchten den Stand des Wassers, und kamen jedesmal von Kopf bis zu Füßen durchweicht zurück.

Endlich wurde es Tag. Es hörte auf zu regnen, aber die Sonnenstrahlen vermochten noch nicht durch die dichte Wolkenschicht zu dringen. Auf dem Boden standen große Lachen gelben Wassers, trübe, schlammige Teiche. Aus dem aufgerührten Boden stiegen fortwährend feuchtwarme Dünste auf und sättigten die Atmosphäre mit gesundheitschädlichen Miasmen.

Glenarvan hatte von allem Anfang an Sorge um das Gefährt gehabt, denn es war in seinen Augen die Hauptsache. Als man jetzt das plumpe Fahrzeug untersuchte, fand man, daß es mit dem Boden zugleich niedergesunken sei und mitten im zähen Lehm stak; das Vordergestell war fast total verschwunden, das Hintergestell aber bis an die Räderachse.

Man sah ein, daß selbst, wenn Alle, Menschen wie Thiere, ihre äußersten Kräfte aufböten, es seine Noth haben würde, die schwere Maschine wieder in die Höhe zu bringen.

In jedem Fall, sagte John Mangles, muß hier schnell gehandelt werden. Denn wenn dieser Thon erst trocken geworden, erschwert er uns die Arbeit sehr.

»Also rasch an's Werk!« bemerkte Ayrton.

Glenarvan also machte sich mit seinen beiden Matrosen nebst John Mangles [452] und Ayrton nach dem Gehölz auf, wo die Thiere des Nachts über gewesen waren.

Es war ein Hochwald von Gummibäumen, der einen traurigen Anblick bot. Lauter abgestorbene Stämme standen da in großen Zwischenräumen, seit Jahrhunderten ihrer Rinde entkleidet, wie Korkeichen zur Erntezeit.

Bis zu zweihundert Fuß streckten sie das magere Netz ihrer entlaubten Aeste in die Luft und kein Vogel nistete in dem durchsichtigen Skelett, nicht ein Blatt regte sich in dem vertrockneten Geäst.

Und aus welchem Grunde ist eine solche Erscheinung, die in Australien sehr häufig beobachtet wird, daß ganze Wälder von einer tödtlichen Epidemie befallen werden, herzuleiten? Man weiß es nicht. Weder die ältesten Eingeborenen, noch ihre bereits lange in den Särgen ruhenden Vorfahren haben sie jemals im grünen Zustande gesehen.

Während Glenarvan fortwährend weiter ging und nach dem grauen Himmel aufschaute, auf dem sich auch die kleinsten Zweige der Gummibäume wie seine Zeichnungen abhoben, gerieth Ayrton in Erstaunen, daß sich die Pferde und Ochsen nicht mehr an der Stelle fanden, wo sie hingebracht waren. Doch da die Thiere mit Spannketten gefesselt wurden, konnten sie unmöglich weit fort sein.

Man suchte also nach ihnen im Walde, doch vergebens. Ayrton wußte nicht, was er sagen sollte. Er begab sich nach dem Snowy-Fluß, an dessen Ufer prächtige Mimosen stehen, zurück, ohne sie gefunden zu haben. Er ließ jetzt seinen Ruf vernehmen, den sein Gespann wohl kannte, aber kein Laut kam zurück. Der Quartiermeister schien immer unruhiger, und seine Gefährten sahen sich mit sehr verlegenen Mienen an.

Nachdem eine Stunde bereits mit vergeblichem Nachforschen verflossen war und Glenarvan schon zu dem etwa eine Meile entfernten Gefährt zurückzukehren im Begriff stand, drang ein Wiehern an sein Ohr. Bald darauf ließ sich auch ein Brüllen vernehmen.

»Dort sind sie!« rief John Mangles und schlich durch das hohe Buschwerk, das im Stande gewesen wäre, eine ganze Heerde zu verdecken.

Glenarvan, Mulrady und Ayrton folgten seinen Spuren und theilten alsbald sein Erstaunen.

Zwei von den Ochsen und drei von den Pferden lagen da, zu Boden gestreckt, wie vom Schlage getroffen, gleich den anderen. Schon waren ihre [453] Cadaver kalt und eine Schaar hungriger Raben krächzte unter den Mimosen und lauerte auf die unerwartete Beute.

Glenarvan und seine Gefährten warfen sich Blicke zu, und Wilson konnte nicht umhin, zu fluchen, wie es ihm in den Mund kam.

»Sei ruhig, Wilson, sprach zu ihm Lord Glenarvan, der sich übrigens auch nur zur Noth zusammennehmen konnte, was hilft das jetzt.

– Ayrton, sprach er zu diesem, nehmen Sie den übrig gebliebenen Ochsen und das Pferd mit. Es wird gut sein, daß wir uns bald aus der Verlegenheit ziehen.

– Wenn das Gefährt nicht im Morast stäke, meinte John Mangles, könnten selbst diese beiden Thiere uns in zwei kleinen Tagereisen bis an die Küste bringen. Wir müssen jetzt unter allen Umständen das verfluchte Fahrzeug frei machen.

– Wir wollen es versuchen, John, entgegnete ihm Glenarvan. Kehren wir also jetzt zum Lager zurück, wo man ohnehin über unser langes Ausbleiben unruhig sein wird.«

Ayrton nahm dem Ochsen die Spannriemen ab, und Mulrady dem Pferde, und so zog man denn an dem gewundenen Ufer des Flusses hin.

Ein halbe Stunde später wußten sowohl Paganel wie Mac Nabbs, Lady Helena und Miß Grant, woran man war.

»Den Teufel auch! rief der Major gegen Ayrton, schade, daß Sie nicht gleich alle unsere Thiere beim Uebergang über die Wimmera beschlagen ließen.

– Wie so, mein Herr? fragte Ayrton.

– Von allen unseren Pferden ist gerade das, welches unter den Händen Ihres Hufschmiedes gewesen ist, dem gemeinsamen Schicksale allein entgangen.

– In der That, sagte John Mangles, es ist ein sonderbarer Zufall.

– Nur Zufall, allerdings, und nichts weiter«, entgegnete der Quartier-meister, und sah dem Major fest in's Auge.

Mac Nabbs preßte die Lippen auf einander, als wenn er, was ihm auf der Zunge schwebte, zurückhalten wollte. Glenarvan, Mangles und Lady Helena schienen darauf zu warten, daß er seinen Gedanken weiter aussprechen werde, aber der Major schwieg und wandte sich nach dem Wagen hin, den Ayrton jetzt in Untersuchung gezogen.

»Was hat er eigentlich damit sagen wollen? fragte Glenarvan John Mangles.

[454] – Ich weiß es auch nicht, erwiderte der junge Kapitän. Immerhin ist der Major kein Mensch, der Etwas ohne Grund sagt.

– Da haben Sie Recht, John, meinte Lady Helena. Mac Nabbs muß irgend welchen Verdacht gegen Ayrton haben.

– Verdacht? sagte Paganel mit Achselzucken.

– Was meinen Sie? erwiderte Glenarvan. Kann er es für möglich halten, daß er uns die Thiere getödtet habe? Zu welchem Zweck soll er es gethan haben? Ist denn Ayrton's Interesse nicht ein und dasselbe mit dem unsern?

– Du hast Recht, lieber Edward, sagte Lady Helena, und ich füge noch hinzu, daß uns der Quartiermeister von Anfang unserer Reise an unleugbar Proben von Treue gegeben hat.

– Allerdings, erwiderte John Mangles. Aber was hat es dann mit der Bemerkung des Majors für eine Bewandtniß? Ich muß der Sache auf den Grund kommen.

– Meint er denn, er sei mit den Sträflingen im Einverständniß? ... rief Paganel unvorsichtig.

– Was für Sträflinge? fragte Miß Grant.

– Herr Paganel ist im Irrthum, erwiderte John Mangles lebhaft. Er weiß doch, daß es in der Provinz Victoria keine Sträflinge giebt.

– Ei wahrhaftig! erwiderte Paganel, der gerne seine Worte nicht ausgesprochen hätte. Wo zum Teufel hatte ich auch meinen Kopf? In Australien giebt's keine Sträflinge, denn so wie sie ausgeschifft sind, werden die Missethäter ehrliche Leute! Das Klima, wissen Sie, Miß Mary, wirkt bessernd auf die Sitten ...«

Es erging dem armen Gelehrten, als er seine Uebereilung wieder gut machen wollte, ähnlich wie dem Wagen; er gerieth nur tiefer hinein.

Lady Helena sah ihn an, was ihn ganz außer Fassung brachte. Aber sie wollte ihn nicht noch mehr verlegen machen, und nahm deshalb Miß Mary mit fort nach dem Zelt, wo Mr. Olbinett gerade das Frühstück nach den Regeln der Kunst zubereitete.

»Eigentlich hätte ich es verdient, wegtransportirt zu werden, sagte Paganel in kläglichem Tone.

– Das denke ich auch«, erwiderte Glenarvan.

Da diese Antwort ernstlich gemeint schien, mußte sie für den würdigen [455] Geographen demüthigend sein. Glenarvan und John Mangles begaben sich jetzt auch nach dem Wagen hinüber.


Der Major verschwand in dem hohen Grase. (S. 451.)

Ayrton und die beiden Matrosen waren eben damit beschäftigt, ihn wieder aus seiner tiefen Versenkung herauszuziehen. Sowohl der Ochse wie das Pferd, die zusammengespannt waren, boten alle ihre Muskelkraft auf; die Zugriemen waren schon bis zum Zerreißen gespannt, und ebenso konnten die Halsjoche un möglich noch lange halten.


Der schwere Wagen rührt sich nicht von der Stelle. (S. 457.)

Wilson und Mulrady schoben an den Rädern, während der Quartiermeister [456] das ungleiche Gespann mit Zuruf und Treibstachel spornte. Aber das schwerfällige – Gefährt rührte sich nicht von der Stelle. In dem Thon, der bereits trocken geworden war, wurde es so fest zurückgehalten, als wenn es in hydraulischen Kalk eingelassen wäre.

John Mangles ließ jetzt, um ihn nachgiebiger zu machen, den Thon benetzen, aber auch das war vergebens. Das Gefährt blieb unbeweglich. Noch einmal machten Menschen sowohl wie Thiere einen Versuch mit Aufgebot [457] aller ihrer Kräfte. Wofern man nicht die Maschine Stück für Stück auseinander nahm, mußte man darauf verzichten, sie aus dem Schlammloche zu ziehen. Und wenn das Werkzeug fehlte, konnte man selbst an so etwas nicht denken.

Ayrton, der um jeden Preis die Schwierigkeiten überwinden zu wollen schien, war eben daran, von Neuem alle Kräfte aufzubieten, als Lord Glenarvan dazukam und ihn anrief:

»Halt, Ayrton, es ist genug. Wir müssen die beiden Thiere, die uns geblieben, nothwendig schonen. Während wir unsere Reise zu Fuß fortsetzen, kann das eine von ihnen unsere Damen, das andere unsere Vorräthe fortschaffen. Also können sie uns noch ganz gute Dienste erweisen.

– Gewiß, Mylord, entgegnete der Quartiermeister, und spannte die erschöpften Thiere aus.

– Kommen Sie jetzt, meine Herren, sagte Glenarvan, und lassen Sie uns zu unserer Lagerstätte zurückgehen, dort die Situation in Erwägung ziehen und zusehen, was für gute und was für schlimme Aussichten sind, um danach unsere Entschließung zu fassen.«

Nach einer kleinen Weile erholten sich unsere Reisenden von dieser schlimmen Nacht durch ein ganz leidliches Dejeuner. Gleichzeitig wurde die Berathung eröffnet und jeder aufgefordert, seine Meinung abzugeben.

Vor allem indeß handelte es sich darum, den geographischen Ort des Lagers ganz genau zu wissen. Paganel, dem diese Sorge zufiel, machte die Bestimmung mit der gewünschten Schärfe. Nach seiner Berechnung befand sich die Expedition auf dem siebenunddreißigsten Parallelkreis und zwar 147°53' östlicher Länge, am Ufer des Snowy-Flusses.

»Und welches ist genau die Lage der Twofold-Baiküste? fragte Glenarvan.

– Einhundertundfünfzig Grad, antwortete Paganel.

– Das wäre also ein Unterschied von zwei Graden und sieben Minuten? ...

– Ja wohl von fünfundsiebenzig Meilen.

– Und Melbourne liegt? ...

– Mindestens zweihundert Meilen entfernt.

– Gut. Da unsere Lage nun genau bestimmt ist, was soll nunmehr geschehen?«

Die Antwort lautete einstimmig: Ohne Verzug nach der Küste sich begeben. [458] Sogar Lady Helena und Mary Grant machten sich anheischig, täglich fünf (englische) Meilen zurückzulegen. Die muthigen Frauen schreckten nicht vor dem Gedanken zurück, die Strecken zwischen dem Snowy-Flusse und der Twofold-Bai, wenn es sein müßte, zu Fuße zu gehen.

»Du bist meine wackere Reisegefährtin, liebe Helena, meinte Lord Glenarvan. Aber finden wir, fragte er, auch sicher, wenn wir an der Bai ankommen, die Hilfsquellen, deren wir benöthigen?

– Ohne allen Zweifel, entgegnete Paganel. Eden ist eine Municipalstadt, die schon seit einer Reihe von Jahren besteht. Zwischen ihrem Hafen und Melbourne muß sogar ein ziemlich lebhafter Verkehr stattfinden. Ich vermuthe auch, daß wir fünfunddreißig Meilen von hier, zu Delegete, an der Grenze von Victoria, uns frisch verproviantiren können und genügende Transportmittel finden.

– Und wie ist es mit dem Duncan, fragte Ayrton, halten Sie es nicht für angemessen, ihm Meldung zu senden und ihn in die Bai kommen zu lassen?

– Was halten Sie davon, John, fragte Glenarvan.

– Ich glaube nicht, daß Ew. Herrlichkeit sich hierin übereilen soll, erwiderte der junge Kapitän, nachdem er darüber sich besonnen. Es wird noch immer Zeit genug sein, Ihre Befehle Tom Austin zu ertheilen und ihn an die Küste kommen zu lassen.

– Das ist allerdings klar, fügte Paganel hinzu.

– Bedenken Sie, sprach John Mangles weiter, daß wir in vier bis fünf Tagen bereits in Eden sind.

– Sie meinen, in vier, fünf Tagen! entgegnete Ayrton kopfschüttelnd. Sagen Sie in vierzehn bis zwanzig Tagen, Kapitän, wenn Ihnen Ihr Irrthum nicht später leid sein soll.

– Zu fünfundsiebenzig Meilen vierzehn bis zwanzig Tage! rief Glenarvan.

– Mindestens, Mylord. Sie müssen ja den schwierigsten Theil von Victoria durchreisen, eine wahre Einöde, wo Alles fehlt, sagen die Squatters, durch große Strecken Gebüsch, ohne gebahnten Weg, wo sich bis jetzt noch keine Stationen errichten ließen. Nur mit dem Beil oder mit der Fackel in der Hand können Sie marschiren, und glauben Sie mir, rasch werden Sie nicht weiter kommen.«

[459] Ayrton hatte mit fester Stimme gesprochen. Paganel, auf den sich jetzt alle Blicke fragend richteten, erklärte sich durch ein Kopfnicken mit den Worten des Quartiermeisters einverstanden.

»Nun also diese Schwierigkeit zugegeben, bemerkte John Mangles, so werden Ew. Herrlichkeit Ihre Befehle in vierzehn Tagen an den Duncan gelangen lassen.

– Ich muß noch weiter sagen, fuhr Ayrton fort, daß die Schwierigkeiten des Weges nicht das Haupthinderniß sind; denn es wird sich auch darum handeln, über den Snowy zu setzen und wahrscheinlich das Fallen seines Wassers abzuwarten.

– Abzuwarten! rief der junge Kapitän. Läßt sich keine Furth aufsuchen?

– Ich glaube schwerlich, entgegnete Ayrton. Heute Morgen habe ich ihn vergebens nach einem geeigneten Uebergang abgesucht. Man findet einen solchen überhaupt selten bei einem Flusse, der in dieser Jahreszeit so reißend ist; es ist das ein leidiger Umstand, wider den ich nichts vermag.

– Ist denn der Snowy so breit, fragte Lady Glenarvan.

– Breit und tief, meine Dame, antwortete Ayrton; ja wohl eine Meile breit und furchtbar reißend. Selbst ein guter Schwimmer käme nicht ohne Gefahr hinüber.

– Nun, dann bauen wir uns ein Boot! rief Robert, dem die Sache durchaus nicht bedenklich schien. Ein Baum wird gefällt und ausgehöhlt, und dann setzen wir uns hinein. Was ist da weiter?

– Sieh einmal einer den Sohn des Kapitän Grant! sagte Paganel.

– Er hat ganz Recht, meinte John Mangles. Es wird uns gar nichts Anderes übrig bleiben; und ich finde es ganz zwecklos, weitere Zeit mit Discussionen zu verlieren.

– Was denken Sie darüber, Ayrton, fragte Glenarvan.

– Meiner Ansicht nach, mein Herr, werden wir, wenn uns keine Hilfe kommt, in einem Monat noch immer an den Ufern des Snowy sein.

– Nun, haben Sie einen besseren Plan? fragte John Mangles mit einer gewissen Ungeduld.

– Ja, wenn der Duncan Melbourne verläßt und die östliche Küste zu gewinnen sucht.

– So! Immer der Duncan! Aber inwiefern wird uns seine Anwesenheit in der Bai die Möglichkeit, auch dahin zu gelangen, erleichtern?«

[460] Nachdem Ayrton einige Augenblicke nachgedacht, gab er eine ziemlich ausweichende Antwort.

»Ich will, sagte er, meine Meinung nicht aufnöthigen. Wenn ich etwas thue, so thue ich es in unser Aller Interesse, und ich stehe zur Verfügung und breche auf, sobald Ew. Herrlichkeit das Zeichen zum Aufbruch giebt.«

Er schlug die Arme übereinander.

»Das ist keine Antwort, Ayrton, entgegnete Glenarvan. Theilen Sie uns Ihren Plan mit, und wir wollen ihn sogleich besprechen. Was ist Ihr Vorschlag?«

Ayrton sprach darauf in ruhigem und festem Tone:

»Mein Vorschlag geht dahin, in dem hilflosen Zustande, in dem wir uns gegenwärtig befinden, nicht auf's Gerathewohl über den Snowy zu gehen. Hier, an dieser Stelle, müssen wir Unterstützung abwarten, und diese kann nur vom Duncan kommen. Lassen wir uns also hier nieder, wo es uns an Lebensmitteln nicht fehlt, und Einer von uns überbringe Tom Austin den Befehl, daß er in die Twofold-Bai einlaufen soll.«

Dieser unerwartete Vorschlag wurde mit einigem Erstaunen aufgenommen, und John Mangles verhehlte nicht, wie sehr er ihm mißfiel.

»Während dieser Zeit, fuhr Ayrton fort, wird entweder der Wasserstand des Snowy fallen, und es dann möglich sein, eine Furth durch ihn zu finden; oder, wenn Sie auf ein Uebersetzen mit einem Boote zurückkommen müssen, so haben wir Zeit dafür, es herzustellen. Das ist, Mylord, mein Vorschlag, den ich Ihrer Billigung vorlege.

– Gut, Ayrton, sagte Glenarvan jetzt. Ihr Vorschlag verdient in ernste Erwägung gezogen zu werden. Seine größte Schattenseite ist die, daß er eine Verzögerung veranlaßt, aber er erspart auch wieder große Beschwerden, und vielleicht auch ernstliche Gefahren. Wie denken Sie darüber, meine Freunde?

– Reden Sie, lieber Mac Nabbs, sagte Lady Helena. Seitdem wir berathen, hören Sie blos zu und lassen nur höchst selten ein Wort hören.

– Da Sie mich denn nach meiner Meinung fragen, erwiderte der Major, so will ich sie Ihnen ganz offen heraus sagen. Ayrton hat, wie mir scheint, als Sachverständiger und vorsichtig gesprochen, und ich schließe mich seinem Vorschlage an.«

Man war auf eine solche Antwort desselben am wenigsten gefaßt, denn [461] bis jetzt waren in Bezug auf diesen Gegenstand die Ansichten von Mac Nabbs und Ayrton immer auseinander gegangen. Auch Ayrton sah den Major ganz betroffen an. Paganel, Lady Helena und die Matrosen waren sehr geneigt, das Vorhaben des Quartiermeisters zu unterstützen. Nachdem der Major es gethan, trugen sie nicht das geringste Bedenken mehr.

Somit erklärte denn Glenarvan den Plan Ayrton's im Princip für angenommen. Zu John aber sprach er:

»Meinen Sie nicht, daß uns die Klugheit gebietet, so zu handeln, an den Ufern des Flusses zu bleiben, und auf die Transportmittel zu warten?

– Ich meine, erwiderte John Mangles, wenn ein Bote von uns über den Snowy kommen kann, können wir es auch!«

Alles blickte auf den Quartiermeister; der aber lachte wie ein Mann, der seiner Sache sicher ist.

»Der Bote braucht gar nicht über den Fluß zu setzen, entgegnete er.

– Ach so!

– Er schlägt einfach die Straße nach Lucknow ein, die ihn direct nach Melbourne führt.

– Zweihundertundfünfzig Meilen soll er zu Fuß zurücklegen! rief der junge Kapitän.

– Nein, aber zu Pferde, erwiderte Ayrton. Es ist uns doch ein gutes Reitpferd geblieben. Damit läßt sich der Weg in vier Tagen machen. Rechnen Sie zwei Tage dazu, um mit dem Duncan in die Bai hinüber zu fahren, dann noch vierundzwanzig Stunden, um in das Lager zurückzukehren, so kommt eine Woche heraus, in welcher der Bote sammt der Mannschaft wieder hier sein kann.«

Der Major stimmte durch Kopfnicken den Worten Ayrton's bei, und es kam nur darauf an, den in Wahrheit wohl überlegten Plan auszuführen.

»Nun, meine Freunde, handelt es sich darum, unseren Boten zu wählen. Es wird, wie ich nicht verkenne, eine schwierige und gefahrvolle Reise sein. Wer will sich für seine Gefährten aufopfern und unsere Instructionen nach Melbourne bringen?«

Unverzüglich erboten sich dazu Wilson, Mulrady, John Mangles, Paganel und selbst Robert. John namentlich bestand fast eigensinnig darauf, daß ihm diese Mission übertragen werde. Da ergriff Ayrton, der sich bis jetzt noch nicht gemeldet hatte, das Wort und sagte:

[462] »Wenn es Ew. Herrlichkeit recht ist, so will ich die Reise auf mich nehmen. Ich kenne doch das Land einigermaßen. Wie oft schon bin ich durch seine gefährlichsten Strecken gereist. Ich finde mich da heraus, wo ein Anderer unfehlbar hängen bleibt. Ich bitte deshalb in gemeinsamem Interesse, mich nach Melbourne begeben zu dürfen. Es genügt ein Wort, um mich bei Ihrem Stellvertreter zu accreditiren, und in sechs Tagen verpflichte ich mich, den Duncan in die Twofold-Bai hinüber zu führen.

– Gut gesprochen, entgegnete Glenarvan. Sie sind ein Mann von Einsicht und Muth, und Sie werden wohl auch Glück haben.«

Offenbar war der Quartiermeister geeigneter als irgend ein Anderer, diese schwierige Mission auszuführen. Das sah ein Jeder ein und beschied sich. Nur John Mangles machte einen letzten Einwand, indem er sagte, die Anwesenheit Ayrton's sei durchaus nothwendig zur Auffindung der Spuren der Britannia oder Harry Grant's. Aber der Major entgegnete ihm, die Expedition bliebe an den Ufern des Snowy gelagert, bis Ayrton zurückkomme, und es liege gar nicht in der Absicht, ohne ihn die wichtige Nachforschung anzustellen, folglich könne auch seine Abwesenheit die Interessen des Kapitäns in keinerlei Weise beeinträchtigen.

»So reisen Sie denn also, Ayrton, sagte Glenarvan. Lassen Sie sich die Sache angelegen sein und kommen Sie über Eden nach unserem Lager am Snowy zurück.«

Des Quartiermeisters Auge glänzte im Gefühl der Befriedigung. Er wandte das Gesicht ab, aber so schnell er es immer that, John Mangles war es doch aufgefallen. Instinctmäßig fühlte John, wie sein Verdacht gegen Ayrton nur zunahm.

Der Quartiermeister traf nun seine Vorkehrungen zur Abreise, wobei ihm die beiden Matrosen zur Hand gingen, indem der eine sein Pferd, der andere die Reisevorräthe besorgte. Unterdessen schrieb Glenarvan den Brief an Tom Austin.


»Ich werde gehen!« sagte Ayrton. (S. 463.)

Er befahl dem Unterbefehlshaber des Duncan, sich unverzüglich in die Bai Twofold zu begeben. Er empfahl ihm den Quartiermeister als einen Mann, der sein volles Vertrauen verdiene. Nach Ankunft an der Küste solle Tom Austin eine Abtheilung Matrosen der Yacht unter Ayrton's Befehl stellen ...


Da krachte ein Schuß. (S. 465.)

Als Glenarvan an dieser Stelle seines Briefes war, fragte ihn Mac Nabbs, [463] der ihm beim Schreiben zusah, in auffallendem Tone, wie er den Namen Ayrton schreibe.

»Ei nun, so wie man ihn ausspricht, erwiderte Glenarvan.

– Das ist irrig, fuhr der Major ruhig fort. Man spricht ihn aus Ayrton, aber man schreibt ihn Ben Joyce!«

[464]
20. Capitel
Zwanzigstes Capitel.
Aland-Zealand.

Die Entdeckung des Namens Ben Joyce hatte die Wirkung eines Blitzschlages. Ayrton wendete sich plötzlich um, er hielt einen Revolver in der Hand, ein Schuß streckte Glenarvan zu Boden. Von außen hörte man Flintenschüsse.

[465] John Mangles und die Matrosen, anfangs überrascht, wollten sich auf Ben Joyce stürzen, aber schon war der kühne Bandit verschwunden und hatte sich mit seiner an den Saum des Gummibaumwaldes zerstreuten Bande vereinigt.

Das Zelt bot keinen genügenden Schutz gegen die Kugeln, und man mußte an den Rückzug denken. Glenarvan, nur leicht verletzt, war wieder aufgestanden.

»In den Wagen, in den Wagen!« schrie John Mangles, und zog Lady Helena und Mary Grant fort, die bald hinter den starken Leitern in Sicherheit waren.

Dort ergriffen John, der Major, Paganel und die Matrosen ihre Carabiner und hielten sich bereit, den Banditen zu antworten. Glenarvan und Robert waren bei den Frauen, während Olbinett an der allgemeinen Vertheidigung Theil nahm.

Diese Vorfälle hatten sich mit Blitzesschnelligkeit ereignet.

John Mangles beobachtete aufmerksam den Saum des Waldes. Das Schießen hatte bei der Ankunft von Ben Joyce plötzlich aufgehört und tiefe Stille folgte dem lärmenden Gewehrfeuer. Einige Rauchsäulen wirbelten noch um die Zweige der Gummibäume, und die hohen Büsche des Gastrolobium blieben unbeweglich. Jedes Zeichen eines Angriffes war verschwunden.

Der Major und John Mangles recognoscirten die Gegend bis an die hohen Bäume. Der Platz war verlassen; man sah zahlreiche Fußspuren, und halb verbranntes Zündpulver rauchte noch auf dem Boden. Als kluger Mann löschte der Major es aus, denn ein Funken genügte, um eine schreckliche Feuersbrunst in diesen trockenen Wäldern anzufachen.

»Die Sträflinge sind verschwunden, sagte John Mangles.

– Ja, antwortete der Major, und dies Verschwinden beunruhigt mich. Es wäre mir lieber, wir ständen ihnen gegenüber. Ein Tiger auf der Ebene ist besser als eine Schlange im Grase. Wir wollen diese Büsche beim Wagen absuchen.«

Der Major und John untersuchten die umliegende Gegend und fanden vom Saume des Waldes bis an die Ufer des Snowy keinen einzigen Sträfling. Die Bande des Ben Joyce schien wie eine Schaar unheilbringender Vögel entflohen. Dies Verschwinden war zu sonderbar, um sich dabei vollkommen sicher zu fühlen. Deshalb entschloß man sich immer auf der Hut [466] zu sein. Der Wagen, ein von Morast umgebenes Bollwerk, wurde das Centrum des Lagers, und zwei Männer, die sich stündlich ablösten, hielten gute Wache.

Lady Helena und Mary Grant machten es sich zur ersten Sorge, die Wunde Glenarvan's zu verbinden. In dem Augenblick, wo ihr Gatte unter der Kugel des Ben Joyce fiel, war Lady Helena im vollen Schrecken auf ihn zu gestürzt. Dann aber, ihre Angst beherrschend, führte ihn die muthige Frau in den Wagen. Dort wurde die Schulter des Verwundeten bloßgelegt, und der Major erkannte, daß die Kugel nur das Fleisch zerrissen und keine innere Verletzung hervorgebracht hatte. Jedenfalls schien kein Knochen getroffen zu sein. Die Wunde blutete heftig, aber Glenarvan gab durch Bewegung der Finger und des Unterarmes seinen Freunden selbst Beruhigung über das Resultat des Schusses. Nachdem er verbunden, wollte er, daß man sich nicht mehr mit ihm beschäftige, und man kam nun zu Erklärungen.

Die Reisenden, mit Ausnahme von Mulrady und Wilson, welche draußen wachten, hatten sich so gut wie möglich im Wagen untergebracht, und der Major wurde aufgefordert zu erzählen.

Ehe er seinen Bericht begann, setzte er Lady Helena von dem in Kenntniß, was sie noch nicht wußte, das heißt von dem Entweichen einer Bande Sträflinge aus Perth, von ihrem Erscheinen in der Provinz Victoria und ihrer Mitschuld an der Eisenbahnkatastrophe. Er übergab ihr die Nummer der »Australian- und New-Zealand-Zeitung«, die er in Seymour gekauft hatte, und fügte hinzu, daß die Polizei einen Preis gesetzt habe auf den Kopf dieses Ben Joyce, eines schrecklichen Banditen, dessen seit achtzehn Monaten verübte Verbrechen ihm eine traurige Berühmtheit verschafft hatten.

Aber wie hatte Mac Nabbs diesen Ben Joyce in dem Quartiermeister Ayrton erkannt? Hierin lag das Geheimniß, welches Alle aufgeklärt haben wollten, und der Major gab ihnen diese Erklärung.

Vom ersten Tage ihres Beisammenseins mißtraute Mac Nabbs dem Ayrton. Zwei oder drei fast unbedeutende Vorfälle, ein zwischen dem Quartiermeister und dem Schmied am Wimerraflusse ausgetauschter Blick, das Zögern Ayrton's, die Flecken und Dörfer zu passiren, sein Drängen, den Duncan an die Küste zu commandiren, der seltsame Tod der ihm anvertrauten Thiere, endlich ein Mangel an Offenheit im Benehmen, – alle diese Einzelheiten summirten sich nach und nach, um den Verdacht des Majors zu erwecken.

[467] Er hätte indeß keine directe Anklage hervorbringen können, ohne die Ereignisse der vorigen Nacht.

Unter dem dichten, hohen Gebüsch fortschleichend, kam Mac Nabbs bei den verdächtigen Schatten an, welche seine Aufmerksamkeit auf eine halbe Meile vom Lager erregt hatten. Die phosphorleuchtenden Pflanzen warfen einen bleichen Schimmer auf die Dunkelheit.

Drei Männer untersuchten die Spuren am Boden, frische Fußtritte, und Mac Nabbs erkannte unter ihnen den Hufschmied von Black-Point. »Sie sind es, sagte der Eine. – Ja, antwortete der Andere, hier sind die Eisen der Pferde. – So ist es vom Wimerra an. – Alle Pferde sind todt. – Das Gift ist nicht weit ab. – Es ist genug, um eine ganze Cavallerie abzusetzen. – Eine nützliche Pflanze, dies Gastrolobium!«

»Dann schwiegen Sie, fuhr Mac Nabbs fort, und entfernten sich. Ich wußte noch nicht genug, ich folgte ihnen daher, und bald begann die Unterhaltung wieder.

›Ben Joyce ist doch ein geschickter Mann, sagte der Schmied, ein prachtvoller Quartiermeister mit seiner Schiffbruchserfindung! Wenn sein Plan gelingt, ist unser Glück gemacht! Verfluchter Ayrton! – Nenne ihn Ben Joyce, denn er hat seinen Namen wohl verdient!‹

In diesem Augenblicke verließen die Schurken das Gummiwäldchen. Ich wußte, was ich wissen wollte, und kehrte in's Lager zurück, mit der Gewißheit, daß nicht alle Sträflinge sich in Australien bessern, wenn Paganel nichts dagegen hat!«

Als der Major geendet hatte, versanken seine Gefährten in schweigende Betrachtung.

»Also, sagte Glenarvan mit zornigem Antlitz, hat uns Ayrton bis hierher geschleppt, um uns zu berauben und zu ermorden?

– Ja, versetzte der Major.

– Und vom Wimerra an verfolgt seine Bande unsere Spur und späht nach einer günstigen Gelegenheit?

– Ja.

– Dieser Elende ist also nicht ein Matrose der Britannia? Er hat seinen Namen Ayrton, seinen Dienst an Bord gestohlen?«

Aller Blicke richteten sich auf Mac Nabbs, der sich selbst diese Fragen hatte vorlegen müssen.

[468] »Folgendes, erwiderte er mit seiner immer ruhigen Stimme, ist die Gewißheit, die man dieser dunkeln Situation entnehmen kann. Meiner Ansicht nach heißt dieser Mann wirklich Ayrton, Ben Joyce ist nur sein Kriegsname. Es steht unzweifelhaft fest, daß er Harry Grant kennt und Quartiermeister an Bord der Britannia gewesen ist. Diese, schon durch die uns von Ayrton gegebenen Details bewiesenen Thatsachen werden noch durch die Worte der Sträflinge, welche ich Euch mitgetheilt habe, verstärkt. Verlieren wir uns nicht in leere Vermuthungen, und halten wir uns versichert, daß Ayrton und Ben Joyce ein und dieselbe Person ist, das heißt, ein zum Anführer einer Räuberbande gewordener Matrose der Britannia.«

Die Erklärungen Mac Nabbs' wurden ohne Widerrede angenommen.

»Jetzt, versetzte Glenarvan, sagen Sie mir, wie und warum sich der Quartiermeister Harry Grant's in Australien befindet.

– Wie? Das weiß ich nicht, antwortete Mac Nabbs, und die Polizei erklärt, nicht mehr darüber zu wissen als ich. Warum? Es ist mir unmöglich, es zu sagen. Es liegt darin ein Geheimniß, welches die Zukunft aufhellen wird.

– Die Polizei kennt nicht einmal die Identität zwischen Ayrton und Ben Joyce, sagte John Mangles.

– Sie haben Recht, John, erwiderte der Major, und ein besonderer Vorfall, wie dieser, wäre geeignet, ihre Nachforschungen zu fördern.

– Also hat sich, bemerkte Lady Helena, dieser Unglückselige in verbrecherischer Absicht in die Farm Paddy O'Moore's geschlichen?

– Ohne Zweifel, antwortete Mac Nabbs. Er bereitete irgend einen bösen Streich gegen den Irländer vor, als sich ihm eine günstigere Gelegenheit darbot. Er hörte die Erzählung Glenarvan's, die Geschichte des Schiffbruchs, und als verwegener Mensch hat er sich schnell entschlossen, Nutzen daraus zu ziehen. Die Expedition war entschieden. Am Wimerra hat er mit einem der Seinen Verbindung gehabt, mit dem Schmied von Black-Point, und hat erkennbare Spuren unseres Weges zurückgelassen. Seine Bande ist uns gefolgt, eine giftige Pflanze hat ihm erlaubt, nach und nach unsere Pferde und Ochsen zu tödten. Dann, im richtigen Augenblick, hat er uns in die Sümpfe des Snowy gefahren und den Banditen überliefert, die er commandirt.«

Es war Alles über Ben Joyce gesagt worden, seine Vergangenheit vom [469] Major festgestellt, und der Elende erschien als das, was er war, ein kühner und Schrecken erregender Verbrecher. Seine klar bewiesenen Absichten erforderten von Seiten Glenarvan's eine außerordentliche Wachsamkeit. Glücklicherweise hatte man vom entlarvten Banditen weniger zu fürchten, als vom Verräther.

Aber aus dieser klaren Darlegung der Sachlage entsprang eine ernste Folge, an die noch Niemand gedacht hatte.

Nur Mary Grant schaute, während man die Vergangenheit besprach, in die Zukunft.

John Mangles sah gleich, wie sie erblaßte und alle Hoffnung fallen ließ Er begriff, was in ihrer Seele vorging.

»Miß Mary, Miß Mary, rief er aus, Sie weinen!

– Du weinst, mein Kind? sagte Lady Helena.

– Mein Vater! Madame, mein Vater!« versetzte das junge Mädchen.

Sie konnte nicht fortfahren. Aber ein plötzliches Licht ging im Geiste eines Jeden auf. Man begriff den Schmerz Miß Mary's, weshalb ihre Thränen flossen, weshalb der Name ihres Vaters auf ihre Lippen trat.

Die Entdeckung von Ayrton's Verrath zerstörte jede Hoffnung. Der Sträfling hatte, um Glenarvan mitzuziehen, einen Schiffbruch vorgegeben. In ihrer von Mac Nabbs belauschten Unterhaltung hatten die Banditen es deutlich gesagt. Niemals war die Britannia an den Klippen der Twofold-Bai gescheitert! Niemals hatte Harry Grant den Fuß auf australischen Boden gesetzt.

Zum zweiten Mal hatte die irrige Auslegung des Documentes die Sucher der Britannia auf eine falsche Fährte gebracht!

Alle bewahrten vor dieser Sachlage, vor dem Schmerze der beiden Kinder ein düsteres Schweigen. Wer hätte wohl noch ein Wort der Hoffnung gefunden? Robert weinte in den Armen der Schwester, und Paganel murmelte mit ärgerlicher Stimme:

»Ach, unglückseliges Document! Du kannst Dich rühmen, das Gehirn von einem Dutzend braver Männer auf eine harte Probe gestellt zu haben!«

Und der wirklich gegen sich selbst aufgebrachte, würdige Geograph schlug sich heftig vor die Stirn.

Indessen hatte Glenarvan die zur äußeren Wache aufgestellten Matrosen, Mulrady und Wilson, aufgesucht. Ein tiefes Schweigen herrschte auf dieser [470] zwischen dem Wald und Fluß gelegenen Ebene. Große unbewegliche Wolken hingen am Himmelszelt. Mitten in dieser Atmosphäre dumpfer Betäubung hätte man das geringste Geräusch deutlich wahrnehmen müssen, doch Nichts ließ sich hören.

Ben Joyce und seine Bande mußten sich in beträchtlicher Entfernung versteckt halten, denn Schaaren von Vögeln, die sich auf die niedrigen Zweige der Bäume niederließen, einige Kängurus, die das junge Gras friedlich abweideten, ein paar Emus, deren zutraulicher Kopf aus dem dichten Gebüsch schaute, bewiesen, daß die Gegenwart von Menschen diese friedliche Einsamkeit nicht störe.

»Seit einer Stunde, fragte Glenarvan seine beiden Matrosen, habt Ihr Nichts gesehen, Nichts gehört?

– Nichts, Ew. Herrlichkeit, antwortete Wilson. Die Räuber müssen einige Meilen von hier sein.

– Sie sind gewiß nicht in genügender Anzahl, um uns anzugreifen, fügte Mulrady hinzu. Dieser Ben Joyce wird sich durch einige Bushrangers, die am Fuße der Alpen umher streifen, verstärken wollen.

– Das ist möglich, Mulrady, antwortete Glenarvan. Die Schurken sind feig, und sie wissen uns gut bewaffnet. Vielleicht erwarten sie die Nacht, um uns anzugreifen. Wir müssen unsere Wachsamkeit bei Anbruch der Nacht verdoppeln. Ah! Könnten wir nur diese Sumpfgegend verlassen und unseren Weg nach der Küste fortsetzen! Aber das angeschwollene Wasser versperrt uns den Uebergang. Ich würde mit Gold ein Floß bezahlen, das uns an's andere Ufer brächte!


Ein friedliches Emu-Pärchen. (S. 471.)

– Warum geben Ew. Herrlichkeit uns nicht den Befehl, dies Floß zu bauen? An Holz fehlt es nicht!

– Nein, Wilson, erwiderte Glenarvan. Aber dieser Snowy ist kein Fluß, sondern ein reißender Strom.«

In diesem Augenblick kamen John Mangles, der Major und Paganel hinzu, nachdem sie eben den Snowy genau untersucht hatten. Das durch die letzten Regengüsse angeschwollene Wasser war um einen Fuß über seinen gewöhnlichen Wasserstand gewachsen. Es bildete einen reißenden Strudel, ähnlich wie die Stromschnellen Amerikas. Es war unmöglich, sich auf diese brausende Wasserfläche und die mächtigen Wasserstürze zu wagen, diese sich wirbelnd in [471] den Abgrund bohrten. John Mangles erklärte einen Uebergang für unausführbar.

»Doch, fügte er hinzu, dürfen wir nicht hier bleiben, ohne irgend etwas zu versuchen. Was man vor dem Verrath Ayrton's thun wollte, ist jetzt noch nöthiger.

– Was sagst Du, John? fragte Glenarvan.

– Ich sage, daß Hilfe dringend Noth thut; und da man nicht nach [472] Twofold-Bai gehen kann, muß man nach Melbourne gehen. Ein Pferd ist uns noch geblieben. Ew. Herrlichkeit wollen es mir geben, und ich reite nach Melbourne.

– Aber das ist ein gefährlicher Versuch, John, sagte Glenarvan. Ohne von den Gefahren der Reise zu sprechen, zweihundert Meilen durch ein unbekanntes Land, so können die Wege und Stege von den Mitschuldigen des Ben Joyce bewacht werden.


Da verdoppelte sich die Wuth des Sturmes. (S. 478.)

– Ich weiß es, Mylord, aber ich weiß auch, daß unsere Lage nicht länger so bleiben kann. Ayrton verlangte nur acht Tage, um die Leute vom [473] Duncan herzuführen. Ich werde in sechs Tagen an die Ufer des Snowy zurückgekehrt sein. Nun, was befehlen Ew. Herrlichkeit?

– Ehe Glenarvan sich ausspricht, sagte Paganel, muß ich eine Bemerkung machen. Man gehe nach Melbourne, aber nicht John Mangles sei diesen Gefahren ausgesetzt. Er ist der Kapitän des Duncan, und als solcher darf er sich nicht denselben aussetzen. Ich werde an seiner Stelle gehen.

– Gut gesprochen, antwortete der Major. Aber warum sollten Sie es sein, Paganel?

– Sind wir nicht da? riefen Mulrady und Wilson.

– Und glauben Sie, versetzte Mac Nabbs, daß ich mich vor einem Ritt von zweihundert Meilen fürchte?

– Meine Freunde, sagte Glenarvan, wenn einer von uns nach Melbourne gehen soll, so mag das Loos entscheiden. Paganel, schreiben Sie unsere Namen auf ...

– Den Ihrigen wenigstens nicht, Mylord, sagte John Mangles.

– Und warum nicht? fragte Glenarvan.

– Sie wollen sich von Lady Helena trennen, Sie, dessen Wunde sich noch nicht geschlossen hat?

– Glenarvan, sagte Paganel, Sie können die Expedition nicht verlassen.

– Nein, versetzte der Major. Ihr Platz ist hier, Edward, Sie dürfen nicht fort.

– Es giebt Gefahren zu bestehen, antwortete Glenarvan; ich will meinen Theil daran nicht Anderen überlassen. Schreiben Sie, Paganel. Mein Name sei unter die meiner Kameraden gemischt, und der Himmel gebe, daß er zuerst gezogen werde.«

Man fügte sich seinem Willen und sein Name wurde den übrigen hinzufügt. Man zog, und das Loos entschied für Mulrady. Der tapfere Matrose brach in ein Hurrahgeschrei aus.

»Mylord, ich bin zur Abreise bereit«, sagte er.

Glenarvan drückte Mulrady die Hand. Dann kehrte er an den Wagen zurück und überließ dem Major und John Mangles die Wache über das Lager.

Lady Helena wurde alsbald von dem Entschluß, einen Boten nach Melbourne zu schicken, und von der Entscheidung durch das Loos unterrichtet.

[474] Sie fand für Mulrady Worte, welche dem braven Seemann in's Herz drangen.

Man kannte ihn als tapfer, klug und stark, jeder Anstrengung gewachsen, und das Loos hätte wahrlich nicht besser fallen können.

Die Abreise Mulrady's wurde auf acht Uhr festgesetzt, gleich nach der kurzen Abenddämmerung. Wilson nahm es auf sich, das Pferd zurecht zu machen. Er hatte die Idee, das Hufeisen des linken Fußes abzunehmen und es durch das Eisen von einem der in der Nacht gestorbenen Pferde zu ersetzen. Die Banditen konnten die Spuren nicht erkennen und ihm nicht folgen, da sie nicht beritten waren.

Während sich Wilson mit diesen Details beschäftigte, schrieb Glenarvan den für Tom Austin bestimmten Brief; doch hinderte ihn sein verwundeter Arm, und er beauftragte Paganel damit. Der in einer fixen Idee befangene Gelehrte schien für Alles, was ihn umgab, fremd zu sein. Man muß zugeben, daß während dieser ganzen Reihenfolge unangenehmer Abenteuer Paganel nur an sein falsch ausgelegtes Document dachte. Er drehte die Worte um, um ihnen einen neuen Sinn zu entreißen, und blieb in dem Abgrunde der Deutung versenkt.

Auch hörte er die Bitte Glenarvan's nicht, so daß dieser sie nochmals wiederholen mußte.

»Ah, sehr wohl, erwiderte Paganel, ich bin bereit!«

Und mit diesen Worten machte Paganel mechanisch sein Notizbuch zurecht. Er riß ein weißes Blatt heraus und war, mit dem Bleistift in der Hand, zum Schreiben bereit. Glenarvan begann folgende Instructionen zu dictiren:


»Befehl für Tom Austin, in See zu stechen und den Duncan nach ...«


Paganel vollendete das letzte Wort, als seine Augen zufällig auf die Nummer der »Australian- und New-Zealand-Zeitung« fielen, welche auf der Erde lag. Das zusammengefaltete Journal ließ nur die bei den letzten Silben seines Titels sehen. Der Bleistift Paganel's blieb stehen, und Paganel schien Glenarvan und seinen Brief vollständig vergessen zu haben.

»Nun, Paganel? sagte Glenarvan.

– Ah, rief der Geograph aus.

– Was haben Sie? fragte der Major.

[475] – Nichts, nichts!« antwortete Paganel. Dann wiederholte er leiser: »Aland! Aland! Aland!«

Er war aufgestanden und hatte das Journal in die Hand genommen. Er schüttelte es, wobei er versuchte, die Worte zurückzuhalten, die seinen Lippen entschlüpfen wollten.

Lady Helena, Mary, Robert, Glenarvan betrachteten ihn, ohne etwas von dieser unerklärlichen Bewegung zu verstehen.

Paganel glich einem Menschen, der auf einmal irrsinnig geworden.

Aber dieser Zustand nervöser Ueberreizung hielt nicht an. Er ward allmälig ruhig, und die Freude, welche aus seinen Augen strahlte, erlosch. Er setzte sich wieder und sagte in ruhigem Tone:

»Wenn es Ihnen beliebt, Mylord, stehe ich zu Ihren Diensten.«

Glenarvan dictirte das in folgenden Ausdrücken abgefaßte Schreiben:


»Befehl an Tom Austin, unverzüglich in die See zu stechen und den Duncan unter 37° der Breite an die Westküste Australiens zu führen ...


– Australiens? sagte Paganel. Ja wohl! Australiens!«

Als das Schreiben fertig war, reichte er es Glenarvan zur Unterschrift. Trotz der frischen Verwundung kam er damit zu Stande. Dann wurde es versiegelt und geschlossen: Paganel schrieb mit zitternder Hand die Aufschrift:


»Tom Austin,


Unterbefehlshaber der Yacht Duncan


Melbourne.«


Darauf verließ er den Wagen und rief wiederholt die unverständlichen Worte:

»Aland! Aland! Zealand!« [476]

21. Capitel
Einundzwanzigstes Capitel.
Vier Tage der Angst.

Der Rest des Tages verlief ohne weiteren Zufall. Man vollendete allseitig die Zurüstungen zu Mulrady's Abreise. Der brave Matrose schätzte sich glücklich, Sr. Herrlichkeit diesen Beweis von Ergebenheit liefern zu können.

Paganel hatte sein kaltes Blut und seine gewohnte Art und Weise wieder angenommen. Noch immer zeigte sein Blick zwar eine deutliche Befangenheit, aber er schien sie bestimmt geheim halten zu wollen. Sicher hatte er gute Gründe, also zu handeln, denn der Major hörte ihn immer, wie einen Menschen, der mit sich selbst kämpft, die Worte murmeln:

»Nein! Nein! Sie würden mir keinen Glauben schenken. Und dann, was nützt es denn? Es ist ja zu spät!«

Als er sich auf diese Weise entschieden hatte, bemühte er sich, Mulrady die nöthigen Anweisungen, wie er Melbourne erreichen könne, zu geben, und zeichnete ihm, die Karte vor den Augen, seinen Weg vor. Alle »tracks«, d.h. Fußwege der Prairie, liefen auf der Lucknower Straße zusammen. Diese Straße beschreibt, nachdem sie in südlicher Richtung gerade bis zur Küste geführt hat, einen kurzen Bogen in der Richtung nach Melbourne. Ihr hatte er immer zu folgen, und sollte nicht versuchen, einen kürzeren Weg quer durch unbekanntes Land zu nehmen. Die Sache war also ganz einfach, und Mulrady konnte sich nicht wohl verirren.

Gefahren waren, wenn er nur einige Meilen über die Gegend hinaus war, in der Ben Joyce mit seiner Bande versteckt liegen mußte, nicht weiter zu fürchten. War diese Gegend einmal passirt, so entfernte sich Mulrady schnell von den Sträflingen und konnte seine wichtige Mission zu gutem Ende führen.

Um sechs Uhr wurde die gemeinschaftliche Mahlzeit eingenommen. Ein strömender Regen stürzte herab. Da das Zelt keinen hinlänglichen Schutz bot, hatten Alle im Wagen Zuflucht gesucht, der übrigens eine sichere Unterkunft bot. Der thonige Boden hielt ihn fest, und er ruhte darauf, wie ein [477] Fort auf seinen Grundmauern. Die Waffenvorräthe bestanden in sieben Carabinern und eben so viel Revolvern, und genügten auch gegenüber einer längeren Belagerung, da weder Schießbedarf noch Lebensmittel mangelten. Uebrigens mußte der Duncan noch vor Ablauf von sechs Tagen in der Twofold-Bai ankern. Vierundzwanzig Stunden später konnte die Mannschaft das andere Ufer des Snowy erreichen, und sollte der Uebergang nicht ausführbar sein, so mußten sich die Sträflinge dann doch vor den überlegenen Kräften zurückziehen. Vor Allem aber bedurfte es des glücklichen Gelingens von Mulrady's gefahrvollem Unternehmen.

Um acht Uhr wurde die Nacht sehr dunkel. Jetzt galt es, abzureisen. Das für Mulrady bestimmte Pferd wurde herangeführt. Seine Hufe, welche der Vorsicht halber noch mit Leinen umwickelt waren, machten auf dem Boden nicht das geringste Geräusch. Das Thier schien ermüdet, und doch hing von der Verläßlichkeit und Kraft seiner Füße das Wohlsein Aller ab.

Der Major rieth Mulrady, es zu schonen, wenn er außer dem Bereiche der Angriffe der Sträflinge sein werde. Besser wäre ein halber Tag Verzögerung und ein sicheres Hinkommen.

John Mangles übergab seinem Matrosen einen Revolver, den er möglichst sorgsam geladen hatte, – eine furchtbare Waffe in der Hand eines Mannes, welcher nicht zittert, denn sechs in wenigen Secunden abzugebende Schüsse durften wohl hinreichen, einen von Bösewichtern gesperrten Weg zu säubern.

Mulrady saß auf.

»Hier ist der Brief, den Du an Tom Austin überliefern wirst, sagte Glenarvan. Er solle keine Stunde verlieren! Er fahre nach der Twofold-Bai ab, und wenn er uns dort, im Fall wir den Snowy nicht passiren könnten, nicht antreffen sollte, so soll er uns unverzüglich entgegen kommen! Nun, mein wackerer Matrose, so geh' und Gott geleite Dich!«

Glenarvan, Lady Helena, Miß Grant, Alle drückten Mulrady die Hand. Diese Abreise bei schwarzer, regnerischer Nacht, auf einem Wege voll drohender Gefahren und durch eine ungeheure, unbekannte Wüstenei, hätte ein minder furchtloses Herz, als das des Matrosen, wohl befangen gemacht.

»Adieu, Mylord«, sagte dieser mit ruhiger Stimme, und verschwand bald auf einem Fußwege, der sich am Waldsaum hinzog.

In diesem Augenblicke verdoppelte der Sturm seine Wuth. Die hohen [478] Eucalyptusäste klapperten mit mattem Tone im Dunklen. Man konnte das Niederfallen des trockenen Geästes auf den weichen Boden hören. Mehr als ein riesiger Baum, dem der Saft fehlte, aber der doch bis jetzt aufrecht gestanden hatte, stürzte unter den heftigen Windstößen. Durch das Krachen des Holzes heulte der Wind und mischte sein trauriges Seufzen mit dem dumpfen Grollen des Snowy. Dicke Wolken, die er nach Osten trieb, zogen wie zerrissene Dampfwolken über die Erde hin. Eine traurige Dunkelheit vermehrte noch die Schrecken dieser Nacht.

Die Reisenden schmiegten sich nach Mulrady's Abreise im Wagen zusammen. Lady Helena, Miß Grant, Glenarvan und Paganel nahmen die vordere Abtheilung desselben, welche vollkommen geschlossen war, ein; in der hinteren hatten Olbinett, Wilson und Robert ein nothdürftiges Lager gefunden. Der Major und John Mangles wachten draußen.

Es war das ein Act nothwendiger Klugheit, denn ein Angriff seitens der Sträflinge war leicht und voraussichtlich möglich.

Die beiden treuen Wächter hielten wacker aus und ertrugen philosophisch die Regen- und Windstöße, welche die Nacht ihnen in's Gesicht schleuderte. Sie trachteten mit den Augen die Finsterniß zu durchdringen, welche einen Hinterhalt so sehr begünstigte, denn das Ohr vermochte bei diesem Höllenlärmen des Sturmes, des Windgeheuls, des Klapperns der Aeste, der fallenden Stämme und dem Tosen des fessellosen Wassers Nichts wahrzunehmen.

Manchmal unterbrachen kurze Augenblicke der Ruhe die wüthenden Windstöße. Der Sturm schwieg gleichsam, um frisch Athem zu schöpfen. Der Snowy seufzte allein durch das unbewegliche Rohr und den schwarzen Vorhang von Gummibäumen. Das Schweigen erschien in diesen kurzen Pausen um so tiefer; dann horchten der Major und John Mangles mit doppelter Aufmerksamkeit.

In einer dieser Unterbrechungen war es, daß ein kurzer scharfer Pfiff bis zu ihnen drang.

Schnell kam John Mangles zum Major.

»Hörten Sie das? fragte er ihn.

– Ja, erwiderte Mac Nabbs. War das ein Thier oder ein Mensch?

– Ein Mensch«, antwortete John Mangles.


Transport des verwundeten Mulrady. (S. 483.)

Dann horchten Beide. Plötzlich wiederholte sich das unerklärliche Pfeifen, und eine Art Knall antwortete darauf fast unhörbar, denn der Sturm wüthete[479] schon wieder mit erneuter Wuth. Mac Nabbs und John Mangles konnten sich nicht verstehen. Sie stellten sich hinter den Wagen unter den Wind.

Da öffneten sich die Ledervorhänge, und Glenarvan gesellte sich zu seinen beiden Begleitern. Er hatte, wie sie, das unheimliche Pfeifen gehört, und auch den Knall, der unter der Wagenplane ein Echo gefunden hatte.


Mulrady von fünf Schurken überfallen. (S. 486.)

»In welcher Richtung war es? fragte er.

– Dort, sagte John und wies nach dem dunklen Pfad, in der Richtung, die Mulrady eingeschlagen hat.

[480] – In welcher Entfernung?

– Der Wind trug den Ton hierher, antwortete John Mangles. Es mochten mindestens drei Meilen sein.

– Vorwärts denn! sagte Glenarvan, und hing rasch den Carabiner über die Schulter.

– Nein! Nicht vorwärts! entgegnete der Major. Das ist eine Falle, uns vom Wagen wegzulocken.

[481] – Und wenn Mulrady unter den Streichen dieser Elenden gefallen wäre! drängte Glenarvan, und ergriff Mac Nabb's Hand.

– Das werden wir morgen erfahren, entgegnete kalt der Major, fest entschlossen, Glenarvan von einer nutzlosen Unklugheit zurückzuhalten.

– Sie können das Lager nicht verlassen, Mylord, sagte John, ich werde allein gehen.

– Dies eben so wenig! versetzte energisch der Major. Wollen Sie denn, daß man uns einzeln abthut, wir unsere Kräfte schwächen und uns der Gnade dieser Bösewichte überliefern? Ist Mulrady ihnen zum Opfer gefallen, so ist das ein Unglück, dem wir nicht noch ein zweites hinzufügen dürfen. Mulrady ist, durch das Loos bestimmt, abgereist. Hätte das Loos mich an seine Stelle berufen, wäre ich wie er aufgebrochen, aber nie würde ich Hilfe verlangt oder nur erwartet haben.«

Wenn der Major Glenarvan und John Mangles zurückhielt, so hatte er in jeder Hinsicht Recht. Es war sinnlos und nebenbei unnütz, zu versuchen, den Matrosen aufzufinden und durch diese dunkle Nacht angesichts der in den Holzungen versteckten Sträflinge zu streifen. Glenarvan's kleine Truppe zählte nicht so viele Männer, daß man davon noch Einen hätte opfern können.

Doch schien es, als ob sich Glenarvan diesen Vernunftgründen nicht fügen wolle. Seine Hand faßte krampfhaft den Carabiner. Er lief ab und zu rings um den Wagen, und lauschte beim geringsten Geräusch. Er suchte diese unselige Finsterniß mit den Blicken zu durchdringen.

Der Gedanke, zu wissen, daß Einer von den Seinen, von tödtlichem Stoße getroffen, ohne Hilfe sei und vergeblich diejenigen rufe, für welche er sich geopfert, dieser Gedanke marterte ihn.

Mac Nabbs wußte nicht, ob es ihm gelingen werde, ihn zurückzuhalten, oder ob Glenarvan sich, von seinem Herzen getrieben, den Streichen Ben Joyce's entgegenwerfen werde.

»Edward, sagte er zu ihm, beruhigen Sie sich. Hören Sie auf einen Freund. Denken Sie an Lady Helena, an Miß Grant, an alle die Anderen. Wohin übrigens wollen Sie sich wenden? Wo Mulrady wiederfinden? Etwa zwei Meilen von hier ist er angefallen worden! Auf welchem Wege? Welcher Pfad ist zu wählen? ...«

[482] In diesem Augenblicke ließ sich, wie eine Antwort für den Major, ein Nothschrei hören.

»Hören Sie!« sagte Glenarvan.

Der Schrei ertönte von derselben Seite, wie vorher der Knall, kaum eine Viertelmeile entfernt.

Glenarvan stieß den Major zurück und begab sich schon auf den Fußpfad, als etwa dreihundert Schritte vom Wagen die Worte: »Hierher! Hierher!« hörbar wurden.

Die Stimme klang kläglich und verzweifelt. John Mangles und der Major stürzten in jener Richtung fort.

Einige Augenblicke später erkannten sie am Saume des Waldes eine menschliche Gestalt, die sich unter qualvollem Seufzen mühsam fortschleppte.

Mulrady war es, verwundet, fast sterbend, und als seine Genossen ihn aufnahmen, fühlten sie das Blut ihre Hände benetzen.

Der Regen verdoppelte sich und der Wind wüthete in den Aesten der »dead trees«. Mitten durch diesen Sturm trugen Glenarvan, der Major und John Mangles den Körper Mulrady's.

Bei ihrer Ankunft erhoben sich Alle. Paganel, Robert, Wilson, Olbinett verließen den Wagen, und Lady Helena trat ihre Wagenabtheilung dem unglücklichen Mulrady ab. Der Major zog dem Matrosen die Weste aus, welche von Blut und Regen troff. Er legte die Wunde bloß. Ein Dolchstoß hatte die rechte Seite getroffen.

Mac Nabbs verband geschickt die Wunde. Ob die Waffe lebenswichtige Organe getroffen hatte, konnte er nicht sagen. Hellrothes Blut drang stoßweise daraus hervor; die Blässe und Schwäche des Verwundeten bewiesen, daß er ernstlich getroffen war. Auf die Mündung der Wunde brachte der Major, nachdem er sie sorgfältig abgewaschen hatte, eine dicke Lage Schwamm, und dann Charpieballen, die er mit einer Binde befestigte. Es gelang ihm, die Blutung zu stillen. Mulrady wurde auf die der Wunde entgegengesetzte Seite gelegt, Kopf und Brust höher, und Lady Helena ließ ihn einige Schluck Wasser trinken.

Nach einer Viertelstunde rührte sich der bis dahin bewegungslose Verwundete. Seine Augen öffneten sich. Ununterbrochen murmelten die Lippen einige Worte, und der Major hörte, als er ihm das Ohr näherte, wiederholt:

»Mylord ... der Brief ... Ben Joyce ...«

[483] Der Major wiederholte die Worte und sah seine Genossen an. Was wollte Mulrady sagen? Ben Joyce hatte den Matrosen angefallen, aber aus welchem Grunde? Geschah es einzig darum, ihn aufzuhalten und seine Ankunft beim Duncan zu verhindern? Dieser Brief ...

Glenarvan durchsuchte Mulrady's Taschen. Der an Tom Austin gerichtete Brief fand sich nicht mehr darin vor!

Unter Unruhe und Angst verstrich die Nacht. Jeden Augenblick fürchtete man, den Verwundeten verscheiden zu sehen. Ein brennendes Fieber verzehrte ihn. Lady Helena und Miß Grant, zwei barmherzige Schwestern, verließen ihn nicht. Nie wurde ein Leidender besser und von theilnehmenderen Händen gepflegt.

Der Tag kam. Der Regen hatte aufgehört. Dicke Wolken wälzten sich noch am Himmel dahin. Der Erdboden war mit abgebrochenen Zweigen übersäet. Der durch die Wasserströme erweichte Thonboden hatte noch mehr nachgegeben, so daß der Zugang zum Wagen, der nun aber nicht weiter einsinken konnte, beschwerlich wurde.

John Mangles, Paganel und Glenarvan machten sich mit Tagesanbruch auf, die Umgebung ihres Lagerplatzes zu durchsuchen. Sie gingen auch auf dem noch mit Blut befleckten Fußpfade dahin, sahen aber weder von Ben Joyce, noch von seiner Bande eine Spur. Sie gingen bis zu der Stelle, wo der Anfall stattgefunden hatte. Dort lagen zwei von Mulrady's Kugeln getroffene Leichen. Die Eine war die des Hufschmieds von Black-Point. Das vom Tode noch mehr entstellte Gesicht sah schrecklich aus.

Glenarvan dehnte seine Nachforschungen nicht weiter aus, die Klugheit widerrieth es, sich zu sehr zu entfernen. Er kam also zum Wagen zurück, offenbar von dem Ernste der Lage durchdrungen.

»Es ist nicht daran zu denken, einen anderen Boten nach Melbourne zu senden, sagte er.

– Und doch ist das wohl nothwendig, Mylord, erwiderte John Mangles, und ich werde versuchen, durchzuführen, was meinem Matrosen nicht gelang.

– Nein, John. Du hast nicht einmal ein Pferd, Dich diese zweihundert Meilen weit hinzutragen!«

Wirklich war Mulradys Pferd, das Einzige, welches noch vorhanden war, nicht wieder zum Vorschein gekommen. War es auch unter den Streichen [484] der Mörder gefallen? Irrte es in der Wüste umher? Hatten sich die Sträflinge seiner bemächtigt?

»Was da kommen möge, fuhr Glenarvan fort, wir trennen uns nicht weiter. Wir wollen acht oder vierzehn Tage warten, bis der Snowy wieder seinen gewöhnlichen Wasserstand hat. Dann erreichen wir die Twofold-Bai in kleinen Tagemärschen, und senden dem Duncan auf sicherem Wege den Befehl, nach der Küste zu kommen.

– Das ist der einzig mögliche Ausweg, meinte Paganel.

– Also, meine Freunde, wiederholte Glenarvan, keine weitere Trennung. Ein Mensch allein läuft zu viel Gefahr in dieser von Räubern unsicheren Wüstenei. Und nun errette Gott unseren armen Matrosen, und beschütze uns selbst!«

Glenarvan hatte doppelt Recht; erstens, jedes vereinzelte Wagniß zu verbieten, und dann, an den Ufern des Snowy die Möglichkeit eines Uebergangs geduldig abzuwarten. Kaum fünfunddreißig Meilen trennten ihn von Delegete, der ersten Grenzstadt von Neu-Süd-Wales, wo er Transportmittel nach der Twofold-Bai finden mußte. Von dort wollte er dem Duncan die nöthigen Ordres nach Melbourne telegraphisch zugehen lassen.

Das waren wohl ganz weise Maßregeln, doch man ergriff sie zu spät. Hätte Glenarvan Mulrady nicht auf den Weg nach Lucknow geschickt, wie viel Unglück hätte, abgesehen von dem Mordanfall auf den Matrosen, verhütet werden können!

Als er nach der Lagerstelle zurückkam, fand er seine Begleiter ruhiger. Sie schienen wieder Hoffnung geschöpft zu haben.

»Es geht besser! Es geht besser! rief Robert, der Lord Glenarvan entgegensprang.

– Mulrady? ...

– Ja, Edward, antwortete Lady Helena. Es ist eine Reaction eingetreten; der Major ist beruhigter. Unser Matrose wird leben.

– Wo ist Mac Nabbs? fragte Glenarvan.

– Bei ihm. Mulrady hat ihn sprechen wollen. Wir dürfen sie nicht stören.«

In der That war der Verwundete seit einer Stunde aus seiner Ohnmacht erwacht, und das Fieber hatte abgenommen. Die erste Sorge Mulrady's aber, als er Bewußtsein und Sprache wieder bekam, war die, nach Lord [485] Glenarvan, oder an dessen Stelle nach dem Major zu verlangen. Als Mac Nabbs ihn so schwach sah, wollte er ihm jede Unterredung verbieten; Mulrady bestand aber so sehr darauf, daß der Major nachgeben mußte.

Schon währte das Gespräch einige Minuten, als Glenarvan zurückkam, und er mußte nun Mac Nabbs' Bericht abwarten.

Bald bewegten sich die Vorhänge des Wagens, und der Major erschien. Am Fuße eines Gummibaumes, wo das Zelt aufgeschlagen war, traf er seine Freunde. Sein sonst so kaltes Gesicht zeigte eine sichtliche Erregung. Als seine Blicke Lady Helena und das junge Mädchen trafen, sprach eine schmerzliche Traurigkeit aus denselben.

Glenarvan befragte ihn, und der Major berichtete im Wesentlichen das Folgende:

»Als Mulrady das Lager verließ, folgte er einem der von Paganel bezeichneten Fußpfade. Er beeilte sich, so sehr es die Finsterniß der Nacht eben zuließ. Seiner Schätzung nach hatte er etwa zwei Meilen zurückgelegt, als sich mehrere Männer – fünf glaubte er – seinem Pferde in den Weg legten. Das Thier bäumte sich. Mulrady ergriff seinen Revolver und gab Feuer. Es schien ihm, als ob zwei seiner Angreifer stürzten. Bei dem Schein der Schüsse erkannte er Ben Joyce. Doch das war Alles. Er hatte nicht Zeit, seine Waffe vollständig abzufeuern. Er fühlte einen gegen seine rechte Seite geführten heftigen Stoß und fiel nieder.

Dennoch hatte er das Bewußtsein nicht vollkommen verloren. Die Mörder hielten ihn für todt. Er fühlte, daß man ihn durchsuchte. Dann fielen die Worte: ›Ich habe den Brief!‹ die Einer der Sträflinge aussprach. – ›Gieb her, erwiderte Ben Joyce, und nun ist der Duncan unser.‹«

Bei dieser Stelle von Mac Nabbs' Berichte konnte Glenarvan einen Aufschrei nicht unterdrücken.

Mac Nabbs fuhr fort:

»Nun fangt Ihr Anderen das Pferd ein, sprach Ben Joyce weiter. In zwei Tagen werde ich an Bord des Duncan sein; in sechs bei der Twofold-Bai. Dort ist das Stelldichein. Mylords Gesellschaft wird noch in den Sümpfen des Snowy aufgehalten sein. Geht über die Brücke von Kemple-pier, wendet Euch zur Küste und erwartet mich. Ich werde schon ein Mittel finden, Euch an Bord zu bringen. Sind wir einmal mit einem Schiffe, wie dem Duncan, auf offener See, so sind wir die Herren des Indischen Oceans.

[486] – ›Hurrah! Ben Joyce!‹ riefen die Sträflinge. Mulrady's Pferd wurde herangeführt, und im Galop verschwand Ben Joyce auf dem Wege nach Lucknow, während sich die Bande südöstlich nach dem Snowy wandte. Trotz seiner schweren Verwundung hatte Mulrady die Kraft, sich bis dreihundert Schritte vor das Lager zu schleppen, wo wir ihn dem Tode nahe aufgenommen haben. Das ist, sagte Mac Nabbs, Mulrady's Geschichte. Sie begreifen nun, warum dem muthigen Matrosen so viel daran lag, zu sprechen.«

Dieser Bericht machte Glenarvan und die Seinen erstarren.

»Piraten! Piraten! rief Glenarvan aus. Meine Mannschaft ermordet! Mein Duncan in den Händen von Räubern!

– Ja! antwortete der Major, denn Ben Joyce wird das Schiff übernehmen, und dann ...

– Wohlan denn! So müssen wir vor diesen Elenden an der Küste ankommen, sagte Paganel.

– Aber wie den Snowy überschreiten? fragte Wilson.

– So wie Jene, erwiderte Glenarvan. Sie wollen über die Kemple-pier-Brücke gehen, und wir thun das auch.

– Aber was soll mit Mulrady werden? fragte Lady Helena.

– Wir tragen ihn! Wir lösen uns ab! Kann ich meine Mannschaft Ben Joyce's Bande ohne Vertheidigung überlassen?«

Der Gedanke, die Brücke bei Kemple-pier zu benutzen, war ausführbar, aber kühn. Die Sträflinge konnten sich an dieser Brücke festsetzen und sie vertheidigen. Sie waren mindestens dreißig Mann gegen sieben! Aber es giebt Augenblicke, wo man Nichts berechnet und um jeden Preis auf's Ziel los geht.

»Mylord, sagte da John Mangles, bevor wir diesen letzten Ausweg wählen und gegen diese Brücke hin uns in Gefahren begeben, wird es klug sein, sie erst auszukundschaften. Ich nehme das auf mich.

– Ich begleite Sie, John«, erbot sich Paganel.

Nach Annahme dieses Vorschlages rüsteten sich John Mangles und Paganel sofort zum Aufbruche. Sie mußten an dem Snowy hinabgehen, seinen Ufern bis zu der von Ben Joyce bezeichneten Stelle folgen, und sich dabei vor den Augen der Sträflinge verbergen, die an den Ufern herumstreifen konnten.

Die beiden muthigen Genossen gingen also, mit Lebensmitteln und Waffen [487] wohl versehen, ab, und bald verschwanden sie schleichend in dem hohen Schilfe des Ufers.

Den ganzen Tag über erwartete man sie. Noch am Abend waren sie nicht zurück. Es regten sich lebhafte Befürchtungen.

Gegen elf Uhr endlich kündigte Wilson ihre Rückkehr an. Paganel und John Mangles waren von einem Marsche von zehn Meilen ermüdet.

»Die Brücke! Ist die Brücke vorhanden? fragte Glenarvan, der ihnen entgegenging.

– Ja, eine Brücke von Lianen, sagte John Mangles. Die Sträflinge haben sie wirklich passirt. Aber ...

– Aber ... sagte Glenarvan, der ein neues Unglück ahnte.

– Sie haben dieselbe hinter sich – verbrannt!« antwortete Paganel.

22. Capitel
Zweiundzwanzigstes Capitel.
Eden.

Jetzt war nicht die Zeit zum Verzweifeln, sondern zum Handeln. Da die Brücke von Kemple-pier zerstört war, mußte man um jeden Preis den Snowy passiren, um Ben Joyce's Bande an der Twofold-Bai zuvorzukommen. Es wurde auch keine Zeit mit leeren Worten verloren, und anderen Tages, am 16. Januar, untersuchten John Mangles und Glenarvan den Fluß, um den Uebergang einzuleiten.

Die lärmenden und von dem Regen geschwellten Wässer fielen noch nicht, sondern wirbelten mit unbeschreiblicher Wuth dahin. Ihnen die Stirn zu bieten, hieß fast, sich dem Tode weihen. Glenarvan stand mit gekreuzten Armen und gesenktem Haupte unbeweglich davor.

»Wollen Sie, daß ich nach dem anderen Ufer schwimme? sagte John Mangles.

– Nein, John! erwiderte Glenarvan, der den kühnen jungen Mann an der Hand zurückhielt, wir wollen warten.«

[488] Beide kehrten nach der Lagerstätte zurück. Der Tag verging in quälender Angst. Wohl zehnmal kehrte Glenarvan zum Snowy zurück. Er suchte ein verwegenes Mittel zu finden, darüber hinweg zu kommen. Vergeblich! Und wäre ein Lavastrom in diesem Bette geflossen, er würde nicht mehr Schwierigkeiten geboten haben.


Das Floß in der Mitte des reißenden Snowy. (S. 492.)

Während dieser langen verlorenen Stunden widmete Lady Helena, nach dem Rathe des Majors, Mulrady alle erdenkliche Sorgfalt. Langsam kehrte der Matrose zum Leben zurück. Mac Nabbs wagte zu behaupten, daß kein [489] lebenswichtiges Organ verletzt sei. Der Blutverlust bot für die Schwäche des Kranken eine genügende Erklärung. Nachdem die Wunde geschlossen und die Blutung gestillt war, erwartete er seine völlige Wiederherstellung nur von der Zeit und der Ruhe. Lady Helena hatte verlangt, daß er in der Vorderabtheilung des Wagens untergebracht werde. Mulrady war ganz beschämt. Die größte Sorge machte ihm der Gedanke, daß Glenarvan durch seinen Zustand länger zurückgehalten werden könne, und man mußte ihm das Versprechen geben, ihn mit Wilson an der Lagerstelle zurückzulassen, wenn der Uebergang über den Snowy ausführbar würde.

Unglücklicher Weise war Letzteres aber weder an diesem, noch am folgenden Tage möglich. Sich so zurückgehalten zu sehen, brachte Glenarvan ganz zur Verzweiflung. Lady Helena und der Major versuchten vergeblich, ihn zu beschwichtigen und zur Geduld zu ermahnen. Geduld haben, wenn Ben Joyce vielleicht in diesem Augenblicke an Bord der Yacht kam! Wenn der Duncan, seine Taue lösend, mit der Kraft des Dampfes diese verderbenbringende Küste zu erreichen suchte und sich ihr jeden Augenblick näherte!

In seinem Herzen fühlte John Mangles alle Angst Glenarvan's mit. In der Absicht, das vorliegende Hinderniß um jeden Preis zu überwinden, construirte er aus breiter Gummibaumrinde ein Boot nach australischer Art. Die leichten Planken waren durch Holzstangen zusammengehalten und bildeten ein sehr zerbrechliches Fahrzeug.

Der Kapitän und der Matrose stellten am folgenden Tage, am 18., Versuche mit dem schwachen Canot an. Was Geschick und Kraft, Gewandtheit und Muth thun konnten, thaten sie. Aber kaum in die Strömung gelangt, schlugen sie um und hätten ihren waghalsigen Versuch bald mit dem Leben bezahlt. Das Boot verschwand in den Wasserwirbeln. John Mangles und Wilson waren kaum zehn Klafter weit in den Strom hineingekommen, der durch den Regen und das Schmelzen des Schnees angeschwollen und noch eine Meile breit war.

So ging auch der 19. und 20. Januar verloren. Der Major und Glenarvan gingen an dem Snowy fünf Meilen weit hinauf, ohne eine praktikable Passage aufzufinden. Ueberall dasselbe Ungestüm des Wassers, dieselbe brausende Schnelligkeit. Der ganze Südabhang der Australischen Alpen wälzte seine Fluthen in diesem einen Bette dahin.

Auf die Hoffnung, den Duncan zu retten, mußte man nun verzichten.

[490] Fünf Tage waren schon seit Ben Joyce's Abreise verflossen. Jetzt mußte die Yacht an der Küste und in der Gewalt der Verbrecher sein!

Indeß konnte diese Sachlage unmöglich lange andauern. Das zeitweilige große Wasser verläuft schnell im Verhältniß seiner Heftigkeit. Wirklich bestätigte Paganel am Morgen des 21., daß der übernormale Wasserstand im Sinken sei. Er theilte Glenarvan dieses Resultat seiner Beobachtungen mit.

»Ja, was nützt das aber nun? antwortete Glenarvan, es ist zu spät!

– Doch ist das kein Grund, unseren Aufenthalt hier noch weiter zu verlängern, warf der Major ein.

– Gewiß, meinte auch John Mangles. Morgen wahrscheinlich wird der Uebergang ausführbar sein.

– Und wird das meine unglückliche Mannschaft retten? rief Glenarvan.

– Belieben Ew. Herrlichkeit mich anzuhören, sagte John Mangles. Ich kenne Tom Austin. Er hatte Ihre Befehle auszuführen und abzufahren, sobald es möglich war. Aber wer sagt uns, daß er bereit war, daß die Havarien des Duncan ausgebessert waren, als Ben Joyce in Melbourne eintraf. Und wenn die Yacht nun nicht in See stechen konnte, und ein oder zwei Tage Aufenthalt erlitt!

– Du hast Recht, John! erwiderte Glenarvan. Es gilt jetzt, Twofold-Bai zu erreichen. Wir sind nur fünfunddreißig Meilen von Delegete.

– Ja wohl, sagte Paganel, und in dieser Stadt werden wir die schnellsten Transportmittel haben können. Wer weiß, ob wir nicht noch rechtzeitig eintreffen, um das Unglück abzuwenden.

– Vorwärts denn!« rief Glenarvan.

Sofort gingen John Mangles und Wilson daran, ein Fahrzeug von großen Dimensionen herzustellen. Die Erfahrung hatte gelehrt, daß die Rindenstücke dem Strome nicht genug Widerstand leisteten. John fällte also Gummibäume, aus deren Stämmen er ein rohes, aber haltbares Floß herstellte. Die Arbeit war lang und der Tag verging ohne Beendigung des Werkes. Erst am nächstfolgenden ward es vollendet.

Der Wasserstand des Snowy war nun auch merklich zurückgegangen. Der Wirbelstrom wurde zum Flusse, wenn auch zu einem schnellströmenden. Demnach hoffte John, wenn man auch eine schräge Linie einhielt und die Strömung nur zum Theile beherrschte, das andere Ufer zu erreichen.

Um halb ein Uhr schiffte man Alles ein, was Jeder für eine Tour von [491] zwei Tagen an Lebensmitteln mitnehmen konnte. Der Rest, nebst dem Wagen und dem Zelte, wurde zurückgelassen. Mit Mulrady ging es so gut, daß er schon transportfähig war; seine Wiederherstellung machte eilige Fortschritte.

Um ein Uhr nahmen Alle Platz auf dem Flosse, das eine Leine am Ufer hielt. John Mangles hatte am Steuerbord eine Art Ruder eingerichtet, welches Wilson zu führen hatte, um den Apparat etwas gegen den Strom zu halten und seine Abweichung zu vermindern. Er selbst stand am Hintertheile und suchte mit einem rohen Bootsriemen etwas zu steuern. Lady Helena und Miß Grant nahmen an Mulrady's Seite die Mitte des Flosses ein und waren von Glenarvan, dem Major, Paganel und Robert umringt, welche für den Nothfall zu ihrer Hilfe bereit waren.

»Sind wir fertig, Wilson? fragte John Mangles seinen Matrosen.

– Ja, Kapitän, erwiderte Wilson, der sein Ruder mit kräftiger Faust ergriff.

– Achtung also, und halte uns gegen den Strom.«

John Mangles band das Floß los, und mit einem kräftigen Stoße trieb er es in die Wellen des Snowy. Die ersten fünfzehn Klafter weit ging Alles zum besten. Wilson vermochte der Abweichung zu widerstehen. Aber bald wurde das Fahrzeug von einem Wirbel erfaßt; es drehte sich um sich selbst, ohne daß weder Ruder noch Riemen es in gerader Richtung erhalten konnten. Trotz ihrer Anstrengungen waren Wilson und John Mangles bald in gerade umgekehrter Stellung, die eine Benutzung der Ruder völlig unmöglich machte.

Man mußte sich fügen, denn es gab kein Mittel, diesen Wirbelbewegungen des Flosses zu steuern. Es drehte sich mit schwindelnder Schnelle und wich dabei ab. John Mangles stand aufrecht, mit blassem Gesicht und knirschenden Zähnen, und sah auf das wirbelnde Wasser.

Indessen trieb das Floß in der Mitte des Snowy; es befand sich von seiner Abfahrtsstelle eine halbe Meile stromab. Dort hatte die Strömung ihre größte Gewalt, aber da sie damit die Wirbel brach, verlieh sie dem Apparate sogar einigen Halt.

John und Wilson ergriffen ihre Ruder wieder und gelangten dazu, das Fahrzeug in einer schrägen Richtung fortzubewegen. In Folge dieses Manoeuvres näherte man sich jetzt mehr dem linken Ufer. Nur fünfzig Klafter [492] waren sie noch davon entfernt, als Wilson's Ruder glatt wegbrach. Das nicht mehr gehaltene Floß wurde abwärts getrieben. John wollte auf die Gefahr hin, auch seinen Riemen zu zerbrechen, widerstehen. Wilson vereinte, mit schon blutenden Händen, seine Anstrengungen mit den seinen.

Endlich gelang es, und das Floß stieß nach einer mehr als halbstündigen Ueberfahrt an das steile Ufer des Stromes. Der Stoß war heftig; die Stämme wichen auseinander, die Stricke rissen, und wirbelnd drang das Wasser vor. Die Reisenden hatten nur Zeit, sich an die überhängenden Ufergebüsche anzuklammern. Sie zogen Mulrady und die beiden halberstarrten Frauen zu sich. Kurz, Alle wurden gerettet, aber der größte Theil der eingeschifften Nahrungsmittel und die Waffen, mit Ausnahme des Carabiners des Majors, trieben mit den Trümmern des Flosses hinab.

Der Fluß war überschritten, aber fast mittellos befand sich die kleine Gesellschaft fünfunddreißig Meilen von Delegete, mitten in den unbekannten Wüsten an den Grenzen von Victoria. Dort begegnet man weder Colonisten, noch Squattern, denn die Gegend ist nicht bewohnt, außer von wilden und räuberischen Bushrangers.

Man beschloß also ohne Verzug weiter zu reisen. Mulrady sah wohl ein, daß er die Quelle von Verlegenheiten war; er verlangte also zurückzubleiben, und das sogar ganz allein, um Hilfe von Delegete aus zu erwarten.

Glenarvan schlug das ab. Er konnte Delegete nicht unter drei, die Küste nicht unter fünf Tagen, das heißt, am 26. Januar, erreichen. Seit dem 16. hatte der Duncan voraussichtlich Melbourne verlassen. Was verschlugen ihm einige Stunden Aufschub?

»Nein, mein Freund, ich will Niemanden verlassen. Wir werden eine Bahre herstellen und Dich abwechselnd tragen.«

Die Tragbahre wurde aus Eucalyptenästen, die mit Zweigen überdeckt wurden, hergestellt, und Mulrady mußte wohl oder übel darauf Platz nehmen. Glenarvan wollte selbst der Erste sein, seinen Matrosen zu tragen, und während er an dem einen Ende und Wilson am anderen anfaßte, setzte man sich in Gang.

Welch' trauriger Anblick, und wie übel endete diese so glückverheißend begonnene Reise! Jetzt suchte man nicht mehr nach Harry Grant. Dieses Land, wo er nicht war und nie gewesen war, drohte Denen, die seine Spuren [493] suchten, verderblich zu werden. Und wenn seine kühnen Landsleute die australische Küste endlich erreichten, sollten sie nun auch den Duncan nicht mehr vorfinden, um sie wieder heimzuführen!

Schweigend und peinvoll verging dieser erste Tag. Von zehn zu zehn Minuten löste man sich im Tragen der Bahre ab. Alle Begleiter des Matrosen unterzogen sich ohne eine Klage dieser Mühe, welche durch eine beträchtliche Hitze noch vergrößert wurde.

Abends lagerte man sich, nach Zurücklegung von nur fünf Meilen, unter einer Gruppe Gummibäume. Der Rest des Proviants, der dem Schiffbruch entgangen war, bildete die Abendmahlzeit. Jetzt war nur noch auf den Carabiner des Majors zu rechnen.

Die Nacht war garstig; es fiel auch noch Regen, und erst spät ward es Tag. Man setzte sich wieder in Gang. Nicht zu einem Schusse hatte der Major Veranlassung. Diese traurige Gegend war noch mehr als Einöde, da sie selbst nicht von Thieren belebt war.

Zum Glück entdeckte Robert ein Trappennest und in demselben ein Dutzend große Eier, welche Olbinett unter heißer Asche kochte.

Diese machten, nebst einigen Portulakpflanzen, welche im Grunde eines kleinen Hohlwegs wuchsen, am 22. das ganze Frühstück aus.

Der Weg wurde nun außerordentlich schwierig und schmerzensreich. Die sandigen Ebenen waren von »Spinesex« bedeckt, ein stacheliges Gras, das in Melbourne den Namen »Porc-épic« führt. Es zerriß die Kleider und verletzte die Füße. Trotzdem beklagten sich die muthigen Damen nicht; sie schritten tapfer mit gutem Beispiele voran, wobei sie Den und Jenen durch ein Wort oder einen Blick ermunterten.

Abends machte man am Fuße des Bulla-Bulla und an den Ufern des Jungalla-Flusses Rast. Das Abendessen wäre sehr mager ausgefallen, hätte nicht Mac Nabbs zuletzt noch ein großes Murmelthier, einen »Mus conditor« erlegt, der rücksichtlich des Nahrungswerthes in bestem Ansehen steht. Olbinett briet ihn, und jener hätte noch seinen guten Ruf übertroffen, wenn er – nur die Größe eines Hammels gehabt hätte. Indeß, man mußte sich begnügen und nagte ihn bis auf die Knochen ab.

Am 23. setzten sich die müden, aber immer entschlossenen Reisenden wieder in Gang. Nachdem sie den Fuß des Berges umzogen hatten, überschritten sie lange Wiesen, deren Gräser aus Wallfischbarten zu bestehen [494] schienen. Es war ein Wirrsal von Stacheln, ein Gemenge spitziger Bajonnette, durch welche ein Weg erst mit Hilfe des Beiles oder des Feuers gebahnt werden mußte.

An eben diesem Morgen war von keinem Frühstück die Rede. Es kann nichts so Dürres geben, als diese mit Quarzbrocken besäete Gegend. Nun machte sich aber nicht allein der Hunger, sondern auch ein quälender Durst fühlbar. Eine glühende Atmosphäre verdoppelte diese Qualen. Nicht eine halbe Meile in der Stunde legte Glenarvan mit den Seinen zurück. Wenn dieser Mangel an Wasser und Lebensmitteln bis zum Abend andauerte, so wären sie wohl auf diesem Wege umgefallen, um nicht wieder aufzustehen.

Wenn dem Menschen aber Alles fehlt, wenn er aller Hilfsmittel baar vor dem Augenblicke steht, wo er die Stunde zum Erliegen in der Noth gekommen wähnt, gerade dann offenbart sich die eingreifende Hand der Vorsehung.

Wasser lieferte sie in den »Cephaloten«, einer Art Blumenkelche, welche, mit wohlschmeckender Flüssigkeit gefüllt, von den Aesten eines korallenförmigen Strauches herabhingen. Alle erquickten sich daran und fühlten sich von neuem Leben durchströmt.

Die Nahrung bestand in derselben, welche die Eingeborenen genießen, wenn Wild, Insecten und Schlangen zu fehlen anfangen.

In dem ausgetrockneten Bette eines Flusses entdeckte Paganel eine Pflanze, deren vortreffliche Eigenschaften ihm öfters von einem Collegen aus der Geographischen Gesellschaft beschrieben worden waren.

Es war das der »Nardou«, eine Kryptogame aus der Familie der Wasserlinsen, dieselbe Pflanze, welche Burke und King in den Wüsten des Binnenlandes das Leben gefristet hatte.


Eine mühselige Fußreise. (S. 495.)

Unter ihren kleeähnlichen Blättern saßen trockene Keimkörperchen von der Größe einer Linse, die, zwischen zwei Steinen gemahlen, eine Art Mehl liefern. Daraus wurde ein grobes Brod hergestellt, das doch die Qualen des Hungers stillte.

Diese Pflanze fand sich hier sehr reichlich vor; Olbinett ließ davon eine so große Menge einsammeln, daß die Ernährung der Gesellschaft damit auf mehrere Tage gesichert war.

Am andern Tage, am 24., machte Mulrady einen Theil des Weges zu Fuße. Seine Wunde war völlig vernarbt. Die Stadt Delegete war nun [495] blos noch zehn Meilen entfernt, und am Abend lagerte man unter 149° der Länge auf der Grenze von Neu-Süd-Wales.

Ein seiner und durchdringender Regen fiel seit mehreren Stunden. Sie wären ganz obdachlos gewesen, wenn John Mangles nicht zufällig eine verlassene und zerfallene Schnitterhütte entdeckt hätte. Man mußte sich mit dieser elenden, aus Zweigen und Stroh bestehenden Zuflucht begnügen. Wilson wollte zum Backen des Nardon-Brodes Feuer anzünden und sammelte zu dem Ende dürres Holz, welches auf dem Boden umherlag.

[496] Als er es aber anzünden wollte, gelang es ihm nicht; die große Masse eines thonartigen Stoffes, den es enthielt, verhinderte seine Entzündung. Es war dies das unverbrennliche Holz, dessen Paganel in seiner Aufzählung australischer Producte Erwähnung gethan hatte.

Man mußte also auf das Feuer, in Folge dessen aber auch auf Brod verzichten und sich in der nassen Kleidung schlafen legen, während die in den hohen Aesten versteckten Spottvögel die bedauernswerthen Reisenden noch zu verlachen schienen.

Doch war Glenarvan nun am Ende seiner Leiden. Es war die höchste Zeit. Die beiden jungen Damen machten heroische Anstrengungen, aber ihre Kräfte nahmen stündlich ab. Sie gingen nicht mehr, sie schleppten sich nur.

Am andern Tage brach man mit der Morgenröthe auf. Um elf Uhr kam Delegete in Sicht, das in der Grafschaft Wellesley, fünfzig Meilen von der Twofold-Bai, gelegen ist.

Dort waren neue Transportmittel bald beschafft. Da er sich so nahe der Küste wußte, zog auch wieder neue Hoffnung in Glenarvan's Herz. Vielleicht wäre er bei weniger Verzögerung noch vor dem Duncan dort angekommen. In vierundzwanzig Stunden sollte er nun bei der Bai anlangen!

Zu Mittag verließen nach erquickender Ruhe alle Reisenden in einer mit fünf kräftigen Pferden bespannten Postkutsche Delegete schon wieder. Die Postillone führten, auf das Versprechen eines reichlichen Trinkgeldes, den schnellen Wagen auf einer wohlgehaltenen Straße dahin. Nicht zwei Minuten verloren sie beim Wechseln der Pferde, welches von zehn zu zehn Meilen stattfand. Es schien, als hätte Lord Glenarvan das Feuer, das ihn selbst verzehrte, auch ihnen mitgetheilt.

Den ganzen Tag und auch die Nacht hindurch fuhr man mit einer Geschwindigkeit von sechs Meilen die Stunde.

Am andern Tage verkündete bei Sonnenaufgang ein dumpfes Murmeln die Nähe des indischen Oceans. Man mußte um die Bai herumfahren, um ihr Ufer am siebenunddreißigsten Grade der Breite, genau an dem Punkte, wo Tom Austin die Reisenden erwarten sollte, zu erreichen.

Als das Meer sichtbar wurde, richteten sich Aller Augen suchend in die Ferne. War der Duncan wohl durch ein Wunder der Vorsehung da, hin und her fahrend, wie einen Monat vorher, bei der Ueberlandreise nach Cap Corrientes, an der argentinischen Küste?

[497] Nichts war sichtbar. Himmel und Wasser verschwammen am Horizonte. Kein Segel belebte den weiten Ocean.

Eine Hoffnung war noch übrig. Vielleicht hatte Tom Austin in der Twofold-Bai selbst ankern zu sollen geglaubt. Das Meer war hier gefährlich, und ein Schiff war in der Nähe derartiger Küstenstrecken nicht sicher.

»Nach Eden!« befahl Lord Glenarvan.

Sogleich schlug der Wagen den Weg ein, der an dem Ufer der Bai hinführte, und fuhr nach der fünf Meilen entfernten kleinen Stadt Eden.

Die Postillone hielten unsern des Signalfeuers, welches den Zugang zum Hafen bezeichnet. Einige Fahrzeuge ankerten auf der Rhede, aber auf keinem Maste flatterte die Flagge von Malcolm.

Glenarvan, John Mangles und Paganel verließen den Wagen, eilten nach der Douane und fragten die Beamten und alle in den letzten Tagen Angekommenen aus.

Seit einer Woche war kein Schiff in die Bai eingelaufen.

»Sollte er nicht abgefahren sein! rief Glenarvan, der durch einen gewissen, dem Menschenherzen so nahe liegenden Hoffnungsschimmer noch nicht verzweifeln wollte. Vielleicht sind wir noch vor ihm angekommen!«

John Mangles senkte den Kopf. Er kannte Tom Austin. Sein zweiter Officier würde die Ausführung eines Befehles nie um zehn Tage verzögert haben.

»Ich muß wissen, woran ich bin, sagte Glenarvan, die Gewißheit ist immer besser als der Zweifel!«

Eine Viertelstunde später wurde an den Syndicus der Schiffsmäkler in Melbourne ein Telegramm abgelassen.

Dann ließen sich die Reisenden nach dem Hôtel Victoria führen.

Zwei Stunden später kam die telegraphische Antwort an Glenarvan zurück, welche folgendermaßen lautete:


»Lord Glenarvan, Eden.

Twofold-Bai.


Duncan ist am 18., unbekannt wohin, abgesegelt.

J. Andrew. S.-M.«


Die Depesche entfiel Glenarvan's Händen.

Es war kein Zweifel mehr! Die schöne schottische Yacht war in Ben Joyce's Händen zu einem Piratenschiffe geworden!

[498] So endete diese unter so verheißenden Aussichten begonnene Reise durch Australien. Die Spuren des Kapitän Grant und der Schiffbrüchigen schienen unwiderruflich verloren; dieser Mißerfolg kostete einer ganzen Schiffsbesatzung das Leben.

Lord Glenarvan unterlag in dem Streite, und diesen unerschrockenen Forscher, den selbst die verschworenen Elemente nicht in den Pampas aufzuhalten vermochten, mußte die Schlechtigkeit der Menschen nun auf dem Australischen Continente überwinden.

3. Theil

1. Capitel
Erstes Capitel.
Der Macquarie.

Wenn die Aufsucher des Kapitän Grant jemals Veranlassung hatten, an seinem Wiederauffinden zu verzweifeln, war es dann nicht gerade jetzt der Fall, wo ihnen plötzlich Alles fehlte? Von welchem Punkte der Erde aus sollte man eine neue Expedition unternehmen? Auf welche Weise neue Länder durchforschen? Der Duncan war nicht mehr vorhanden und selbst eine unmittelbare Rückkehr in die Heimat unmöglich. So war also das Unternehmen der edlen Schotten fehlgeschlagen. Ein Mißerfolg! Trauriges Wort, das in einer thatkräftigen Seele kein Echo findet; und doch mußte Glenarvan, unter den Schlägen des Geschickes, seine Ohnmacht, dieses aufopferungsvolle Werk fortzusetzen, eingestehen.

Mary Grant hatte unter diesen Verhältnissen die Seelenstärke, den Namen ihres Vaters gar nicht mehr auszusprechen. Sie unterdrückte ihre eigene Angst, indem sie an die unglückliche umgekommene Schiffsbesatzung dachte. Die Tochter trat vor der Freundin in den Hintergrund, und jetzt war sie es, welche Lady Glenarvan tröstete, von der sie sonst so viel Tröstung empfangen hatte. Sie sprach zuerst von der Rückkehr nach Schottland.

John Mangles zollte ihr alle Bewunderung, sie so muthig und so resignirt zu sehen.

[501] Ein letztes Wort wollte er zu Gunsten des Kapitän Grant sprechen, Mary aber verhinderte es durch einen Blick und sagte später zu ihm:

»Nein, Herr John, denken wir an Die, welche sich für uns aufgeopfert haben. Lord Glenarvan muß nach Europa zurückkehren.

– Sie haben Recht, Miß Mary, er muß, erwiderte John Mangles. Auch müssen die englischen Behörden von dem Schicksale des Duncan unterrichtet werden. Aber geben Sie nicht alle Hoffnung auf. Die von uns begonnenen Nachforschungen werde ich, anstatt sie aufzugeben, vielmehr allein wieder aufnehmen! Ich werde den Kapitän Grant wiederfinden oder bei dem Versuche untergehen!«

Es war eine ernste Verpflichtung, welche John Mangles auf sich nahm. Mary ging darauf ein, und hielt dem jungen Kapitän die Hand hin, wie um den Vertrag zu vollziehen. Seitens John Mangles' bedeutete er eine Aufopferung Zeit seines Lebens, seitens Mary's eine unwandelbare Dankbarkeit.

Noch an diesem Tage wurde die Abreise endgiltig beschlossen. Man wollte ohne Säumen Melbourne zu erreichen suchen.

Am andern Tage erkundigte sich John Mangles nach den in der Abfahrt begriffenen Schiffen, wobei er auf eine häufige Verbindung zwischen Eden und der Hauptstadt von Victoria hoffte.

Seine Erwartung wurde getäuscht. Schiffe waren nur wenige da. Drei bis vier Fahrzeuge, welche in der Twofold-Bai ankerten, bildeten die ganze Handelsflotte des Platzes, von denen aber keines nach Melbourne, Sidney oder Point-de-Galle bestimmt war. Nur in diesen drei Häfen Australiens aber konnte Glenarvan Schiffe finden, die in Ladung nach England wären.

Die Peninsular Oriental steam navigation Company unterhält nämlich einen regelmäßigen Packetbootdienst zwischen diesen Plätzen und der Metropole Großbritanniens.

Was war nun zu thun? Ein Schiff abwarten? Das hätte leicht sehr lange dauern können, denn die Twofold-Bai ist wenig besucht. Es gehen auf hoher See wohl viele Fahrzeuge an ihr vorüber, landen aber nicht daselbst.

Glenarvan entschied sich nach manchen Ueberlegungen und Besprechungen dafür, auf den Wegen längs der Küste nach Sidney zu gehen, als Paganel noch einen Vorschlag machte, dessen sich Niemand versehen hätte.

[502] Der Geograph hatte der Bai von Twofold auch selbst einen Besuch abgestattet. Er wußte, daß eine Gelegenheit nach Melbourne oder Sidney fehlte. Von den drei Fahrzeugen auf der Rhede aber machte sich das eine nach Auckland, der Hauptstadt von Ika-na-Maoui, jener nördlich gelegenen Insel Neu-Seelands, segelfertig. Darauf hin schlug Paganel vor, das betreffende Schiff zu benutzen und nach Auckland zu gehen, von wo aus es leicht sein würde, mit einem Schiffe der Peninsular-Company nach Europa zurückzukehren.

Dieser Vorschlag wurde in ernstliche Erwägung gezogen. Paganel verirrte sich jetzt nicht in jene Reihe von Unterstützungsgründen, mit denen er sonst so verschwenderisch war. Er beschränkte sich auf die Angabe der Thatsache unter der Hinzufügung, daß die Ueberfahrt nicht länger als fünf bis sechs Tage dauern könne. Die Entfernung von Australien bis Neu-Seeland beträgt in der That nur tausend (englische) Meilen.

In Folge eines sonderbaren Zusammentreffens lag Auckland genau in der Linie des siebenunddreißigsten Breitengrades, dem die Forscher von der Küste Araukaniens an hartnäckig folgten. Sicher hätte der Geograph, ohne darum der Parteilichkeit geziehen zu werden, das als ein seinem Vorschlage günstiges Argument benutzen können. Wirklich war es ja eine ganz natürliche Gelegenheit, die steile, klippenreiche Küste Neu-Seelands zu besuchen.


Die Brigg Macquarie. (S. 504.)

Paganel wollte aber daraus keinen Vortheil ziehen. Nach zweifachem Mißgeschick mochte er eine dritte Auslegung des Documentes ohne Zweifel nicht wagen. Was hätte er demselben auch noch entnehmen sollen? In jenem war zweifellos ausgesprochen, daß dem Kapitän Grant ein »Continent« und nicht eine Insel als Zuflucht gedient habe. Neu-Seeland war aber eben nur eine Insel. Das erschien entscheidend. Doch, wie dem auch sei, ob aus diesem oder irgend einem andern Grunde, Paganel flocht seinem Vorschlage keinen Gedanken an eine neue Durchforschung Neu-Seelands ein. Er betonte nur, daß zwischen diesem Platze und Großbritannien regelmäßige Verbindungen beständen, deren sie sich bequem bedienen könnten.

John Mangles unterstützte Paganel's Vorschlag. Er empfahl seine Annahme deshalb, weil man die sehr zweifelhafte Ankunft eines Schiffes in der Twofold-Bai nicht abwarten könne. Vor allem Weiteren hielt er es aber für angezeigt, das von dem Geographen bezeichnete Schiff zu besuchen. Glenarvan, der Major, Paganel, Robert und er selbst nahmen also ein Boot,[503] und schon nach wenigen Ruderschlägen waren sie an dem Schiffe, welches zwei Kabellängen vom Quai ankerte.

Es war das eine Brigg von zweihundertfünfzig Tonnen, welche, der Macquarie hieß. Sie besorgte die Küstenfahrt zwischen verschiedenen Häfen Australiens und Neu-Seelands. Der Kapitän, oder vielmehr der »Master« empfing seine Besucher ziemlich grob. Es war leicht einzusehen, daß man es mit einem Menschen ohne Erziehung zu thun hatte, dessen Manieren sich nicht wesentlich von denen der fünf an Bord befindlichen Matrosen unterschieden.


Glenarvan auf dem Rückwege nach Eden. (S. 508.)

Ein rohes und geröthetes Gesicht, dicke Hände, eine eingedrückte Nase, ein gebrochenes Auge, von der Pfeife beschmutzte Lippen und ein brutales Aussehen machten aus Will Halley eine widerliche Persönlichkeit. Doch man hatte keine Wahl, und für eine Ueberfahrt von fünf bis sechs Tagen brauchte man ihn nicht so genau anzusehen.

[504]

»Was wollen Sie, Sie da? fragte Will Halley die Unbekannten, welche sein Verdeck betraten.

– Der Kapitän? entgegnete John Mangles.

[505] – Bin ich, sagte Halley. Was weiter?

– Der Macquarie ladet nach Auckland?

– Ja. Was weiter?

– Was führt er?

– Alles, was käuflich und verkäuflich ist. Was weiter?

– Wann segelt er ab?

– Morgen mit der Ebbe zu Mittag. Was weiter?

– Nähme er auch Passagiere auf?

– Das kommt auf die Passagiere an und ob sie sich mit der Schiffskost begnügen.

– Sie würden sich selbst verpflegen.

– Was weiter?

– Nun, was weiter?

– Ja, wieviel sind es?

– Neun, darunter zwei Damen.

– Ich habe keine Cabinen.

– Sie würden sich mit der hinteren Koje begnügen, wenn ihnen diese zur Benutzung überlassen würde.

– Was weiter?

– Nun, gehen Sie darauf ein? fragte John Mangles, den die Manieren des Kapitäns ganz und gar nicht in Verlegenheit brachten.

– Werde sehen!« erwiderte der Patron des Macquarie.

Will Halley ging ein- oder zweimal auf und ab, wobei das Verdeck von seinen schweren, eisenbeschlagenen Stiefeln erdröhnte, dann kam er kurz auf John Mangles zu.

»Was zahlt man?

– Was verlangt man? entgegnete John.

– Fünfzig Pfund.«

Glenarvan machte ein Zeichen der Zustimmung.

»Gut! Fünfzig Pfund, antwortete John Mangles.

– Aber nur für Ueberfahrt, ohne Alles.

– Ohne Alles.

– Eigene Beköstigung.

– Eigene.

– Einverstanden. Was weiter? sagte Will, der die Hand ausstreckte.

[506] – Nun?

– Das Aufgeld?

– Hier ist die Hälfte des Fahrgeldes, fünfundzwanzig Pfund, sagte John Mangles, und zählte dem Master diese Summe hin, der sie, ohne sich zu bedanken, einstrich.

– Morgen an Bord, sagte er nur. Vormittags. Ob man da ist oder nicht, ich segle ab.

– Man wird da sein.«

Glenarvan, der Major, Robert, Paganel und John Mangles verließen hierauf das Schiff, ohne daß Will Halley seinen Südwester 1, der die rothe Perrücke bedeckte, auch nur mit einem Finger berührte.

»Welcher Tölpel! sagte John.

– Ei nun, mir paßt er, antwortete Paganel. Das ist ein richtiger Seewolf.

– Ein wahrer Bär! versetzte der Major.

– Und ich meine, fügte John Mangles hinzu, daß dieser Bär seiner Zeit auch mit Menschenfleisch gehandelt hat.

– Mag sein! antwortete Glenarvan, wenn er jetzt nur den Macquarie commandirt und der Macquarie nach Neu-Seeland geht. Von der Twofold-Bai bis Auckland werden wir ihn nicht viel sehen, nach Auckland gar nicht mehr.«

Mit Vergnügen hörten Lady Glenarvan und Mary Grant, daß die Abreise für den andern Tag bestimmt sei. Glenarvan machte sie darauf aufmerksam, daß der Macquarie dem Duncan rücksichtlich des Comforts nicht gleich komme. Nach so vielen Prüfungen waren das aber keine Frauen, sich eine solche Kleinigkeit verdrießen zu lassen.

Mr. Olbinett wurde bedeutet, für Proviant zu sorgen. Der arme Mann hatte seit dem Verluste des Duncan oft die unglückliche Mistreß Olbinett beweint, die an Bord geblieben und folglich mit der gesammten Besatzung ein Opfer der Grausamkeit der Sträflinge geworden war. Indeß erfüllte er seine Obliegenheiten als Stewart mit gewohntem Eifer, und die »eigene Beköstigung« bestand in ausgewählten Speisen, welche auf der Brigg niemals Sitte waren. In wenigen Stunden hatte er sich versorgt.

[507] Indessen escomptirte der Major bei einem Banquier die Wechsel, welche Glenarvan auf die Union-Bank in Melbourne besaß. Er wollte weder von Gold, noch von Waffen und Munition entblößt sein. Er erneuerte daher auch sein Arsenal. Paganel verschaffte sich eine ausgezeichnete, von Johnston in Edinburgh herausgegebene Karte Neu-Seelands.

Mit Mulrady ging es nun ganz gut. Kaum erinnerte er sich der Wunde, welche sein Leben in Gefahr gebracht hatte. Einige Stunden auf dem Meere sollten seine Heilung vollenden. Er hoffte darauf, sich durch die frischen Winde des Pacifischen Oceans wieder herzustellen.

Wilson wurde beauftragt, an Bord des Macquarie die Wohnräume für die Passagiere herzurichten. Unter seinen Bürsten und Besen änderte sich das Aussehen der Koje vollkommen. Will Halley zuckte die Achseln, ließ aber den Matrosen gewähren. Um Glenarvan und seine männlichen und weiblichen Begleiter machte er sich keine Sorgen. Er kannte kaum ihre Namen und beunruhigte sich deshalb nicht im Mindesten. Dieser Zuwachs zu seiner Ladung galt ihm fünfzig Pfund, das war Alles, und er schlug ihn geringer an, als die zweihundert Tonnen gegerbte Häute, welche seinen Kielraum füllten. Erst die Häute, dann die Menschen. Es war eben ein Geschäftsmann. Seine Eigenschaften als Seemann betreffend, wurde er für einen guten Practicus in diesen, durch Korallenriffe sehr gefährlichen Meeren gehalten.

In den letzten Stunden dieses Tages wollte Glenarvan noch nach dem durch den siebenunddreißigsten Breitengrad berührten Punkt der Küste zurückkehren. Zwei Gründe trieben ihn dahin.

Einmal wünschte er die angenommene Stelle des Schiffbruchs noch einmal zu besuchen. Ayrton war ohne Zweifel Quartiermeister auf der Britannia gewesen, und die Britannia konnte wirklich in dieser Gegend der australischen Küste verloren gegangen sein, hier an der östlichen, statt an der westlichen Küste. Man durfte demnach einen solchen Punkt, den man doch nie wiedersehen würde, nicht so leicht verlassen.

Dann aber war, wenn nicht die Britannia, so doch der Duncan hier in die Hände der Sträflinge gefallen. Vielleicht hatte es einen Kampf gegeben? Warum sollte man am Ufer nicht die Spuren desselben und eines verzweifelten Widerstandes auffinden? Wenn die Besatzung in den Wellen umgekommen war, hätten die Wellen nicht einen Leichnam an die Küste spülen können?

[508] Glenarvan unternahm, von seinem treuen John begleitet, diese Recognoscirung. Der Besitzer des Hôtel Victoria stellte ihnen zwei Pferde zur Verfügung, und so nahmen sie den Weg nach Norden, welcher um die Twofold-Bai herumführt, wieder auf.

Es war eine traurige Nachsuchung. Glenarvan und der Kapitän ritten stumm dahin, und verstanden sich doch. Dieselben Gedanken und, als sie wegritten, dieselben Beängstigungen quälten sie. Sie blickten nach den vom Meere ausgehöhlten Felsen; sie brauchten sich gar nicht zu fragen und nicht zu antworten.

Bei John's Eifer und Intelligenz kann man sich versichert halten, da jeder Punkt des Ufers mit peinlicher Sorgfalt untersucht und auch die kleinste Bucht genau durchforscht wurde, ebenso wie die geneigte Küste und die Dünen von Sand, wo die Wogen des Stillen Oceans eine Seetrift angetrieben haben könnten. Doch kein Anzeichen fand sich, welches weitere Nachforschungen in dieser Gegend am Meere hätte wünschenswerth erscheinen lassen. Selbst die Spur des Schiffbruches verlor sich damit.

Auch nichts auf den Duncan Bezügliches fand sich vor. Der ganze Küstenstrich war öde.

Da entdeckte John Mangles am Rande des Ufers offenbare Zeichen eines Lagers, und unter isolirten Myalls die Reste eines Feuers aus jüngster Zeit. War hier in den letzten Tagen ein nomadisirender Stamm Eingeborener vorbei gekommen? Nein, denn ein Wahrzeichen fiel Glenarvan in's Auge und belehrte ihn unzweifelhaft, daß es Sträflinge gewesen waren, welche diese Gegend der Küste besucht hatten.

Dieses Zeichen bestand in einem grau und gelben, abgenutzten und geflickten Matrosenkittel, einem elenden Lumpen, der am Fuße eines Baumes zurückgelassen war. Er trug noch die Matrikelnummer eines Sträflings aus Perth. Der Galeerensklave war nicht mehr da, aber seine schmutzige Hinterlassenschaft zeugte für ihn. Nachdem sie irgend welchen Auswürfling bekleidet, verfaulte diese Verbrecher-Livrée nun hier am einsamen Ufer.

»Du siehst, John, sagte Glenarvan, daß die Deportirten bis hierher gekommen sind! Und unsere armen Kameraden vom Duncan? ...

– Ja wohl! erwiderte John mit dumpfer Stimme, gewiß sind sie nicht ausgeschifft worden, sondern umgekommen ...

[509] – Diese Elenden! rief Glenarvan; wenn sie je in meine Hände fallen, so werde ich meine Besatzung rächen! ...«

Der Schmerz hatte Glenarvan's Züge hart gemacht. Einige Minuten lang schaute der Lord hinaus auf die unendlichen Wogen, um mit dem letzten Blicke vielleicht ein Schiff in der endlosen Weite zu haschen. Dann senkten sich seine Augen, er kam zu sich selbst zurück, und ohne ein Wort zu sprechen oder eine Bewegung zu machen, ritt er im Galop auf dem Wege nach Eden zurück.

Es war noch eine einzige Förmlichkeit zu erfüllen, die Benachrichtigung der zuständigen Behörden über das Vorgefallene. Denselben Abend wurde das noch mit Thomas Banks abgemacht. Dieser Beamte konnte, als er das Protokoll darüber aufnahm, seine Befriedigung nur mühsam verheimlichen. Er war von der Abfahrt Ben Joyce's und seiner Bande einfach entzückt. Die ganze Stadt theilte diese Befriedigung. Die Sträflinge hatten Australien zwar mit Hilfe eines neuen Verbrechens verlassen, indeß, sie hatten es doch verlassen. Diese wichtige Neuigkeit wurde den Behörden von Sidney und Melbourne augenblicklich telegraphirt.

Nach Beendigung seiner Erklärungen kam Glenarvan nach dem Hôtel Victoria zurück. Traurig verbrachten die Reisenden diesen letzten Abend. Ihre Gedanken schweiften durch dieses an Unfällen so reiche Land. Sie erinnerten sich der so wohlbegründeten Hoffnungen, die sie am Cap Bernouilli hatten, und die nun an der Twofold-Bai so jämmerlich zu Schanden geworden waren!

Paganel war von einer wirklich fieberhaften Aufregung erfaßt. John Mangles, der ihn seit jenem Ereigniß am Snowyflusse immer beobachtete, fühlte es heraus, daß der Geograph einmal sprechen wollte und einmal wieder nicht. Manchmal hatte er auch schon Fragen an ihn gerichtet, die Jener unbeantwortet ließ.

Diesen Abend aber geleitete John ihn nach seinem Zimmer und fragte ihn, warum er so nervös sei.

»Mein Freund John, erwiderte Paganel ausweichend, ich bin jetzt nicht nervöser als gewöhnlich.

– Herr Paganel, fuhr John fort, Sie haben ein Geheimniß, das Sie drückt.

– Nun, was wollen Sie? fuhr der Geograph auf, das ist auch stärker als ich.

[510] – Was ist stärker als Sie?

– Meine Freude auf der einen, meine Verzweiflung auf der andern Seite.

– Sie sind erfreut und verzweifelt zugleich?

– Ja, erfreut und verzweifelt, Neu-Seeland zu besuchen.

– Hätten Sie dafür einen Grund? fragte lebhaft John Mangles. Haben Sie etwa die verlorene Fährte wiedergefunden?

– Nein, Freund John! Man kehrt aus Neu-Seeland nicht wieder zurück! Indeß ..., nun, Sie kennen ja die menschliche Natur! Es genügt, daß man athme, um zu hoffen! Und mein Wahlspruch ›Spiro, spero‹ ist so viel werth, als alle Wahlsprüche der Welt!«

Fußnoten

1 Eine Art Hut von Wachstuch.

2. Capitel
Zweites Capitel.
Die Vergangenheit des Landes, nach dem die Reise geht.

Die Passagiere wurden am nächsten Tage, dem 27. Januar, in der engen Hinterkoje der Brigg untergebracht. Will Halley hatte den Damen seine Cabine nicht angeboten, was deshalb wenig zu bedauern war, weil die Höhle sich ganz des Bären würdig erwies.

Um halb ein Uhr Mittags ging man mit der Ebbe unter Segel. Der Anker stieg lothrecht auf und wurde nur mit Mühe an Bord gebracht. Von Südwest wehte eine mäßige Brise. Nach und nach wurden die Segel entfaltet; die fünf Leute an Bord arbeiteten nur langsam. Wilson wollte der Mannschaft helfen, aber Halley bat ihn, sich ruhig zu verhalten und sich nicht um Etwas zu kümmern, was ihm Nichts angehe. Er war gewöhnt, allein fertig zu werden und weder Rath noch Hilfe zu beanspruchen.

John Mangles mußte über Ungeschicktheiten bei gewissen Manoeuvres manchmal heimlich lachen, aber auch er nahm sich jene Worte an, und behielt sich nur vor, dann thatsächlich, wenn auch ohne Berechtigung zu interveniren, wenn die Ungeschicktheit der Besatzung die Sicherheit des Schiffes gefährden sollte.


Abel Tasman von Neu-Seeländern angegriffen. (S. 515.)

Doch wurden mit der Zeit und den Armen der fünf Matrosen, welche die Flüche des Masters anfeuerten, die Segel beigesetzt. Der Macquarie stach in's hohe Meer mit den vollen unteren Segeln und Backbordhalsen. Später wurden noch die Reff- und Focksegel gehißt. Aber trotz dieses Aufwandes von Leinwand kam [511] die Brigg nur langsam vorwärts. Durch ihre am Vordertheil zu bauchige und an den Seitenwänden zu sehr erweiterte Form, so wie durch die Schwere des Hintertheiles wurde sie zum schlechten Segler, zum wahren Typus eines »Holzschuhes«.


Am 6. October 1769 erschien der berühmte Cook. (S. 516.)

[512]

Doch man mußte sich damit begnügen. Zum Glücke mußte die Rhede von Auckland, so schlecht auch der Macquarie segelte, in fünf, höchstens sechs Tagen erreicht sein.

Um sieben Uhr Abends verschwanden die Küsten Australiens und das Leuchtfeuer von Eden dem Blicke. Bei dem ziemlich unruhigen Meere arbeitete das Schiff stark und fiel schwerfällig in die Höhlungen der Wellen. Die Reisenden bekamen heftige Stöße, welche den Aufenthalt in der Koje sehr peinlich machten. Auf dem Verdecke konnten sie aber wegen strömenden [513] Regens nicht bleiben. Sie sahen sich demnach zu strenger Einschließung verurtheilt.

Jeder überließ sich nun seinen eigenen Gedanken und sprach wenig Höchstens wechselten Lady Helena und Mary Grant einige Worte. Lord Glenarvan hielt nicht Stand. Er ging ab und zu, während der Major unbeweglich verharrte.

John Mangles ging mit Robert von Zeit zu Zeit nach dem Verdecke hinauf, um das Meer zu beobachten. Paganel endlich murmelte in seiner Ecke unbestimmte und unzusammenhängende Worte.

Wovon träumte der würdige Geograph? Von Neu-Seeland, an welches jetzt das Schicksal ihn verschlug. Er vergegenwärtigte sich dessen ganze Geschichte, und die Vergangenheit dieses unheilvollen Landes trat ihm vor die Augen.

Gab es denn aber in dieser Geschichte eine Thatsache, ein Ereigniß, das die Entdecker dieser Inseln jemals berechtigt hätte, sie für einen Continent anzusehen? Konnte ein Geograph oder Seemann der neueren Zeit ihnen diesen Namen beilegen? Man erkennt, daß Paganel immer noch auf das Document zurückkam, es war ihm das zur fixen Idee geworden. Nach Patagonien und Australien heftete sich seine Einbildung, die durch ein Wort gereizt wurde, an Neu-Seeland. Aber ein Punkt, ein einziger, hielt ihn auf diesem Wege auf.

»Contin ... contin ..., wiederholte er immer, bedeutet doch trotz alledem ›Continent‹!«

Er verfolgte im Gedächtniß die Seefahrer, welche diese beiden Inseln in den australischen Meeren erforschten.

Am 13. December 1642 landete der Holländer Tasman, nachdem er Vandiemensland entdeckt hatte, an den noch unbekannten Ufern Neu-Seelands. Einige Tage segelte er längs der Küste hin und am 17. fuhren seine Schiffe in eine große Bai ein, welche das Ende einer schmalen, zwischen zwei Inseln verlaufenden Durchfahrt bildete.

Die nördliche Insel war Ika-na-Maoui, neuseeländische Worte, welche »der Fisch des Mauwi« bedeuten. Die südliche war »Tawaï-Pouna-Mou«, d.h. der Wallfisch, welcher Nephriten hervorbringt. 1 [514] Abel Tasman sandte seine Boote an's Land, und diese kamen in Begleitung zweier Piroguen voll lärmender Eingeborener zurück. Diese Wilden waren von mittler Größe, brauner und gelber Haut mit vorstehenden Knochen, hatten eine rauhe Stimme und schwarzes Haar, das auf dem Kopfe nach japanesischer Art gebunden und von einer großen weißen Feder überragt war.

Dieses erste Zusammentreffen von Europäern und Eingeborenen schien dauernde freundschaftliche Beziehungen zu versprechen. Am folgenden Tage aber, gerade als eines von Tasman's Booten einen dem Lande näher liegenden Ankerplatz aufsuchen wollte, wurde es durch sieben Piroguen, die mit einer großen Menge Eingeborener bemannt waren, ungestüm angegriffen. Das Canot schlug um und schöpfte Wasser. Der Quartiermeister, der es befehligte, wurde zuerst von einem grobspitzigen Spieße am Halse getroffen. Er fiel in's Meer. Vier von seinen sechs Begleitern wurden getödtet. Die beiden Uebrigen und der Quartiermeister, welche nach den Schiffen zu schwammen, konnten aufgefischt und gerettet werden.

Nach diesem traurigen Vorkommnisse ließ Tasman Segel beisetzen und beschränkte seine Wiedervergeltung darauf, daß er Jenen einige Flintenkugeln entgegen jagen ließ, die sie übrigens voraussichtlich nicht erreichten. Er verließ die Bai, der darnach der Name der »Massacre-Bai« verblieben ist, segelte an der Küste nach Norden hinauf und ankerte am 5. Januar nahe der nördlichen Spitze. An diesem Punkte verhinderte ihn nicht nur die heftige Brandung, sondern auch das feindselige Benehmen der Eingeborenen, Wasser einzunehmen, und er verließ definitiv dieses Land, dem er den Namen »Statenland«, zu Ehren der General-Staaten beilegte.

Wirklich vermeinte der holländische Seefahrer, daß jene an die gleichnamigen Inseln grenzten, die im Osten von Feuerland, an der Südspitze Amerikas entdeckt worden waren. Er glaubte, den »großen südlichen Continent« gefunden zu haben.

»Aber, sagte sich Paganel, was ein Seefahrer des siebenzehnten Jahrhunderts einen ›Continent‹ nennen konnte, das kann ein solcher des neunzehnten Jahrhunderts nicht ebenso nennen. Ein solcher Irrthum ist nicht anzunehmen! Nein, hierin liegt noch Etwas, was mir bis jetzt entgeht!«

Ueber ein Jahrhundert lang wurde Tasman's Entdeckung vergessen, und Neu-Seeland schien für Niemand mehr vorhanden zu sein, als es ein französischer [515] Seefahrer, Surville, unter 35°37' zu Gesicht bekam. Ueber die Ureinwohner hatte er sich nicht gerade zu beklagen, die Winde waren aber sehr heftig und es entwickelte sich ein Sturm, während dessen die Schaluppe, welche die Kranken trug, an das Ufer der Bai du Réfuge geworfen wurde. Dort nahm ein Häuptling, Namens Naguï-Nom, die Franzosen ganz gut auf und verpflegte sie in seiner eigenen Hütte. Alles ging ganz gut, bis ein Boot Surville's gestohlen wurde. Vergebens forderte es Surville zurück und glaubte für diesen Diebstahl ein Dorf, welches er völlig niederbrannte, bestrafen zu müssen. Eine schreckliche und ungerechte Rache, die den blutigen Repressalien, deren Schauplatz Neu-Seeland noch werden sollte, nicht unähnlich war.

Am 6. October 1769 erschien der berühmte Cook an diesen Küsten. Mit seinem Schiffe »The Endeavour« ankerte er in der Bai von Taoué-Roa, und suchte sich die Bewohner durch gute Behandlung zu verbinden. Um diese Leute aber gut zu behandeln, mußte man damit beginnen, sie zu erlangen. Cook zögerte nicht, zwei bis drei gefangen nehmen zu lassen und ihnen seine Wohlthaten aufzunöthigen.

Diese wurden dann mit Geschenken und Liebenswürdigkeiten überhäuft, sofort an's Land zurückgesendet. Bald kamen, verlockt durch ihre Berichte, mehrere Eingeborene freiwillig an Bord und machten Tauschgeschäfte mit den Europäern. Einige Tage später wandte sich Cook nach der Hawkes-Bai, einer mächtigen Ausbuchtung an der Ostküste der nördlichen Insel. Dort traf er auf kriegerische, lärmende und herausfordernde Eingeborene. Ihre Demonstrationen gingen so weit, daß es nothwendig wurde, sie durch einen Kartätschenschuß zurück zu weisen.

Am 20. October ankerte der Endeavour in der Toku-Malou-Bai, an der eine friedfertige Bevölkerung von zweihundert Seelen lebte. Die Schiffsbotaniker machten lohnende Ausflüge in das Land, und die Eingeborenen brachten sie in ihren eigenen Piroguen an das Ufer. Cook besuchte zwei durch Pallisaden, Brustwehren und doppelte Gräben vertheidigte Dörfer, welche tiefere Kenntnisse im Lagerbau erkennen ließen. Das bedeutendste dieser Forts lag auf einem Felsen, der bei der Hochfluth eine vollständige Insel wurde. Ja noch mehr als eine Insel, denn nicht nur umspülten es die Wogen, sondern sie brausten auch durch ein natürliches, sechzig Fuß hohes Joch, auf welchem dieser unbesteigliche »Pah« lag.

[516] Am 31. März gab Cook, nachdem er in fünf Monaten eine reiche Ernte an merkwürdigen Gegenständen, einheimischen Pflanzen und ethnographischen und ethnologischen Documenten gehalten hatte, der Straße, welche die beiden Inseln trennt, seinen Namen und verließ Neu-Seeland. Er sollte auf seinen späteren Reisen wieder dahin zurückkommen.

Wirklich erschien der große Seeheld im Jahre 1773 wieder in der Hawkes-Bai, und war Zeuge wahrhaft cannibalischer Auftritte. Der Vorwurf, sie hervorgerufen zu haben, traf aber seine Leute. Officiere, welche am Lande die verstümmelten Gliedmaßen eines jungen Wilden gefunden hatten, brachten diese mit an Bord, »ließen sie kochen« und boten sie dann den Eingeborenen an, welche sich gierig darauf stürzten. Ach, welche traurige Phantasie, sich auf diese Weise zu Köchen einer Menschenfressermahlzeit herabzuwürdigen!

Auch auf seiner dritten Reise besuchte Cook diese Länder, welche er besonders liebte und deren hydographische Aufnahme er zu vollenden trachtete. Zum letzten Male verließ er sie am 25. Februar 1777.

Im Jahre 1791 verweilte Vancouver zwanzig Tage in der Sombre-Bai, ohne irgend welchen Vortheil für die Naturwissenschaften oder die Geographie. D'Entrecasteaux nahm im Jahre 1793 fünfundzwanzig Meilen der Küste im Norden von Ika-na-Maoui auf.

Die Kauffahrerkapitäne Hausen und Dalrympe, und später Baden, Richardson und Moody machten dort kurzen Halt, und der Doctor Savage sammelte während eines Aufenthaltes von fünf Wochen interessante Beiträge zu den Sitten der Neu-Seeländer.

In demselben Jahre, nämlich 1805, schiffte sich der Neffe des Häuptlings Rangui-Hou, der intelligente Doua-Tara, auf der in der Bai der Inseln ankernden und vom Kapitän Baden befehligten Argo mit ein.

Vielleicht liefern die Abenteuer Doua-Tara's noch einem Maori-Homer den Stoff zu einem Heldengedicht. Sie waren reich an Unglück, Ungerechtigkeiten und schlechter Behandlung; Treulosigkeit, Beschlagnahme seines Eigenthums, Schläge und Wunden erntete der arme Wilde für seine guten Dienste. Welche Gedanken mußte er sich von Leuten machen, die sich civilisirt nannten. Man brachte ihn nach London, und machte ihn zum Matrosen letzter Classe, zum Sündenbocke der Mannschaften. Ohne den Reverend Marsden wäre er fast um's Leben gekommen. Dieser Missionär interessirte sich für den jungen [517] Wilden, an dem er eine sichere Urtheilskraft, einen guten Charakter und ausgezeichnete Eigenschaften der Sanftmuth, Dankbarkeit und Leutseligkeit erkannte. Marsden ließ seinem Günstling einige Säcke Korn und landwirthschaftliche Instrumente für seine Heimat zukommen. Dieser kleine Vorrath ward ihm gestohlen. Unglück und Leiden verfolgten den armen Doua-Tara bis 1814, wo man ihn endlich wieder in dem Lande seiner Vorfahren antrifft. Er wollte nun die Früchte so vieler Schicksalsschläge pflücken, als ihn in seinem achtundzwanzigsten Lebensjahre der Tod ereilte, gerade als er sich anschickte, dieses blutdürstige Neu-Seeland zu regeneriren. Gewiß wurde die Civilisation durch diesen unersetzlichen Verlust um viele Jahre verzögert. Nichts ersetzt ja einen intelligenten und guten Mann, der in seinem Herzen die Liebe zum Guten mit der zu seinem Vaterlande verbindet.

Bis zum Jahre 1816 wurde Neu-Seeland vernachlässigt. Zu dieser Zeit bereisten Thompson, 1817 Lidiard Nicholas, 1819 Marsden verschiedene Theile beider Inseln, und 1820 hielt sich Richard Cruise, Kapitän im vierundachtigsten Infanterie-Regiment, sechs Monate hier auf, was für die Kenntniß von den Sitten der Eingeborenen von großem Vortheil war.

Im Jahre 1824 verblieb Duperrey, der Commandant der Coquille, vierzehn Tage in der Bai der Inseln, und konnte die Eingeborenen nur loben.

Nach ihm mußte sich im Jahre 1827 der Wallfahrer Mercury gegen Beraubung und Mord vertheidigen; in demselben Jahre aber wurde der Kapitän Dillon bei zweimaligem Aufenthalte sehr gastlich aufgenommen.

Im März 1827 konnte der berühmte Dumont d'Urville mehrere Nächte ungestraft und ohne Waffen unter den Eingeborenen zubringen, Geschenke und Gesänge wechseln, in den Hütten schlafen, und ohne gestört zu werden seine interessanten Aufnahme-Arbeiten verfolgen, die dem Depot der Marine so schöne Karten geliefert haben.

Dagegen hatte die von John James befehligte englische Brigg Hawes, welche die Bai der Inseln berührt und sich dann nach dem Ostcap gewendet hatte, von Seiten eines perfiden Häuptlings, Namens Enararo, viel zu leiden. Mehrere von der Besatzung starben eines schrecklichen Todes.

Nach diesen sich widersprechenden Erfahrungen, diesem Wechsel von Milde und Barbarei, ist man zu dem Schlusse genöthigt, daß die Grausamkeiten der Neu-Seeländer oft nur Repressalien waren. Gute oder schlechte Behandlung hingen von guten oder schlechten Kapitänen ab. Gewiß sind einzelne [518] ungerechtfertigte Angriffe seitens der Eingeborenen vorgekommen, aber meist waren es nur von den Europäern provocirte Acte der Rache, und zum Unglück fiel die Züchtigung auf Die zurück, welche sie nicht verdient hatten.

Nach d'Urville wurde die Ethnographie Neu-Seelands durch einen kühnen Forscher vervollständigt, der als Nomade, als wissenschaftlicher Zigeuner, zwanzigmal die ganze Erde bereiste, durch den Engländer Earle. Er besuchte die unbekannten Gegenden beider Inseln, ohne sich persönlich über die Eingeborenen zu beklagen zu haben, doch war er oft Zeuge der Menschenfresserei. Die Neu-Seeländer verzehrten sich gegenseitig mit einer widerlichen Wollust.

Das beobachtete auch der Kapitän Laplace im Jahre 1831 wieder, als er die Bai der Inseln besuchte. Schon waren die Kämpfe furchtbarer geworden, denn die Wilden handhabten die Feuerwaffen mit bemerkenswerther Sicherheit. Die früher blühenden und bevölkerten Landstriche von Ika-na-Maoui waren zu Einöden geworden. Ganze Völkerschaften waren verschwunden wie Schafheerden, nämlich gebraten und aufgegessen worden.

Die Missionäre haben vergeblich gegen diesen instinctiven Blutdurst angekämpft. Seit 1808 hat dieChurch Missionary Society ihre gewandtesten Agenten – denn das ist der für sie passende Name – nach den Hauptstationen der nördlichen Insel entsendet; die Barbarei der Neu-Seeländer zwang sie aber, die Missionen wieder aufzuheben. Allein im Jahre 1814 schifften sich Marsden, der Beschützer Doua-Tara's, Hall und King in der Bai der Inseln aus, und kauften den Häuptlingen für den Preis von zwölf eisernen Aexten ein Stück Land von zweihundert Ackern ab, welches der Sitz der anglikanischen Gesellschaft wurde.

Der Anfang war schwer, indeß respectirten die Eingeborenen das Leben der Missionäre. Sie nahmen ihre Pflege und ihre Lehren an. Einige menschenscheue Eingeborene wurden sanfter. Das Gefühl der Dankbarkeit erwachte in ihren entmenschten Herzen. Im Jahre 1824 kam es sogar vor, daß die Neu-Seeländer ihre »Ariki's«, d.h. die Geistlichen, gegen rohe Matrosen, welche sie belästigten und ihnen mit übler Behandlung drohten, vertheidigten.

Mit der Zeit blühten indessen die Missionen empor, trotz der Anwesenheit aus Port Jackson entsprungener Sträflinge, welche die eingeborene Bevölkerung demoralisirten.


[519]
Mulrady und Wilson ergreifen das Steuer. (S. 522.)

Im Jahre 1831 berichtet das »Journal de Missions évangéliques« von zwei umfangreichen Niederlassungen, die eine in Kidi-Kidi, an den Ufern des Canals, der in der Bai der Inseln in's Meer ausläuft; die andere in Paï-Hia, an den Ufern des Flusses Kawa-Kawa. Die zum Christenthume bekehrten Eingeborenen hatten unter Leitung der Arikis Straßen hergestellt, Wege durch die ungeheuren Wälder gebrochen und Brücken über die Bergströme geschlagen. Jeder Priester zog, wenn die Reihe an ihm war, aus, den entlegeneren Stämmen die civilisirende Religion zu predigen, errichtete [520] Capellen von Binsen oder Baumrinde, Schulen für die jungen Eingeborenen, und von dem Dache dieser bescheidenen Bauwerke flatterte die Fahne der Mission, die das christliche Kreuz und die Worte »Rongo-Pai« (so heißt in neuseeländischer Sprache das Evangelium) trug.

Unglücklicher Weise erstreckt sich der Einfluß der Missionäre nicht über ihre Etablissements hinaus. Die ganze umherziehende Bevölkerung entgeht ihrer Einwirkung. Der Cannibalismus ist nur bei den Christen unterdrückt, und noch jetzt dürfte man die Neubekehrten wohl keiner allzu harten Prüfung unterwerfen. Der Instinct des Blutes lebt noch in ihnen.

Im Uebrigen ist der Kriegszustand in jenen wilden Gegenden geradezu chronisch. Die Seeländer sind keine verthierten Australier, die vor der europäischen Einwanderung zurückweichen; sie widerstehen, vertheidigen sich, hassen ihre Bedränger, und eben jetzt treibt sie ein unbesiegbarer Haß gegen die englischen Emigranten in den Kampf. Die Zukunft dieser großen Insel steht auf einem Würfelfall. Entweder erwartet sie eine unmittelbare Civilisirung, oder, je nach der Entscheidung der Waffen, eine tiefe Barbarei für lange Jahrhunderte.

So hatte Paganel mit vor Ungeduld brennendem Gehirn die Geschichte Neu-Seelands seinem Geiste wieder aufgefrischt. Nichts darin gestattete aber, dieses aus zwei Inseln bestehende Land als einen Continent zu betrachten, und wenn einige Worte des Documentes auch seine Einbildung erweckt hatten, so hielten ihn die beiden Silben »contin« doch bei jeder neuen Erklärung auf dem eingeschlagenen Wege zurück.

Fußnoten

1 Später hat man erkannt, daß der ursprüngliche Name für ganz Neu-Seeland Teika-Maoui ist. Tawaï-Pouna-Mou bezeichnet nur eine Oertlichkeit der centralen Insel.

3. Capitel
Drittes Capitel.
Die Metzeleien in Neu-Seeland.

Am 31. Januar, also vier Tage nach seiner Abfahrt, hatte der Macquarie noch nicht zwei Drittheile des so schmalen Meerestheiles zwischen Australien und Neu-Seeland zurückgelegt. Will Halley bekümmerte sich sehr wenig um [521] die Manoeuvres seines Schiffes; er ließ Alles seinen Gang gehen. Nur selten ließ er sich sehen, worüber sich zu beklagen Niemandem einfiel. Selbst wenn er die ganze Zeit in seiner Cabine zugebracht hätte, so wäre darüber Nichts zu sagen gewesen, wenn der rohe Master sich nicht tagtäglich in Gin oder Brandy halb berauscht hätte. So ahmten ihm aber auch seine Matrosen gern nach, und niemals segelte wohl ein Fahrzeug mehr der Gnade Gottes überlassen, als der Macquarie aus der Twofold-Bai.

Die unverzeihliche Sorglosigkeit bedingte eine unausgesetzte Ueberwachung seitens John Mangles'. Mulrady und Wilson drehten mehr als einmal den Helmstock des Steuerruders, wenn eine falsche Stellung desselben die Brigg auf die Seite legen wollte. Ost kam Will Halley dazu und tractirte die beiden Seeleute mit einem Schwall von Flüchen. Diese wünschten nur, Jenen schnüren und für die Zeit der Ueberfahrt am Tau in den Schiffsraum hinablassen zu können. John Mangles hielt sie aber zurück und dämpfte nicht ohne Mühe ihre gerechte Entrüstung.

Immerhin machte ihn diese Lage des Schiffes befangen; um jedoch Glenarvan nicht zu beunruhigen, äußerte er sich darüber nur gegen den Major und Paganel. Mac Nabbs gab ihm, nur mit anderen Worten, denselben Rath, wie Mulrady und Wilson.

»Wenn Ihnen diese Maßregel nützlich erscheint, John, sagte Mac Nabbs, so dürfen Sie nicht zögern, das Commando, oder wenn Sie lieber wollen, die Leitung des Schiffes zu übernehmen. Dieser Trunkenbold wird, wenn wir in Auckland ausgeschifft sind, wieder Herr an seinem Bord, und mag dann kentern, wenn es ihm Spaß macht.

– Ich würde es ohne Zweifel thun, Herr Mac Nabbs, entgegnete John, wenn es unbedingt nöthig wäre. So lange wir jedoch auf offener See sind, wird etwas Wachsamkeit hinreichen; meine Matrosen und ich, wir verlassen das Verdeck nicht. Ich gestehe aber, daß ich, wenn wir uns der Küste nähern und dieser Will Halley nicht wieder zur Vernunft gekommen wäre, in große Verlegenheit kommen könnte.

– Könnten Sie da nicht den Curs bestimmen? fragte Paganel.

– Das dürfte schwierig sein, erwiderte John. Können Sie glauben, daß sich nicht einmal eine Seekarte an Bord befindet?

– Wirklich nicht?

[522] – Wirklich nicht. Der Macquarie besorgt nur die Küstenfahrt zwischen Eden und Auckland, und Will Halley ist auf diesem Meere so zu Hause, daß er keinerlei Aufnahme vornimmt.

– Er bildet sich ohne Zweifel ein, daß sein Fahrzeug den Weg schon kennt und ihn allein findet.

– O, o, fiel John Mangles ein, ich glaube nicht an Schiffe, die einen Weg allein finden, und wenn Will Halley beim Landen angetrunken sein sollte, dürfte er uns in die größte Verlegenheit setzen.

– Nun, geben wir uns der Hoffnung hin, meinte Paganel, daß er in der Nähe des Landes wieder vernünftig sein wird.

– Also würden Sie, fragte Mac Nabbs, gegebenen Falles nicht im Stande sein, den Macquarie nach Auckland zu führen?

– Ohne eine Karte von der Küste ist das unmöglich. Die steilen Ufer derselben sind ungemein gefährlich. Sie bildet, wie bei Norwegen, eine Reihe kleiner, unregelmäßiger und wunderlicher Fjorde. Risse sind da sehr zahlreich, und es gehört eine große Uebung dazu, sie zu vermeiden. Jedes Schiff, und wäre es noch so solid gebaut, wäre verloren, wenn sein Kiel gegen diese nur von wenigen Fuß Wasser bedeckten Felsen stieße.

– Und der Besatzung bliebe in einem solchen Falle kein anderer Ausweg als der, sich nach der Küste zu retten?

– Gewiß, Herr Mac Nabbs, wenn es das Wetter zuläßt.

– Eine schreckliche, verzweifelte Lage! antwortete Paganel, denn sie sind nicht gastfreundlich, die Küsten Neu-Seelands, und die Gefahren diesseit und jenseit des Ufers gleich groß.

– Sie sprechen von den Maoris, Herr Paganel, fragte John Mangles.

– Ja, mein Freund. Ihr Ruf geht durch den ganzen Stillen Ocean. Sie sind keine furchtsamen und verthierten Australier, sondern bilden eine intelligente blutdürstige Race, sind nach Menschenfleisch lüsterne Cannibalen, Menschenfresser, von denen kein Erbarmen zu erwarten ist.

– Wenn der Kapitän Grant also, sagte der Major, an den Küsten Neu-Seelands gescheitert ist, so würden Sie nicht rathen, nach ihm zu forschen?

– An den Küsten, ja, erwiderte der Geograph, denn vielleicht wären Spuren von der Britannia zu finden; aber im Innern, nein, das wäre unnütz. Jeder Europäer, der sich in diese verderblichen Gegenden wagt, fällt den [523] Maoris in die Hände; und jeder Gefangene derselben ist verloren. Ich habe meine Freunde beredet, die Pampas zu durchziehen und Australien zu durchreisen, aber niemals möchte ich sie verleiten, die Fußpfade Neu-Seelands zu verfolgen. Möge uns die Hand des Himmels führen und Gott geben, daß wir nie in die Gewalt jener wilden Eingeborenen gerathen!«

Paganel's Befürchtungen waren nur allzu gerechtfertigt. Neu-Seeland hat einen schrecklichen Ruf, und neben jedes Ereigniß, das seine Entdeckung bezeichnet, kann man auch eine blutige Illustration setzen.

Lang ist die Liste jener Opfer, die im Märtyrerbuche der Seefahrer eingetragen sind. Abel Tasman, der von seinen fünf Matrosen ermordet und verzehrt wurde, eröffnet diese blutigen Annalen des Cannibalismus. Nach ihm verfiel Kapitän Tukney und seine ganze Besatzung demselben Schicksale. An der Ostseite der Meerenge von Foveaux fanden fünf Fischer von Sidney-Cave gleichermaßen den Tod unter dem Zahne der Eingeborenen. Ferner sind noch zu erwähnen vier Mann von der Goëlette Brothers, die im Molineux-Hafen getödtet wurden, mehrere Soldaten des Generals Gates und drei Deserteure von der Mathilda, um zu dem so schmerzlich berühmten Namen des Kapitän Marion du Frêne zu kommen.

Am 11. Mai 1772, also nach der ersten Reise Cooks, ankerte der französische Kapitän Marion mit seinem Schiffe, dem Mascarin, und dem vom Kapitän Crozet befehligten Castries in der Bai der Inseln. Die heuchlerischen Neu-Seeländer bereiteten den neuen Ankömmlingen einen ausgezeichneten Empfang. Sie zeigten sich sogar furchtsam, und es bedurfte mancher Geschenke, Liebesdienste, eines täglichen Umganges und längeren Austausches von Freundlichkeiten, um sie an Bord einheimischer zu machen.

Ihr Häuptling, der intelligente Takouri, gehörte, wenn man Dumont d'Urville vertrauen darf, dem Stamme der Wangaroas an, und war ein Verwandter eines von Surville, zwei Jahre vor der Ankunft des Kapitän Marion, verrätherischer Weise entführten Eingeborenen.

In einem Lande, wo die Ehre von jedem Maori für erlittenen Schimpf eine blutige Genugthuung verlangt, konnte Takouri die seinem Stamme angethane Beleidigung nicht vergessen. Geduldig erwartete er die Ankunft eines europäischen Schiffes, überlegte seine Rache und führte sie mit wilder Kaltblütigkeit durch.

Nachdem er zuerst bei dem Anblick der Franzosen Furcht geheuchelt hatte, [524] unterließ Takouri Nichts, sie in trügerische Sicherheit einzuschläfern. Seine Kameraden und er verbrachten oft die Nacht an Bord der Schiffe. Sie brachten ausgewählte Fische, ihre Frauen und Töchter begleiteten sie. Bald lernten sie die Namen der Officiere kennen und luden sie ein, ihre Dörfer zu besuchen. Marion und Crozet durchstreiften so, von diesem Entgegenkommen verführt, die ganze von 4000 Bewohnern bevölkerte Küste.

Ohne Waffen liefen die Eingeborenen ihnen entgegen und suchten ihnen das vollständigste Zutrauen einzuflößen.

Da Kapitän Marion sich in der Bai der Inseln aufhielt, hatte er die Absicht, die Bemastung des Castries, welche durch die letzten Stürme sehr beschädigt war, auszuwechseln. Er untersuchte demnach das Innere des Landes und fand am 23. Mai, zwei Stunden vom Ufer, einen prächtigen Cedernwald, der in Schußweite von einer eine Stunde von den Fahrzeugen entfernten Bai lag.

Dort machte man eine Anlage, wo zwei Dritttheile der Mannschaften, mit Aexten und anderen Werkzeugen versehen, daran gingen, die Bäume zu fällen und Wege zur Bai hin herzustellen. Ferner wurden noch zwei andere Stellen ausgewählt, die eine auf der kleinen Insel Motou-Aro in der Mitte des Hafens, wohin die Kranken der Expedition übergeführt wurden, ebenso wie die Schmiede und Böttcher; die andere auf dem festen Lande, an der Küste des Meeres und anderthalb Stunden von den Schiffen entfernt; die Letztere stand mit der Lagerstätte der Zimmerleute in Verbindung. Auf allen diesen Punkten waren die kräftigen und zuvorkommenden Wilden bei der Hand, den Seeleuten bei ihren verschiedenen Arbeiten zu helfen.

Bis dahin hatte der Kapitän Marion indeß gewisse von der Klugheit gebotene Maßnahmen nicht unterlassen. Die Wilden kamen zwar stets unbewaffnet an Bord, aber die Schaluppen gingen nur wohlbewaffnet an's Land. Marion aber und die vertrauensseligsten seiner Officiere wurden durch das Benehmen der Eingeborenen verblendet, und der Befehlshaber ordnete die Entwaffnung der Boote an. Kapitän Crozet suchte zwar Marion stets zu überreden, diese Ordre zurückzunehmen, aber er setzte es nicht durch.

Darauf hin verdoppelten sich die Aufmerksamkeiten und die Ergebenheit der Neu-Seeländer. Ihre Häuptlinge lebten mit den Officieren auf vertrautestem Fuße. Manchmal brachte Takouri seinen Sohn mit an Bord und ließ ihn in den Cabinen schlafen. Am 8. Juni wurde Marion, bei einem [525] feierlichen Besuche auf dem Lande, zum »obersten Häuptling« des ganzen Landes ernannt und sein Haar als Ehrenbezeichnung mit vier weißen Federn geschmückt.

So verflossen dreiunddreißig Tage seit Ankunft der Schiffe in der Bai der Inseln. Die Arbeiten für die Bemastung gingen vorwärts. Die Wasserbehälter füllten sich von einem Wasserplatze auf Motou-Aro. Kapitän Crozet leitete persönlich die Arbeit der Zimmerleute, und die gute Hoffnung, das Unternehmen zum besten Ende zu führen, schien mehr als je begründet.

Am 12. Juni trennte sich das Boot des Commandanten wegen einer nahe dem Dorfe Takouri's beabsichtigten Fischerpartie von den anderen. Marion schiffte sich mit Vaudricourt und Lehoux, zwei jungen Officieren, ferner mit einem Volontär, dem Rüstmeister und zwölf Matrosen darauf ein. Takouri begleitete sie nebst fünf anderen Häuptlingen. Nichts ließ die schreckliche Katastrophe ahnen, welche sechzehn von jenen siebenzehn Europäern betreffen sollte.

Das Canot stieß ab, lief gegen das Land und kam den Schiffen bald außer Sicht.

Abends kam Kapitän Marion nicht zurück, um an Bord zu schlafen, doch beunruhigte sein Ausbleiben Niemand. Man nahm an, daß er den Zimmerplatz besucht und dort übernachtet haben werde.

Am anderen Morgen um fünf Uhr fuhr die Schaluppe des Castries wie gewöhnlich nach der Insel Motou-Aro, um Wasser zu holen, und kam ohne jeden Unfall zurück.

Um neun Uhr bemerkte der wachthabende Matrose des Mascarin einen Menschen, der ganz erschöpft auf die Schiffe zuschwamm. Ein ihm zu Hilfe gesendetes Boot brachte denselben an Bord.

Es war Turner, einer der Bootsleute des Kapitän Marion. In der Seite hatte er eine von zwei Lanzenwürfen herrührende Wunde und kehrte allein zurück von siebenzehn Mann, die Tags vorher das Schiff verlassen hatten.

Man fragte ihn aus, und bald waren alle Einzelheiten dieses fürchterlichen Dramas bekannt.

Um sieben Uhr morgens war das Boot des unglücklichen Marion bei dem Dorfe an's Land gegangen. Fröhlich kamen die Wilden den Besuchern entgegen und trugen die Officiere und die Matrosen, die sich bei der Ausschiffung [526] nicht durchnässen wollten, auf ihren Schultern. Dann trennten die Franzosen sich Einer von dem Anderen.

Sofort stürzten sich die Wilden, die mit Lanzen, Keulen und Beilsteinen bewaffnet waren, Zehn gegen Einen, auf dieselben und ermordeten sie. Der Matrose Turner vermochte, trotzdem er von zwei Lanzenwürfen verwundet war, seinen Feinden zu entfliehen und sich zunächst im Gestrüpp zu verstecken, um dort Zeuge der entsetzlichsten Scheußlichkeiten zu sein. Die Wilden rissen den Todten die Kleider herunter, öffneten ihnen den Leib, hackten sie in Stücke ...

In diesem Augenblicke stürzte sich Turner unbemerkt in's Meer und wurde, dem Tode nahe, von dem Boote des Mascarin aufgenommen.

Dieses Ereigniß bestürzte die beiderseitigen Schiffsmannschaften auf's Höchste. Ein Schrei nach Rache erscholl. Bevor man aber die Todten rächen konnte, mußte man die Lebenden retten. Drei Abtheilungen waren am Lande, und Tausende vom Blut erhitzter Wilder, Cannibalen, welche Appetit bekommen hatten, umringten diese.


Sofort feuerten vier Matrosen, die besten Schützen. (S. 529.)

In Abwesenheit des Kapitän Crozet, der die Nacht auf dem Zimmerplatze zugebracht hatte, ordnete Duclesmer, der erste Schiffsofficier, die dringendsten Maßregeln an. Die Schaluppe des Mascarin wurde mit einem Officier und einer Abtheilung Soldaten abgesendet. Dieser Officier sollte vor Allem den Zimmerleuten zu Hilfe eilen. Er fuhr ab, längs der Küste hin, sah das auf den Strand getriebene Boot des Kapitän Marion und schiffte sich aus.

Kapitän Crozet, der, wie erwähnt, nicht an Bord gewesen war, wußte noch nichts von der Blutthat, als er gegen zwei Uhr Nachmittags das Detachement anrücken sah. Er witterte Unheil, ging ihm entgegen und hörte das Vorgefallene. Er verbot es, seinen Leuten hier davon Mittheilung zu machen, um diese nicht entarten zu lassen.

Die Wilden hatten, zu einzelnen Trupps vereinigt, alle Höhen besetzt. Kapitän Crozet ließ die nöthigsten Werkzeuge mitnehmen, die andern vergraben, zündete die Schuppen an und begab sich mit ungefähr sechzig Mann auf den Rückzug.

Die Eingeborenen folgten ihm unter dem Rufe: »Takouri mate Marion 1 Sie hofften die Matrosen zu erschrecken, wenn sie ihnen den Tod ihres [527] Führers kund machten. Diese wollten sich in der Wuth auf jene Bösewichte stürzen, so daß sie Kapitän Crozet kaum zurückhalten konnte.

Zwei Stunden wurden zurückgelegt. Das Detachement erreichte das Ufer und schiffte sich mit den Leuten von der zweiten Abtheilung in den Schaluppen ein. Während dieser ganzen Zeit rührte sich wohl ein Tausend Eingeborener, die sich zur Erde gesetzt hatten, nicht von der Stelle. Sobald aber die Schaluppen in See stachen, begannen die Steine zu fliegen. Sofort schossen [528] vier Matrosen, die gute Schützen waren, nach einander alle Häuptlinge nieder, zur größten Bestürzung der Eingeborenen, welche die Wirkung der Feuerwaffen noch nicht kannten.


Glenarvan blieb allein auf dem Verdeck. (S. 532.)

Kapitän Crozet ging nach dem Mascarin und sandte sogleich die Schaluppe nach der Insel Motou-Aro. Eine Abtheilung Soldaten richtete sich auf der Insel ein, um die Nacht dort zuzubringen, und die Kranken wurden wieder an Bord geschafft. Andern Tags kam eine zweite Abtheilung, um den Posten [529] zu verstärken. Es galt, die Insel von Wilden, welche sie unsicher machten, zu säubern und die Füllung der Wasserbehälter zu vollenden. Auf Motou-Aro war ein Dorf mit dreihundert Einwohnern. Die Franzosen griffen es an. Sechs Häuptlinge wurden getödtet, der Rest der Eingeborenen mit dem Bajonnette niedergemacht und das Dorf verbrannt.

Indessen konnte der Castries nicht ohne Bemastung in's Meer gehen, und da Crozet auf die Bäume aus dem Cedernwalde verzichten mußte, begnügte er sich mit zusammengesetzten Masten. Die Wassereinnahme wurde indessen fortgesetzt. Ein Monat verstrich. Die Einwohner machten mehrere erfolglose Versuche, die Insel Motou-Aro wieder zu gewinnen. Wenn ihre Piroguen in die Schußweite der Schiffe kamen, trieb man sie mit Kanonen wieder davon.

Endlich waren die Arbeiten beendet. Es handelte sich nun darum, zu wissen, ob nicht eines der sechzehn Opfer dem Blutbade entronnen wäre, und die Uebrigen zu rächen. Die Schaluppe begab sich mit einer starken Abtheilung Officiere und Soldaten nach dem Dorfe Takouri's. Bei ihrer Annäherung entfloh der verrätherische, feige Häuptling, der den Mantel des Kapitän Marion auf den Schultern trug. Die Hütten seines Dorfes wurden sorgfältig durchsucht. In seiner eigenen fand man einen Menschenschädel, der erst kürzlich gekocht worden war und der noch den Eindruck der Zähne des Cannibalen zeigte. Ein menschlicher Schenkel war von einem hölzernen Stocke durchbohrt. Ein Hemd mit blutigem Halse wurde als das von Marion wiedererkannt; ferner fanden sich die Kleider und Pistolen des jungen Vaudricourt, die Waffen und die zerrissenen Kuppelriemen aus dem Boote; weiterhin in einem andern Dorfe gereinigte und gekochte menschliche Eingeweide.

Diese unwiderleglichen Proben des Blutbades und der Anthropophagie wurden gesammelt und die menschlichen Ueberreste feierlich bestattet. Dann wurden die Dörfer Takouri's und Piki-Ove's, seines Mitschuldigen, den Flammen überliefert. Am 14. Juli 1772 verließen beide Schiffe diese unheilvolle Gegend.

Das war die Katastrophe, deren Erinnerung im Geiste jedes Reisenden lebendig sein sollte, wenn er den Fuß auf die Ufer Neu-Seelands setzt. Der ist ein unkluger Kapitän, welcher sich derlei Erfahrungen nicht zu Nutze macht. Die Neu-Seeländer bleiben immer perfid und immer Anthropophagen. [530] Cook erkannte das bei seiner zweiten Reise, im Jahre 1773, sehr wohl.

Die Schaluppe eines seiner Schiffe, der Aventure, commandirt vom Kapitän Furneaux, hatte sich am 17. December an's Land begeben, um wilde Kräuter zu sammeln, kam aber nicht zurück. Ein Midshipman und neun Mann waren darauf gewesen. Kapitän Furneaux sandte beunruhigt Lieutenant Burney, um sie aufzusuchen. Burney gelangte nach dem Landungsplatze und fand dort, wie er sagt, »das Bild eines Blutbades und einer Barbarei, von dem man nicht ohne Entsetzen sprechen kann. Köpfe, Eingeweide, Lungen mehrerer unserer Leute lagen da auf dem Sande umher, und nahe dabei verzehrten mehrere Hunde noch andere derartige Ueberbleibsel.«

Zum Schluß dieser blutigen Liste sei noch das Schiff Brothers erwähnt, das im Jahre 1815 von den Neu-Seeländern angegriffen wurde, und die ganze im Jahre 1820 ermordete Mannschaft des Boyd, Kapitän Thompson. Endlich beraubte (am 1. März 1829 in Valkitaa) der Häuptling Enarao die englische Brigg Hawes von Sidney. Seine Cannibalenbande ermordete mehrere Matrosen, ließ die Leichen kochen und verzehrte sie.

So war dieses Neu-Seeland, nach welchem der Macquarie steuerte, und das mit einer verdummten Mannschaft und unter Leitung eines Trunkenboldes.

Fußnoten

1 Takouri hat Marion getödtet.

4. Capitel
Viertes Capitel.
Die Klippen.

Diese schwierige Ueberfahrt verlängerte sich jedoch. Am 2. Februar, sechs Tage nach seiner Abfahrt, hatte der Macquarie noch immer nicht das Gestade von Auckland in Sicht. Der Wind war zwar gut und blies beständig aus Süd-West, aber die Strömungen waren ihm hinderlich und die Brigg kam deshalb nur langsam vorwärts. Das unruhig und stürmisch wogende Meer überfluthete sein Verdeck, sein ganzer Bau krachte und kaum erhob es sich aus [531] der Tiefe der Sturzwellen. Das eingezogene Takelwerk ließ den Masten freies Spiel, so daß sie bei jeder schwankenden Bewegung erschüttert wurden.

Glücklicherweise setzte Will Halley, saumselig wie er war, nicht alle Segel bei, denn das ganze Mastwerk wäre unvermeidlich zertrümmert worden. John Mangles hoffte wohl, daß dieses elende Fahrzeug, wenn auch einem Wrack ähnlich, doch den Hafen ohne jeden weiteren Unfall erreichen werde, indeß es schmerzte ihn, seine Gefährten an Bord dieser Brigg so schlecht untergebracht zu sehen.

Weder Lady Helena noch Mary Grant beklagten sich, obwohl ein beständiger Regen sie nöthigte, in dem Zwischendeck zu bleiben. Dort waren ihnen besonders der Mangel an Luft und die Stöße des Schiffes lästig. Und deshalb kamen sie oft auf das Deck, kühn der Ungunst des Wetters trotzend, bis unerträgliche Windstöße sie zwangen, wieder hinabzusteigen. Dann zogen sie sich in den engen Raum zurück, der viel mehr geeignet war, Waaren zu beherbergen, als Passagiere, und besonders weibliche.

Ihre Freunde suchten sie wohl zu zerstreuen. Paganel gab sich Mühe, die Zeit mit seinen Geschichten zu vertreiben, aber es wollte ihm nur wenig glücken. Die auf dieser Rückfahrt ohnedies erschütterten Gemüther waren vollständig entmuthigt. So sehr früher seine geographischen Beschreibungen der Pampas oder Australiens interessirten, so gleichgiltig und kühl ließen jetzt seine Bemerkungen und Gedanken über Neu-Seeland. Uebrigens fühlte man nach diesem neuen Lande traurigen Angedenkens keinen besonderen Zug; ohne Ueberzeugung, nicht freiwillig, fügte man sich dem Drang der Verhängnisse.

Von allen Passagieren des Macquarie war Lord Glenarvan am meisten zu beklagen. Man sah ihn selten in dem Zwischendecke; er konnte sich nicht lange ruhig verhalten. Seine nervöse, überreizte Natur konnte sich nicht an eine Einkerkerung zwischen vier engen Wänden gewöhnen. Am Tage, ja selbst in der Nacht, blieb er auf dem Verdeck, unbekümmert um den strömenden Regen und die Sturzwellen, bald mit den Ellenbogen an die Schutzwehr gelehnt, bald mit einer fieberhaften Heftigkeit auf- und abschreitend. Seine Augen schweiften unaufhörlich über den weiten Raum hinaus, den er während der nur kurzen, ruhigen Augenblicke mit seinem Fernrohr unablässig überblickte. Er schien diese stummen Fluthen zu befragen, und hätte den Nebel, welcher den Horizont verschleierte, die sich thürmenden Wolkenschichten gern mit einem [532] Ruck zerrissen. Er konnte die Hoffnung nicht aufgeben, und in seinen Gesichtszügen lag der Ausdruck eines herben Schmerzes.

Es war ein energischer Mann, bis jetzt glücklich und vielvermögend, den auf einmal Kraft und Glück verließen.

John Mangles verließ ihn nicht, sondern ertrug an seiner Seite alles Ungemach des stürmischen Wetters. An diesem Tage erforschte Glenarvan überall, wo eine Oeffnung im Nebel sich zeigte, den Horizont mit ganz besonderer Ausdauer und Hartnäckigkeit.

John näherte sich ihm mit der Frage: »Suchen Ew. Herrlichkeit das Land?« Glenarvan machte mit dem Haupte ein verneinendes Zeichen. – »Und doch, fuhr der junge Kapitän fort, müssen Sie Sehnsucht danach haben, diese Brigg zu verlassen. Seit sechsunddreißig Stunden schon sollten wir die Feuer von Auckland in Sicht haben.«

Glenarvan antwortete nicht. Noch immer blickte er hin, und eine Minute lang blieb sein Fernrohr unverwandt am Horizont nach der Windseite des Schiffes zu haften. »Nicht dort ist das Land, sagte John Mangles. Möchte Ew. Herrlichkeit vielmehr nach dem Steuerbord hinauslugen.«

– »Warum, John? antwortete Glenarvan. Ich suche nicht das Land!

– Was denn, Mylord?

– Meine Yacht, meinen Duncan! erwiderte zornig Glenarvan. Dort muß er sein, in jener Gegend, dort muß er das Meer durchfurchen, dort das traurige Handwerk des Piraten treiben. Ja, dort ist er, sage ich Dir, John, dort auf jener Schiffsroute zwischen Australien und Neu-Seeland. Und ich habe eine Ahnung, daß wir ihm begegnen werden!

– Gott bewahre uns vor solcher Begegnung, Mylord!

– Warum, John?

– Ew. Herrlichkeit vergessen unsere Lage! Was sollten wir auf dieser Brigg anfangen, wenn der Duncan auf sie Jagd machte. Wir könnten nicht einmal fliehen.

– Fliehen, John?

– Ja, Mylord! Wir würden es vergeblich versuchen. Wir würden seine Beute werden, würden der Gnade dieser Elenden überliefert sein, und Ben Joyce hat bewiesen, daß er vor einem Verbrechen nicht zurückschreckt. Unser Leben ist um einen billigen Preis zu haben, wir könnten uns eben nur bis [533] zum Tode vertheidigen. Und was dann? Denken Sie, Mylord, an Lady Glenarvan, denken Sie an Mary Grant.

– Arme Frauen! murmelte Glenarvan. John, mein Herz ist gebrochen, und zuweilen fühle ich, wie die Verzweiflung es erfaßt. Es scheint mir dann, daß neue Katastrophen uns erwarten, daß der Himmel sich gegen uns erklärt hat. – Ich habe Furcht.

– Sie, Mylord?

– Nicht für mich, John, sondern für Diejenigen, welche ich liebe, für Die, welche auch Du liebst!

– Beruhigen Sie sich, Mylord, antwortete der junge Kapitän. Wir haben nichts zu fürchten, der Macquarie läuft schlecht, aber er läuft. Will Halley ist ein roher Mensch, aber ich bin da, und wenn die Nähe des Landes mir gefährlich erscheint, werde ich das Schiff auf die hohe See hinauslenken. Von dieser Seite also droht uns wenig oder gar keine Gefahr. Aber Gott mag uns davor bewahren, Bord an Bord mit dem Duncan zu liegen, und wenn Ew. Herrlichkeit ihn aufzufinden bemüht ist, so mag es nur geschehen, um ihn zu vermeiden, ihn zu fliehen.«

John Mangles hatte Recht. Das Zusammentreffen mit dem Duncan wäre für den Macquarie verhängnißvoll gewesen; und besonders in diesem abgelegenen, öden Wasser, das die Piraten ohne jede Gefahr durch suchen konnten.

An jenem Tage jedoch erschien die Yacht nicht, und so nahte die sechste Nacht seit der Abfahrt aus der Twofold-Bai heran, ohne daß die Furcht John Mangles' sich bestätigt hätte.

Und doch sollte diese Nacht furchtbar werden. Plötzlich fast trat die Dunkelheit um sieben Uhr Abends ein, der Himmel sah drohend aus. Der Instinct des Seemannes, der doch die Oberhand über die thierische Stumpfheit des Trunkenen gewann, wurde bei Will Halley wach. Er verließ seine Cabine, rieb sich die Augen, und schüttelte seinen großen, rothen Kopf. Dann that er einen mächtigen Athemzug, um Luft einzuschlürfen, wie ein Anderer etwa ein großes Glas Wasser hinunterstürzt, um sich zu erfrischen, und prüfte das Mastwerk.

Der Wind wurde frischer, sprang in einer Viertel-Wendung nach Westen um und blies nun voll nach der seeländischen Küste hin.

Will Halley rief seine Leute unter lauten Flüchen, ließ Topp- und Bramsegel [534] einziehen und das Takelwerk für die Nacht ordnen. John Mangles billigte es, ohne ein Wort zu sagen. Er hatte darauf verzichtet, sich mit dem großsprecherischen Seemann in ein Gespräch einzulassen. Aber weder Glenarvan noch er verließen das Deck. Zwei Stunden später trat eine starke Brise ein. Will Halley ließ das Marssegel einreffen. Das Manoeuvre wäre für fünf Männer schwer gewesen, wenn der Macquarie nicht eine doppelte Segelstange nach amerikanischem System gehabt hätte. In der That genügte es, die obere Raae einzuziehen, um das Marssegel fast ganz zu reffen.

Zwei Stunden verflossen. Das Meer stieg. Der Macquarie fühlte in seinem Unterbau Stöße, welche glauben ließen, daß sein Kiel über Felsen schleifte. Das war zwar nicht der Fall, aber dieser massige Rumpf hob sich nur schwer mit der Welle, und die rückschlagenden Wogen spülten beträchtliche Wassermassen hinein. Das Boot, welches in den Tauen am Backbord hing, verschwand in einer mächtigen Woge.

John Mangles ließ sich nicht beunruhigen. Jedes andere Schiff würde diese übrigens wenig gefährlichen Sturzwellen leicht überwältigt haben. Aber mit diesem schweren Fahrzeuge mußte man fürchten, geradezu unterzugehen, denn das Verdeck wurde bei jeder kommenden Welle überfluthet, und diese ab-und zuströmende Wassermenge konnte, da sie durch Abzugsrinnen nicht schnell genug Abfluß fand, das Schiff in die Tiefe versenken. Es wäre klug gewesen, um diesem Unfall vorzubeugen, das Schanzwerk mit Beilhieben zu zertrümmern, und so das Abfließen des Wassers zu erleichtern. Aber Will Halley weigerte sich, diese Vorsichtsmaßregel zu ergreifen.

Es drohte dem Macquarie überdies eine größere Gefahr, und ohne Zweifel war keine Zeit mehr, sie zu verhindern.

Gegen halb zwölf Uhr vernahmen John Mangles und Wilson, welche Wache hielten, plötzlich ein ungewöhnliches Geräusch. Ihr seemännischer Instinct erwachte. John erfaßte die Hand des Matrosen.

»Die Brandung! rief er ihm zu.

– Ja, erwiderte Wilson. Die Wellen brechen sich am Ufer.

– Auf zwei Kabellängen höchstens?

– Höchstens. Das Land ist da!«

John beugte sich über die Verschanzung, betrachtete die düstern Wogen und rief:

»Das Senkblei! Wilson! Das Senkblei!«

[535] Der Kapitän, der sich am Bugspriet befand, schien seine Lage gar nicht zu ahnen. Wilson erfaßte die Leine des Bleies und schwang sich schnell in die Rüsten des Fockmastes. Von da warf er das Loth aus, die Leine lief durch seine Finger. Bei dem neunten Knoten stand das Blei still.

»Drei Lachter! rief Wilson.

– Kapitän, schrie John, indem er zu Will Halley lief, wir sind auf den Klippen.«

Sah er nun Halley die Schultern zucken oder nicht, genug er stürzte nach dem Steuerruder und drückte den Helmstock nieder, während Wilson das Blei los ließ, um die Brassen des großen Marssegels aufzuziehen und so das Schiff vor den Wind zu drehen. Der Matrose, welcher steuerte, wurde gewaltig zurückgestoßen, ohne sich diesen plötzlichen Angriff erklären zu können.

»Vor den Wind! Vieren, Vieren!« rief der junge Kapitän, während er sich anstrengte, das Schiff von den Rissen loszumachen.

Während einer halben Minute verlängerte sich die Windvierung des Steuerbords, und trotz der Dunkelheit der Nacht bemerkte John eine tosende Wogenlinie, welche, zwei Lachter vom Schiffe entfernt, sich in weißem Streife dahinzog.

In diesem Augenblicke wurde Will Halley die ganze drohende Gefahr klar, er verlor den Kopf. Seine unzusammenhängenden Worte, seine sich widersprechenden Befehle zeugten überdies, daß das kalte Blut diesem stupiden Trunkenbold fehlte. Er war erstaunt über die Nähe des Landes, welches nun auf einmal nur acht Meilen unter dem Winde entfernt war, während er es in einer Entfernung von dreißig bis vierzig vermuthete. Die Strömungen hatten diesen erbärmlichen Menschen, der eben nur Routinier war, ganz aus seiner gewöhnlichen Bahn herausgerissen und unversehens erfaßt.

Indeß das schnelle Manoeuvre John Mangles' hatte soeben den Macquarie von den Klippen entfernt.


Der Fockmast bricht. (S. 538.)

Aber John kannte gleichwohl seine Position nicht, vielleicht war er in einen förmlichen Riffgürtel hineingedrängt. Der Wind blies voll aus Westen, und bei jeder schwankenden Bewegung konnte man aufrennen. Und in der That, das Getöse der Brandung verdoppelte sich vom Steuerbord aus nach der Spitze zu. Man mußte noch mehr vor den Wind drehen. John ließ die Raaen nach und braßte möglichst scharf.

Die Klippen mehrten sich unter dem Vordersteven der Brigg, und es [536] wurde nöthig, noch mehr vor den Wind zu wenden, um die offene See zu gewinnen. Würde dieses Manoeuvre mit einem Schiff von so schlechtem Gleichgewicht, unter einer theilweise zerrissenen Takelage auch glücken? Das war ungewiß, doch man mußte es versuchen.

»Den Helmstock herunter, ganz!« schrie John Mangles Wilson zu.

Der Macquarie begann sich der neuen Klippenreihe zu nähern. Und bald schäumte das Meer auf, so oft sich seine Wogen an den Felsen brachen.

Das war ein unbeschreiblicher Augenblick der Angst. Der Schaum ließ [537] die Wellen leuchtend erscheinen. Man hätte sagen können, daß ein phosphorescirendes Phänomen sie plötzlich erhellte.

Das Meer grollte und tobte, als ob es die Stimme jener alten Klippen besäße, welche durch die heidnische Mythologie als lebende Wesen dargestellt sind. Wilson und Mulrady, gebeugt unter dem Rade des Steuerruders, drückten mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers darauf. Der Helmstock schleifte dahin.

Plötzlich, ein dröhnender Stoß – der Macquarie saß auf einem Felsen fest. Die Spließgangen des Bugspriets brachen und machten so die Haltbarkeit des Fockmastes zweifelhaft. Konnte man die Vierung ohne weiteren Schaden vollenden?

Nein, denn eine kurze Windstille trat plötzlich ein, das Schiff folgte dem Winde. Seine Bewegung hörte auf einmal auf, eine mächtige Woge erfaßte es von unten, trug es vorwärts auf die Risse und dort warf sie es von sich ab mit einer furchtbaren Gewalt.

Der Fockmast mit seinem Takelwerk brach herunter. Die Brigg stieß zweimal mit ihrem Kiele auf und blieb dann unbeweglich und auf der Steuerbordseite um dreißig Grade geneigt, festsitzen.

Die Fenster der Treppenkappe waren in Scherben zertrümmert. Die Passagiere stürzten auf Deck, aber die Wellen fegten gleichsam das Verdeck von einem Ende zum anderen, und deshalb konnten sie sich dort ohne Gefahr nicht aufhalten. John Mangles, welcher wußte, daß das Schiff vollständig im Sande festsaß, bat sie, in ihre Koje zurückzukehren.

»Die Wahrheit, John? fragte kalt Glenarvan.

– Die Wahrheit, Mylord, antwortete John Mangles, ist, daß wir nicht sinken werden. Ob wir zertrümmert werden, das ist freilich eine andere Frage, aber wir haben Zeit, Rath zu schaffen.

– Es ist Mitternacht?

– Ja, Mylord, man muß eben warten, bis es Tag wird.

– Kann man das Boot nicht in See lassen?

– Bei dieser hohlen See und in dieser Finsterniß ist es unmöglich. Und überdies, an welcher Stelle sollten wir anlegen?

– Nun gut, John, bleiben wir hier bis zum Tagesanbruch.«

Doch Will Halley lief wie ein Narr umher auf dem Decke seines Schiffes. Seine Matrosen, welche von ihrem starren Schrecken sich wieder erholt hatten,[538] schlugen einem Faß Branntwein den Boden aus und begannen zu trinken. John sah voraus, daß ihre Trunkenheit bald schreckliche Scenen herbeiführen würde.

Man konnte nicht auf den Kapitän rechnen, um sie im Zaume zu halten.

Dieser Elende raufte sich die Haare aus und rang die Hände. Er dachte nur an seine Ladung, welche nicht versichert war.

»Ich bin ruinirt, verloren!« schrie er laut, während er von einer Seite des Schiffes nach der anderen lief.

John Mangles beruhigte sich keineswegs. Er ließ seine Gefährten sich bewaffnen und bereit halten, die Matrosen, welche von dem Branntwein schon voll waren, und deshalb schreckliche Lästerungen ausstießen, energisch zurückzuweisen.

»Den Ersten dieser Elenden, welcher sich der Koje naht, sagte ruhig der Major, tödte ich wie einen Hund.«

Die Matrosen sahen ohne Zweifel, daß die Passagiere entschlossen waren, sich Achtung zu verschaffen, denn nach einigen Versuchen, sie zu plündern, verschwanden sie.

John Mangles beschäftigte sich nicht weiter mit diesen Trunkenbolden, sondern erwartete ruhig den Tag.

Das Schiff lag vollständig unbeweglich. Das Meer beruhigte sich ein wenig, der Wind ließ nach, das wrackartige Schiff konnte also während einiger Stunden noch Widerstand leisten. Bei Tagesanbruch sollte John die Küste untersuchen. Wenn sie eine zugängliche Landungsstelle bot, sollte die Jolle, jetzt nur noch das einzige Boot an Bord, zum Transport der Passagiere und Mannschaft dienen. Man berechnete, daß man wenigstens drei Fahrten machen müsse, denn es war darin nur für vier Personen Platz. Das große Boot war ja durch eine Sturzwelle bereits weggeschwemmt worden.

Während John Mangles die Gefahr der ganzen Situation reiflich erwog, hörte er, gestützt auf die Treppenkappe, das Brausen der Brandung. Er suchte mit seinen Blicken die tiefe Finsterniß zu durchdringen, und fragte sich, in welcher Entfernung sich wohl dieses so ersehnte und doch gefürchtete Land befinden möchte. Die Klippen erstrecken sich oft einige Meilen von der Küste in's Meer hinaus. Würde das zerbrechliche kleine Boot im Stande sein, eine längere Hin-und Rückfahrt auszuhalten?

Während John so überlegte, und den nächtlichen Himmel um Rath [539] anflehte, ruhten die Passagiere, seinen Worten vertrauend, in ihren Hängematten. Die Unbeweglichkeit der Brigg sicherte ihnen einige Stunden Ruhe. Glenarvan, John und ihre Kameraden stärkten sich, als sie das Schreien und Lärmen der trunkenen Mannschaft nicht mehr hörten, durch einen kurzen Schlaf, so daß um ein Uhr ein tiefes Schweigen an Bord des Schiffes herrschte, das in seinem sandigen Bette gleichsam selbst schlummerte.

Gegen vier Uhr begann es im Osten zu dämmern, die Wolken färbten sich leicht in dem blassen Lichte der Morgenröthe. John stieg wiederum auf das Verdeck. Der Horizont war durch einen Nebelschleier verdeckt. Unbestimmte Contouren schwankten hin und her in den Morgendünsten, doch in einer ziemlichen Höhe. Das Meer ging nicht mehr so hohl, die Wogen der hohen See verloren sich mitten in unbeweglichen dicken Wolken. John wartete. Das Licht nahm allmälig zu, der Horizont färbte sich leicht mit röthlichem Scheine. Der Nebelschleier zog langsam hin über das weite Panorama im Hintergrunde. Schwarze Klippen ragten mit ihren Spitzen über die Oberfläche des Meeres hervor. In ihrer Nähe zeichnete sich als Schaumstreifen eine Linie ab, ein einzelner Punkt leuchtete hell hervor, wie ein Leuchtthurm auf einer Bergspitze, auf welche die ersten Strahlen der emporsteigenden Sonne fallen. Dort war das Land, wenigstens neun Meilen entfernt.

»Land!« rief John Mangles.

Seine Gefährten, geweckt durch seine Stimme, stürzten eilig auf das Deck und betrachteten schweigend die Küste, welche sich dunkel am Horizont abzeichnete. Gastlich oder verhängnißvoll, sie sollte ihnen ein Zufluchtsort sein.

»Wo ist Will Halley? fragte Glenarvan.

Ich weiß es nicht, Mylord, antwortete John Mangles.

Und seine Matrosen?

Verschwunden wie er.

Wie er ohne Zweifel voll und trunken, fügte Mac Nabbs hinzu.

Man gehe sie suchen, sagte Glenarvan, man kann sie auf diesem Schiffe nicht zurücklassen.«

Mulrady und Wilson stiegen in die Kajüte des Vorderdecks hinab und kamen zwei Minuten später wieder. Sie war leer. Darauf durchsuchten sie das Zwischendeck und endlich das ganze Schiff bis auf den Kiel hinab. Aber sie fanden weder Will Halley, noch seine Matrosen.

»Wie! Niemand? rief Glenarvan.

[540] – Sind sie in's Meer gefallen? fragte Paganel.

– Alles ist möglich«, antwortete John Mangles, sehr besorgt über dieses Verschwinden.

Sie wandten sich nach dem Hintertheil.

»Zum Boot!« rief er aus.

Wilson und Mulrady folgten ihm, um die Jolle in See zu bringen. Sie war verschwunden.

5. Capitel
Fünftes Capitel.
Die improvisirten Matrosen.

Will Halley und seine Mannschaft waren ohne Zweifel, die Nacht und den Schlummer der Passagiere benutzend, auf dem einzigen Boote der Brigg entflohen. Dieser Kapitän, dessen Pflicht es war, der Letzte an Bord zu sein, hatte das Schiff zuerst verlassen.

»Die Schurken sind fort, sagte John Mangles. Nun, desto besser, Mylord. Sie ersparen uns nur unangenehme Auftritte!

– Ich denke ebenso, antwortete Glenarvan; außerdem haben wir immer noch einen Kapitän an Bord, Dich, John, und wenn auch nicht geschickte, so doch muthige Matrosen, Deine Gefährten. Befiehl, wir sind bereit, Dir zu gehorchen.«

Der Major, Paganel, Robert, Wilson, Mulrady, sogar Olbinett, stimmten den Worten Glenarvan's bei, und sich auf dem Verdeck aufstellend, waren sie der Befehle John Mangles' gewärtig.

»Was ist zu thun?« fragte Glenarvan.

Der junge Kapitän schaute auf's Meer und auf das unvollständige Mastwerk der Brigg und sagte nach einigen Augenblicken des Nachdenkens:

»Wir können uns nur auf zweierlei Art aus dieser Lage ziehen, Mylord; entweder das Fahrzeug wieder flott machen und in See stechen, oder auf einem leicht zu bauenden Floß das Land erreichen.

[541] – Wenn das Fahrzeug wieder flott gemacht werden kann, erwiderte Glenarvan, ist es das Beste, was wir thun können, nicht wahr?

– Ja, Ew. Herrlichkeit, denn was sollte am Lande ohne Transportmittel aus uns werden?

– Vermeiden wir die Küste, sagte Paganel. Neu-Seeland muß man mißtrauen.

– Um so mehr, als wir sehr abgefallen sind. Durch Halley's Nachlässigkeit sind wir nach Süden verschlagen worden, das ist klar. Zu Mittag werde ich unsere Lage aufnehmen, und wenn wir uns, wie ich vermuthe, unterhalb Auckland befinden, will ich versuchen, mit dem Macquarie die Küste entlang wieder hinauszufahren.

– Aber die Schäden an der Brigg? fragte Lady Glenarvan.

– Ich halte sie nicht für so schlimm, Madame, antwortete John Mangles. Ich werde vorn einen Nothmast aufrichten, um den Fockmast zu ersetzen, und wir werden, wenn auch langsam, doch dahin segeln, wohin wir wollen. Wenn der Rumpf der Brigg unglücklicherweise ein Leck bekommen haben sollte, das nicht zu verstopfen wäre, so müßten wir uns darein ergeben, die Küste zu erreichen, und den Weg nach Auckland zu Lande wieder aufzunehmen.

– Lassen Sie uns also den Zustand des Schiffes untersuchen, sagte der Major. Das ist vor Allem das Wichtigste.«

Glenarvan, John und Mulrady öffneten die große Luke und stiegen in den untersten Schiffsraum hinab. Ungefähr zweihundert Fässer mit gegerbten Häuten waren dort sehr schlecht eingestaut. Man konnte sie ohne große Mühe fortrücken, indem man sie vermittelst einer Zugwinde, die am großen Stag angebracht war, senkrecht von der Luke emporwand. Zugleich ließ John einen Theil dieses Ballastes in's Meer werfen, um das Schiff zu entlasten.

Nach dreistündiger schwerer Arbeit konnte man den Boden der Brigg untersuchen. Am Backbord hatten sich zwei Fugen in den Schiffsplanken bis zur Höhe des Barkholzes geöffnet. Da nun der Macquarie sich nach dem Steuerbord neigte, so stand seine linke Seite hervor, und die geborstenen Stellen befanden sich in freier Luft, demnach konnte das Wasser nicht eindringen. Außerdem beeilte sich Wilson, die Fugen mit Werg zu verstopfen und eine Kupferplatte sorgfältig darüber zu nageln. Beim Sondiren fand man nicht zwei Fuß Wasser im Schiffsraume. Die Pumpen konnten dies Wasser leicht ausschöpfen und das Schiff erleichtern.

[542] Nachdem die Untersuchung beendet, erkannte John, daß der Rumpf beim Stranden nicht gelitten habe. Wahrscheinlich würde ein Theil des losen Kieles im Sande festsitzen bleiben, doch war dieser zu entbehren.

Nachdem Wilson das Innere des Fahrzeuges nachgesehen, tauchte er unter, um seine Lage über dem Meeresgrunde zu bestimmen. Der Macquarie, dessen Vordertheil nach Nord-Nord-West stand, war auf die schlammige Sandbank einer schroff hervorspringenden Küste gestoßen. Das untere Ende seines Vordersteven und ungefähr zwei Drittel seines Kieles befanden sich tief eingezwängt. Der andere Theil bis zum Hintersteven schwankte über dem Wasser, das eine Höhe von fünf Brassen erreichte. Das Steuerruder saß also nicht fest und verrichtete seine Dienste. John hielt es sogar für unnöthig, es zu unterstützen. Dies war von wirklichem Vortheil, denn man war im Stande, sich desselben bei erster Gelegenheit zu bedienen.

Die Ebbe und Fluth ist im Stillen Ocean nicht sehr bedeutend. Indessen rechnete John Mangles auf das Eintreten der Fluth, um den Macquarie wieder flott zu machen. Die Brigg war ungefähr eine Stunde vor der Fluth aufgestoßen, und von dem Augenblicke an, in dem die Ebbe eintrat, hatte sie sich mehr und mehr nach dem Steuerbord geneigt.

Um sechs Uhr Morgens, bei niedrigem Wasser, erreichte ihre Senkung den höchsten Grad und es schien unnütz, das Schiff vermittelst Krücken zu stützen. Man konnte also die Raaen und Flaggenstangen, welche John zu einem Nothmast am Vordertheil bestimmt hatte, an Bord behalten.


Der Macquarie liegt auf der Steuerbordseite. (S. 543.)

Es blieb nur noch übrig, die Vorbereitungen zum Flottmachen des Macquarie zu treffen. Dies war eine lange und mühsame Arbeit, und augenscheinlich un möglich, um zwölf ein Viertel Uhr für die Fluth bereit zu sein.

Man würde nur sehen können, wie sich die theilweis entlastete Brigg unter dem Einfluß der Wellen bewegte, und bei eintretender Ebbe konnte man dann die letzten Vorbereitungen zu Ende bringen.

»An's Werk!« commandirte John Mangles.

Seine neu geschaffenen Matrosen waren seiner Befehle gewärtig. John ließ zuerst die an den Tauen gebliebenen Segel einziehen. Der Major, Robert und Paganel stiegen, von Wilson angeführt, in den großen Mastkorb. Das vom Winde geschwellte große Marssegel hätte das Losmachen des Schiffes gehindert, deshalb mußte man es, so gut es anging, einreffen. Nach harter und so ungeübten Händen schwerer Anstrengung, hatte man das große [543] Bramsegel übergeholt. Der junge Robert, gelenk wie eine Katze und kühn wie ein Schiffsjunge, hatte während dieser schwierigen Arbeit die größten Dienste geleistet.

Es handelte sich nun darum, einen oder zwei Anker am Hintertheil des Schiffes in der Richtung des Kieles ins Wasser zu senken. Diese Anker mußten die Zugkraft zum Anholen des Macquarie auf hohe See ausüben. Dies Verfahren bietet keine Schwierigkeit dar, wenn man über ein Boot [544] verfügen kann, dann wirst man einen Anker an einem im Voraus bestimmten Punkt aus. Hier jedoch, wo das Boot fehlte, mußte man sich zu helfen suchen.


Sie ankerten eine halbe Kabellänge entfernt. (S. 548.)

Glenarvan war des Meeres hinreichend kundig, um die Nothwendigkeit dieser Vorbereitungen einzusehen. Man mußte einen Anker senken, um das zur Ebbezeit gestrandete Schiff wieder frei zu machen.

»Was sollen wir aber ohne Boot thun? fragte er John.

[545] Wir werden die Trümmer des Fockmastes und leere Tonnen dazu nehmen, antwortete der junge Kapitän. Die Arbeit wird schwer, doch nicht unmöglich sein, denn die Anker des Macquarie sind nicht groß. Wenn sie nach dem Hinablassen nicht wieder losgehen, habe ich gute Hoffnung.

– Gut, verlieren wir also keine Zeit, John.«

Jedermann, Matrosen und Passagiere, wurden auf Deck gerufen und jeder Einzelne nahm an der Arbeit Theil. Man zerhackte die Reste des Takelwerkes, die den Fockmast noch hielten. Der untere Theil des Mastes war beim Fallen dicht am Stiel abgebrochen, so daß man den Mastkorb leicht abnehmen konnte. John Mangles bestimmte diesen glatten Theil zu einem Flosse. Er befestigte ihn auf leeren Tonnen und richtete denselben zum Tragen der Anker vor. Ein Ruder wurde angebracht, um den Apparat zu regieren. Außerdem mußte die Ebbe ihn genau vom Hintertheil der Brigg abstoßen, und wenn dann die Anker niedergelassen sein würden, mußte es leicht sein, sich vermittelst des am Schiff entlang gezogenen Kabeltaues wieder an Bord heranzuholen.

Diese Arbeit war zur Hälfte beendet, als sich die Sonne dem Mittage näherte. John Mangles ließ Glenarvan die angefangenen Vorrichtungen fortsetzen und beschäftigte sich damit, ihre Lage aufzunehmen. Diese Bestimmung war sehr wichtig. Glücklicherweise hatte John in dem Zimmer Will Halley's mit einem Tagebuch vom Observatorium zu Greenwich einen sehr schmutzigen Sextanten gefunden, der jedoch genügend war, seinem Zwecke zu dienen. Er reinigte ihn und brachte ihn auf's Verdeck.

Durch eine Reihe beweglicher Spiegel führt dies Instrument die Sonne in dem Augenblicke, wo es Mittag ist, also wenn das Tagesgestirn den höchsten Punkt seines Laufes erreicht hat, an den Horizont zurück. Man begreift daher, daß, um zu operiren, man mit der Lunette des Sextanten einen wirklichen Horizont visiren muß, den, welchen der mit dem Wasser sich verschmelzende Himmel bildet. Nun erstreckte sich gerade das Land in einem weiten Vorgebirge nach Norden zu, und sich so zwischen den Observator und den Horizont stellend, machte es die Observation unmöglich.

In dem Falle, daß der Horizont fehlt, ersetzt man ihn durch einen künstlichen. Dies ist in der Regel eine flache, mit Merkur (Quecksilber) gefüllte Schüssel, über welcher man operirt. Der Merkur bietet also von selbst einen vollkommen horizontalen Spiegel dar.

[546] John hatte kein Quecksilber an Bord, doch überwand er diese Schwierigkeit, indem er sich einer Kufe flüssigen Theeres bediente, dessen Oberfläche hinreichend das Bild der Sonne wiederspiegelte.

Er kannte glücklicherweise schon seinen Längengrad, da er an der Westküste Neu-Seelands war, denn ohne Chronometer hätte er ihn nicht berechnen können. Es fehlte ihm nur der Breitengrad, und er ging daran, ihn zu messen.

Er nahm also vermittelst des Sextanten die Meridianhöhe der Sonne über dem Horizont auf. Diese war 68°30'. Die Entfernung der Sonne vom Zenith betrug also 21°30', weil diese beiden Zahlen addirt 90° ergeben. Nun betrug dem Tagebuch zufolge an diesem Tage, dem 3. Februar, die Abweichung der Sonne 16°30', und die Zenithaldistanz von 21°30' hinzufügend, bekam man die Breite von 38°.

Die Lage des Macquarie war also in 171°13' der Länge, und 38° der Breite, abgerechnet einige unbedeutende, durch die Unvollkommenheit der Instrumente hervorgebrachte Irrthümer, denen man Rechnung tragen mußte.

Indem John Mangles die von Paganel in Eden gekaufte Karte von Johnston zu Rathe zog, sah er, daß sie an der Oeffnung der Bai von Aotea gestrandet waren, oberhalb der Spitze von Cahua, an den Ufern der Provinz Auckland. Die Stadt Auckland lag auf der siebenunddreißigsten Parallele, und der Macquarie war einen Grad südlicher zurückgeworfen worden. Man mußte also einen Grad wieder hinausfahren, um die Hauptstadt Neu-Seelands zu erreichen.

»Also höchstens eine Fahrt von fünfundzwanzig Meilen, sagte Glenarvan, das ist Nichts.

– Was zur See nichts ist, wird lang und mühsam zu Lande sein, antwortete Paganel.

– Wir werden, versetzte John Mangles, auch alles Menschenmögliche thun, um den Macquarie wieder flott zu machen.«

Nachdem der Punkt festgestellt, wurden die Arbeiten wieder aufgenommen. Um zwölf ein halb Uhr war die See hoch, doch konnte John keinen Nutzen davon ziehen, da seine Anker noch nicht ausgeworfen waren. Aber er beobachtete nichts desto weniger den Macquarie mit einer gewissen Angst. Würde er unter der Einwirkung der Wellen wieder flott werden? Diese Frage mußte sich in fünf Minuten entscheiden.

[547] Man wartete. Ein Krachen erfolgte, welches, wenn auch nicht durch das Heben, so wenigstens durch das Erzittern des Schiffskieles hervorgebracht war. John faßte neue Hoffnungen für die nächste Fluthzeit; im Ganzen rührte sich die Brigg nicht.

Man setzte die Arbeiten fort, und um zwei Uhr war das Floß fertig. Der auszuwerfende Anker wurde eingeschifft, und John und Wilson begleiteten ihn, nachdem sie am Hintertheil des Schiffes ein Kabeltau aufgewunden hatten. Die Ebbe ließ sie abstoßen, und sie warfen in einer halben Kabellänge Entfernung zehn Brassen tief einen Anker. Dieser hielt fest, und das Floß kehrte an Bord zurück.

Nun blieb noch der große Krahnbalkenanker übrig. Man ließ ihn nicht ohne Schwierigkeiten hinab.

Das Floß begann die Operation auf's Neue, und bald wurde dieser zweite Anker hinter dem ersten fünfzehn Brassen tief geworfen. Darauf holten sich John und Wilson durch das Kabeltau wieder an Bord heran.

Das große und das kleine Kabeltau wurden aufgewunden, und man wartete auf die volle See, die um ein Uhr Morgens eintreten mußte. Es war jetzt sechs Uhr Abends.

John Mangles beglückwünschte seine Matrosen, und gab Paganel zu verstehen, daß mit Hilfe guten Willens und Muthes er eines Tages Hochbootsmann werden könne.

Inzwischen war Olbinett, nachdem er bei den verschiedenen Manoeuvres geholfen hatte, in die Küche zurückgekehrt. Er hatte eine stärkende Mahlzeit zubereitet, die sehr gelegen kam. Ein tüchtiger Appetit reizte die Mannschaft, der völlig befriedigt wurde, und Jedermann fühlte sich neuen Anstrengungen gewachsen.

Nach beendeter Mahlzeit traf John Mangles die letzten Vorkehrungen, um den Erfolg des Unternehmens zu sichern. Beim Flottmachen eines Schiffes darf Nichts vernachlässigt werden. Oft schlägt das Vorhaben fehl, in Ermangelung einiger Linien beim Lichten, und der festgefahrene Kiel verläßt das Sandbett nicht.

Um die Brigg zu erleichtern, hatte John Mangles einen großen Theil der Waaren in's Meer werfen lassen; aber der Rest der Ballen, die schweren Flaggenstöcke, die Noth-Raaen, einige Tonnen Eisenbarren, welche den Ballast ausmachten, wurden in's Hintertheil gebracht, um mit ihrer Last das Losmachen [548] des Vordersteven zu erleichtern. Wilson und Mulrady rollten außerdem noch eine Anzahl Fässer dorthin, welche sie mit Wasser füllten, um den Schnabel des Schiffes in die Höhe zu bringen.

Mitternacht schlug, als die letzten Arbeiten beendet waren. Die Mannschaft war völlig erschöpft, ein bedauernswerther Umstand in dem Augenblick, wo man Aller Kräfte zum Aufhissen bedurfte, und dies veranlaßte John Mangles, einen neuen Entschluß zu fassen.

In diesem Moment legte sich die Brise; kaum daß der Wind die Oberfläche des Wassers leicht kräuselte. John, welcher den nördlichen und östlichen Horizont beobachtete, bemerkte, daß der Wind von Südwesten nach Nordwesten umschlug. Ein Seemann konnte sich über die Lage und die Farbe der Wolkenschichten nicht täuschen, und Wilson und Mulrady theilten die Meinung ihres Kapitäns.

John theilte Glenarvan seine Bemerkungen mit und schlug ihm vor, das Flottmachen des Schiffes auf den morgenden Tag zu verschieben.

»Meine Gründe hierfür, sagte er, sind folgende: Erstens, sind wir sehr ermüdet und wir bedürfen aller unserer Kräfte, um das Schiff frei zu machen. Ferner, wie sollen wir, wenn wir wirklich wieder flott geworden, das Fahrzeug bei tiefster Dunkelheit mitten durch diese gefährlichen Brandungen führen? Es ist besser bei Tageslicht zu operiren, und außerdem treibt mich ein anderer Grund zum Warten. Der Wind verspricht uns zu Hilfe zu kommen, und ich gedenke dies zu benutzen. Ich will, daß er den alten Rumpf von hinten treibt, während die See ihn in die Höhe hebt. Wenn ich mich nicht täusche, wird morgen die Brise aus Nordwesten wehen; wir werden die Segel des großen Vordermastes aufziehen und diese dazu beitragen, das Schiff wieder zu heben.«

Diese Gründe waren entscheidend.

Glenarvan und Paganel, die Ungeduldigsten an Bord, ergaben sich darein, und die Operation wurde auf den nächsten Tag verschoben.

Die Nacht verging ruhig. Eine Wache war eingerichtet, um vor allen Dingen über die Verankerung zu wachen.

Als der Tag erschien, hatten sich die Voraussagungen John Mangles' bewahrheitet. Es wehte eine Brise von Nord-Nord-West, die stärker zu werden versprach. Dies war eine sehr vortheilhafte Hilfe, und die Mannschaft machte sich bereit, sie in Anspruch zu nehmen. Robert, Wilson, Mulrady auf [549] dem großen Vordermast; der Major, Glenarvan, Paganel auf dem Verdeck, schickten sich an, die Segel im richtigen Moment zu entfalten. Die Raa des großen Marssegels wurde ganz aufgehißt, das große Segel und das große Marssegel blieben auf ihren Tauen. Es war neun Uhr Morgens. Noch mußten vier Stunden bis zur vollen See vergehen, und diese wurden nicht verloren. John wandte sie an, um seinen Nothmast auf dem Vordertheil der Brigg aufzurichten, der den Fockmast ersetzen sollte. Er konnte sich also aus diesem gefährlichen Strich entfernen, sobald das Schiff flott war. Die Arbeiter machten neue Anstrengungen und vor Mittag noch war die Fockraa an Stelle des Mastes festgemacht. Lady Helena und Mary Grant machten sich sehr nützlich, indem sie ein Nothsegel an der Raa der kleinen Bramstenge befestigten. Es war ihnen eine Freude, sich zum allgemeinen Wohle zu betheiligen. Nachdem die Takelage fertig, konnte der Macquarie, wenn er auch in Hinsicht auf Eleganz zu wünschen übrig ließ, doch wenigstens segeln, unter der Bedingung, daß er sich nicht zu weit von der Küste entfernte.

Indessen stieg die Fluth. Die Oberfläche der See hob sich in kleinen, hohl gehenden Wellen. Die Spitzen der Klippen verschwanden nach und nach wie Seethiere, die in ihr flüssiges Element zurückkehren. Die Stunde des großen Unternehmens nahte heran. Eine fieberhafte Ungeduld erregte die Gemüther auf's Höchste. Niemand sprach, Alle schauten auf John und erwarteten seinen Befehl.

Der Kapitän, auf dem Barkholze des Hintercastells liegend, beobachtete das Steigen der Fluth, und warf einen unruhigen Blick auf das Kabel, das fest und sicher angezogen war.

Um ein Uhr erreichte die See ihren höchsten Punkt. Sie war am Stillstand angelangt, das heißt, an dem kurzen Augenblicke, wo sie nicht mehr steigt und noch nicht fällt. Man mußte, ohne zu zögern, an's Werk gehen. Das große Segel und das große Marssegel wurden losgelassen und legten sich, vom Winde gepreßt, an die Masten an.

»An die Winde!« rief John.

Dies war eine, wie die Feuerspritzen mit Hebelarmen versehene Zugwinde. Glenarvan, Mulrady, Robert auf der einen, Paganel, der Major, Olbinett auf der andern Seite, drückten auf die Arme, welche dem Apparat die Bewegung mittheilten. Zu gleicher Zeit vereinigten John und Wilson ihre Kräfte mit denen ihrer Gefährten, indem sie Stangen zum Umlegen einsetzten.

[550] »Nur zu! Nur zu! Alle zugleich!« rief der junge Kapitän.

Das große und kleine Kabeltau zogen unter dem mächtigen Druck der Winde an. Die Anker hielten fest und schleppten nicht. Es mußte schnell gelingen, denn die hohe See dauert nur einige Minuten und der Wasserstand mußte bald fallen.

Man verdoppelte die Anstrengungen; der Wind wehte heftig und legte die beiden Segel an den Mast. Ein Zittern machte sich im Rumpf fühlbar, die Brigg schien nahe daran, sich zu heben. Vielleicht genügte ein Arm mehr, um sie der Sandbank zu entreißen.

»Helena! Mary!« rief Glenarvan.

Die beiden jungen Frauen liefen herbei, um ihre Kräfte mit denen ihrer Gefährten zu vereinen. Ein letztes Getöse in der Spille ließ sich vernehmen; das war aber auch Alles; die Brigg rührte sich nicht.

Das Werk war verfehlt, denn schon trat die Ebbe ein und es war augenscheinlich, daß selbst mit Hilfe des Windes und des Meeres diese erschöpfte Mannschaft ihr Schiff nicht würde flott machen können.

6. Capitel
Sechstes Capitel
Die Theorie des Cannibalismus.

Der erste Rettungsversuch John Mangles' war mißglückt.


Wiederaufnahme der Arbeiten. (S. 552.)

Man mußte, ohne zu zögern, einen zweiten versuchen. Es war klar, daß man den Macquarie nicht wieder heben konnte, und eben so klar, daß man den einzigen übrig gebliebenen Weg einschlagen mußte, das heißt, das Fahrzeug verlassen. An Bord eine ungewisse Hilfe erwarten, wäre unklug und thöricht gewesen. Vor der unwahrscheinlichen Ankunft eines Schiffes auf dem Schauplatz des Strandens würde der Macquarie in Stücken zerfallen sein! Der erste Sturm oder nur eine etwas durch die Seewinde hoch getriebene See mußte ihn weiter auf den Sand werfen, zerschmettern und zerstückeln. Vor dieser unvermeidlichen Zerstörung wollte John das Land erreichen.

[551] Er schlug also vor, ein Floß zu bauen, oder in der Seemannssprache ein »ras«, das dauerhaft genug wäre, um die Passagiere und eine hinreichende Quantität Lebensmittel an die Seeländische Küste zu tragen. Es galt kein Hin- und Herreden, sondern rasch zu handeln. Die Arbeit wurde begonnen und war schon weit vorgeschritten, als die Nacht sie unterbrach.

Gegen acht Uhr Abends, nach dem Nachtessen, während Lady Helena und Mary Grant auf ihrem Lager ausruhten, unterhielten sich Paganel und seine[552] Freunde über ernste Fragen, wobei sie auf dem Verdeck des Schiffes auf- und abgingen. Robert hatte sie nicht verlassen wollen. Der brave Junge hörte aufmerksam zu, bereit, jeden Dienst zu leisten, oder sich irgend einem gefahrvollen Unternehmen hinzugeben.


Der Märtyrer Walkner. (S. 555.)

Paganel hatte John Mangles gefragt, ob das Floß nicht die Küste entlang bis Auckland fahren könne, anstatt die Passagiere an's Land zu setzen.

John erwiderte, daß diese Fahrt mit einem so mangelhaften Fahrzeuge unmöglich sei.

[553] »Und was wir auf einem Floß nicht wagen dürfen, hätten wir es mit einem Boot von der Brigg thun können?

– Im Nothfall, ja, antwortete John Mangles, aber unter der Bedingung, bei Tage zu fahren und des Nachts vor Anker zu gehen.

– Also diese Elenden, die uns verlassen haben ...

– O, diese, versetzte John Mangles, waren betrunken, und bei der tiefen Finsterniß fürchte ich sehr, daß sie diese feige Flucht mit ihrem Leben bezahlt haben.

– Desto schlimmer für sie, erwiderte Paganel, und desto schlimmer auch für uns, denn dies Boot würde uns sehr nützlich gewesen sein.

– Was wollen Sie, Paganel? sagte Glenarvan. Das Floß wird uns an's Land bringen.

– Das ist gerade das, was ich gern vermieden hätte, entgegnete der Geograph.

– Was, eine Reise von höchstens zwanzig Meilen, nach dem, was wir in den Pampas und durch Australien geleistet? Kann dies an Anstrengung gewöhnte Männer erschrecken?

– Meine Freunde, antwortete Paganel, ich setze weder den Muth noch die Tapferkeit unserer Gefährten in Zweifel. Zwanzig Meilen! Das ist Nichts in jedem anderen Lande, als Neu-Seeland. Sie werden mich nicht im Verdacht der Kleinmüthigkeit haben. Ich habe Sie zuerst durch Amerika, durch Australien geführt. Aber hier, ich wiederhole es, ist alles Andere besser, als sich in dies unsichere Land zu wagen.

– Alles Andere ist besser, als auf einem gestrandeten Schiffe sicher umzukommen, antwortete John Mangles.

– Was haben wir denn so sehr von Neu-Seeland zu befürchten? fragte Glenarvan.

– Die Wilden, versetzte Paganel.

– Die Wilden! wiederholte Glenarvan. Kann man sie nicht vermeiden, wenn man die Küste entlang geht? Uebrigens kann der Angriff einiger Elenden zehn wohlbewaffnete und zur Vertheidigung bereite Europäer nicht ängstigen.

– Es handelt sich hier nicht um Elende, erwiderte Paganel kopfschüttelnd. Die Neu-Seeländer bilden furchtbare Stämme, welche gegen die englische [554] Herrschaft kämpfen und sich gegen die Eindringlinge wehren, welche sie oft besiegen, welche sie stets verzehren!

– Cannibalen! rief Robert aus, Cannibalen!«

Dann hörte man ihn diese zwei Namen murmeln:

»Meine Schwester! Madame Helena!

– Fürchte Nichts, mein Kind, antwortete ihm Glenarvan, um ihn zu beruhigen. Unser Freund Paganel übertreibt.

– Ich übertreibe Nichts, versetzte Paganel. Robert hat gezeigt, daß er ein Mann ist, und ich behandle ihn als Mann, indem ich ihm die Wahrheit nicht verberge. Die Neu-Seeländer sind die grausamsten, um nicht zu sagen die lüsternsten Menschenfresser. Sie verzehren Alles, was ihnen in die Hände fällt. Der Krieg ist für sie nur eine Jagd nach dem saftigen Wildpret, welches Mensch heißt, und man muß zugestehen, daß dies der einzig logische Krieg ist. Die Europäer tödten ihre Feinde und begraben sie. Die Wilden tödten ihre Feinde und verzehren sie, und wie mein Landsmann Toussenet ganz richtig gesagt hat, ist das Uebel, seinen Feind zu braten, wenn er todt ist, nicht so schlimm, als ihn zu tödten, wenn er nicht sterben will.

– Paganel, antwortete der Major, hierin liegt Stoff zum Disputiren, aber jetzt ist nicht der Augenblick dazu. Ob es nun logisch sei oder nicht, gegessen zu werden, wir wollen eben nicht verzehrt sein. Wie kommt es, daß das Christenthum diese Gewohnheit des Menschenfressens noch nicht zerstört hat?

– Glauben Sie denn, daß alle Neu-Seeländer Christen sind? versetzte Paganel. Nur die geringere Zahl ist es und die Missionäre werden noch häufig genug das Opfer dieser rohen Wilden. Im vergangenen Jahre wurde der Ehrwürdige Walkner mit entsetzlicher Grausamkeit zum Märtyrer gemacht. Die Maoris hingen ihn auf, ihre Frauen rissen ihm die Augen aus, man trank sein Blut und aß sein Gehirn. Und dieser Mord fand im Jahre 1864 in Opotiki, einige Meilen von Auckland, so zu sagen unter den Augen der englischen Behörden statt. Meine Freunde, es bedarf Jahrhunderte, um die Natur einer Menschenrace zu ändern. Was die Maoris waren, werden sie noch lange sein. Ihre ganze Geschichte ist aus Blut gemacht. Wie viel Mannschaften haben sie niedergemetzelt und verzehrt von den Matrosen des Tasman an, bis zu den Schiffsleuten des Hawes! Und es ist nicht allein das weiße Fleisch, welches ihren Appetit reizt. Lange vor Ankunft der [555] Europäer befriedigten die Seeländer ihre Gefräßigkeit durch den Mord. Manche Reisende lebten unter ihnen, welche Cannibalen-Mahlzeiten beigewohnt haben, bei denen die Theilnehmer von keinem anderen Wunsch beseelt waren, als von einem köstlichen Gericht, wie das Fleisch einer Frau oder eines Kindes, zu essen!

– Pah! machte der Major, sind diese Erzählungen nicht meistens der Phantasie der Reisenden entsprungen? Man kommt sehr gern aus gefahrvollen Ländern und dem Magen von Menschenfressern zurück!

– Ich trage der Uebertreibung Rechnung, erwiderte Paganel. Aber glaubwürdige Männer, wie die Missionäre Kendall, Mardsen, die Kapitäne Dillon, d'Urville, Laplace und Andere, haben es erzählt, und ich kann und muß ihren Berichten Glauben schenken. Die Seeländer sind von Natur grausam. Beim Tode ihrer Häuptlinge bringen sie Menschenopfer, da sie behaupten, daß durch diese der Zorn der Todten besänftigt werde, der die Ueberlebenden treffen könnte, und zu gleicher Zeit bieten sie ihnen dadurch Diener für das andere Leben an! Da sie aber diese Diener nach dem Tode selbst speisen, nachdem sie dieselben geschlachtet haben, hat man Grund zu glauben, daß mehr noch der Magen als der Aberglaube sie dazu treibt.

– Indessen, sagte John Mangles, bilde ich mir ein, daß die Religion bei diesen Cannibalenscenen eine Rolle spielt. Deshalb meine ich, wenn die Religion wechselt, ändern sich auch die Sitten.

– Gut, Freund John, antwortete Paganel. Sie berühren da die ernste Frage vom Ursprung der Menschenfresserei. Hat die Religion, hat der Hunger die Menschen dazu getrieben, sich unter einander zu verzehren? Das wäre in diesem Augenblicke ein müßiger Streit, denn die Frage, warum der Cannibalismus existirt, ist noch nicht entschieden; doch daß er da ist, ist eine ernste Thatsache, von der wir nur zu viel Beweise haben.«

Paganel sprach die Wahrheit. Das Menschenfressen ist in Neu-Seeland ein chronischer Zustand geworden, ebenso wie auf den Fidji-Inseln oder auf der Landenge von Torres. Augenscheinlich ist der Aberglaube bei diesen scheußlichen Gebräuchen mit im Spiel, aber es giebt Cannibalen, weil es Augenblicke giebt, in denen das Wildpret rar und der Hunger groß ist. Die Wilden haben angefangen, Menschenfleisch zu essen, um die Forderungen eines selten gestillten Appetites zu befriedigen; darnach haben die Priester diese [556] schauderhaften Sitten geregelt und gebilligt. Die Mahlzeit ist zur Ceremonie geworden, das ist Alles.

In den Augen der Maoris ist außerdem nichts natürlicher, als sich unter einander zu verzehren. Die Missionäre haben sie oft über den Cannibalismus befragt, und weshalb sie ihre Brüder verspeisten. Darauf erwiderten die Häuptlinge, daß die Fische die Fische fräßen, wie die Hunde die Menschen und die Menschen die Hunde und wie die Hunde sich unter einander. Sogar ihre Götterlehre berichte davon, daß ein Gott den anderen gefressen habe. Wie könne man bei solchen Vorkommnissen dem Vergnügen, seinesgleichen zu verspeisen, widerstehen?

Ferner behaupten die Seeländer, daß, wenn man einen todten Feind verzehrt, man seinen geistigen Theil zerstört. Man erbt so seine Seele, seine Kraft, seinen Muth, die besonders im Gehirn enthalten sind. Auch wird dieser Theil des Individuums bei den Festen als Ehrenschüssel bester Güte betrachtet.

Paganel behauptete indeß und nicht ohne Grund, daß die Sinnlichkeit und vor Allem das Bedürfniß die Seeländer zum Menschenfressen reizten, und nicht allein die Wilden Australiens, sondern auch die Wilden Europas.

»Ja, fügte er hinzu, der Cannibalismus hat lange bei den Vorfahren der civilisirtesten Völker geherrscht und besonders, halten Sie dies nicht für persönliche Anspielung, bei den Schotten.

– Wirklich? sagte Mac Nabbs.

– Ja, Major, erwiderte Paganel. Wenn Sie gewisse Seiten im Heiligen Hieronymus über die Atticoli von Schottland nachlesen, werden Sie sehen, was Sie von Ihren Voreltern zu denken haben. Und ohne bis in die vorhistorischen Zeiten zurückzugehen, wurde nicht unter der Regierung Elisabeth's, in der Zeit, in welcher Shakespeare von seinem Shylock träumte, ein schottischer Bandit, Namens Sawny Ban, wegen des Verbrechens des Cannibalismus hingerichtet? Welches Gefühl hatte ihn getrieben, Menschenfleisch zu essen? Die Religion? Nein, der Hunger.

– Der Hunger? fragte John Mangles.

– Der Hunger, entgegnete Paganel, aber besonders jene Nothwendigkeit für den Fleischfresser, sein Fleisch und Blut durch den in den thierischen Stoffen enthaltenen Stickstoff zu ersetzen. Es ist sehr gut, der Arbeit der Lungen durch Wurzeln und Mehlpflanzen zu Hilfe zu kommen. Wer aber [557] stark und kräftig sein will, muß jene blutbildenden Nahrungsmittel zu sich nehmen, welche die Muskeln ersetzen. So lange die Maoris nicht Mitglieder der Vegetarianischen Gesellschaft sind, werden sie Fleisch verzehren, und zwar Menschenfleisch.

– Und warum nicht Thierfleisch? sagte Glenarvan.

– Weil sie keine Thiere haben, antwortete Paganel. Dies muß man wissen, nicht um sie zu entschuldige U, sondern um ihre cannibalischen Gewohnheiten zu erklären. Die Vierfüßler, die Vögel selbst, sind in diesem ungastlichen Lande selten. Deshalb haben sich die Maoris von jeher von Menschenfleisch genährt. Es giebt sogar eine bestimmte Jahreszeit dafür, ›Menschen zu fressen‹, wie in civilisirten Gegenden die Jagdzeit. Dann fangen die großen Streifzüge an, das heißt die großen Kriege, und ganze Völkerschaften werden auf der Tafel der Sieger servirt.

– Also Ihrer Meinung zu Folge, Paganel, sagte Glenarvan, wird das Menschenfressen erst an dem Tage verschwinden, wo es Schafe, Ochsen und Schweine im Ueberfluß auf den Weiden Neu-Seelands geben wird.

– Gewiß, mein lieber Lord, und dann wird es noch mancher Jahre bedürfen, ehe die Maoris sich des seeländischen Fleisches entwöhnen werden, welches sie jedem anderen vorziehen, denn die Söhne werden lange das lieben, was ihre Väter geliebt haben. Ihrer Ansicht nach hat dies Fleisch den Geschmack des Schweinefleisches, ist aber noch würziger. Was das weiße Fleisch anbetrifft, so finden sie es weniger lecker, weil die Weißen Salz an ihre Speisen thun, was ihnen einen besonderen Saft verleiht, der von den Feinschmeckern wenig geschätzt wird.

– Sie sind sehr wählerisch! sagte der Major. Essen sie nun aber das schwarze oder weiße Fleisch gekocht oder roh?

– He! was kümmert Sie das, Herr Mac Nabbs? rief Robert aus.

– Nun, mein Junge, antwortete der Major ernsthaft, wenn ich jemals unter den Zähnen eines Menschenfressers enden soll, möchte ich lieber gekocht sein!

– Weshalb?

– Um sicher zu sein, nicht lebendig verzehrt zu werden!

– Gut, Major, versetzte Paganel, aber wenn Sie lebendig gekocht würden?

– Die Sache ist die, entgegnete der Major, daß ich nicht um eine halbe Krone die Wahl haben möchte.

[558] – Wie dem auch sei, Mac Nabbs, wenn es Ihnen angenehm ist, so erfahren Sie, daß die Neu-Seeländer das Fleisch nur gekocht oder geräuchert essen. Es sind in der Kochkunst sehr wohl bewanderte Leute. Mir, für meinen Theil, ist die Idee, gegessen zu werden, besonders unangenehm! Sein Dasein in dem Magen eines Wilden zu beschließen, pfui!

– Aus alledem endlich geht hervor, sagte John Mangles, daß wir nicht in ihre Hände fallen dürfen. Lassen Sie uns hoffen, daß das Christenthum eines Tages diese schrecklichen Sitten abschaffen wird.

– Ja, hoffen wir das, erwiderte Paganel; aber glauben Sie mir, ein Wilder, der Menschenfleisch gekostet hat, wird schwer darauf verzichten. Urtheilen Sie nach folgenden zwei Thatsachen:

Die erste wird von den Chroniken der Jesuitengesellschaft in Brasilien erzählt. ›Ein portugiesischer Missionär traf eines Tages auf eine alte, sehr kranke Brasilianerin. Sie hatte nur noch einige Tage zu leben, und der Jesuit unterwies sie in den Wahrheiten des Christenthums, welche die Sterbende ohne Widerspruch annahm. Dann, nach der Seelenstärkung, dachte er an die leibliche und bot seinem Beichtkinde einige europäische Leckereien an. Ach! erwiderte die Alte, mein Magen kann keine Art Nahrung mehr vertragen. Ich möchte nur noch etwas essen, aber hier kann es mir unglücklicherweise Niemand verschaffen. – Was ist das? fragte der Jesuit. Ah, mein Sohn! das ist die Hand eines kleinen Knaben! Mir scheint, ich würde die kleinen Knochen mit Vergnügen knabbern!‹

– Ach! das schmeckt also gut? fragte Robert.

– Meine zweite Geschichte wird Dir darauf Antwort geben, mein Junge, erwiderte Paganel. ›Eines Tages warf ein Missionär einem Cannibalen diese schreckliche und den göttlichen Gesetzen entgegenstehende Sitte des Menschenfressens vor. Und dann muß es schlecht schmecken! fügte er hinzu. – Ach, mein Vater, antwortete der Wilde, indem er einen lüsternen Blick auf den Missionär warf, sagt, Gott verbietet es, aber sagt nicht, daß es schlecht schmeckt! Wenn Ihr nur davon gekostet hättet! ...‹«

[559]
7. Capitel
Siebentes Capitel.
Die Landung.

Die von Paganel angeführten Thatsachen waren unwiderlegbar. Die Grausamkeit der Neu-Seeländer konnte nicht bezweifelt werden. Jedenfalls war die Landung mit Gefahr verknüpft, und doch mußte man ihr trotzen, wäre sie auch noch so groß gewesen. John Mangles fühlte die Nothwendigkeit, ohne Verzug ein Schiff zu verlassen, das offenbar dem Untergange nahe war. Von beiden Gefahren war die eine sicher, die andere nur wahrscheinlich, ein Zögern also nicht möglich.

Auf den glücklichen Zufall, von einem Schiff aufgenommen zu werden, konnte man vernünftiger Weise nicht rechnen. Der Macquarie befand sich nicht in einer Fahrstraße für Schiffe, welche auf Neu-Seeland zu landen suchen. Sie gehen weiter hinauf nach Auckland, oder hinab nach Neu-Plymouth.

Die Strandung war aber genau zwischen diesen beiden Punkten erfolgt, an dem ödesten Theile der Küste von Ika-na-Maoui, welche, weil sie klippenreich und gefährlich ist, nur wenig besucht wird. Die Seeleute vermeiden sie sorgfältig, und wenn sie ja ein Sturm dahin verschlägt, so bieten sie Alles auf, sich schnell von derselben zu entfernen.

»Wann wollen wir abfahren? frug Glenarvan.

– Morgen früh um zehn Uhr, antwortete John Mangles. Die Fluth wird dann zu steigen beginnen und uns an's Land bringen.«

Am folgenden Morgen, den 5. Februar, um acht Uhr war der Bau des Flosses vollendet. John hatte alle Sorgfalt darauf verwandt. Man mußte ein solides, lenkbares Fahrzeug haben, das geeignet war, dem Meere während einer neun Meilen weiten Fahrt zu widerstehen. Das Mastwerk allein konnte die zum Bau nöthigen Materialien bieten. Wilson und Mulrady hatten sich an die Arbeit begeben. Die mit dem Hauptmast verbundene Takelage wurde entfernt und unter den Streichen der Axt, die man an seinen Fuß anlegte, brach der Mast über die Schanzkleidung des Steuerbords, welche unter seinem Sturze krachte, herunter. Der Macquarie stand da, so glatt wie ein Ponton.

[560] Ebenso wurden die kleinen Masten und Raaen zersägt. Die Hauptstücke des Flosses, welche man durch Sparren vom Fockmaste fest mit einander verband, waren also im Wasser. John trug überdies Sorge, die vorhandenen Zwischenräume mit leeren Fässern auszufüllen, welche wesentlich dazu dienten, das Floß über Wasser zu erhalten.

Auf diese solide Grundlage hatte Wilson siebartig durchlöcherte Bretter gelegt. Die Wogen konnten also über das Floß schlagen und sofort abfließen, so daß die Passagiere vor Feuchtigkeit geschützt blieben.


Die umgeschlagene Jolle neben dem Floß. (S. 564.)

[561] Als nun John an diesem Morgen bemerkte, daß der Wind günstig war, ließ er mitten in dem Fahrzeuge die Raae des kleinen Topmastes als Nothmast einsetzen. Sie wurde durch Halteseile gestützt und mit einem Segel versehen. Eine am Hintertheile befestigte starke Ruderstange mit breiter Schaufel diente als Steuer bei einem Winde, welcher dem Floß die genügende Schnelligkeit gab. So konnte es mit seinem soliden Baue auch den Stößen der stärksten Wogen Widerstand leisten. Aber war es möglich, zu steuern und die Küste zu erreichen, wenn der Wind umsprang? Das war die Frage. Um neun Uhr begann die Verladung.

Zuerst wurden Lebensmittel in genügender Menge eingeschifft, um bis Auckland damit zu reichen, denn auf die Erzeugnisse dieser unwirthlichen Küste konnte man nicht rechnen. Der Privatvorrath Olbinett's bot etwas conservirtes Fleisch, was noch von den für die Ueberfahrt des Macquarie angekauften Lebensmitteln herrührte. Freilich war es nur wenig. Man war nothwendiger Weise auf die an Bord vorhandenen Schiffszwiebacke geringer Qualität und auf zwei Fässer mit eingesalzenen Fischen angewiesen. Der Steward schämte sich dessen fast.

Alle die Vorräthe wurden in luftdichten, wassersicheren Kisten eingeschlossen, dann heruntergelassen und mit starken Tauen an den Fuß des Mastes befestigt. Waffen und Munition brachte man an einem sichern Orte unter. Zum großen Glück waren die Passagiere mit Flinten und Revolvern wohl bewaffnet.

Gleichzeitig wurde ein Anker eingeschifft, für den Fall, daß John das Land nicht erreichen könnte und deshalb in der offenen See beilegen mußte.

Um zehn Uhr begann die Fluth sich bemerklich zu machen. Eine schwache Brise wehte aus Nord-West und setzte die Oberfläche des Meeres in leichte Bewegung.

»Sind wir bereit? fragte John Mangles.

– Alles fertig, Kapitän, erwiderte Wilson.

– Eingeschifft!« befahl John.

Lady Helena und Mary Grant stiegen auf einer starken Strickleiter hinab und ließen sich am Fuße des Mastes auf den Vorrathskisten nieder, in der Nähe ihrer Gefährten. Wilson übernahm das Steuer, John das Segel, und Mulrady kappte das Ankertau, welches das Floß noch an der Seite der Brigg festhielt.

[562] Das Segel wurde entfaltet, und das Fahrzeug nahm seinen Lauf nach der Küste zu unter der doppelten Einwirkung der Fluth und des Windes.

Die Entfernung von neun Meilen wäre für ein gut bemanntes Boot in drei Stunden zurückzulegen gewesen. Das Floß brauchte natürlich eine längere Zeit. Wenn der Wind aushielt, konnte man vielleicht das Land mit der steigenden Fluth erreichen. War dies nicht der Fall, so war man der Ebbe überlassen, und es konnte nothwendig werden, die folgende Fluth abzuwarten. Das war von großer Wichtigkeit und beschäftigte John Mangles unaufhörlich.

Doch er hoffte, daß es ihm glücken werde. Der Wind wehte frischer; um drei Uhr konnte man das Land erreichen.

Der Anfang der Ueberfahrt war glücklich. Allmälig verschwanden die schwarzen Spitzen der Klippen und ebenso der sandige Grund unter dem Steigen der zunehmenden Fluth.

Große Aufmerksamkeit und außerordentliche Geschicklichkeit wurden nothwendig, um die unter der Oberfläche des Wassers immer noch versteckten Klippen zu vermeiden, und ein Fahrzeug zu leiten, das dem Steuerruder nur wenig gehorchte und deshalb leicht von seinem Laufe abwich.

Um Mittag war man noch fünf Meilen von der Küste entfernt. Ein ziemlich klarer Himmel gestattete die Terrainformation im Ganzen zu unterscheiden. Im Nord-Osten war ein Berg von zweitausendfünfhundert Fuß Höhe sichtbar. Er zeichnete sich am Horizonte in einer eigenthümlichen Form ab, deren Spalten den Kopf eines Affen mit gebrochenem Genick darstellten. Es war der Pirongia, der nach der Karte unter dem achtunddreißigsten Parallelkreise lag.

Um halb ein Uhr wies Paganel auf das Verschwinden aller Klippen unter der steigenden Fluth hin.

»Eine einzige ausgenommen, erklärte Lady Helena.

– Welche, Madame? frug Paganel.

– Dort, antwortete sie, und wies dabei auf einen schwarzen Punkt hin, der in der Entfernung von einer Meile nach der Küste zu sichtbar war.

– In der That, erwiderte Paganel, versuchen wir es, ihn fest im Auge zu behalten, um nicht darauf los zu steuern, denn die Fluth wird ihn in kurzer Zeit bedecken.

[563] – Er liegt genau nördlich von dem Berge, sagte John Mangles. Wilson, sei wachsam und halte nach der hohen See zu.

– Gewiß, Kapitän«, erwiderte der Matrose, indem er sich mit seinem ganzen Gewicht auf das Steuerruder legte.

In der nächsten halben Stunde machte man eine halbe Meile. Aber eigenthümlicher Weise tauchte jene Rissspitze immer mehr aus den Wogen auf.

John betrachtete sie aufmerksam und lieh, um schärfer zu sehen, Paganel's Fernrohr.

»Das ist gar kein Riff, sagte er, nach einem prüfenden Blick, sondern ein schwimmender Gegenstand, welcher mit den Wogen steigt und fällt.

– Sollte es vielleicht ein Stück von der Takelage des Macquarie sein? frug Lady Helena.

– Nein, erwiderte Glenarvan, Trümmer davon könnten nicht in so großer Entfernung vom Schiffe treiben.

– Achtung! rief John Mangles, ich weiß es nun, es ist das kleine Boot.

– Das kleine Boot der Brigg! sagte Glenarvan.

– Ja, Mylord. Das ist es, mit dem Kiel nach oben.

– Die Unglücklichen! rief Lady Helena, sie sind untergegangen!

– Ja, Madame, sagte John Mangles, sie mußten sicherlich untergehen, denn mitten unter diesen Klippen, bei der hohen See und dieser finsteren Nacht, gingen sie dem unvermeidlichen Tode entgegen.

– Sei der Himmel ihnen gnädig«, murmelte Mary Grant.

Während einiger Augenblicke blieben die Passagiere schweigend. Sie betrachteten dieses gebrechliche Fahrzeug, das sich näherte. Es hatte augenscheinlich etwa vier Meilen vom Lande umgeschlagen, von seiner Bemannung war ohne Zweifel Niemand gerettet.

»Aber dieses Boot kann uns nützlich sein, sagte Glenarvan.

– In der That, antwortete John Mangles. Halte darauf hin, Wilson.«

Die Richtung des Flosses wurde geändert, aber die Brise ließ allmälig nach, und man erreichte das Boot erst zwei Stunden später.

Mulrady, der am Vordertheil stand, parirte den Stoß, und die umgeschlagene Jolle legte sich bordseits.

»Leer? frug John Mangles.

– Ja, Kapitän, erwiderte der Matrose, das Boot ist leer, aber auch seine Wände sind offen. Es kann uns also nichts nützen.

[564] – Kann man es denn gar nicht mehr verwenden? frug Mac Nabbs.

– Nein, antwortete John Mangles. Es ist ein Wrack, das nur noch zum Verbrennen gut ist.

– Das thut mir leid, sagte Paganel, denn dieses Boot hätte uns nach Auckland führen können.

– Daran können wir nichts mehr ändern, Herr Paganel, erwiderte John Mangles. Uebrigens bei einem so stürmischen Meer ziehe ich unser Floß diesem gebrechlichen Fahrzeuge immer noch vor. Ein schwacher Stoß hätte genügt, um es zu zertrümmern. Genug, Mylord, wir können damit nichts mehr hier anfangen.

– Wie Du willst, John, erklärte Glenarvan.

– Vorwärts, Wilson, befahl der junge Kapitän, gerade auf die Küste hin.«

Die Fluth mußte etwa noch eine Stunde lang steigen. Man konnte in dieser Zeit eine Entfernung von zwei Meilen zurücklegen. Da aber hörte die Brise plötzlich auf und schien dann vom Lande her sich wieder erheben zu wollen.

Das Floß blieb eine Zeit lang unbeweglich, um sich bald darauf unter der Einwirkung der Ebbe nach der hohen See hin zu wenden.

John konnte nicht eine Secunde zögern.

»Den Anker nieder!« befahl er.

Mulrady, der auf die Ausführung dieses Befehles schon wartete, ließ den Anker etwa fünf Faden tief fallen. Das Floß wich ein wenig von dem straff angespannten Taue zurück, und blieb dann in seiner bisherigen Stellung, sein Vordertheil nach dem Ufer hin gerichtet. Das Segel wurde eingezogen und die nöthigen Vorkehrungen für einen längeren Aufenthalt getroffen.

In der That, die Fluth konnte vor neun Uhr Abends nicht zurückkehren, und da John Mangles nicht daran dachte, während der Nacht zu fahren, so blieb er bis fünf Uhr Morgens vor Anker liegen. Das Land war nun schon wenigstens auf drei Meilen in Sicht.

Die Wogen erhoben sich mit ziemlich starkem Wellenschlage, und es schien, als ob diese ganze Bewegung nach der Küste zu sich fortsetzte. Glenarvan frug, als er erfuhr, daß man die ganze Nacht vor Anker bleiben wolle, warum John diese Strömung nicht benutze, um sich der Küste zu nähern.

»Ew. Herrlichkeit, antwortete der junge Kapitän, lassen sich durch eine [565] optische Erscheinung täuschen. Die Strömung ist nur eine scheinbare, eine schaukelnde Bewegung des Wassers, nichts weiter. Werfen Sie ein Stück Holz mitten hinein, und Sie werden sehen, daß es unbeweglich bleibt, so lange sich die Ebbe nicht bemerkbar macht. Wir müssen daher Geduld haben. Und wie steht es mit dem Diner?« fragte John.

Olbinett nahm aus einer der Kisten einige Stücke trockenes Fleisch und ein Dutzend Zwiebäcke. Der Steward erröthete darüber, seinem Herrn eine so magere Kost bieten zu müssen. Aber sie wurde mit Behagen angenommen, selbst von den Damen, obwohl diese in Folge der unruhigen Bewegungen des Meeres keineswegs Appetit fühlten.

In der That waren auch diese beständigen Erschütterungen des Flosses mehr als ermüdend, da ein kurzer und regelloser Wellenschlag es unaufhörlich hin-und herwarf, so daß es durch scharfe Felszacken kaum mehr zu leiden gehabt hätte. Man mußte zuweilen wirklich glauben, daß es auf solche aufstoße. Das Ankertau war in unaufhörlicher Bewegung, und John ließ jede halbe Stunde einen Faden mehr nach, um es nicht allzu sehr anzuspannen. Ohne diese Vorsicht wäre es unvermeidlich zerrissen, und das Floß wäre dann, sich selbst überlassen, in die hohe See hinaus geschleudert worden.

John's Befürchtungen waren daher wohl begründet, denn das Zerreißen des Taues sowohl, als auch der Verlust des Ankers waren verhängnißvoll.

Die Nacht nahte. Schon verschwand die Sonne mit blutrother Färbung hinter dem Horizont. Im Westen leuchtete und schimmerte die Wassergrenze wie ein mit Silber durchwirkter Teppich. Dort sah man nur Wasser und Himmel, einen einzigen klar hervortretenden Punkt ausgenommen, das unbewegliche Wrack des Macquarie.

Die schnell einbrechende Dunkelheit verzögerte kaum um einige Minuten den Eintritt der Nacht, und bald verschwand die Küste, welche im Westen und Norden den Horizont begrenzte.

Welch' schreckliche Lage war das nicht für diese armen Schiffbrüchigen, die auf dem winzigen Floß in düstere Finsterniß eingehüllt waren. Die Einen überließen sich einem angstvollen Schlummer mit seinen wirren Träumen, die Anderen konnten auch diesen nicht einmal finden. Bei Tagesanbruch waren alle durch die Mühen der Nacht fast gebrochen.

Mit der steigenden Fluth erhob sich auch der Wind von der See her. Es war sechs Uhr morgens. Die Zeit drängte. John traf Anstalt, den Anker [566] zu lichten und die Fahrt fortzusetzen. Aber seine Widerhaken hatten sich in Folge der beständigen Bewegungen des Taues tief in den Sand hinein gebohrt. Ohne Winde war es unmöglich, ihn herauszubringen.

Eine halbe Stunde verrann unter vergeblichen Versuchen. In seiner Ungeduld, abzusegeln, ließ John das Tau kappen und gab den Anker verloren, obwohl er sich damit jede Möglichkeit abschnitt, nöthigenfalls wieder beizulegen, wenn die Fluth nicht genügte, um die Küste zu gewinnen. Aber er wollte nicht länger zögern; ein Beilhieb befreite das Floß, das nun der Brise überlassen war, unter der es mit Hilfe der Strömung zwei Knoten in der Stunde zurücklegte.

Das Segel wurde wiederum entfaltet. Man kam langsam dem Lande näher und näher, das im Hintergrunde beleuchtet von der aufgehenden Sonne in schwarzgrauen Massen sich hinzog. Die Risse wurden geschickt vermieden und endlich ganz überwunden. Und doch schien das Fahrzeug, da die Brise noch immer unbeständig von der hohen See her wehte, sich der Küste nicht so schnell zu nähern, als man es wünschte. Welche Mühe und Anstrengung galt es doch, dieses Neu-Seeland zu erreichen, das eine so gefährliche Gastlichkeit bot.

Um neun Uhr war die Küste jedoch höchstens nur noch eine Meile entfernt. Sie starrte von Klippen und Rissen. Man mußte erst eine zugängliche Stelle aufsuchen. Der Wind wurde schwächer und schwächer, und ließ endlich ganz nach.

Das schlaffe Segel schlug an den Mast, weshalb John es ganz einziehen ließ. Die Wellen allein trugen das Floß an's Ufer; man mußte ganz auf das Steuerruder verzichten, da gewaltige Massen von Seetang den Lauf hemmten.

Um zehn Uhr sah sich John etwa drei Kabellängen vom Ufer entfernt aber man hatte keinen Anker auszuwerfen. Sollte er nun wieder bei Eintritt der Ebbe sich zurückwerfen lassen in die offene See? Mit krampf haft geballter Faust und wildem, unruhigem Blick sah er hin nach der unzugänglichen Küste.

Glücklicherweise – ein wirkliches Glück diesmal – erfolgte ein heftiger Stoß. Das Floß stand still, es saß fest im Sande, etwa fünfundzwanzig Faden von der Küste.


Beim Anbruch der Nacht. (S. 566.)

Glenarvan, Robert, Wilson und Mulrady warfen sich in's Wasser. Das [567] Floß wurde mit Stricken an die nächsten Riffspitzen befestigt.


Die reisenden Damen werden an's Land getragen. (S. 568.)

Die Damen, von Arm zu Arm hinüber befördert, betraten das Land, ohne auch nur eine Falte ihrer Kleider benetzt zu haben, und bald darauf hatten Alle sammt Waffen und Lebensmitteln auf dem gefürchteten Ufer von Neu-Seeland festen Fuß gefaßt.

[568]
8. Capitel
Achtes Capitel.
Der jetzige Zustand des Landes

Glenarvan wäre gern ohne jeden Zeitverlust an der Küste entlang nach Auckland hinausgegangen. Aber seit dem Morgen hatte der Himmel sich mit schweren Wolken bedeckt, und gegen elf Uhr ergossen diese Ströme von Regen.

[569] Somit war es unmöglich, den Marsch anzutreten; man war vielmehr gezwungen, Schutz zu suchen.

Wilson entdeckte gerade zur rechten Zeit eine von dem Meere ausgehöhlte Grotte in den Basaltfelsen des Ufers. Dorthin flüchteten die Reisenden mit Waffen und Vorräthen. Im Inneren fand man eine Menge getrockneten Seetanges, der durch die Wellen früher hineingespült worden war, und nun eine natürliche Lagerstätte bildete; sie wurde freudig begrüßt. Ein Holzhausen wurde am Eingang der Grotte aufgeschichtet und angezündet; an seinem Feuer trocknete man sich trefflich.

John hoffte, daß der Regen, gerade weil er so sündfluthlich war, bald aufhören werde. Das war indeß nicht der Fall. Die Stunden verflossen, ohne eine Aenderung des Wetters zu bringen. Der Wind wurde gegen Mittag frischer und gestaltete sich endlich zu einem vollen Sturme. Diese Ungunst des Wetters hätte auch den geduldigsten Menschen ungeduldig machen müssen. Aber was half es? Ohne Fuhrwerk einem solchen Sturmwind zu trotzen, wäre Thorheit gewesen. Ueberdies genügten wenige Tage, um Auckland zu erreichen, und eine Verzögerung von zwölf Stunden konnte der Expedition keinen Nachtheil bringen, wenn sie nicht von Eingeborenen überrascht wurde.

Während dieses gezwungenen Aufenthaltes bezog sich die Unterhaltung besonders auf die Kriegsereignisse, deren Schauplatz Neu-Seeland war.

Um jedoch den Ernst der Verhältnisse zu verstehen und zu würdigen, in welche die Schiffbrüchigen des Macquarie mitten hinein geworfen wurden, muß man die Geschichte dieses Kampfes kennen, welcher damals die Insel Ika-na-Maoui mit Blut tränkte.

Seit der Ankunft Abel Tasman's in der Meerenge Cook, am 13. December 1642, waren die Neu-Seeländer trotz des Besuches zahlreicher europäischer Schiffe frei und unabhängig auf ihren Inseln geblieben. Keine Macht Europas dachte daran, sich dieses Archipels zu bemächtigen, welcher die Meere des Stillen Oceans beherrscht.

Nur die Missionaire, welche auf verschiedenen Punkten sich niedergelassen hatten, brachten in diese neuen Gegenden die Wohlthaten der christlichen Civilisation. Einige unter ihnen, und besonders die englischen, bereiteten die Chefs des Landes darauf vor, sich unter das Joch Englands zu fügen. Durch Vorspiegelungen verlockt, unterzeichneten diese auch wirklich einen Brief an [570] die Königin Victoria, in welchem sie deren Schutz erbaten. Aber die Klügsten von ihnen ahnten die Folgen dieses thörichten Schrittes, und Einer, der auf das Schreiben seine Tättowirung gezeichnet hatte, ließ die prophetischen Worte hören: »Wir haben unser Land verloren; in Zukunft gehört es nicht mehr uns; bald wird der Fremde kommen, um sich desselben zu bemächtigen und wir werden seine Sklaven sein.«

In der That, am 29. Januar 1840, langte die Corvette Herard in der Inselbucht nördlich von Ika-na-Maoui an. Der Kapitän des Schiffes, Hobson, schiffte sich im Dorfe Korrora-Reka aus. Die Bewohner desselben wurden eingeladen, einer General-Versammlung in der protestantischen Kirche beizuwohnen. Kapitän Hobson legte in derselben die Vollmacht vor, mit der die Königin von England ihn bekleidet hatte.

Am 5. Januar des folgenden Jahres wurden die mächtigsten seeländischen Chefs zu dem englischen Residenten im Dorfe Païa berufen. Kapitän Hobson suchte ihre Unterwerfung zu erlangen, indem er erklärte, daß die Königin Truppen und Schiffe zu ihrem Schutze gesandt habe, da ihre Rechte verbrieft seien und ihre Freiheit unbeschränkt bleiben solle. Gleich wohl sollten ihre Ländereien der Königin Victoria gehören, der sie dieselben zu verkaufen verpflichtet wären.

Die Majorität der Chefs fand den Schutz zu theuer und weigerte sich, ihre Zustimmung zu geben. Aber Versprechungen und Geschenke hatten mehr Einfluß auf diese wilden Naturen, als die hochtrabenden Worte Hobson's. Die Besitzergreifung wurde bestätigt.

Was geschah nun seit diesem Jahre 1840 bis zu dem Tage, wo der Duncan den Golf der Clyde verließ? Jacques Paganel war mit den Ereignissen genau vertraut und bereit, sie seinen Gefährten mitzutheilen.

»Madame, erwiderte er auf die Fragen der Lady Helena, ich will Ihnen wiederholen, was ich gelegentlich schon bemerkte, nämlich, daß die Neu-Seeländer eine muthige Bevölkerung bilden, welche, nachdem sie einen Augenblick nachgiebig gewesen, nun jeden Fuß breit Landes gegen den Andrang der Engländer vertheidigt. Die Stämme der Maoris sind wie die alten Clans von Schottland organisirt. Es sind ebenso viele große Familien, welche einen Chef anerkennen und außerordentlich bestrebt sind, ihm ergeben zu sein. Die Männer dieser Race sind stolz und tapfer; die Einen groß mit glatten Haaren, ähnlich den Maltesern oder Juden von Bagdad, auch äußerst intelligent, die[571] Anderen kleiner, gedrungener, ähnlich den Mulatten, aber alle stark gebaut, hochmüthig und kriegerisch.

Ihr berühmter Chef, Namens Hihi, war ein wahrer Vercingetorix. Sie werden also nicht erstaunt sein, wenn der Krieg mit den Engländern auf dem Territorium von Ika-na-Maoui sich endlos hinzieht, denn dort befindet sich der berühmte Tribus der Waikatos, welche William Thompson zur Vertheidigung des Bodens herbeizieht.

– Aber sind die Engländer, frug John Mangles, nicht Herren der wichtigsten Punkte von Neu-Seeland?

– Ohne Zweifel, mein lieber John, erwiderte Paganel. Nach der Besitzergreifung durch Kapitän Hobson, welcher zum Gouverneur der Insel ernannt worden war, sind von 1840 bis 1862 allmälig neue Colonien in den vortheilhaftesten Gegenden entstanden. Daher die Eintheilung in neun Provinzen, vier im Norden der Insel, nämlich Auckland, Taranaki, Wellington und Hawkes-Bai; fünf im Süden: es sind Nelson, Marlborough, Canterbury, Otago und Southland, mit einer Gesammtbevölkerung von 180,346 Einwohnern. Dies war wenigstens am 30. Juni 1864 ihr Stand.

Bedeutende Handelsstädte sind dort überall emporgeblüht. Wenn wir nach Auckland kommen werden, werden Sie nicht umhin können, die Lage dieses Korinth des Südens ohne Rückhalt zu bewundern. Es beherrscht seinen Isthmus, der gleichsam eine prächtige Brücke über den Stillen Ocean bildet, und zählt bereits 12,000 Einwohner. Im Westen New-Plymouth, im Osten Ahuhiri, im Süden Wellington, das sind alles blühende und viel besuchte Städte. Auf der Insel Tawaï-Pounamon würden sie in Verlegenheit sein, die Wahl zu treffen zwischen Nelson, dem Montpellier der Antipoden, diesem Garten von Neu-Seeland, Picton an der Meerenge von Cook, Christchurch oder Invercargill und Dunedin, alle in dieser reichen Provinz von Otago, wo die Goldsucher der ganzen Welt zusammenströmen. Und bemerken Sie, daß es sich hier nicht um eine Vereinigung einiger Wigwams handelt, oder um einen Zusammenfluß wilder Familien, sondern um wahre Städte mit Häfen, Kathedralen, Banken, Docks, botanischen Gärten, Museen, Acclimatisationsgesellschaften, Zeitungen, Wohlthätigkeitsanstalten, philosophischen Instituten, Freimaurerlogen, Theatern und Palästen – so gut wie in London oder Paris. Und wenn mein Gedächtniß mir treu ist, so werden [572] dort im Jahre 1865, vielleicht eben jetzt, die industriellen Producte des ganzen Erdtheils ausgestellt.

– Wie! Ungeachtet des Krieges mit den Eingeborenen? frug Lady Helena.

– Die Engländer, Madame, führen Kriege und veranstalten doch zu gleicher Zeit Ausstellungen, erwiderte Paganel. Das stört sie nicht. Ja sie bauen sogar Eisenbahnen unter dem Gewehrfeuer der Neu-Seeländer. In der Provinz Auckland durchschneiden die Bahnen von Druri und Mere-Mere die von den Aufständischen besetzten Hauptpunkte. Ich wollte wetten, daß die Arbeiter von der Locomotive aus schießen.

– Aber wie steht es jetzt mit diesem endlosen Kriege? frug John Mangles.

– Es sind nun fast sechs Monate, daß wir Europa verlassen haben, erwiderte Paganel, ich kann also nicht wissen, was sich seit unserer Abreise ereignet hat, einige Thatsachen ausgenommen, welche ich in den Journalen von Maryboroug und Seymour während unserer Ueberfahrt nach Australien gelesen habe. In jener Zeit aber war der Kampf auf der Insel Ika-na-Maoui heftig entbrannt.

– Und wann hat dieser Kampf begonnen? frug Mary Grant.

– Sie wollen sagen ›wieder begonnen‹, meine liebe Miß, erwiderte Paganel, denn die erste Erhebung fand im Jahre 1845 statt.

Jetzt datirt er seit Ende 1860. Aber lange vorher bereiteten sich die Maoris darauf vor, das Joch der englischen Herrschaft abzuschütteln. Die nationale Partei der Eingeborenen entfaltete eine lebhafte Thätigkeit, um die Wahl eines Chefs aus dem Stamme der Maoris herbeizuführen. Sie wollte aus dem alten Potatau einen König, und aus seinem Dorfe, das zwischen den Flüssen Waikato und Waipa liegt, die Hauptstadt des neuen Reiches machen. Dieser Potatau war ein mehr anmaßender, als kühner Greis, aber er hatte einen energischen und intelligenten Premierminister, der dem Stamme der Ngatihahuas angehörte, welche den Isthmus von Auckland vor der Occupation durch die Engländer bewohnten. Er hieß William Thompson und wurde die Seele dieses Unabhängigkeitskrieges. Er organisirte die maorischen Truppen sehr geschickt. Unter seinem belebenden Einfluß vereinigte ein Chef der Taranakis zu demselben Zwecke die zerstreuten Stämme; ein anderer Chef des Waikatogebietes formirte die vereinigte Landliga, ein wahres [573] Schutz- und Trutz-Bündniß für das Wohl des Vaterlandes, dazu bestimmt, die Eingeborenen von dem Verkauf ihrer Ländereien an die englische Regierung abzuhalten. Die Verbündeten hielten Gastmähler, wie in den civilisirten Städten, welche das Vorspiel zu einer Revolution gaben. Die britischen Journale begannen die beunruhigenden Symptome zu enthüllen, und die Regierung überwachte sorgsam das Verhalten der ›Landliga‹. Die Wogen des öffentlichen Lebens gingen hoch; die Mine sollte bald springen. Es fehlte allein nur noch der zündende Funke, oder vielmehr die Reibung der beiderseitigen Interessen, um ihn zu erzeugen.

– Und diese Reibung erfolgte? ... fragte Glenarvan.

– Ja, sie erfolgte im Jahre 1860, erwiderte Paganel, in der Provinz Taranaki, auf der Süd-Westküste von Ika-na-Maoui. Ein Eingeborener besaß sechshundert Acker Land in der Nachbarschaft von New-Plymouth. Er verkaufte sie der englischen Regierung. Aber als die Vermessungsbeamten anlangten, um das verkaufte Terrain aufzunehmen, protestirte der Chef Ringi, und im Monat März errichtete er auf den verkauften Ländereien ein verschanztes Lager. Einige Tage darauf nahm der Oberst Gold dasselbe an der Spitze seiner Truppen, und da war es, wo der zündende Funke des nationalen Krieges hervorsprang.

– Sind die Maoris zahlreich? frug John Mangles.

– Ihr Stamm ist seit einem Jahrhundert sehr geschwächt worden, erwiderte der Geograph. Im Jahre 1769 schätzte ihn Cook auf 400,000 Einwohner. Schon 1845 ergab die öffentliche Volkszählung 109,000 weniger. Die sogenannten civilisirenden Blutgemetzel, die Krankheiten und der Branntwein haben das Volk decimirt; aber auf beiden Inseln sind immer noch 90,000 Eingeborener, unter denen sich etwa 30,000 Krieger befinden, welche die europäischen Truppen lange Zeit im Schach halten werden.

– Und hat die Schilderhebung bis jetzt Erfolg gehabt? frug Lady Helena.

– Ja, Madame, die Engländer selbst haben oft den Muth der Neu-Seeländer bewundert. Sie führen einen Guerrillakrieg, und stürzen sich, benachrichtigt durch ihre Späher, auf die kleinen Detachements, wobei sie die Besitzungen der Colonisten plündern. General Cameron war in diesen Kämpfen durchaus nicht um seine Lage zu beneiden.

Im Jahre 1863 hielten die Maoris nach einem langen und mörderischen [574] Kriege an dem oberen Lauf des Waikato eine starke Position fest, welche sich an eine Reihe allmälig aufsteigender Hügel anschloß und durch die Vertheidigungslinien gedeckt war. Ihre Priester riefen die ganze maorische Bevölkerung zur Vertheidigung des Landes auf und versprachen Vergebung aller Sünden.

Dreitausend Mann unter dem Befehl des General Cameron nahmen den Kampf mit ihnen auf und gaben den Maoris seit der barbarischen Ermordung des Kapitän Spreat keinen Pardon mehr. Blutige Gefechte fanden statt, von denen einige zwölf Stunden dauerten, ohne daß die Maoris vor den europäischen Kanonen zurückwichen. Der wilde Stamm der Waikatos unter dem Oberbefehl William Thompson's bildete den Kern ihrer Armee. Derselbe commandirte zuerst etwa 2500 Krieger, ihre Zahl stieg indeß bald auf 8000.

Die Unterthanen Shongi's und Heki's, zweier gefährlicher Häuptlinge, kamen ihm zu Hilfe. Selbst die Frauen theilten die Anstrengungen und Mühen dieses heiligen Krieges. Aber das gute Recht führt nicht immer glückliche Waffen. Nach blutigen Kämpfen gelang es dem General Cameron, den Waikato-District zu unterwerfen, der allerdings leer und entvölkert war, denn die Maoris zogen sich daraus eiligst zurück. Es gäbe da bewunderungswürdige Kriegsthaten aufzuzählen.

Vierhundert Maoris, eingeschlossen in die Feste von Orakan, wurden von tausend Engländern unter dem Befehle des Brigadegenerals Carey belagert. Obwohl ohne Lebensmittel und ohne Wasser, verweigerten sie es dennoch, sich zu ergeben. Und eines Tages um die Mittagsstunde bahnten sie sich einen blutigen Weg durch das vierzigste Regiment, das sie fast decimirten und retteten sich in die Moräste.

– Aber hat die Unterwerfung des Waikato-Districtes diesen blutigen Krieg beendet? frug John Mangles.

– Nein, mein Freund, erwiderte Paganel. Die Engländer entschlossen sich, die Provinz Taranaki anzugreifen und Mateitawa, die Festung William Thompson's, zu belagern. Aber sie werden sich ihrer ohne bedeutende Verluste nicht bemächtigen. Zur Zeit, wo ich Paris verließ, hatte ich erfahren, daß der Gouverneur im Einverständniß mit dem General die Unterwerfung der Stämme von Taranga acceptirt hatte, und ihnen drei Viertel ihrer Ländereien ließ. Man sagte zwar, daß der Haupträdelsführer, William [575] Thompson, sich zu ergeben gedenke; aber die Journale von Australien haben diese Nachricht nicht bestätigt, – im Gegentheil. Es ist also wahrscheinlich, daß in diesem Augenblicke der Widerstand mit neuen Kräften organisirt wird.


Unterhaltung in der Grotte. (S. 570.)

– Und Ihrer Meinung nach, sprach Glenarvan zu Paganel, wären die Provinzen von Taranaki und Auckland der künftige Kriegsschauplatz.

– Ich denke es.

– Also dasselbe Gebiet, in welches uns der Schiffbruch des Macquarie verschlagen hat.


Jacob Louper an die Boote geklammert. (S. 579.)

– Dasselbe. Wir sind einige Meilen oberhalb Kaw [576] hia gelandet, wo noch jetzt die Fahne der Maoris wehen muß.

– Dann werden wir gut thun, uns nach Norden zu wenden, sagte Glenarvan.

– Gewiß, gewiß, erwiderte Paganel. Die Neu-Seeländer sind gegen die Europäer eingenommen, und ganz besonders gegen die Engländer. Wir müssen daher Alles aufbieten, um nicht in ihre Hände zu fallen.

[577] – Vielleicht treffen wir unterwegs auf ein Detachement europäischer Truppen, sagte Lady Helena. Das würde ein großes Glück für uns sein.

– Vielleicht, Madame, antwortete der Geograph, aber ich erhoffe es nicht. Die isolirten Detachements durchstreifen nicht gern eine Landstrecke, in der hinter jedem Gebüsch ein Eingeborener lauert. Ich rechne also nicht auf eine Escorte der Soldaten vom vierzigsten Regiment. Aber an der Westküste, welcher wir folgen werden, giebt es einige Missionsstationen, die wir auf unserem Marsch nach Auckland als Haltepunkte betrachten können. Ich denke sogar daran, dieselbe Route einzuschlagen, welche Herr von Hochstetter den Waikatofluß entlang gewählt hat.

– War das ein Reisender, Herr Paganel? frug Robert Grant.

– Ja, mein Sohn, ein Mitglied der wissenschaftlichen Commission, welche an Bord der österreichischen Fregatte ›Novara‹ im Jahre 1858 die Reise um die Welt machte.

– Herr Paganel, sagte Robert, dessen Augen bei dem Gedanken an so große Expeditionen aufleuchteten, hat auch Neu-Seeland so berühmte Reisende, wie Australien an Burke und Stuart, aufzuweisen?

– Einige, mein Kind, wie den Doctor Hooker, Professor Brizard, die Naturforscher Dieffenbach und Julius Haast, doch sind sie, trotzdem einige derselben ihre abenteuerliche Leidenschaft mit dem Leben bezahlten, nicht so berühmt geworden als die Reisenden in Australien und Afrika.

– Und Sie kennen ihre Geschichte? fragte der junge Grant.

– Das will ich meinen, mein Sohn, und da ich sehe, daß Du brennst, davon eben so viel zu wissen als ich, so werde ich sie Dir erzählen.

– Schönen Dank, Herr Paganel, ich höre zu.

– Und wir natürlich auch, sagte Lady Helena. Es ist nicht das erste Mal, daß das schlechte Wetter uns geradezu gezwungen hat, uns weiter zu unterrichten. Also sprechen Sie zu Allen, Herr Paganel.

– Zu Ihrem Befehl, Madame, erwiderte der Geograph, doch wird mein Bericht nur kurz sein, denn er behandelt nicht jene kühnen Entdecker, welche Mann gegen Mann den australischen Minotaur bekämpften. Neu-Seeland ist ein zu wenig ausgedehntes Land, um sich der Erforschung durch den Menschen lange entziehen zu können. Dazu sind meine Helden auch nicht Entdeckungsreisende im engeren Sinne, sondern einfache Touristen, welche sehr alltäglichen Zufällen zum Opfer fielen.

[578] – Und deren Namen? fragte Mary Grant.

– Da ist der Geometer Witcombe, und Charlton Howitt, derselbe, welcher bei der bemerkenswerthen Expedition, von der ich Ihnen während unseres Aufenthaltes am Wimerra erzählte, die Ueberreste Burke's auffand. Witcombe und Howitt führten Jeder zwei Expeditionen durch die Insel Tawaï-Pounamon an. Beide gingen in den ersten Monaten des Jahres 1863 von Christchurch aus ab, um verschiedene Pässe über die nördlichen Bergketten der Provinz Canterbury aufzufinden. Howitt erreichte jene an der Westgrenze der Provinz und schlug sein Hauptquartier am Brunner-See auf. Witcombe dagegen fand am Rakaia-Thale eine Uebergangsstelle, welche bis an die Ostseite des Mount Tyndall führte. Er hatte auch einen Reisegefährten, Jacob Louper, welcher später in der ›Littleton-Times‹ einen Bericht über diese Fahrt und ihr trauriges Ende abstattete. Soweit ich mich erinnere, befanden sich die Reisenden am 22. April 1863 am Fuße eines Gletschers, von dem der Rakaia entspringt. Sie erstiegen seinen Gipfel, um weitere Uebergänge auszuspähen. Den folgenden Tag lagerten Witcombe und Louper, von Ermüdung und Frost erschöpft, auf tiefem Schnee, 4000 Fuß über dem Meere. Sieben volle Tage irrten sie dann in den Bergen und in Thälern, deren senkrechte Wände keinen Ausweg boten, umher, oft ohne Feuer, manchmal ohne Nahrung, denn ihr Zucker war zu Syrup geworden, ihr Schiffszwieback zu feuchtem Teige, ihre Kleidung und Decken trieften von Regen; sie selbst verzehrt von Insecten, machten bei großen Tagemärschen an drei Meilen, bei kleinen legten sie kaum zweihundert Yards zurück. Am 29. April trafen sie endlich auf eine Maorihütte und in einem Garten auf einige Kartoffeln. Es war das die letzte gemeinschaftliche Mahlzeit der beiden Freunde. An jenem Abend erreichten sie, nahe der Mündung des Taramakan, das Meer. Um nach dem nördlich gelegenen Flusse Grey zu gelangen, mußten sie der Küste rechtshin folgen. Der Taramakan war tief und breit. Louper fand nach stundenlangem Suchen zwei sehr beschädigte kleine Canots, die er nach Kräften ausbesserte und an einander band. Gegen Abend bestiegen sie die beiden Reisenden. Doch kaum in der Hälfte der Strömung angelangt, schöpften jene Wasser. Witcombe sprang heraus und schwamm an das linke Ufer zurück. Jacob Louper, der des Schwimmens unkundig war, klammerte sich an die Boote. Dadurch wurde er, wenn auch auf Umwegen, gerettet. Der Unglückliche wurde gegen die Klippen getrieben; eine Welle begrub ihn unter dem [579] Wasser, die andere hob ihn wieder empor, wobei er noch dazu gegen das Gestein geschleudert wurde. Eine tief dunkle Nacht brach herein; der Regen floß in Strömen. So wurde Louper mit blutigem Leibe mehrere Stunden lang hin und her geworfen. Endlich stieß das Boot gegen das Land, und der schon der Empfindung beraubte Schiffbrüchige wurde auf das Ufer geschleudert. Mit Tagesanbruch schleppte er sich nach einer Quelle und überzeugte sich, daß die Strömung ihn etwa eine Meile von der Stelle, wo er hatte übersetzen wollen, verschlagen hatte. Er erhob sich, folgte der Küste und fand bald den unglücklichen Witcombe, dessen Kopf und Rumpf halb im Schlamme staken. Dieser war todt. Louper höhlte mit den Händen ein Grab im Ufersande aus und beerdigte seinen Gefährten. Zwei Tage nachher wurde er, halb todt vor Hunger, von einigen gastfreundlichen Maoris – denn es giebt auch Solche – aufgenommen, und am 4. Mai erreichte er den Brunner-See und das Lager Charlton Howitt's, der sechs Wochen später, ähnlich wie Witcombe, den Tod finden sollte.

– Ja, sagte John Mangles, es scheint, als ob solche Katastrophen unter einander verkettet wären, daß ein Schicksalsband Reisende unter einander verbindet, und daß sie Alle untergehen, wenn dieses Band zerreißt.

– Sie haben Recht, Freund John, entgegnete Paganel, auch ich habe nicht selten diese Beobachtung gemacht. Nach welchem Gesetze der Solidarität Howitt fast unter denselben Verhältnissen unterging, kann man freilich nicht sagen. Charlton Howitt war von Wyde, dem Chef der Arbeiten des Gouvernements, beauftragt worden, einen für Pferde gangbaren Weg von den Ebenen des Hurunui bis zur Mündung des Taramakan ausfindig zu machen. Von fünf Mann begleitet, reiste er am 1. Januar 1863 ab. Mit einsichtsvollem Eifer unterzog er sich seiner Aufgabe, und so wurde bald ein vierzig Meilen langer Weg bis an eine zunächst unüberschreitbare Stelle am Taramakan hergerichtet. Howitt kehrte nach Christchurch zurück, wünschte aber trotz des herannahenden Winters seine Arbeiten fortzusetzen. Wyde stimmte dem zu. Howitt kehrte behufs der Verproviantirung seines Lagers zurück, in der Absicht, die ungünstige Jahreszeit dort zuzubringen. Um eben diese Zeit nahm er Jacob Louper wieder auf. Am 27. Juni verließ Howitt mit zweien seiner Leute, Robert Little und Henry Mullis, das Lager. Sie wollten über den Brunner-See setzen und wurden seitdem nicht wieder gesehen; nur ihr zerbrechliches und wenig über das Wasser reichendes Canot fand sich später [580] umgestürzt am Seeufer. Neun Wochen lang suchte man vergeblich; offenbar waren die Unglücklichen, welche nicht schwimmen konnten, im See ertrunken.

– Warum könnten sie sich aber nicht heil und gesund bei irgend einem seeländischen Stamme befinden? warf Lady Helena ein. Mindestens darf man an ihrem Tode einigen Zweifel hegen.

– O nein, Madame, erwiderte Paganel, denn sie sind im August 1864, also über ein Jahr nach der Katastrophe, auch noch nicht wieder aufgetaucht, und wer ein Jahr lang, ohne zum Vorschein zu kommen, in diesem Neu-Seeland ist, murmelte er heimlich weiter, der ist unwiderruflich verloren!«

9. Capitel
Neuntes Capitel.
Dreißig Meilen nördlich.

Am 7. Februar, Morgens um sechs Uhr, gab Glenarvan das Zeichen zur Abreise. Während der Nacht hatte der Regen aufgehört. Das von kleinen graulichen Wolken halbbedeckte Himmelsgewölbe hielt die Sonnenstrahlen drei Meilen über dem Erdboden zurück. Die mäßige Temperatur gestattete es, sich den Beschwerden einer Reise am Tage auszusetzen.

Nach der Karte hatte Paganel die Entfernung von Cahua nach Auckland auf achtzig Meilen bestimmt, welche also, bei zehn Meilen täglich, eine Reise von acht Tagen beanspruchte. Anstatt indeß dem buchtenreichen Meeresufer zu folgen, schien es ihm vortheilhafter, den dreißig Meilen entfernten Zusammenfluß des Waikato und des Waipa, nahe dem Dorfe Ngarnavahia, zu erreichen. Dort findet sich die »Overland mail track«, eine für Wagen passirbare Straße, um sie nicht einen Fußpfad zu nennen, welche einen großen Theil der Insel von Napier an der Hawkes-Bai bis nach Auckland durchschneidet. Von dort müßte man leicht nach Drury gelangen, wo man in einem ausgezeichneten, von dem Naturforscher Hochstetter ganz besonders empfohlenen Hôtel ausruhen konnte.

[581] Die Reisenden, deren Jeder seinen Bedarf an Lebensmitteln trug, umzogen also die Ufer der Aotea-Bai. Aus Klugheit entfernten sie sich nicht von einander, und aus Instinct überwachten sie mit geladenen Carabinern die welligen Ebenen nach Osten. Paganel fand, mit seiner ausgezeichneten Karte in der Hand, eine wahrhafte Künstlerfreude darin, die Genauigkeit ihrer geringsten Details zu bestätigen.

Einen Theil des Tages über durchzog die kleine Gesellschaft Strecken von Sand, der aus den Trümmern zweischaliger Muscheln, weißem Fischbein und aus einer Mengung von Eisenoxyd und Oxydul zusammengesetzt war. Ein dem Erdboden genäherter Magnet bedeckte sich sofort mit prächtigen Krystallen.

An dem von der steigenden Fluth bespülten Ufer tummelten sich sorglos verschiedene Meeresbewohner. Die Robben mit ihren runden Köpfen, ihrer breiten, zurücktretenden Stirn und den ausdrucksvollen Augen boten einen friedlichen, fast angenehmen Anblick. So begreift man erst, wie die Fabel, welche diese merkwürdigen Seegeschöpfe in ihrer Art idealisirte, daraus bezaubernde Sirenen machen konnte, obgleich ihre Stimme nur in einem sehr unharmonischen Gurren besteht. Diese an den Küsten Neu-Seelands sehr zahlreich auftretenden Thiere sind sowohl ihres Thranes, als auch ihres Felles wegen der Gegenstand eines sehr lebhaften Handels.

Zwischen ihnen machten sich noch drei bis vier See-Elephanten bemerklich, welche bläulich-grau aussahen und eine Länge von fünfundzwanzig bis dreißig Fuß hatten. Diese enormen Amphibien, welche sich träge auf einem dicken Bette riesiger Laminarien streckten, erhoben ihren Rüssel und bewegten grimassenartig die rauhen Borsten ihrer langen und gewundenen Kinnladen, wahre Pfropfenzieher und gedrechselt, wie der Schnurrbart eines Stutzers. Robert vergnügte sich damit, diese interessante Welt zu beobachten, als er plötzlich ganz erstaunt ausrief:

»Da! Diese Robben fressen Kieselsteine!«

Und wirklich verschlangen mehrere dieser Thiere die Ufersteine mit wahrer Gier.

»Wahrhaftig! Die Thatsache steht fest! bestätigte Paganel. Es ist nicht zu leugnen, daß jene Geschöpfe den steinigen Strand abweiden.

– Eine sonderbare Nahrung, sagte Robert, und gewiß schwer verdaulich!

– Nicht um sich zu nähren, mein Sohn, sondern nur um sich schwerer [582] zu machen, verschlingen diese Amphibien die Steine. Es dient ihnen das als Mittel, ihr specifisches Gewicht zu erhöhen und dadurch leichter tauchen zu können. Kommen sie wieder auf das Land zurück, so geben sie dieselben auch ohne große Umstände wieder von sich. Jene da wirst Du bald in den Wellen verschwinden sehen.«

Bald kroch denn auch etwa ein halbes Dutzend genügend beschwerter Robben schwerfällig nach dem Ufer und tauchte unter das flüssige Element. Glenarvon mochte aber die kostbare Zeit nicht damit verlieren, ihre Rückkehr abzuwarten, um die Wiederentlastung zu beobachten, und so wurde zu Paganel's großem Leidwesen der unterbrochene Marsch wieder aufgenommen.

Um zehn Uhr rastete man des Frühstücks wegen an großen Basaltblöcken, welche wie Felsengräber der Celten den Meeresstrand umstanden. Eine Austernbank lieferte eine große Menge dieser Schalthiere. Diese Austern waren klein und nicht besonders schmackhaft. Auf Paganel's Rath aber briet sie Olbinett über glühenden Kohlen, und so zubereitet folgte ein Dutzend dem andern während der ganzen Dauer der Mahlzeit.

Dann ging es wieder längs der Ufer der Bai vorwärts. Auf die ausgezackten Felsen des steilen Gestades hatte sich die ganze Sippschaft der Seevögel geflüchtet: Fregatt- und Spottvögel, Seemöven und riesige Albatrosse, welche unbeweglich auf den höchsten Spitzen saßen. Um vier Uhr Nachmittags waren ohne Anstrengung oder Ermüdung zehn Meilen zurückgelegt. Die Damen wollten den Weg bis zum Eintritt der Nacht fortsetzen. Jetzt mußte auch eine andere Richtung eingeschlagen werden; man mußte sich, unter Umgehung einiger Berge, welche im Norden sichtbar wurden, in das Waipa-Thal begeben.


Die rundköpfigen Robben. (S. 582.)

Weithin zeigten sich sehr ausgedehnte Prairien, die sich am Horizonte verloren und einen bequemen Weg versprachen. Die Reisenden sahen sich aber, als sie den Rand dieser grünen Flächen erreichten, gewaltig enttäuscht. Die Weideplätze zeigten sich als Gebüschgruppen mit kleinen weißen Blüthen, untermischt mit jenen hohen, unzähligen Farrnkräutern, welche den Boden Neu-Seelands ganz besonders lieben. Mit der Axt mußte der Weg durch diese holzigen Stengel gebrochen werden, was natürlich sehr aufhielt. Um acht Uhr Abends waren indeß die ersten Gipfel der Hakarihoata-Ranges umwandert und das Lager wurde unverzüglich aufgeschlagen.

Nach einer Wanderung von vierzehn Meilen durfte man wohl an die [583] Ruhe denken. In Ermangelung eines Wagens oder Zeltes legte sich Jeder nach Belieben am Fuße prächtiger Norfolktannen zum Schlafen nieder. Decken fehlten nicht und mußten dazu dienen, Betten zu improvisiren.

Für die Nacht ergriff Glenarvan die strengsten Vorsichtsmaßregeln. Wohl bewaffnet sollten seine Begleiter und er zu je Zweien bis Tagesanbruch Wache halten. Ein Feuer wurde nicht angezündet. Diese Flammenwände sind gegen reißende Thiere von Nutzen, aber Neu-Seeland hat weder Tiger, [584] Löwen, noch Bären; doch muß man gestehen, daß die Neu-Seeländer selbst diese genügend ersetzen. Ein Feuer hätte also nur dazu gedient, diese zweibeinigen Jaguare herbeizulocken.

Kurz, die Nacht verlief ganz gut, bis auf die unangenehmen Stiche einiger Sandflöhe, welche in der Ursprache »Ngamu« heißen, und die Angriffe einer kecken Rattenfamilie, welche die Proviantsäcke mit eifrigen Zähnen benagte.


Der seeländische Kiwi. (S. 588.)

[585] Am anderen Tage, dem 8. Februar, erwachte Paganel weit vertrauensvoller und fast ausgesöhnt mit diesem Lande. Die Maoris, welche er vor Allem scheute, waren weder erschienen, noch hatten jene wilden Cannibalen seine Träume belästigt. Er bezeigte gegen Glenarvan seine volle Befriedigung darüber.

»Ich hoffe doch, sagte er, daß diese kleine Promenade ohne Unfall endigen soll. Diesen Abend noch werden wir die Vereinigung des Waipa und Waikato erreicht haben, und über diesen Punkt hinaus ist auf dem Wege nach Auckland ein feindlicher Zusammenstoß mit Eingeborenen kaum zu fürchten.

– Wie weit haben wir, fragte Glenarvan, bis zum Zusammenflusse des Waipa und Waikato?

– Fünfzehn Meilen, also ungefähr eine Strecke, wie wir sie gestern zurückgelegt haben.

– Wir dürften aber sehr aufgehalten werden, wenn diese endlosen Gebüsche die Pfade sperren.

– Nein, entgegnete Paganel, wir folgen nun den Ufern des Waipa; dort sind keine Hindernisse weiter, sondern im Gegentheil, ein bequemer Weg.

– Nun, wohlauf denn!« rief Glenarvan, der auch die Damen schon zum Aufbruche fertig sah.

Noch während der ersten Stunden verzögerten die Gebüsche sehr das Fortkommen. Weder Wagen noch Pferde wären hier zu gebrauchen gewesen. Ihr australisches Gefährt bedauerten die Reisenden also nur wenig. Bis zu dem Tage, da einst Fahrstraßen durch diese Pflanzenwüsten geschnitten sein werden, ist Neu-Seeland nur für einzelne Fußgänger zu bereisen. Die Farrn, die hier in zahllosen Arten vertreten sind, wetteifern mit den Maoris bei der Vertheidigung des heimatlichen Bodens.

Die kleine Gesellschaft hatte also bei Ueberschreitung der Ebenen, in welche die Hügel des Hakarihoata auslaufen, mit tausenderlei Schwierigkeiten zu kämpfen. Vormittags noch erreichte sie aber die Ufer des Waipa, an denen sie ohne Mühe nordwärts hinaufziehen konnte.

Es war ein prächtiges Thal, von kleinen Creeks mit frischem klaren Wasser durchschnitten, welche munter unter den Sträuchern plätscherten. Nach des Botanikers Hooker Angaben sind auf Neu-Seeland bis jetzt zweitausend Pflanzenspecies beobachtet, von denen fünfhundert ihm eigenthümlich sind.

[586] Blumen sind dort selten, und es herrscht fast Mangel an einjährigen Gewächsen, gegenüber einem Ueberflusse an Farrnarten, Gräsern und Umbelliferen.

Da und dort erheben sich einige Bäume über das düstere Grün der ersteren Pflanzen, »Metrosideros« mit scharlachrothen Blüthen, Norfolktannen, Thujas mit senkrecht bei einander stehenden Aesten, und eine Cypressenart, der »Rimu«, von ebenso traurigem Aeußeren, wie ihre europäischen Verwandten. Alle diese Stämme sind von zahlreichen Farrnarten eingeschlossen.

Zwischen den Aesten der hohen Bäume und auf dem Gesträuch sprangen und spielten einige Kakadus umher; der grüne »Kakariki« mit einer rothen Binde unter der Kehle; der mit einer Art schönem schwarzen Backenbart gezierte »Taupo«, und ein Enten-großer Papagei mit rothem Gefieder und glänzender Unterseite der Flügel, den die Naturforscher »Nestor meridionalis« genannt haben.

Der Major und Robert konnten, ohne sich von ihren Gefährten zu entfernen, einige Becassinen und Rebhühner schießen, die unter dem Hochwald der Ruhe pflegten. Olbinett rupfte diese, um Zeit zu ersparen, gleich im Gehen.

Paganel seinerseits, der minder empfänglich für den Nährwerth des Wildes war, hätte sich gern einiger Neu-Seeland eigenthümlicher Vögel bemächtigt. Die Wißbegier des Naturforschers besiegte in ihm den Appetit des Reisenden. Sein Gedächtniß rief ihm, wenn es nicht trog, die fremdartige Gestalt des »Tui« der Eingeborenen zurück, der auch bald der »Spottvogel«, wegen seines unausgesetzten Lachens, genannt wird, bald auch der »Pfarrherr«, weil er einen weißen Kragen auf seinem schwarzen Gefieder wie eine Soutane trägt.

»Dieser Vogel, sagte Paganel zu dem Major, wird während des Winters so fett, daß er dadurch erkrankt. Er kann dann nicht mehr fliegen und zerhackt die Brust mit seinem Schnabel, um sich von dem Fette zu befreien und zu erleichtern. Erscheint das nicht eigenthümlich, Mac Nabbs?

– So eigenthümlich, erwiderte der Major, daß ich nicht ein Wort davon glaube.«

Zu seinem großen Bedauern konnte sich Paganel keines einzigen Exemplars dieser Vögel bemächtigen, um dem Major die blutigen Stellen ihrer Brust zu zeigen.

[587] Aber er war glücklicher mit einem eigenthümlichen Thiere, welches, um den Verfolgungen von Menschen, Hunden und Katzen zu entgehen, sich in unbewohnte Gegenden geflüchtet hat, und in kurzer Zeit aus der neu-seeländischen Thierwelt verschwinden wird. Robert, der beständig wie ein Wiesel umhersuchte, entdeckte in einem aus verschlungenen Wurzeln bereiteten Neste ein Paar Hühner ohne Flügel und ohne Schwanz, mit vier Zehen an den Füßen, einem langen Schnepfenschnabel und weißem Gefieder am ganzen Körper. Eigenthümliche Thiere, welche den Uebergang der Eierleger zu den Säugethieren anzudeuten schienen.

Es war der seeländische »Kiwi«, der »Apterix australis« der Naturforscher, welcher sich von Larven, Insecten, Würmern und Sämereien gleich gern ernährt. Dieser Vogel bildet eine Specialität des Landes. Nur mit Mühe hat man ihn in die zoologischen Gärten von Europa einführen können. Seine halb angedeuteten Formen, seine komischen Bewegungen, haben stets die Aufmerksamkeit der Reisenden auf sich gezogen und während der großen Entdeckungsreise Dumont d'Urville's war derselbe von der Akademie der Wissenschaften besonders beauftragt, ein Exemplar dieser seltenen Vögel mitzubringen. Aber ungeachtet der Belohnungen, welche den Eingeborenen versprochen wurden, konnte er sich keinen lebenden »Kiwi« verschaffen.

Paganel, ganz glücklich über den unerwarteten Fund, band die beiden Hühner zusammen, und nahm sie stolz als Beute in der Absicht mit, dem botanischen Garten in Paris damit ein Geschenk zu machen.

»Geschenk von M. Jacques Paganel« – diese verführerische Ueberschrift las er schon auf dem prächtigsten Käsige des Gartens, der muthige Geograph.

Indeß stieg die kleine Gesellschaft mühelos an den Ufern des Waipa hin bergab. Die Gegend war öde, keine Spur von Eingeborenen, kein Pfad, der die Gegenwart eines Menschen in diesen Ebenen verrathen hätte. Der Fluß glitt zwischen hohem Strauchwerk dahin, seine Wellen traten auch hier und dort über die flachen Ufer. – An solchen Stellen konnte man weithin bis zu den kleinen Bergen sehen, die das Thal im Osten abschlossen.

Mit ihren eigenthümlichen Formen, ihrem Profil, das tief in täuschenden Nebeln verhüllt war, glichen sie gigantischen Thieren aus der vorsündfluthlichen Zeit. Man hätte sie eine Masse mächtiger Cetaceer nennen können, die ganz plötzlich versteinert waren. Ein vorwiegend vulkanischer Charakter war diesen aufeinander gethürmten Massen eigen. Neu-Seeland ist in [588] der That nichts Anderes, als das frische Werk der unterirdisch schaffenden Natur.

Immer mehr und mehr davon taucht aus den Fluthen auf; gewisse Punkte hatten sich seit zwanzig Jahren fast um sechs Lachter erhöht. Das Feuer strömt immer noch durch seine Eingeweide, die es in krampfhafte Zuckungen versetzt, und bricht an vielen Stellen aus Erdspalten und den Kratern der Vulkane hervor.

Um vier Uhr Nachmittags hatte man neun Meilen in fröhlicher Stimmung zurückgelegt. Nach der Karte, welche Paganel beständig als Führer diente, sollte sich der Zusammenfluß des Waipa und Waikato in einer Entfernung von etwa fünf Meilen befinden. Dort verlief die Straße nach Auckland, dort sollte während der Nacht Rast gehalten werden. Zwei oder drei Tage waren dann genügend, die fünfzig Meilen bis zur Hauptstadt zurückzulegen, und acht Stunden höchstens, wenn Glenarvan dem Postwagen begegnete, welcher zwei Mal im Monate die Tour zwischen Auckland und der Hawkes-Bucht macht.

»Also, sagte Glenarvan, die nächste Nacht werden wir schon noch unter freiem Himmel zubringen müssen.

– Ja, erwiderte Paganel, aber ich hoffe, es wird die letzte sein.

– Um so besser, denn für Lady Helena und Miß Grant ist das eine harte Prüfung.

– O, sie bestehen dieselbe, ohne sich zu beklagen, fügte John Mangles hinzu. Aber, wenn ich mich nicht täusche, Herr Paganel, sprachen Sie von einem Dorfe, das am Zusammenflusse der beiden Ströme liegen sollte.

– Ja, entgegnete der Geograph, hier auf Johnson's Karte ist es angegeben, es heißt Ngarnavahia und liegt etwa zwei Meilen unterhalb jener Stelle.

– Nun, könnte man dort nicht die Nacht zubringen? Lady Helena und Miß Grant würden gewiß gern noch zwei Meilen machen, um ein einigermaßen behagliches Hôtel zu finden.

– Ein Hôtel! rief Paganel aus, ein Hôtel in einem Maori-Dorfe! Nicht einmal eine Herberge oder Hütte! Dieses ganze Dorf besteht allein aus Zelten der Eingeborenen, und weit entfernt davon, dort ein Asyl zu suchen, glaube ich, daß wir allen Grund haben, es zu vermeiden.

– Immer Ihre Besorgnisse, Paganel! sagte Glenarvan.

[589] – Mein lieber Lord, den Maoris gegenüber ist Mißtrauen besser am Platze, als Vertrauen. Ich weiß nicht, auf welchem Fuße sie mit den Engländern stehen, ob der Aufstand unterdrückt ist oder nicht, oder ob wir mitten auf den Kriegsschauplatz gerathen. Also, Bescheidenheit bei Seite, Leute wie wir würden ein guter Fang sein, und darum möchte ich die neu-seeländische Gastfreundschaft ohne Noth nicht gern in Anspruch nehmen. Ich halte es für klug, dieses Dorf sorgfältig zu vermeiden, und überhaupt jedes Zusammentreffen mit den Eingeborenen zu fliehen. Sind wir einmal in Drury, so ist unsere Lage wie vordem; dort werden unsere tapferen Damen sich von den Anstrengungen der Reise vollkommen erholen können.«

Die Ansicht des Geographen war maßgebend. Lady Helena zog es vor, noch eine Nacht unter freiem Himmel zuzubringen und ihretwegen ihre Gefährten keiner Gefahr auszusetzen. Weder Mary Grant noch sie selbst verlangten Halt zu machen, und so setzte man den Marsch am Ufer fort.

Zwei Stunden später begannen von den Bergen her sich die ersten nächtlichen Schatten auszubreiten. Die Sonne hatte vor ihrem Untergange noch eine plötzliche Theilung der Wolken benutzt, um die letzten Strahlen hindurchglänzen zu lassen. Die entfernten Hügel im Osten färbten sich im röthlichen Schimmer des enteilenden Tages, wie ein flüchtiger Scheidegruß an die Reisenden.

Glenarvan und die Seinigen beschleunigten ihre Schritte. Sie kannten die Kürze der Abenddämmerung unter diesen niederen Breitengraden, und wußten, wie urplötzlich die Nacht hereinbricht. Es handelte sich darum, die Stelle, wo die beiden Ströme sich vereinigen, vor Einbruch der Finsterniß zu erreichen. Aber ein dichter Nebel zog über die ganze Gegend dahin und machte die genaue Beobachtung der einzuhaltenden Richtung sehr schwierig.

Glücklicherweise wurde das Gesicht durch das Gehör ersetzt, denn das erstere war in der Finsterniß werthlos. Bald zeigte ein deutliches, mächtigeres Rauschen der Wellen die Vereinigung beider Ströme in einem Bette an. Um acht Uhr gelangte die kleine Gesellschaft endlich an jene Stelle, wo der Waipa sich in den Waikato ergießt.

»Da ist der Waikato, rief Paganel, an dessen rechtem Ufer sich die Straße nach Auckland hinzieht.

– Wir werden ihn morgen sehen, erwiderte der Major. Hier wollen wir unser Nachtlager aufschlagen. Es scheint mir, daß jene dunkleren Schattenrisse [590] die einer Baumgruppe sind, welche uns gastlich aufnehmen soll. Nun zum Abendbrod und dann zur Ruhe!

– Zum Abendbrod! sagte Paganel, aber nur Bisquit und trockenes Fleisch, ohne ein Feuer anzuzünden! Wir sind ungekannt und ungesehen hierher gekommen, wir wollen versuchen uns ebenso zu entfernen. Glücklicherweise macht uns dieser Nebel unsichtbar.«

Die Baumgruppe war erreicht, und ein Jeder ordnete sich den strengen Vorschriften des Geographen unter. Das kalte Nachtmahl wurde schweigend verzehrt, und bald bemächtigte sich ein tiefer Schlaf der Reisenden, welche durch einen Fußmarsch von fünfzehn Meilen stark ermüdet waren.

10. Capitel
Zehntes Capitel.
Der Strom.

Bei Anbruch des folgenden Morgens breitete sich ein ziemlich dichter Nebel wie eine schwere Decke über dem Flusse aus. Ein Theil der Dünste, welche die Luft sättigten, hatte sich in Folge der frischen Kühle verdichtet und bedeckte mit einer schweren Wolke die Oberfläche des Wassers. Aber bald durchbrachen die Sonnenstrahlen diese Bläschenmassen, welche unter ihrem Glanze zerstoben. Die Ufer traten aus dem Nebel frei hervor, und der Lauf des Waikato erschien in der ganzen Pracht der Morgenbeleuchtung. Eine spitz zulaufende Landzunge, mit Strauchwerk bedeckt, verlor sich an dem Vereinigungspunkte der beiden Ströme. Die schneller dahinrollenden Fluthen des Waipa drängten die des Waikato eine Viertelmeile zurück, ehe sie sich mit ihnen vermischten, dann aber schmiegte sich der mächtige Strom ruhig den eindämmenden Ufern an und führte den Waikato in friedlichem Laufe der Mündung am Stillen Ocean entgegen.

Als die Dünste höher stiegen, zeigte sich ein Boot, das den Waikato stromaufwärts fuhr. Es war ein Canot, etwa siebenzig Fuß lang, fünf breit und drei Fuß tief; sein Vordertheil erhob sich wie das einer venetianischen [591] Gondel.


Es war ein Canot von siebenzig Fuß Länge. (S. 591.)

Das Ganze war aus dem Stamme einer Tanne gezimmert. Ein Lager aus trockenem Farrnkraut war in demselben bereitet. Acht Ruderer ließen es über die Wasserfläche dahinschießen, während es im Hintertheil ein Mann mittels eines beweglichen Steuerruders lenkte. Es war das ein Eingeborener von hohem Wuchs, etwa fünfundvierzig Jahre alt, mit breiter Brust und muskulösen Gliedern. Seine Stirn war gewölbt und schon mit dichten Falten bedeckt; sein wilder Blick, seine düstere Physiognomie ließen ihn als eine furchteinflößende Persönlichkeit erkennen.

[592] Ohne Zweifel war es ein Chef der Maoris von hohem Range, denn seine Tättowirung war sein ausgearbeitet, wodurch sein Körper und sein Gesicht ein zebraartig geflecktes Aussehen erhielt. Von den Flügeln seiner Adlernase aufwärts umzogen zwei schwarze, runde Ringe seine gelben Augen und vereinigten sich auf der Stirn, von der aus sie sich in dem üppigen Haarwuchs verloren. Das Kinn und der Mund mit seinen glänzenden Zähnen verschwanden unter regelmäßigen Zeichnungen, deren elegante Schweifungen sich bis auf die breite Brust hinabzogen.

Diese Tättowirung, welche die Neu-Seeländer »Moko« nennen, ist eine hohe Auszeichnung, und nur der wird ihrer würdig erachtet, welcher in einigen Kämpfen sich durch besondere Tapferkeit hervorgethan hat. Die Sklaven, d.h. die niedere Volksklasse, können darauf niemals Anspruch machen. Die gefeierten Häuptlinge erkennen sich gegenseitig an der sorgfältigen Ausführung und Art der Zeichnungen, welche auf ihren Körpern oft Thierbilder darstellen. Einzelne unterziehen sich oft fünfmal der sehr schmerzvollen Operation des Moko. Dumont d'Urville hat bemerkenswerthe Einzelheiten über diesen Brauch gegeben und besonders hervorgehoben, daß der Moko jene Wappenschilder verträte, auf welche einzelne Familien in Europa so eitel sind. Der Unterschied besteht nur darin, daß diese dazu oft nur durch das Verdienst eines ihrer Ahnen berechtigt sind, während die Tättowirung bei den Neu-Seeländern immer nur den hohen persönlichen Muth des Trägers erkennen läßt und sich nicht vererbt. Dieselbe hat übrigens bei den Maoris, abgesehen von dieser Parallele, einen unbestreitbaren Nutzen dadurch, daß sie der Haut mehr Widerstandskraft gegen den Wechsel des Wetters verleiht und dieselbe gegen die vielen Mosquitostiche schützt.

An der Seite des Mannes, der das Fahrzeug lenkte, lag ein englisches Gewehr und ein »Patoupatou«, eine Art doppelschneidiger Axt, etwa achtzehn Zoll lang und von smaragdener Farbe.

In seiner Nähe saßen neun Krieger niedrigeren Ranges, von wildem Aussehen und wohl bewaffnet, deren einige noch an frischen Wunden litten und, in ihren Mantel von Phormium gehüllt, fast unbeweglich waren. Drei große, offenbar gefährliche Hunde hatten sich zu ihren Füßen ausgestreckt.

Die acht Ruderer im Vordertheil schienen Sklaven oder Diener des Chefs zu sein; sie arbeiteten aus allen Kräften.

[593] In der Mitte des langen Bootes befanden sich zehn europäische Gefangene eng zusammengedrängt, mit gefesselten Füßen, aber freien Händen.

Es waren Glenarvan und Lady Helena, Mary Grant, Robert, Paganel, der Major, John Mangles, der Steward und die beiden Matrosen.

Sie hatten am Abend vorher, getäuscht durch den dichten Nebel, ihren Lagerplatz ganz in der Nähe einer zahlreichen Schaar Eingeborener gewählt. Mitten in der Nacht wurden sie im Schlafe überrumpelt, zu Gefangenen gemacht und an Bord des Fahrzeugs geschleppt. Man hatte sie bis jetzt nicht mißhandelt, da an eine Vertheidigung von vornherein nicht zu denken gewesen war. Ihre Waffen und Vorräthe befanden sich in den Händen der Wilden, bei dem geringsten Widerstande würden sie durch ihre eigenen Kugeln unfehlbar getödtet worden sein. Aus einigen englischen Worten, deren sich die Eingeborenen bedienten, konnten sie bald entnehmen, daß diese von den englischen Truppen zurückgeworfen und im Kampfe fast decimirt worden waren, weshalb sie den District des oberen Waikato wieder zu gewinnen suchten. Der maorische Häuptling wollte nach einem hartnäckigen Widerstande und nachdem seine besten Krieger von den Soldaten des vierzigsten Regiments niedergemetzelt worden waren, einen neuen Aufruf an die Stämme jenes Districtes erlassen, um durch sie verstärkt sich mit dem unüberwindlichen William Thompson zu vereinigen, der immer noch gegen die Eroberer kämpfte. Der Name dieses Chefs war »Kai-Koumou«; die Eingeborenen verbanden damit einen verhängnißvollen Sinn, da er in ihrer Sprache einen Menschen bezeichnet, »der die Glieder seiner Feinde verzehrt«. Dieser Mann war in der That auch tapfer und kühn, aber seine Grausamkeit kam seinem Ansehen gleich. Mitleid war von ihm nicht zu erwarten, das wußten die englischen Soldaten wohl. Der Gouverneur hatte deshalb auch einen Preis auf seinen Kopf gesetzt.

Lord Glenarvan war von diesem furchtbaren Schicksale in dem Augenblick ereilt worden, wo ihm der so sehr ersehnte Hafen von Auckland nahe war, von dem aus er nach Europa zurückkehren wollte. Der Anblick seines kalten und ruhigen Gesichtes würde gleichwohl seine furchtbaren Qualen nicht haben errathen lassen. Hier in dieser ernsten Lage mußte er sich über das Unglück erhaben zeigen, das fühlte er. Seiner Frau und seinen Gefährten mußte er als Gatte und Chef ein leuchtendes Beispiel sein; und so war er denn auch bereit, als der Erste für das gemeinschaftliche Wohl zu sterben, wenn die Umstände es erfordern sollten.

[594] Tief religiös, wollte er an der Gerechtigkeit Gottes nicht verzweifeln, schon in Rücksicht auf den hohen und heiligen Zweck seiner Expedition, auf der er überall von Gefahren umlagert gewesen war. Er bedauerte daher nicht einen Augenblick den edlen Drang, der ihn in diese wilden Gegenden geführt hatte.

Seine Gefährten waren seiner würdig; sie theilten seine hohe Denkungsweise; man hätte bei ihrem ruhigen und stolzen Gesichtsausdruck nicht glauben sollen, daß sie einer so verhängnißvollen Katastrophe entgegen gingen. Uebrigens waren Alle nach dem Rathe Glenarvan's darin übereingekommen, den Eingeborenen gegenüber den möglichsten Gleichmuth an den Tag zu legen. Das war das einzige Mittel, sich bei diesen wilden Naturen in Achtung zu setzen. Denn gerade diese, und besonders die Maoris, besitzen fast alle ein gewisses Gefühl der Würde, das sie niemals vergessen. Sie achten nur den, der ihnen durch sein kaltes Blut und seinen Muth imponirt. Glenarvan wußte, daß er durch dieses Verhalten seinen Genossen und sich selbst eine üble Behandlung ersparte. Seit dem Aufbruch aus dem Lager hatten die Wilden, schweigsam, wie sie von Natur sind, nur wenige Worte unter einander gewechselt.

Aber aus diesen hatte Glenarvan entnommen, daß sie die englische Sprache verstanden. Er entschloß sich daher, den Chef zu fragen, welches Schicksal ihnen vorbehalten sei. Mit fester, furchtloser Stimme wandte er sich an Kai-Koumou:

»Wo führst Du uns hin, Häuptling?«

Dieser betrachtete ihn kalt, ohne zu antworten.

»Was willst Du mit uns beginnen?« fügte Glenarvan hinzu.

In den Augen Kai-Koumou's leuchtete ein Blitzstrahl, mit ernstem Tone erwiderte er nun:

»Dich auswechseln, wenn die Deinigen es wollen; Dich tödten, wenn sie es verweigern.«

Glenarvan frug nicht weiter, die Hoffnung kehrte ja in sein Herz zurück. Ohne Zweifel waren einige Chefs der Maoris in die Hände der Engländer gefallen, und die Eingeborenen wollten sie durch Austausch befreien. Das konnte ihr Heil sein; ihre Lage war wenigstens nicht verzweifelt.

Das Boot flog inzwischen schnell stromaufwärts. Paganel, den sein leicht beweglicher Charakter gern aus einem Extrem in das andere fallen ließ, hatte seine volle Hoffnung wieder gewonnen. Er sagte sich, daß die Maoris [595] ihnen die Mühe ersparten, sich selbst zu den englischen Posten zu begeben, was ja ein großer Zeitgewinn war. Mit seinem Schicksal ganz zufrieden, verfolgte er daher auf seiner ihm gebliebenen Karte den Lauf des Waikato quer durch die Ebenen und Thäler der Provinz. Lady Helena und Mary Grant unterdrückten ebenfalls gewaltsam ihre schrecklichen Besorgnisse und unterhielten sich leise mit Glenarvan. Auch der geübteste Physiognomiker würde in ihren Mienen nicht die Angst ihres Herzens erkannt haben.

Der Waikato ist der Hauptstrom von Neu-Seeland. Die Maoris sind stolz darauf und eifersüchtig, wie die Deutschen auf den Rhein und die Slaven auf die Donau. Auf seinem zweihundert Meilen langen Laufe bewässert er die schönsten Gegenden der nördlichen Insel von der Provinz Wellington an bis nach Auckland hin. Nach ihm nennen sich alle an seinen Ufern wohnenden Stämme, welche unbezwinglich und unbezwungen sich in Masse gegen die fremden Eindringlinge erhoben haben.

Seine Fluthen sind noch von sehr wenigen Reisenden befahren worden; die Canots der Eingeborenen allein durchschneiden sie nach allen Richtungen. Der Eintritt in den oberen Waikato-District scheint den Europäern verschlossen zu sein. Paganel kannte die große Verehrung der Eingeborenen für den Strom, der sich wie eine mächtige Ader durch das ganze Land hinzieht. Er wußte, daß die englischen und deutschen Naturforscher ihn weiter als bis zu seiner Vereinigung mit dem Waipa niemals kennen gelernt hatten. Wie weit würde Kai-Koumou wohl seine Gefangenen zu seinem Vergnügen fortführen? Er hätte es sicher nicht errathen können, wenn nicht das Wort »Taupo«, welches von dem Chef und seinen Kriegern häufig genannt wurde, seine Aufmerksamkeit erregt hätte.

Er zog seine Karte zu Rathe und sah, daß ein in den Annalen der Geographie berühmter See diesen Namen hatte, welcher in dem gebirgigsten Theile der Insel ganz im Süden der Provinz Auckland liegt. Aus ihm bricht der Waikato hervor, nachdem er seine ganze Breite durchströmt hat, und setzt dann seinen Lauf ungefähr hundertundzwanzig Meilen weit fort.

Um von den Wilden nicht verstanden zu werden, bat Paganel in französischer Sprache John Mangles, die Schnelligkeit des Canots zu schätzen. John war der Ansicht, daß sie etwa drei Meilen in der Stunde betrage. –

»Dann, bemerkte der Geograph, wird unsere Reise bis zum See etwa vier Tage dauern, wenn wir während der Nacht Halt machen.

[596] – Aber wo mögen die englischen Posten stehen? frug Glenarvan.

– Es ist schwer, das auch nur annähernd zu bestimmen, erwiderte Paganel. Der Kriegsschauplatz dehnt sich wohl bis in die Provinz von Taranaki aus, und aller Wahrscheinlichkeit nach sind die größten Truppenmassen in der Nähe des Sees zusammengezogen, dort hinter den Bergen, wo der eigentliche Heerd des Aufstandes sich befindet.

– Wollt' es Gott!« sagte Lady Helena.

Glenarvan warf einen trüben Blick auf seine junge Frau und auf Mary Grant, welche der Gnade dieser wilden Eingeborenen überlassen waren und ohne jede Aussicht auf menschliche Hilfe in eine unwirthbare Gegend geschleppt wurden. Aber er sah sich von Kai-Koumou beobachtet und drängte, da die Klugheit ihm verbot, ihn seine Gedanken errathen zu lassen, sie in das Herz zurück, während er fortfuhr, die Ufer des Flusses mit vollkommener Gleichgiltigkeit zu betrachten.

Das Fahrzeug flog in der Entfernung einer halben Meile oberhalb des Zusammenflusses ohne Aufenthalt an der alten Residenz des Königs Potatau vorüber. Kein anderes Canot durchfurchte die Wellen des Stromes. Einige Hütten, welche in weiten Abständen an den Ufern des Flusses lagen, bezeugten durch ihre Verwüstung die Schrecken eines eben ausgebrochenen Krieges. Die angrenzenden Felder schienen verlassen, die Ufer des Flusses waren verödet. Einige Wasservögel belebten allein diese traurige Gegend. Bald entfloh der »Aapaxunga«, ein Sumpfvogel mit schwarzen Flügeln, weißem Bauche und rothem Schnabel, auf seinen langen Beinen. Bald betrachteten Reiher verschiedener Gattungen, der aschfarbige »Matuku«, eine Art Rohrdrommel mit stumpsinniger Miene, oder der prächtige »Kotuku« mit weißem Gefieder, gelbem Schnabel und schwarzen Füßen, friedlich das vorübergleitende Boot der Eingeborenen. Wo die abschüssigen Uferränder auf eine gewisse Tiefe des Wassers schließen ließen, belauerte der Martinsvogel, der »Kotaré« der Maoris, die kleinen Flußaale, welche zu Millionen in den seeländischen Flüssen springen und zappeln. Da, wo das Strauchwerk am Ufer dichter war, machten stolze Wiedehopfe und Sultanhühner ihre Morgentoilette in den ersten Strahlen der Sonne. Diese ganze beflügelte Thierwelt erfreute sich der friedlichen Ruhe, welche ihr durch die Abwesenheit der Menschen, die der Krieg verscheucht oder decimirt hatte, gegönnt war.

In diesem ersten Theile seines Laufes strömte der Waikato in breitem [597] Bette mitten durch weite Ebenen dahin. Stromaufwärts verengten jedoch allmälig die Hügel und dann die Berge das Thal, das ihn einschloß. Kai-Koumou hielt sich nirgends auf. Er ließ den Gefangenen ihre eigenen Lebensmittel reichen, welche er auf dem Lagerplatze erbeutet hatte. Er selbst, seine Krieger und Sklaven begnügten sich mit der Landeskost, bestehend aus genießbaren Farrnkräutern, der »Pteris esculenta« der Naturforscher, aus gedämpften Wurzeln und »Kapanas«, Erdäpfeln, welche auf beiden Inseln in Menge angebaut werden. Animalische Kost gab es bei ihrem Mahle nicht, das trockene Fleisch der Gefangenen erschien ihnen geschmacklos.

Um drei Uhr erhoben sich einzelne Berge auf dem rechten Ufer, die »Pokaroa-Ketten«, welche einem geschleiften Festungswerke glichen. Hier und da waren auf den Bergspitzen ruinenhafte »Pahs« sichtbar, frühere Verschanzungen, welche die Ingenieure der Maoris auf uneinnehmbaren Positionen erbaut hatten. Es waren wahrhafte große Adlernester.

Die Sonne verschwand bereits am Horizonte, als das Canot auf eine mit Bimssteinen überschüttete Bank stieß, welche der Waikato bei seinem Austritt aus den vulkanischen Bergen in seinem Laufe mit sich führt. Einzelne Bäume, welche dort standen, schienen geeignet, einen ruhigen Halteplatz zu bieten. Kai-Koumou ließ seine Gefangenen ausschaffen; den Männern wurden die Hände gebunden, die Frauen blieben ganz frei; sie Alle wurden angewiesen, sich mitten auf dem Platze niederzulassen, rings um welchen brennende Kohlenpfannen eine nicht überschreitbare Feuergrenze bildeten. Bevor Kai-Koumou seinen Gefangenen die Absicht, sie auszuwechseln, mitgetheilt hatte, hatten Glenarvan und John Mangles die Mittel, ihre Freiheit wieder zu erlangen, ernstlich erwogen. Eine Flucht erschien von dem Fahrzeug aus unmöglich, auf dem Lande hofften sie dieselbe auf dem ersten Lagerplatze unter dem Schutze der Nacht ausführen zu können.

Unter den obwaltenden Verhältnissen erschien es klug, diesen Plan aufzugeben. Die Auswechselung konnte allerdings durch mancherlei Zwischenfälle verzögert oder verhindert werden; gleichwohl that man am besten, auf sie zu rechnen. Was hätten auch zehn Menschen ohne Waffen gegen dreißig wohl bewaffnete Wilde ausrichten können! Glenarvan setzte überdies voraus, daß Kai-Koumou's Stamm irgend einen Häuptling von hohem Verdienst verloren hatte, an dessen Wiederbefreiung ihm sehr viel liegen mochte, und er täuschte sich darin nicht.

[598] Am andern Morgen setzte das Fahrzeug mit der früheren Schnelligkeit seinen Lauf stromaufwärts fort. Um zehn Uhr machte es einen kurzen Halt an der Mündung des Pohaiwhenua, einem kleinen Flusse, welcher in langen Windungen aus den auf dem rechten Ufer liegenden Ebenen herkommt.

Dort traf ein mit zehn Wilden bemanntes Boot mit dem Kai-Koumou's zusammen. Die Krieger wechselten kaum ihren Gruß, das »Aïré maira«, was bedeutet: »Komme hierher in guter Gesundheit«; dann setzten die beiden Canots sogleich ihre Fahrt zusammen fort. Die neuen Ankömmlinge hatten eben erst gegen die englischen Truppen gefochten. Man sah es an ihrer zerrissenen Bekleidung, ihren blutigen Waffen und den Wunden, welche noch unter ihren Lumpen bluteten. Mit der allen Wilden eigenen Gleichgiltigkeit widmeten sie den Europäern keinerlei Aufmerksamkeit.

Um die Mittagszeit zeigten sich die Bergspitzen des Maungatotari im fernen Westen. Das Waikatothal wurde immer enger, weshalb der in seinem Laufe gehemmte Fluß pfeilschnell dahinschoß. Die Kraft der Eingeborenen, verdoppelt und durch einen Gesang regulirt, dessen Rhythmus einen gleichmäßigen Ruderschlag herbeiführte, hielt das Fahrzeug über den schäumenden Fluthen. Die gefährlichsten Stromschnellen wurden überwunden, der Waikato setzte wieder langsam seinen Lauf fort.

Gegen Abend landete Kai-Koumou am Fuße der Berge, deren erste Ausläufer an dem schmalen Ufer lothrecht herabfielen. Etwa zwanzig Eingeborene schifften sich aus, um Vorbereitungen für die Nacht zu treffen. Die Feuer flammten unter den Bäumen auf. Ein Häuptling, der Kai-Koumou an Rang gleichstand, trat gemessenen Schrittes vor, rieb seine Nase an der Kai-Koumou's und bot ihm zum herzlichen Willkommen das »Mougui«. Die Gefangenen wurden wiederum in der Mitte des Lagers untergebracht und streng bewacht. Am nächsten Morgen wurde die weite Fahrt fortgesetzt. Andere Boote trafen von den kleinen Nebenflüssen ein, so daß nun etwa sechzig Krieger, augenscheinlich die Flüchtlinge des letzten Aufstandes, vereinigt waren. Mehr oder minder durch die englischen Geschosse verwundet, waren sie in die Berge entkommen. Zuweilen erhob sich ein Gesang aus einem der Boote, die in einer Linie nebeneinander hinfuhren.


Der Fluß strömte zwischen warmen Quellen dahin. (S. 601.)

Ein Eingeborener stimmte die Nationalhymne »Pihé« an, welche mit den Worten

»Papara ti wati tidi
I dounga nei ....«

[599] beginnt und der Schlachtengesang der Maoris in ihrem Freiheitskriege ist. Die volle und sonore Stimme des Sängers erweckte das Echo der Berge; nach jedem Verse schlugen die Eingeborenen an ihre Brust, daß es dröhnend wiederhallte, und fielen dabei im Chore ein.

Eine eigenthümliche Naturerscheinung machte sich an diesem Tage während der Fahrt bemerkbar. Um vier Uhr flog das Boot, von der sichern Hand des Häuptlings geleitet, ohne jeden Aufenthalt durch ein enges Thal dahin. Zahlreiche heiße Strudel brachen sich wild an kleinen Inseln, welche sie [600] hemmten und vielfache Gefahren drohten. Wer es da gewagt hätte, den Fuß auf den kochenden Schlamm der Ufer zu setzen, wäre unrettbar verloren gewesen.

In der That rollte der Strom zwischen diesen heißen Quellen hin, welche von Zeit zu Zeit von den wißbegierigen Reisenden beobachtet wurden. Die Atmosphäre war mit einem schwefligen, durchdringenden Geruche gesättigt. Die Eingeborenen litten darunter nicht, aber die Gefangenen wurden schwer [601] davon belästigt. So sehr auch der Geruchssinn unter diesen Ausströmungen litt, so ergötzte sich doch das Auge an dem erhebenden Schauspiele.

Die Boote gelangten in eine dichte Wolke weißer Dünste, welche aus den Erdspalten und Kratermündungen hervordrangen und die ganze Gegend weithin bedeckten.


Der Eingang in den Taupo-See. (S. 602.)

Während einer zwei Meilen weiten Fahrt bildeten sie über den Canots gleichsam ein festes Gewölbe. Dann verschwand der schweflige Rauch und eine reine Luft erfrischte die schwer athmenden Reisenden.

Vor Anbruch des Abends wurden noch zwei Stromschnellen bei dem kräftigen Ruderschlag der Wilden glücklich überwunden, die von Hipapatna und Tamatea. Kai-Koumou legte darauf während der Nacht am Ufer an. Man befand sich etwa hundert Meilen vom Zusammenflusse des Waipa und Waikato. Der Fluß wandte sich zunächst nach Osten; änderte dann aber seinen Lauf nach Süden hin, dem Taupo-See zu, in den er sich ergießt wie ein gewaltiger Wasserstrahl in ein Bassin.

Am folgenden Morgen erkannte Jacques Paganel vermittelst seiner Karte auf dem rechten Ufer den Berg Tanbara, welcher 3000 Fuß hoch ist.

Zur Mittagszeit gelangte das kleine Geschwader aus dem Flusse in den Taupo-See; die Eingeborenen begrüßten mit leidenschaftlichen Ausdrücken der Freude einen Fetzen Stoffes, den der Wind auf einer Hütte hin und her bewegte. Es war ihre Nationalfahne.

11. Capitel
Elftes Capitel.
Der Tampo-See.

Ein unergründlicher Schlund, fünfundzwanzig Meilen lang und zwanzig breit, hat sich dereinst, lange vor den historischen Zeiten, durch einen Höhleneinsturz mitten unter den Lavamassen der Insel gebildet. Aus dem Schlund ist dann ein See von unergründlicher Tiefe geworden, der 1250 Fuß über dem Meeresspiegel liegt und ringsum von Höhenzügen eingeschlossen wird.

[602] Die ganze Gegend gleicht einem riesigen Kessel, der über unterirdischen Feuern hängt. Der Tongariro und Taranaki sind die bedeutendsten unter den Kratern, über welche sich im Munde der Bevölkerung mancherlei Legenden erhalten haben. Paganel kannte wohl einzelne derselben, aber er befand sich nicht in der Stimmung, sie zu erzählen, seine Freunde nicht in der, sie zu hören. Schweigend betrachteten sie das nordöstliche Ufer des Taupo-Sees, wohin das trügerische Verhängniß sie führen sollte. Die durch den Missionär Grace in Pukawa errichtete Missionsstation auf dem östlichen Ufer des Sees existirte nicht mehr. Der Krieg hatte den Diener Gottes von dem Hauptheerde des Aufstandes verscheucht. Die Gefangenen waren allein der Gnade der rachsüchtigen Maoris überlassen, gerade auf dem wildesten Theile der Insel, wo das Christenthum niemals Eingang gefunden hat.

Kai-Koumou durchschnitt den Waikato-See, dann eine enge Bucht, welche die Gestalt eines Trichters hatte, und landete, nach Umsegelung eines spitzen Vorgebirges, an dem östlichen Ufer des Sees, am Fuße des Berges Manga, der etwa 1800 Fuß hoch ist. Dort dehnen sich die Felder aus, auf denen der kostbare Hanf Neu-Seelands, das »Phormium« wächst. Die Eingeborenen nennen ihn »Harakeke«. Jede Faser dieser nützlichen Pflanze ist zu verwerthen.

Ihre Blume liefert einen ausgezeichneten Honig, ihr Stengel giebt eine gummiartige Substanz, welche das Wachs oder Stärkemehl ersetzt; noch werthvoller durch seine verschiedenartige Verwendbarkeit ist das Blatt; frisch wird es als Papier benutzt; getrocknet giebt es einen trefflichen Feuerzunder; aus seinen Fasern werden Seile und Taue gedreht oder Netze gefertigt; auch zu Decken und Mänteln, Matten und Schurzfellen wird es verarbeitet. Als Bekleidung für die angesehensten Maoris wird es roth oder schwarz gefärbt.

Dieses kostbare Phormium befindet sich überall auf den beiden Inseln, sowohl an den Ufern des Meeres, als an denen der Flüsse und Seen. Hier bedeckten seine wilden Sträucher weite Ländereien; seine rothbraunen, der Agave ähnlichen Blumen drängten sich überall zwischen den Blättern hervor, welche, trophäenartig zusammengesetzt, wie schneidige Schwerter aussahen. Kleine zierliche Vögel, die Honigsauger, gewöhnt an die Phormiumfelder flogen in zahlreichen Schaaren über dieselben dahin und genossen den süßen Saft der Blumen.

Auf dem See schnatterten Enten mit schwarzem, buntscheckigem Gefieder, [603] welche sich leicht zähmen lassen. In einer Entfernung von einer Viertelmeile wurde auf einem Bergabhange ein »Pah«, eine maorische Verschanzung, in einer uneinnehmbaren Position sichtbar. Dorthin wurden die Gefangenen nach ihrer Ausschiffung durch die Krieger geführt; man hatte ihnen die Fesseln abgenommen. – Der Pfad, welcher nach dem Lager führte, durchschnitt die Phormiumfelder und eine Gruppe prächtiger Bäume, bestehend aus »Kaikateas« mit spitzen Blättern und rothen Beeren, und der Dracaena australis, welche von den Eingeborenen »Ti« genannt wird.

Auf langen Windungen des Pfades gelangten Glenarvan, Lady Helena, Mary Grant und ihre Gefährten in das Innere des »Pahs«.

Die Festung war durch einen äußeren Palissadengürtel von fünfzehn Fuß Höhe geschützt; eine zweite Linie von Pfählen, ferner eine Einfassung aus Weidenruthen, in der Schießscharten angebracht waren, schlossen die zweite Enceinte, das Plateau des »Pahs«, ein, auf welchem sich maorische Festungswerke und etwa vierzig Hütten in ganz symmetrischer Form erhoben.

Bei ihrer Ankunft wurden die Gefangenen von dem Anblick der Köpfe, welche die Spitzen der inneren Palissadenreihe schmückten, überwältigt. Lady Helena und Mary Grant wandten die Augen ab, mehr aus Abscheu, als aus Schrecken. Diese Köpfe rührten von den feindlichen Officieren, welche in den Kämpfen gefallen waren, her, während ihre Körper den Siegern als Nahrung gedient hatten. Der Geograph erkannte die Köpfe als solche an ihren leeren Augenhöhlen.

In der That wird das Auge der feindlichen Chefs verschlungen, der Kopf dagegen nach der Landessitte präparirt, indem er des Gehirnes und sonstigen Inhaltes beraubt wird, während man die Nase durch kleine Stäbchen ausdehnt und ihre Nüstern mit Phormium ausstopft. Nachdem noch Mund und Augenlider abgeschnitten sind, wird er in einem Ofen während dreißig Stunden einer Räucherung unterworfen. Darauf erhält er sich außerordentlich lange ohne Runzeln und Falten und bildet eine Siegestrophäe.

Ost conserviren die Maoris den Kopf ihrer eigenen Chefs; aber in diesem Falle bleibt das Auge in seiner Höhlung offen. Die Neu-Seeländer zeigen diese Ueberreste mit großem Stolz; sie stellen sie ihren jungen Kriegern zur Bewunderung auf und erweisen ihnen ihre Verehrung durch feierliche Ceremonien.

Hier in dem »Pah« des Kai-Koumou schmückten die Köpfe der Feinde [604] allein dieses entsetzliche Museum, und ohne Zweifel vermehrte der Kopf manches Engländers mit leeren Augenhöhlen die Sammlung der maorischen Häuptlinge.

Die Hütte Kai-Koumou's erhob sich unter mehreren anderen von unansehnlicherem Bau im Innern des »Pah«, vor einem weiten Terrain, welches die Europäer das Schlachtfeld genannt haben würden. Diese Hütte war aus Pfählen erbaut, die Füllung ihrer Wände bestand aus Baumzweigen, während sie im Inneren mit Decken von Phormium ausgelegt war.

Eine einzige Oeffnung gestattete den Eintritt in die Hütte; Klappflügel, gebildet aus einem dicken Fasergewebe, dienten als Thür. Das Dach trat über den Eingang hervor, um Schutz gegen den Regen zu bieten. Einige Figuren an den Dachsparren schmückten die Hütte, und der »Wharepuni« oder die Vorhalle bot der Bewunderung der Besucher mancherlei Schnitzereien.

Im Inneren der Hütte erhob sich der Fußboden aus gestampfter Erde etwa einen halben Fuß hoch. Rohrgeflechte und Matratzen aus getrocknetem Seegras mit gewebten Decken belegt dienten als Lagerstätten. In der Mitte bildete ein ausgerundetes Loch den Feuerheerd, darüber ein zweites Loch im Dache den Schornstein.

Neben der Hütte erhoben sich Magazine, welche die Vorräthe des Chefs enthielten. In einiger Entfernung sah man Umzäunungen, in denen Schweine und Ziegen, seltene Abkömmlinge dieser durch den Kapitän Cook acclimatisirten nützlichen Thiere, sich tummelten. Hunde, welche einen mageren Bissen suchten, sah man in großer Anzahl umherlaufen. Sie waren als Thiere, deren Fleisch den Maoris täglich zur Nahrung dient, ziemlich schlecht genährt.

Glenarvan und seine Genossen hatten dieses Gesammtbild mit einem Blicke umfaßt. Sie erwarteten in der Nähe einer leeren Hütte das Urtheil des Chefs, nicht ohne den Beschimpfungen einer Bande alter Frauen ausgesetzt zu sein. Von diesen Harpyien wurden sie unter Heulen und Toben mit den Fäusten bedroht. Einige englische Worte, welche ihren wulstigen Lippen entschlüpften, ließen deutlich erkennen, daß sie ein sofortiges Todesurtheil erwarteten.

Mitten unter diesen Drohungen und Verwünschungen legte Lady Helena eine scheinbare Ruhe an den Tag, welche in ihrem Herzen nicht wohnen konnte. Diese muthige Frau hielt sich durch heroische Anstrengungen aufrecht, um Lord Glenarvan sein kaltes Blut zu erhalten. Die arme Mary Grant war [605] einer Ohnmacht nahe, John Mangles unterstützte sie, bereit, sich tödten zu lassen, wenn es sie zu vertheidigen gälte. Seine Gefährten ertrugen alle diese Angriffe in verschiedener Weise, gleichgiltig wie der Major, oder übermannt von wachsendem Zorn wie Paganel. Glenarvan, welcher Lady Helena von diesen alten Megären befreien wollte, ging gerade auf Kai-Koumou zu, wies auf die ekelhafte Gruppe und sprach:

»Verjage sie!«

Der maorische Häuptling blickte seinen Gefangenen fest an, ohne ihm zu antworten; dann brachte er mit einer Handbewegung die heulende Bande zum Schweigen. Glenarvan verneigte sich, um seinen Dank auszudrücken, und kehrte langsam zu den Seinigen zurück.

In diesem Augenblicke waren in dem »Pah« etwa hundert Neu-Seeländer versammelt. Greise, Männer und Jünglinge, von denen die Einen ruhig, aber finster, die Befehle Kai-Koumou's abwarteten, während die Anderen sich den Ausbrüchen eines heftigen Schmerzes überließen; diese beweinten ihre Verwandten oder Freunde, welche in den letzten Kämpfen gefallen waren.

Kai-Koumou kam von allen Häuptlingen, welche sich auf den Ruf William Thompson's erhoben hatten, allein nach dem See zurück und brachte seinem Stamme die erste Kunde von der Niederlage der nationalen Erhebung in den Ebenen des unteren Waikato. Von zweihundert Kriegern, welche unter seinen Befehlen zur Vertheidigung des Landes herbeigeeilt waren, kehrten nur fünfzig zurück. Wenn davon auch Einige von den Siegern gefangen worden waren, so war die Zahl der Gefallenen doch eine furchtbare.

Das war der Grund der tiefen Verzweiflung, welche die Ankunft Kai-Koumou's unter seinen Stammesgenossen hervorgerufen hatte. Die verhängnißvolle Nachricht, welche man bis dahin gar nicht geahnt hatte, wirkte niederschmetternd wie ein Blitzstrahl.

Bei den Wilden spricht sich der moralische Schmerz heftiger in den körperlichen Bewegungen aus. Die Verwandten und Freunde der gefallenen Krieger, besonders deren Frauen, zerrissen sich mit scharfen Muscheln Gesicht und Schultern. Das Blut rieselte aus den Wunden und vermischte sich mit ihren Thränen. Die unglücklichen Neu-Seeländer boten in diesem blutigen und rasenden Zustande ein Bild des Schreckens.

Ihre Verzweiflung wurde durch einen anderen Grund, der bei den Eingeborenen sehr in's Gewicht fiel, noch vermehrt. Ihre Verwandten, ihre [606] Freunde, welche sie beweinten, waren nicht nur todt, sondern ihre Gebeine fehlten auch in dem Familiengrabe.

Von dem Besitz dieser Ueberreste hängt nach der maorischen Religion das ganze zukünftige Leben ab; nicht das der Verwesung geweihte Fleisch, sondern die Knochen, welche sorgfältig gesammelt, gereinigt, polirt und selbst gefirnißt werden, werden in dem »Oudoupa«, d.h. »Haus des Ruhmes«, niedergelegt. Diese Gräber sind mit hölzernen Statuen geschmückt, welche die Tättowirung des Verstorbenen in vollkommener Genauigkeit wiedergeben.

Heute aber blieben die Gräber leer, die religiösen Ceremonien konnten nicht stattfinden, die theuren Gebeine bleichten, so weit sie von den Zähnen der wilden Hunde verschont wurden, auf dem Schlachtfelde.

Und bei diesem Gedanken verdoppelten sich die Ausbrüche des Schmerzes. Den Drohungen der Frauen folgten die Flüche der Männer gegen die Europäer. Immer lauter ertönten sie, immer wilder wurden die Geberden. Bald mußten den Worten Acte der thierischen Rohheit folgen.

Kai-Koumou fürchtete von den Fanatikern seines Stammes überwältigt zu werden, und ließ darum seine Gefangenen an einen geheiligten Ort führen, der am anderen Ende des »Pahs« auf einem hervortretenden kleinen Bergkegel lag. In der dort erbauten heiligen Hütte, »Waré-Atoua« genannt, lehrten die Priester und die Arikis den Neu-Seeländern einen Gott in drei Personen, Vater, Sohn und Vogel, oder Geist. Die heilige und auserwählte Nahrung, welche Maoui-Ranga-Rangui durch den Mund der Priester ißt, wird in dem weiten, wohlverschlossenen Heiligthume aufbewahrt. Dort ließen sich die Gefangenen, augenblicklich gegen die Wuth der Eingeborenen geschützt, auf Phormiumdecken nieder. Lady Helena, deren Kräfte erschöpft, deren moralische Energie gebrochen war, stürzte in die Arme ihres Gatten.


Glenarvan's und seiner Gefährten Ankunft im Pah. (S. 604.)

Glenarvan drückte sie an seine Brust und sprach wiederholt:

»Muth, meine liebe Helena, der Himmel wird uns nicht verlassen!«

Robert ketterte, nachdem kaum die Thüre geschlossen war, auf Wilson's Schultern; von da gelang es ihm, seinen Kopf durch eine Luke zwischen Dach und Mauer zu stecken, wo Amulette hingen. Mit einem Blicke konnte er die ganze Ausdehnung des »Pahs« bis zur Hütte Kai-Koumou's übersehen.

»Sie sind um den Chef versammelt, sagte er mit leiser Stimme ... sie bewegen ihre Arme ... stoßen ein Geheul aus ... Kai-Koumou will sprechen ...«

[607] Der Knabe schwieg einige Minuten lang, und fuhr dann fort:

»Kai-Koumou spricht ... Die Wilden beruhigen sich ... sie hören ihn an ....

– Augenscheinlich, sagte der Major, hat dieser Chef ein persönliches Interesse, uns zu beschützen. Er will seine Gefangenen gegen Häuptlinge seines Stammes auswechseln! Aber werden seine Krieger damit einverstanden sein?

[608] – Ja! ... sie hören auf ihn ... erwiderte Robert ... sie zerstreuen sich ... Die Einen kehren in ihre Hütten zurück ... die Anderen verlassen den ›Pah‹..

– Sprichst Du die Wahrheit? rief der Major.

– Ja, Herr Mac Nabbs, antwortete Robert. Kai-Koumou ist allein geblieben mit den Kriegern seines Bootes ... Ah! der Eine von ihnen kommt auf unsere Hütte zu ...

– Steig herunter, Robert«, sagte Glenarvan.

In diesem Augenblicke erfaßte Lady Helena, welche sich erhoben hatte, den Arm ihres Gatten.


Robert kletterte auf Wilson's Schultern. (S. 607.)

[609] »Edward, sprach sie mit fester Stimme, weder Mary Grant noch ich dürfen diesen Abend in die Hände dieser Wilden fallen.« Und dabei überreichte sie Glenarvan einen geladenen Revolver.

»Eine Waffe! rief Glenarvan mit strahlenden Blicken aus.

– Ja! Die Maoris durchsuchen ihre Gefangenen nicht. Aber diese Waffe ist für uns bestimmt, Edward, nicht für sie!

– Glenarvan, rief hastig der Major, verbergen Sie diesen Revolver! Der Augenblick ist noch nicht gekommen ...«

Der Revolver verschwand in den Taschen des Lord. Die Decke, welche den Eingang der Hütte schloß, erhob sich ... ein Eingeborener erschien.

Er machte den Gefangenen ein Zeichen, ihm zu folgen.

Glenarvan und die Seinigen durchschritten dicht zusammengedrängt den »Pah« und standen vor Kai-Koumou still.

Um den Häuptling waren die ersten Krieger seines Stammes versammelt.

Unter ihnen befand sich der Maori, dessen Boot sich mit dem Kai-Koumou's an der Mündung des Pohainhenna in den Waikato vereinigt hatte. Es war ein Mann von vierzig Jahren, kräftig und von wildem und grausamem Gesichtsausdrucke.

Er nannte sich Kara-Tété, das heißt »der Jähzornige« in seeländischer Sprache. Kai-Koumou behandelte ihn mit einer gewissen Achtung, und an der Feinheit seiner Tättowirung erkannte man, daß Kara-Tété einen hohen Rang in seinem Stamme einnahm. Ein scharfblickender Beobachter würde jedoch errathen haben, daß diese beiden Häuptlinge auf einander eifersüchtig waren. Der Major bemerkte, daß der Einfluß Kara-Tété's dem Kai-Koumou unbequem war. Sie standen Beide an der Spitze der mächtigen Stämme im Waikato-Districte und waren mit gleicher Macht ausgerüstet. Auch während dieser Unterhaltung verriethen die Augen Kai-Koumou's, während sein Mund lächelte, eine tiefe Feindschaft.

Kai-Koumou richtete an Glenarvan die Frage:

»Du bist Engländer?

– Ja, erwiderte der Lord ohne Zögern, denn als solcher konnte er viel eher auf eine Auswechselung hoffen.

– Und Deine Gefährten? frug Kai-Koumou weiter.

– Meine Gefährten sind Engländer, wie ich. Wir sind Reisende, Schiffbrüchige. [610] Aber wir haben an dem Kriege nicht Theil genommen, wenn Du Gewicht darauf legst, das zu wissen.

– Darauf kommt es nicht an! erwiderte in brutaler Weise Kara-Tété. Jeder Engländer ist unser Feind. Deine Landsleute haben unsere Insel überfallen, unsere Felder gestohlen! Ja, sie haben sogar unsere Dörfer niedergebrannt!

– Sie haben Unrecht daran gethan! erwiderte Glenarvan mit fester Stimme. Ich sage Dir das, weil ich es denke, und nicht, weil ich in Deiner Macht bin.

– Höre, sprach Kai-Koumou, der Tohonga, der große Priester Nouï-Atoua's, ist in die Hände Deiner Brüder gefallen. Er ist Gefangener der Pakekas (Europäer). Unser Gott befiehlt uns, sein Leben wieder zu erkaufen. Ich hätte Dir gern das Herz aus dem Leibe gerissen und gewünscht, daß Dein Kopf und die Deiner Gefährten für ewige Zeiten auf die Pfähle dieser Palissaden gesteckt worden wären. Aber Nouï-Atoua hat gesprochen.«

Bei diesen Worten zitterte Kai-Koumou, der bis dahin Herr seiner selbst geblieben war, vor Zorn, sein Gesicht drückte eine wilde Erregung aus. Nach einigen Augenblicken fuhr er in kälterem Tone fort:

»Glaubst Du, daß die Engländer unseren Tohonga gegen Deine Person auswechseln werden?«

Glenarvan zögerte mit der Antwort und beobachtete aufmerksam den maorischen Häuptling.

»Ich weiß es nicht, sagte er nach einem Augenblicke des Schweigens.

– Sprich, fuhr Kai-Koumou fort. Gilt Dein Leben das unseres Tohonga?

– Nein, antwortete Glenarvan. Ich bin weder ein Chef, noch ein Priester unter meinen Landsleuten.«

Paganel, ganz erstaunt über diese Antwort, betrachtete Glenarvan mit wahrer Bestürzung.

Kai-Koumou schien gleichfalls erstaunt.

»Also Du zweifelst daran? frug er.

– Ich weiß es nicht, antwortete Glenarvan.

– Werden Deine Landsleute Dich nicht gegen unseren Tohonga austauschen?

– Mich allein? Nein, erwiderte Glenarvan. Uns Alle vielleicht.

[611] – Bei den Maoris, sagte Kai-Koumou, gilt der Grundsatz: Kopf für Kopf.

– Biete zuerst diese Frauen als Austausch gegen Deinen Gefangenen«, sagte Glenarvan, indem er auf Lady Helena und Mary Grant hinwies.

Lady Helena wollte zu ihrem Gatten hinstürzen. Der Major hielt sie zurück.

»Diese beiden Damen, fuhr Glenarvan fort, indem er sich ehrfurchtsvoll gegen Lady Helena und Mary Grant verbeugte, nehmen in ihrem Vaterlande einen hohen Rang ein.«

Mit kaltem Blicke maß der Krieger seinen Gefangenen. Ein böses Lächeln spielte um seine Lippen, doch unterdrückte er es sofort und antwortete mit kaum verhaltener Stimme:

»Hoffst Du Kai-Koumou durch falsche Worte zu täuschen, verfluchter Europäer? Glaubst Du, daß Kai-Koumou's Augen nicht in den Herzen zu lesen verstehen?«

Und auf Lady Helena zeigend, sagte er:

»Das ist Deine Frau!

– Nein! Die Meinige!« rief Kara-Tété, drängte die Gefangenen zurück, und schon legte sich seine Hand auf Lady Helena's Schultern, die bei dieser Berührung erbleichte.

»Edward!« rief die unglückliche bestürzte Frau.

Glenarvan erhob, ohne ein Wort zu sagen, den Arm. Ein Schuß krachte. Kara-Tété fiel todt nieder.

Bei dem Knalle stürzte ein Schwarm Eingeborener aus den Hütten. Der »Pah« füllte sich augenblicklich. Hundert Arme erhoben sich gegen die Unglücklichen. Glenarvan wurde der Revolver aus der Hand gerissen.

Kai-Koumou schleuderte einen wilden Blick auf Glenarvan; dann deckte er mit der einen Hand den Körper des Mörders, und hielt mit der anderen die Menge zurück, welche hervorbrechen wollte.

Seine Stimme beherrschte den Tumult.

»Tabou! Tabou!« rief er aus.

Sofort hielt die Menge vor Glenarvan und seinen Genossen, wie durch übernatürliche Gewalt gefesselt, an.

[612] Einige Augenblicke später wurden sie zum Waré-Atoua, der ihnen zum Gefängniß diente, zurückgeführt. Aber Robert Grant und Jacques Paganel waren nicht mehr bei ihnen.

12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Das Begräbniß eines Maori-Häuptlings.

Kai-Koumou verband, wie das in Neu-Seeland häufig vorkommt, den Titel eines Ariki mit dem des Stammeshäuptlings. Mit der Priesterwürde bekleidet, stand es bei ihm, Personen oder Sachen durch den abergläubischen Schutz des Tabou zu decken.

Der Tabou, welcher allen polynesischen Völkern gemeinschaftlich ist, hat die sofortige Folge, jede Beziehung zu der Person, sowie jeden Gebrauch des Gegenstandes, der damit belegt ist, zu unterbrechen. Nach der Maori-Religion würde Jeder, der seine ruchlose Hand gegen einen durch den Tabou Geschützten erhöbe, von der erzürnten Gottheit mit dem Tode bestraft werden. Sollte diese aber zögern, die ihr angethane Beleidigung zu rächen, so würden die Priester nicht verfehlen, diese Rache zu beschleunigen.

Der Tabou wird von dem Häuptling zu politischen Zwecken ausgesprochen; doch veranlassen das auch ganz gewöhnliche Vorkommnisse des Privatlebens.

Ein Eingeborener steht z.B. unter demselben während einiger Tage, wenn er sich das Haar schneiden ließ oder eben tättowirt worden war; wenn er eine Pirogue oder ein Haus baut; wenn ihn eine tödtliche Krankheit befällt oder er todt ist. Droht ein unvorhergesehener Verbrauch die Flüsse von Fischen zu entvölkern, oder die jungen Anpflanzungen der süßen Batate zu vernichten, so werden diese Objecte aus ökonomischen Rücksichten mit einem schützenden Tabou belegt. Will ein Häuptling Uebelwollende von seinem Hause entfernen, sich allein den Vortheil des Handels mit einem fremden Schiffe sichern, oder einen europäischen Waarenhändler, dem er nicht wohl [613] will, in Quarantäne halten, so spricht er sein Tabou aus. Sein Einspruch ähnelt also nach vielen Seiten dem mittelalterlichen »Veto« der Fürsten.

Ist ein Gegenstand mit diesem Banne belegt, so darf ihn Niemand ungestraft berühren. Trifft er einen Eingeborenen, so sind diesem gewisse Speisen für eine bestimmte Zeit verboten. Wenn er nun etwa dieser strengen Diät unterliegt und gleichzeitig reich ist, so läßt er sich mit Hilfe seiner Sklaven diejenigen Gerichte, welche er nicht mit den Händen berühren darf, beibringen; ist er dagegen arm, so ist er darauf beschränkt, seine Nahrungsmittel gleich mit dem Munde aufzunehmen, und der Tabou erniedrigt ihn zum Thiere.

Alles in Allem leitet und modificirt diese eigenthümliche Sitte auch die geringfügigsten Handlungen des Neu-Seeländers. Sie stellt das unablässige Eingreifen der Gottheit in sein gesellschaftliches Leben dar. Bei ihrer gesetzlichen Kraft kann man sagen, daß das ganze unbestreitbare und unbestrittene Rechtsverfahren bei den Eingeborenen in der häufigen Anwendung dieses Tabou besteht. Auch die in dem Waré-Atoua verwahrten Gefangenen hatte ein ganz willkürlicher Tabou zunächst den Wuthausbrüchen des erregten Stammes entzogen. Einige Eingeborene, die Freunde und Parteigänger Kai-Koumou's, hatten auf die Stimme ihres Häuptlings sogleich eingehalten und die Gefangenen beschützt.

Trotzdem gab sich Glenarvan keinen Illusionen über das ihm bevorstehende Schicksal hin. Nur sein Tod konnte ja den Mord eines Häuptlings ausgleichen. Der Tod ist aber bei jenen wilden Völkerschaften immer erst das Ende langwieriger Martern. Glenarvan erwartete demnach, für die gerechte Entrüstung, die seine Hand bewaffnet hatte, grausam zu büßen, aber er hoffte, daß der Zorn Kai-Koumou's ihn allein treffen werde.

Welche Nacht verbrachte er mit seinen Gefährten! Wer möchte ihre Angst wägen und ihre Leiden messen! Der arme Robert und der gute Paganel blieben verschwunden. Konnte man über ihr Loos in Zweifel sein? Sollten sie nicht die ersten Opfer der Rache der Eingeborenen sein? Es war ja alle Hoffnung geschwunden, selbst aus dem Herzen Mac Nabbs', der doch nicht so leicht verzweifelte. John Mangles glaubte den Verstand zu verlieren, wenn er die düstere Verzweiflung der von ihrem Bruder getrennten Mary Grant sah. Glenarvan bedachte das fürchterliche Verlangen Lady Helena's, welche, um sich der Marter oder der Sklaverei zu entziehen, den Tod von seiner Hand verlangte! Sollte er diesen furchtbaren Muth wirklich haben?

[614] »Und Mary, was hatte denn diese verbrochen?« dachte John, dem das Herz fast zersprang.

Eine Flucht erschien vollkommen unmöglich. Zehn bis an die Zähne bewaffnete Krieger wachten am Thore des Waré-Atoua.

So kam der Morgen des 13. Februar heran. Zwischen den Eingeborenen und den Gefangenen kam es in Folge des über sie verhängten Tabou zu keiner Berührung. Der Raum enthielt etwas an Nahrungsmitteln, welche die Unglücklichen aber kaum anrührten. Ihr Hunger wich vor ihrem Schmerze. Ohne eine Aenderung ihrer Lage, aber auch ohne ihnen eine Hoffnung zu bringen, verging der Tag. Ohne Zweifel würde die Stunde für das Begräbniß des Häuptlings und die ihrer Martern gleichzeitig schlagen.

Wenn Glenarvan indeß der Meinung war, daß kein Gedanke an einen Gesinnungswechsel Kai-Koumou's sein könne, so bewahrte der Major in dieser Beziehung doch noch einen Schimmer von Hoffnung.

»Wer weiß, sagte er, indem er Glenarvan den Eindruck wieder vergegenwärtigte, den der Tod Kara- Tété's auf den Häuptling zu machen schien, – wer weiß, ob Kai-Koumou Ihnen dafür im Grunde gar nicht etwa verbunden ist?«

Trotzdem aber wollte Glenarvan keine Hoffnung schöpfen.

Auch der andere Tag verlief, ohne daß zum Martern der Gefangenen Anstalt getroffen worden wäre. Der Grund dafür lag in Folgendem:

Die Maoris nehmen an, daß die Seele des Verstorbenen seinen Körper noch drei Tage lang bewohne, und lassen diesen deshalb ebenso lange unbegraben. Dieser Gewohnheit folgen sie mit aller Strenge. Bis zum 15. Februar blieb der »Pah« verlassen. John Mangles stieg dann und wann auf Wilson's Schultern, um den äußeren Verschlag zu überblicken. Kein Eingeborener war sichtbar. Nur die Wachen, die am Thore des Waré-Atoua einander ablösten, waren auf ihrem Posten.

Am dritten Tage aber öffneten sich die Hütten. Stumm und ruhig versammelten sich Männer, Frauen und Kinder, zusammen wohl mehrere hundert Maoris in dem »Pah«.

Kai-Koumou schritt, umgeben von den Häuptern des Stammes, aus seiner Hütte, und nahm in der Mitte der Umplankung auf einem wenige Fuß hohen Hügel Platz. In einiger Entfernung rückwärts umstanden ihn die [615] Eingeborenen im Halbkreise, wobei die ganze Versammlung in tiefem Schweigen verharrte.


»Tabou! Tabou!« rief Kai-Koumou. (S. 612.)

Auf ein Zeichen Kai-Koumou's begab sich ein Krieger nach dem Waré-Atoua.

»Erinnere Dich meiner Bitte!« sagte Lady Helena zu ihrem Gatten. Glenarvan drückte sein Weib an's Herz.

Da näherte sich Mary Grant John Mangles.


Ein Menschenfresserfest. (S. 620.)

»Lord und Lady Glenarvan, sagte sie, werden zugeben, daß, wenn eine Frau von der Hand ihres Mannes sterben kann, um einem schmachvollen Leben zu entfliehen, es auch einer Verlobten gestattet ist, zu demselben Zwecke von der Hand des Bräutigams den Tod zu empfangen. In diesem letzten Augenblicke darf ich es ja wohl aussprechen, John, war ich nicht schon [616] lange Ihre Braut im Inneren Ihres Herzens? Kann ich auf Sie zählen, mein theurer John, wie Lady Helena auf Lord Glenarvan?

– Mary! rief ganz außer sich der junge Kapitän. O, meine geliebte Mary! ...«

[617] Er konnte seine Worte nicht vollenden. Die Matte hob sich und die Gefangenen wurden vor Kai-Koumou geführt; die beiden Frauen hatten sich in ihr Geschick ergeben; die Männer verbargen, was sie litten, unter einer Ruhe, welche von übermenschlicher Energie zeugte.

Sie kamen vor den Neu-Seeländer-Häuptling. Sein Urtheil ließ nicht lange auf sich warten.

»Du hast Kara-Tété getödtet? sagte er zu Glenarvan.

– Ich tödtete ihn, erwiderte der Lord.

– Morgen mit Sonnenaufgang wirst Du sterben.

– Ich allein? fragte Glenarvan, dessen Herz stürmisch klopfte.

– O, als ob das Leben unseres Tohonga nicht weit kostbarer wäre, als das Eure!« rief Kai-Koumou aus, dessen Augen von wilder Trauer erglänzten.

In diesem Augenblicke entstand eine Bewegung unter den Eingeborenen. Schnell warf Glenarvan einen Blick umher. Bald öffnete sich die Menge, und ein schweißgebadeter, erschöpfter Krieger trat hindurch.

»Du kommst vom Lager der Pakekas?

– Ja, antwortete der Maori.

– Hast Du den Gefangenen, unseren Tohonga, gesehen?

– Ich sah ihn.

– Lebt er?

– Er ist todt. Die Engländer erschossen ihn.«

Um Glenarvan und seine Begleiter war es geschehen.

»Alle, rief Kai-Koumou, Alle sterbt Ihr morgen mit Tagesanbruch.«

Eine gleiche Strafe erwartete also alle die Armen. Lady Helena und Mary Grant sandten einen Blick innigsten Dankes zum Himmel.

Die Gefangenen wurden nun nicht mehr nach dem Waré-Atoua zurück geführt. Sie mußten an diesem Tage dem Begräbnisse des Häuptlings und den begleitenden blutigen Auftritten beiwohnen. Eine Anzahl Eingeborener geleitete sie bis zum Fuße eines ungeheuren Koudi. Dort blieben Wachen bei ihnen, die sie nicht aus den Augen verloren. Der ganze übrige Maoristamm schien sie über seinem officiellen Schmerze vergessen zu haben.

Die vorschriftsmäßigen drei Tage seit Kara-Tété's Tode waren vorüber. Die Seele des Verblichenen mußte also ihre sterbliche Hülle nun verlassen haben. Die Ceremonie begann.

[618] Der Körper wurde auf einen kleinen Hügel in der Mitte der Umplankung gebracht. Er war in prächtiger Kleidung und in eine schöne Phormiummatte eingehüllt. Sein mit Federn geschmücktes Haupt trug eine Krone von grünen Blättern. Weder das Gesicht, noch Brust und Arme, welche mit Oel eingerieben waren, zeigten irgend welche Veränderung.

Die Angehörigen und Freunde näherten sich dem Fuße des Hügels, und mit einem Schlage, so, als ob ein Capellmeister das Zeichen zu einer Trauermusik gegeben hätte, erfüllte ein Monstre-Concert von Weinen, Seufzen und Schluchzen die Lüfte. In klagendem, schleppendem Rhythmus beweinte man den Entseelten. Die nächsten Angehörigen schlugen den Kopf gegen die Erde. Die weiblichen Verwandten zerrissen sich mit den Nägeln das Gesicht, das mehr von Blut, als von Thränen überströmt war. Die unglücklichen Frauen erfüllten gewissenhaft diese barbarische Pflicht.

Doch damit war für die Ruhe der Seele des Verstorbenen noch nicht genug geschehen, deren Zorn den ganzen Stamm unfehlbar getroffen hätte, und da seine Krieger ihn nicht in's Leben zurückzurufen vermochten, so thaten sie doch Alles, um ihn in jener Welt die Freuden des Erdenlebens nicht vermissen zu lassen. Das Weib Kara-Tété's durfte ihn auch im Grabe nicht verlassen. Uebrigens hätte die Unglückliche auch darauf verzichtet, ihn zu überleben. In Uebereinstimmung mit der Pflicht war das die geläufige Sitte, und Beispiele ähnlicher Aufopferung sind in der Geschichte Neu-Seelands nicht selten.

Diese Frau trat vor. Sie war noch jung. Die Haare umflatterten unordentlich ihre Schultern. Ihr Schluchzen und Wehgeschrei stieg zum Himmel. Unverständliche Worte, Jammern und abgebrochene Sätze, in denen sie die Tugenden des Todten pries, mischten sich unter ihre Seufzer, und im höchsten Ausbruch des Schmerzes warf sie sich am Fuße der Erhöhung hin und schlug den Boden mit dem Kopfe.

Jetzt näherte sich ihr Kai-Koumou. Plötzlich erhob sich das bedauernswerthe Opfer. Doch ein Schlag mit dem »Mere«, einer Art furchtbarer Keule, welche die Hand des Häuptlings schwang, streckte sie nieder. Wie vom Blitz getroffen, brach sie zusammen.

Sofort erhob sich ein furchtbares Geheul. Hundert Arme erhoben sich drohend gegen die über das schreckliche Schauspiel bestürzten Gefangenen. Doch Keiner wich von seiner Stelle. Die Leichenfeier war noch nicht zu Ende.

[619] Kara-Tété's Weib hatte sich im Tode mit ihrem Gatten vereint. Die beiden Körper lagen ausgestreckt neben einander. Für das ewige Leben aber war dem Verblichenen die Gattin nicht genug. Wer würde bei Nouï-Atoua Beide bedient haben, wenn ihre Sklaven ihnen nicht in die andere Welt nachfolgten?

Da wurden sechs Unglückliche vor die Leiche ihres Herrn geschleppt. Es waren die Diener, welche nach unerbittlichem Kriegsrecht in Sklaverei gefallen waren. Zu Lebzeiten des Häuptlings hatten sie die härtesten Entbehrungen zu tragen, erlitten tausendmal die schlechteste Behandlung, wurden kaum ernährt, zu den Arbeiten von Lastthieren verdammt und nun mußten sie, nach dem Glauben der Maoris, auch für ewige Zeit in diesem Dienstverhältnisse bleiben.

Die Elenden schienen ergeben in ihr Loos. Sie erschraken nicht über ihr lange vorhergesehenes Opfer. Ihre Hände ohne Fesseln bewiesen, daß sie ohne Widerstand in den Tod gehen würden.

Uebrigens war das ein schneller, der ihnen lange Qualen ersparte. Diese behielt man sich für die Urheber des Mordes vor, welche, in zwanzig Schritt Entfernung stehend, die Augen von diesem scheußlichen Schauspiel, dem noch gräßlichere Scenen folgen sollten, abwandten.

Sechs Schläge mit dem Mere aus den Händen von sechs kräftigen Kriegern streckten die Opfer inmitten einer Blutlache zu Boden.

Hiermit war das Zeichen zu den schrecklichsten Scenen von Cannibalismus gegeben.

Der Leichnam von Sklaven ist nicht wie der der Herren durch den Tabou geschützt. Er gehört dem Stamme, eine den Klageleuten hingeworfene Scheidemünze. Sobald also das Opfer gebracht war, fiel die ganze Masse der Eingeborenen, Häuptlinge, Krieger, Greise, Weiber und Kinder, ohne Unterschied des Alters und Geschlechtes, mit thierischer Wuth über die entseelten Reste der Erschlagenen her. Schneller, als die Feder es beschreiben kann, wurden die noch dampfenden Körper zerrissen, getheilt, ausgeweidet, und nicht in Stücken, nein, in einzelne Bissen, zertheilt. Von zweihundert anwesenden Maoris mußte Jeder seinen Theil Menschenfleisch haben. Man stritt, kämpfte und schlug sich um den geringsten Fetzen. Rothe Tropfen bespritzten die scheußlichen Theilnehmer dieser Mahlzeit, und die ganze kämpfende Horde watete in einem Regen von Blut. Es war der Wahnsinn und die Wuth [620] beutegieriger Tiger. Man hätte einen Circus zu sehen geglaubt, in welchem die wilden Thiere ihr Futter vertilgen. Dann wurden zwanzig Feuer an verschiedenen Stellen des Pah entzündet; der Geruch verbrannten Fleisches verbreitete sich in der Luft, und wäre nicht der Höllenlärm dieses Festes und das Geschrei gewesen, welches die vollgestopften Kehlen von sich gaben, so hätten die Gefangenen das Knacken der Knochen ihrer Opfer unter den Zähnen der Cannibalen hören müssen.

Glenarvan und seine Genossen suchten die Schauerscene den Augen der beiden Frauen zu entziehen. Sie wußten nun, welche Strafe sie andern Tags erwartete und welch' grausame Qualen ihnen zweifelsohne vor ihrem Tode bevorständen. Alle waren vor Schrecken stumm.

Alsbald begannen die Todtentänze. Starke Liqueure, Extracte von »Piper excelsum«, wahrer Pfeffergeist, erhöhten die Trunkenheit der Wilden, an denen nichts Menschliches mehr war. Vielleicht auch würden sie sich, des Tabou des Häuptlings uneingedenk, zuletzt an den Gefangenen, die vor dem Wahnsinn Jener schauderten, vergreifen?

Kai-Koumou hatte indeß mitten in dieser allgemeinen Trunkenheit seine Vernunft bewahrt. Eine Stunde gewährte er für diese blutige Orgie, während der sie zunahm, dann nachließ, bis sich der letzte Act der Leichenfeier unter den gewohnten Ceremonien vollzog.

Die Leichname Kara-Tété's und seiner Frau wurden aufgenommen und die Gliedmaßen nach neuseeländischer Sitte gebeugt gegen den Rumpf gebunden. Nun galt es nur noch, sie zu beerdigen, was aber nur vorläufig geschah, bis einst die Erde, nachdem das Fleisch verwest ist, nur die Gebeine empfängt.

Die Stelle des »Oudoupa«, d.h. des Grabes, war gegen zwei Meilen von der Umzäunung, am Gipfel eines kleinen Berges, Namens Maunganamu, der am rechten Ufer des Sees lag, ausgewählt.

Dorthin mußten die Leichen geschafft werden. Zwei sehr einfache Palankine, eigentlich nur als Tragbaren zu bezeichnen, wurden an den Hügel herangebracht und auf denselben die aneinander gebundenen Leichen mehr sitzend als liegend, ganz bekleidet, und in ihrer Stellung durch Lianenbänder gehalten, befestigt. Vier Krieger hoben sie auf, und der ganze Stamm, der seine Todtenlieder wieder anstimmte, folgte ihnen bis zur Grabstätte.

[621] Die immer bewachten Gefangenen sahen den Zug die erste Umplankung des Pah verlassen; dann verschollen Gesänge und Ausrufe nach und nach. Ungefähr eine halbe Stunde blieb dieser Leichenconduct in der Tiefe des Thales außer ihrem Gesichtskreise. Dann sahen sie ihn wieder sich die Fußpfade des Berges hinaufschlängeln. Die Entfernung verlieh dieser langen und mehrfach gebogenen Colonne ein phantastisches Aussehen.

In der Höhe von achthundert Fuß, d.h. auf dem Gipfel des Maunganamu, hielt der Stamm an der zur Beerdigung Kara-Tété's hergerichteten Stelle.

Ein gemeiner Maori hätte als Grab nur ein Loch mit einem Steinhaufen darauf erhalten. Für einen mächtigen und gefürchteten Häuptling aber, der jedenfalls bald unter die Gottheiten versetzt wurde, bereitete der Stamm ein den Heldenthaten Jenes würdiges Grabmal.

Das Oudoupa war mit Palissaden umschlossen und Pfähle, die mit ockerrothen Figuren geziert waren, erhoben sich nahe der Grube, in der die beiden Cadaver ruhen sollten. Die Anverwandten hatten auch nicht vergessen, daß der »Waidua«, der Geist der Verstorbenen, sich ebenso von greifbaren Substanzen nährt, wie der Körper in diesem vergänglichen Leben. Deshalb wurden innerhalb jenes Raumes Nahrungsmittel ebenso, wie die Waffen und Kleidungsstücke des Verblichenen niedergelegt.

Nichts fehlte an der bequemen Ausstattung des Grabes. Die beiden Gatten wurden darin neben einander niedergesetzt, dann mit Erde und Gräsern bedeckt, und endlich folgte ihnen eine neue Reihe Klagen.

Schweigend stieg die Leichenbegleitung den Berg hinab, und von nun an durfte bei Todesstrafe Niemand wagen, den Maunganamu zu besteigen, denn er stand unter dem Tabou, gleich dem Tongariro, wo die Ueberreste eines Häuptlings ruhen, der im Jahre 1846 durch ein Erdbeben in Neu-Seeland umkam.

[622]
13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Die letzten Stunden.

Als die Sonne jenseit des Taupo-Sees hinter den Gipfeln des Tuhahua und des Puketapu verschwand, wurden die Gefangenen nach ihrer früheren Einschließung zurückgeführt. Sie sollten diese nicht vor der Stunde verlassen, da die Spitzen der Wahiti-Ranges in den ersten Strahlen des jungen Tages erglühten.

So blieb ihnen noch eine Nacht, sich auf den Tod vorzubereiten. Trotz des Kummers, ja trotz des Entsetzens, das sie erfaßt hatte, nahmen sie doch gemeinschaftlich ihr Abendessen ein.

»Wir werden nie zu viele Kräfte haben, hatte Glenarvan gesagt, um dem Tod in's Angesicht zu schauen. Es gilt jetzt, diesen Barbaren zu zeigen, wie Europäer zu sterben wissen.«

Nach Schluß der Mahlzeit sprach Lady Helena mit lauter Stimme einen Abendsegen. Alle nahmen entblößten Hauptes an dem Gebete Theil.

Wo ist der Mensch, der angesichts des Todes nicht an Gott dächte?

Nach Erfüllung jener Herzenspflicht umarmten sich die Gefangenen.

Mary Grant und Helena legten sich in einer Ecke der Hütte nieder. Der Schlaf, der alle Qualen heilt, senkte sich bald auf ihre Lider; von der Erschöpfung und langen Schlaflosigkeit überwunden, entschlummerten sie, Eine im Arme der Andern.

Dann nahm Glenarvan seine Freunde zur Seite und sprach:


Begräbniß eines Neu-Seeländer-Häuptlings. (S. 621.)

»Meine theuren Gefährten, unser Leben und das dieser armen Frauen gehört ja Gott. Ist es des Himmels unerforschlicher Rathschluß, daß wir morgen sterben sollen, nun, so werden wir es als Menschen voller Muth, als Christen thun, und bereit sein, furchtlos vor den höchsten Richter zu treten. Gott, der ja unser Inneres sieht, weiß auch, daß wir ein edles Ziel verfolgten. Wie hart uns sein Beschluß auch treffe, ich murre nicht gegen ihn. Aber der Tod hier ist nicht nur Tod allein, er ist eine Strafe, vielleicht eine Schandthat, und hier, diese beiden Frauen ...«

Glenarvan's bis hierher feste Stimme erzitterte. Er schwieg, um seine Erregung zu bemeistern. Nach wenig Augenblicken sagte er zu dem jungen Kapitän:

[623] »John, Du hast Mary dasselbe versprochen, wie ich der Lady Helena. Was ist Dein Entschluß?

– Ich glaube, erwiderte John Mangles, vor Gott die Pflicht zu haben, dieses Versprechen zu erfüllen.

– Gewiß, John, doch wir haben keine Waffen.

– Hier ist noch eine, sagte John, indem er einen Dolch vorwies. Ich habe sie Kara-Tété's Hand entrissen, als er zu Ihren Füßen niedersank.

[624] Wohlan, Mylord, wer von uns den Andern überlebt, der wird das Gelübde gegen Lady Helena und Mary Grant erfüllen.«

Ein tiefes Schweigen herrschte nach diesen Worten in der Hütte. Endlich unterbrach es der Major mit den Worten:

»Jenes äußerste Mittel, meine Freunde, bleibe für die letzten Minuten aufgespart. Ich betheilige mich nicht gern bei Etwas, was nie wieder rückgängig zu machen ist.


Glenarvan und Lady Helena gleiten am Seile herab. (S. 630.)

– Ich sprach hier nicht für uns, sagte Glenarvan, wir werden dem Tode [625] zu trotzen wissen, er sei, welcher er wolle. Ja, wären wir allein, schon zwanzigmal hätte ich wohl angefeuert: Meine Freunde, versuchen wir einen Ausfall, greifen wir jene Elenden an! Aber sie! Sie ...!«

John lüftete in diesem Augenblicke die Matte und zählte an fünfundzwanzig Eingeborene, welche das Thor des Waré-Atoua bewachten. Sie hatten ein großes Feuer angezündet, welches die unebene Oberfläche des Pah mit trübem Scheine beleuchtete. Von den Wilden lagen die Einen um die Feuerstelle ausgestreckt, während die Anderen unbeweglich dastanden und mit ihren dunklen Gestalten gegen die helle Flammenwand grell abstachen. Alle aber richteten die Blicke häufig nach der ihrer Wachsamkeit anvertrauten Hütte.

Es wird behauptet, daß zwischen einem Kerkermeister, welcher Wache hält, und einem Gefangenen, welcher fliehen will, der Vortheil auf der Seite des Gefangenen sei. Wirklich ist das Interesse des Einen meist stärker, als das des Andern. Dieser kann es vergessen, daß er auf Wache ist, Jener aber nie, daß er bewacht wird. Der Gefangene denkt weit häufiger daran, eine Flucht zu bewerkstelligen, als der Wächter, sie zu verhindern, was die häufigen und wunderbaren Entweichungen wohl erklärt.

In diesem Falle aber bewachte der Haß und die Rache die Gefangenen, und kein indifferenter Schließer. Wenn diese nicht gefesselt worden waren, so kam das daher, daß man es für überflüssig erachten mochte, da fünfundzwanzig Mann den einzigen Ausgang des Waré-Atoua versperrten.

Diese Hütte, welche rückwärts an dem Felsen anlag, der die Umzäunung begrenzte, war nur von dem Plateau des Pah aus über eine schmale Landzunge zugänglich. Die beiden anderen Wände standen dicht an senkrechten Felswänden über einem etwa hundert Fuß tiefen Abgrunde. Ein Heruntersteigen war an diesen Stellen unmöglich. Auch auf der Rückseite, welche der ungeheure Felsen bildete, erschien eine Flucht unausführbar. Den einzigen Ausweg bot eben das Thor des Waré-Atoua; die Maoris bewachten aber den schmalen Landrücken wie eine Ausfallsbrücke. Nach mehrfacher Untersuchung der Wände mußte Glenarvan sich gestehen, daß an einen Ausbruch nicht zu denken war.

Indessen enteilten die Stunden dieser angstvollen Nacht. Tiefe Dunkelheit lagerte um den Berg Weder Mond noch Sterne milderten sie. Einige Windstöße rüttelten an den Planken des Pah, so daß die Pfähle knarrten. Das Wachtfeuer der Eingeborenen flammte lebhafter dabei auf; die Flammen [626] warfen einen kurzen Schein in das Innere des Waré-Atoua und beleuchteten einen Augenblick lang die Gruppe der Gefangenen. Die Armen waren in traurigem Sinnen verloren; das Schweigen des Todes herrschte in der Hütte.

Es mochte gegen vier Uhr Morgens sein, als der Major durch ein leises Geräusch aufmerksam wurde, das sich nahe den Pfeilern der Rückwand bemerkbar machte. Da es nicht nachließ, horchte Mac Nabbs gespannter auf. Dann legte er sogar, da jenes immer fortdauerte, das Ohr auf den Boden. Ihm schien es, als grübe Jemand von draußen die Erde auf.

Als er sich darüber vergewissert hatte, glitt er zu Glenarvan und John Mangles hin, die er ihren schmerzlichen Träumereien entriß, indem er sie nach dem Hintergrunde der Hütte führte.

»Horcht hier!« sagte er mit leiser Stimme und bedeutete sie, zu schweigen.

Das Scharren wurde deutlicher, man konnte kleine Steine an einem harten Instrumente knirschen und draußen herabrollen hören.

»Das ist irgend ein Thier in seinem Baue«, sagte John Mangles.

Glenarvan schlug sich gegen die Stirn.

»Wer weiß, sagte er, wenn es nun ein Mensch wäre? ...

– Mensch oder Thier, versetzte der Major, ich weiß, was zu thun ist«.

Wilson und Olbinett machten sich gleichzeitig mit daran, den Erdboden aufzuwühlen, John mit seinem Dolche, mit spitzen Steinen, ja, mit den bloßen Nägeln, während Mulrady auf dem Fußboden ausgestreckt unter der Matte hin den Trupp Eingeborener im Auge behielt.

Die um ihr Feuer bewegungslos daliegenden Wilden hatten keine Ahnung davon, was zwanzig Schritte von ihnen vorging.

Die obersten Erdschichten über dem kieseligen Tuffstein bestanden aus lockerem, zerreiblichem Boden, so daß das Loch auch ohne Werkzeuge zusehends wuchs. Bald wurde es klar, daß ein oder mehrere Menschen, welche sich an den Felsenwänden unterhalb der Hütte befinden mußten, deren Wand unterhöhlten. Zu welchem Zwecke geschah das aber? War ihnen die Anwesenheit der Gefangenen bekannt oder war hier irgend ein Zufall im Spiele?

Die Gefangenen verdoppelten ihre Anstrengungen. Schon bluteten ihre Finger, – sie gruben weiter. Nach einer halben Stunde war das Loch schon drei Fuß tief. Aus dem schärferen Geräusche konnten sie es abnehmen, daß nur noch eine dünne Erdschicht die Verbindung von innen nach außen unterbrach.

[627] Einige Minuten verflossen noch so, als der Major plötzlich seine Hand, die von einem scharfen Instrumente getroffen war, zurückzog.

John Mangles streckte seinen Dolch voraus und parirte so die draußen arbeitende Messerklinge, ergriff aber die Hand, welche sie hielt.

Das war die einer Frau oder eines Kindes, aber eine Europäerhand!

Noch war von keiner Seite ein Wort gefallen. Offenbar lag auf beiden Seiten ein Interesse vor, zu schweigen.

»Ist das etwa Robert?« sagte Glenarvan halblaut.

Trotzdem hatte ihn Mary Grant, welche von den Bewegungen in der Hütte erwacht war, gehört. Leise glitt sie zu Glenarvan hin, ergriff jene ganz mit Erde bedeckte Hand und küßte sie inbrünstig.

»Du! Du bist es! sagte das junge Mädchen, die sich nicht täuschen konnte, Du, mein Robert!

– Ja, kleine Schwester, antwortete Robert, ich bin da, um Euch Alle zu retten. Aber still! still!

– Du braves Kind! sagte Glenarvan.

– Beobachtet nur die Wilden draußen«, mahnte Robert.

Mulrady, dessen Aufmerksamkeit die Erscheinung des Knaben etwas abgelenkt hatte, nahm seine Stelle wieder ein.

»Es geht Alles gut! sagte er. Nur vier Krieger sind wach, die Anderen schlafen.

– Muth also!« rief Wilson.

Sofort wurde die Oeffnung erweitert, und Robert flog aus den Armen seiner Schwester in die Lady Helena's. Um seinen Körper war ein langes Phormiumseil geschlungen.

»Mein Kind! Mein Kind! lispelte die junge Frau, die Wilden haben Dich also nicht umgebracht?

– Nein, Madame, antwortete Robert. Doch weiß ich selbst nicht, wie ich während des Tumultes ihren Augen entschlüpfte. Ich gelangte durch die Umzäunung. Zwei Tage lang blieb ich in Gebüschen versteckt und irrte in der Nacht umher; ich mußte Sie wiedersehen. Während der ganze Stamm den Leichenfeierlichkeiten beiwohnte, gelang es mir, diese Seite der Felswand, an der dieses Gefängniß steht, zu finden und die Möglichkeit, bis hierher vorzudringen, einzusehen. Messer und Seil habe ich aus einer verlassenen Hütte gestohlen. An Gräsern hielt ich mich, Zweige waren meine Stufen.

[628] Zufällig entdeckte ich in dem Felsen eine Art Grotte; nur wenige Fuß hatte ich durch weichen Erdboden zu wühlen, nun – und da bin ich!«

Stumme Küsse waren die einzige Antwort, welche Robert erhielt.

»Nun, schnell auf! sagte er mit entschiedenem Tone.

– Ist Paganel unten? fragte Glenarvan.

– Herr Paganel? erwiderte der über diese Frage erstaunte Knabe.

– Ja; erwartet er uns?

– Aber nein, Mylord. Ist denn Herr Paganel nicht hier?

– Hier ist er nicht, antwortete Mary Grant.

– Wie? Du hast ihn nicht gesehen? fragte Glenarvan. Ihr habt Euch während des Tumultes nicht getroffen? Seid nicht zusammen entflohen?

– Nein, Mylord, entgegnete Robert, der von Paganel's Verschwinden ganz niedergeschmettert war.

– Vorwärts, mahnte der Major, hier ist keine Minute zu verlieren. Wo Paganel auch sein mag, übler als uns kann es ihm nicht ergehen. Vorwärts.«

Wirklich waren die Augenblicke zur Flucht kostbar. Diese selbst war, bis auf die Ueberschreitung einer zwanzig Fuß tiefen, ganz lothrechten Felsenwand nicht allzu schwierig. Weiter unten dachte sich der Abhang bis an den Fuß des Berges sanfter ab. Von da aus konnten dann die Gefangenen schnell die tieferen Thälern erreichen, während die Maoris, wenn sie ihre Flucht bemerkten, einen großen Umweg machen mußten, da ihnen der ausgehöhlte Gang zwischen dem Waré-Atoua und dem Abhange nicht bekannt war.

Der Ausbruch begann, zu dessen Gelingen alle Vorsicht aufgeboten wurde. Einer nach dem Anderen krochen die Gefangenen durch die Oeffnung und befanden sich bald in der erwähnten Grotte. John Mangles entfernte, bevor er die Hütte verließ, erst sorgfältig allen Schutt, schlüpfte dann hindurch und ließ die Decken über die Oeffnung zufallen. Der Gang war also vollkommen verdeckt.

Nun galt es, die steile Felswand bis zu der Abdachung hinabzuklettern, was ohne Robert's mitgebrachtes Seil ganz unausführbar gewesen wäre.

Man rollte es auf, befestigte es an einem Felsenvorsprung und ließ das andere Ende hinab.

John Mangles prüfte, bevor sich ihm Jemand anvertrauen durfte, das Seil erst auf seine Haltbarkeit, die ihm nicht zu bedeutend erschien. Man [629] durfte sich aber nicht unbedacht einem Sturze aussetzen, der hier leicht tödtlich sein konnte.

»Dieser Strick trägt nur Zwei auf einmal, sagte er, richten wir uns also darnach. Lord und Lady Glenarvan mögen zuerst hinabgleiten; sind sie auf der Abdachung angelangt, so wird ein dreimaliges Schütteln des Seiles uns das Zeichen sein, nachzufolgen.

– Ich will zuerst hinab, versetzte Robert. Ich habe da unten eine Art tiefer Höhle bemerkt, wo die zuerst Herunterkommenden sich beim Erwarten der Anderen verbergen können.

– Geh, mein Sohn!« sagte Glenarvan und drückte ihm die Hand.

Robert verschwand durch die Oeffnung der Grotte. Nur eine Minute später verkündeten drei Erschütterungen des Seiles, daß er glücklich hinabgekommen sei.

Sogleich wagten sich Lord und Lady Glenarvan aus der Grotte. Noch war es hier tiefdunkel, doch färbten schon einige grauliche Streifen die Berggipfel im Osten.

Die stechende Morgenfrische belebte die junge Frau; sie fühlte sich stärker und begann die gefahrvolle Flucht.

Glenarvan voraus, Lady Helena nach ihm, glitten sie an dem Seile hinab. Dann begann Glenarvan, seiner Gattin voraus und sie unterstützend, rückwärts weiter hinab zu steigen. Er haschte nach Grasbüscheln und Buschzweigen, um Stützpunkte für sie zu finden. Erst prüfte er sie und lenkte dann Lady Helena's Fuß dahin. Schreiend flogen einige erwachte Vögel auf, und die Flüchtlinge erzitterten, wenn ein Steinchen den Abhang des Berges hinabrollte.

Schon hatten sie die Hälfte Weges zurückgelegt, als sich eine Stimme von der Grotte her vernehmen ließ.

»Einhalten!« rief John Mangles leise.

Glenarvan, der sich selbst an einen Busch mit der einen Hand, und seine Gattin mit der anderen hielt, stand still und wagte kaum Athem zu holen.

Wilson's Aufmerksamkeit hatte vor dem Waré-Atoua ein Geräusch vernommen, was ihn veranlaßte, noch einmal in die Hütte zurückzukehren und die Maoris zu beobachten. Auf ein Zeichen von ihm veranlaßte John Mangles auch Glenarvan, nicht weiter zu gehen.

Es hatte sich nämlich ein Krieger, der ein ungewöhnliches Geräusch bemerkt [630] haben mochte, erhoben und dem Waré-Atoua genähert. Zwei Schritte vor der Hütte lauschte er mit vorgeneigtem Kopfe. So stand er eine Minute lang, die eine Stunde zu währen schien, mit gespitztem Ohr und lauerndem Auge. Dann schüttelte er den Kopf, wie Jemand, der sich geirrt hat, ging zu seinen Stammesgenossen zurück, ergriff ein Stück trockenes Holz und warf es in das Feuer, welches davon neu aufflammte. Sein klar beleuchtetes Gesicht ließ keinen Verdacht, den er geschöpft hätte, erkennen, und nachdem er den ersten Tagesschimmer am Horizonte beobachtet hatte, legte er sich neben dem Feuer nieder, um seine erstarrten Glieder zu erwärmen.

»Es geht nach Wunsch«, sagte Wilson.

John gab Glenarvan ein Zeichen, weiter hinab zu steigen. Glenarvan glitt langsam die Böschung hinab, und bald faßte er mit Lady Helena festen Fuß auf dem Pfade, wo Robert sie erwartete.

Das Seil wurde dreimal geschüttelt, und nun folgten Mary Grant, ihr voraus John Mangles auf dem gefährlichen Wege.

Glücklich fanden sie die Vorausgegangenen in der von Robert bezeichneten Höhlung.

Fünf Minuten später verließen alle dem Waré-Atoua glücklich entronnenen Flüchtlinge ihre vorläufige Zuflucht und schlugen sich, erst den bekannten Seeufern folgend, bald tiefer in die Berge. Sie gingen rasch und suchten vor Allem solche Punkte zu vermeiden, wo sie gesehen werden könnten. Sie sprachen kein Wort und huschten wie Schatten durch die Gesträuche. Wohin gingen sie? – Auf's Geradewohl, aber sie waren doch frei!


Gegen fünf Uhr begann es zu dämmern. (S. 631.)

Gegen fünf Uhr begann der Tag zu dämmern. Bläuliche Streifen wurden zwischen den Wolken sichtbar. Die dunstigen Gipfel entkleideten sich der Morgennebel. Gleich mußte das Gestirn des Tages auftauchen, aber statt damit das Zeichen zu dem Blutgericht zu geben, konnte es nur die Flucht der Verurtheilten verrathen.

Es galt also vor diesem verhängnißvollen Augenblicke außer dem Gesichtskreise der Wilden zu sein. Sie kamen leider nicht schnell vorwärts, denn oft waren die Wege unterbrochen. Lady Helena klomm, gehalten, um nicht zu sagen, getragen von Glenarvan's Hand, die Abhänge hinan; Mary Grant stützte sich auf John Mangles' Arm; Robert ging, glücklich, triumphirend, das Herz voller Freude über seinen Erfolg, voraus; die beiden Matrosen schlossen den Zug.

[631] Noch eine halbe Stunde und die Leuchte des Tages mußte auftauchen.

Eine halbe Stunde lang marschirten die Flüchtlinge einfach geradeaus. Paganel war nicht da, um sie zu leiten, – Paganel, der Gegenstand ihrer Kümmerniß, dessen Abwesenheit einen dunklen Schatten in ihr Glück warf. Sie hielten sich indeß möglichst östlich und gingen einem prächtigen Morgenrothe entgegen. Bald hatten sie eine Höhe von fünfhundert Fuß über dem Taupo-See erreicht, und die Morgenkälte, welche auf dieser Höhe noch zunahm, machte sich auffallend bemerklich. Unbestimmte Formen von Hügeln und[632] Bergen thürmten sich über einander auf, doch hatte Glenarvan nur den einen Wunsch, sich darin zu verlieren. Später würde er aus diesem Berglabyrinthe den Ausgang zu finden suchen.


»Setzen Sie sich, lieber Lord.« (S. 636.)

Endlich erschien die Sonne und sandte den Flüchtigen ihre ersten Strahlen entgegen.

Plötzlich durchdrang ein schreckliches Geschrei die Luft. Es kam von dem Pah her, dessen Lage Glenarvan nicht mehr genau zu bestimmen vermochte.[633] Zudem hinderte auch eine dichte Nebelwolke den Einblick in die tieferen Thäler.

Daran konnten aber die Flüchtlinge nicht mehr zweifeln, daß ihre Flucht entdeckt war. Würden sie nun der Verfolgung der Eingeborenen entgehen? Waren sie bemerkt worden? Verriethen sie wohl ihre Spuren?

In diesem Augenblicke lüftete sich der Nebel unter ihnen, umhüllte sie vorübergehend als feuchte Wolke, und bald bemerkten sie dreihundert Schritte unter sich die wahnsinnige Masse der Eingeborenen.

Sie sahen diese, aber auch sie waren gesehen worden. Erneutes Geheul ertönte mit Bellen untermischt, und nachdem der ganze Stamm vergeblich versucht hatte, den Felsen hinter dem Waré-Atoua zu erklettern, wälzte er sich aus der Umfriedigung heraus und stürmte auf den kürzesten Wegen zur Verfolgung der Flüchtlinge fort, die seiner Rache entflohen.

14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Der Berg unter dem Tabou.

Gegen hundert Fuß noch erhob sich der Gipfel des Berges. Den Flüchtigen lag daran, ihn zu erreichen, um sich an der entgegengesetzten Seite den Blicken der Maoris zu entziehen. Sie hofften dann über irgend einen gangbaren Gebirgskamm die benachbarten Höhen zu erreichen, welche ein orographisches Gewirr bildeten, dessen Complicationen der arme Paganel, wenn er bei der Hand gewesen wäre, gewiß aufgelöst hätte.

Man stieg also schnellstmöglich aufwärts, getrieben von den Ausrufen, welche sich mehr und mehr näherten. Die wüthende Horde langte jetzt am Fuße des Berges an.

»Muth, Muth, Ihr Freunde!« rief Glenarvan, der seine Begleiter auf jede Weise anfeuerte.

In weniger als fünf Minuten war der Gipfel erreicht. Dort wandten [634] sie sich um, um ihre Lage zu überblicken und eine Richtung zu wählen, welche von den Maoris wegführte.

Von dieser Höhe übersahen sie den Taupo-See, der sich westlich zwischen einem pittoresken Berggürtel ausdehnte. Nördlich waren die Gipfel des Pirongia sichtbar, südlich der flammende Krater des Tongariro. Oestlich aber haftete der Blick an den Gipfeln und Bergkämmen, welche sich an die Wahiti-Ranges anschließen, jene große Kette, deren ununterbrochener Ring die ganze Insel von der Cook-Straße bis zum Ostcap umfaßt. Man mußte also den entgegengesetzten Abhang hinabsteigen und sich in den schmalen, vielleicht ausweglosen Schluchten verlieren.

Glenarvan warf einen ängstlichen Blick umher. Da der Nebel nun ganz gewichen war, vermochte er alle Bodensenkungen deutlich zu überblicken, und keine Bewegung der Maoris konnte ihm entgehen.

Die Eingeborenen waren nicht fünfhundert Fuß unter ihm, wobei sie das Plateau erreichten, auf welchem sich der Gipfel isolirt erhob.

Glenarvan konnte den Aufenthalt um keinen Preis ausdehnen, erschöpft wie Alle waren, mußten sie doch fliehen, um nicht umzingelt zu werden.

»Hinunter, hinunter! rief er, bevor der Weg uns abgeschnitten ist!«

Eben als die armen Frauen sich aber mit letzter Kraftanstrengung erhoben, blieb Mac Nabbs stehen und sagte:

»Es ist unnöthig, Glenarvan. Sehen Sie doch!«

Und wirklich sahen sie Alle sich in der Bewegung der Maoris eine unerklärliche Veränderung vollziehen.

Die Verfolgung wurde urplötzlich aufgegeben. Die Besteigung des Berges hörte, wie durch gebieterischen Gegenbefehl, auf. Die Eingeborenen zügelten ihren Eifer und stauten sich, wie die Wogen des Meeres vor einem unübersteiglichen Felsen.

Alle diese blutdürstigen Wilden, welche jetzt den Fuß des Berges umstanden, heulten, gesticulirten, schwangen Aexte und Flinten, gingen aber keinen Schritt weiter vorwärts. Wüthend bellten ihre Hunde, die aber ebenso wie sie am Boden festgewurzelt schienen.

Was ging da vor? Welch' unsichtbare Gewalt hielt die Eingeborenen zurück? Die Flüchtlinge sahen es, ohne es zu verstehen, und fürchteten, der Zauber, der den Stamm Kai-Koumou's fesselte, möge nicht lange vorhalten.

[635] Plötzlich stieß John Mangles einen Schrei aus, der seine Gefährten zum Umdrehen veranlaßte; er wies mit der Hand nach einer Art kleinem Fort, das den Gipfel krönte.

»Das Grab des Häuptlings Kara-Tété! rief Robert.

– Sprichst Du die Wahrheit, Robert? fragte Glenarvan.

– Ja wohl, Mylord. Gewiß ist es das Grab. Ich kenne es ...«

Robert täuschte sich nicht. Noch fünfzig Fuß höher auf der äußersten Spitze des Berges bildeten frische Pfähle eine kleine Umplankung. Auch Glenarvan er kannte jetzt das Grab des Neu-Seeländers. Ihre ziellose Flucht hatte sie auf den Gipfel des Maunganamu geführt.

Der Lord erstieg, gefolgt von seinen Begleitern, den letzten Abhang des Gipfels bis zum Fuße des Grabes selbst. Der breite Zugang war nur durch Matten verschlossen. Glenarvan wollte eben das Innere des Oudoupa betreten, als er mit dem Ausrufe: »Ein Wilder!« plötzlich zurückwich.

»Ein Wilder in dem Grabe hier? fragte der Major.

– Ja, Mac Nabbs.

– Thut nichts, wir dringen ein.«

Glenarvan, der Major, Robert und John Mangles traten in die Umpfählung. Ein Maori befand sich darin von einem weiten Phormiummantel verhüllt; die Dunkelheit in dem Oudoupa verhinderte es, seine Gesichtszüge zu erkennen. Er schien sehr ruhig und frühstückte völlig sorglos.

Glenarvan wollte ihn ansprechen, als der Eingeborene ihm zuvorkam und in freundlichem Tone und fließendem Englisch zu ihm sprach:

»Setzen Sie sich doch, lieber Lord, das Frühstück erwartet Sie.«

Es war Paganel. Alle stürzten sich bei seiner Stimme in das Oudoupa und sielen dem würdigen Geographen in die langen Arme. Paganel war wiedergefunden! Das allgemeine Wohl verkörperte sich in seiner Person! Man fragte ihn, man wollte wissen, wie und warum er auf den Gipfel des Maunganamu gelangt sei. Doch Glenarvan unterdrückte mit einem Worte diese unzeitige Neugier.

»Denkt an die Wilden! sagte er.

– Die Wilden! entgegnete achselzuckend Paganel. Das sind Geschöpfe, welche ich souverän verachte.

– Aber könnten sie nicht ...

– Sie! Diese Feiglinge! Seht sie nur an!«

[636] Alle folgten Paganel, der aus dem Oudoupa schritt. Die Seeländer standen noch an der nämlichen Stelle am Fuße des Bergkegels und stießen ein furchtbares Geschrei aus.

»Schreit und heult nur zu! Sprengt Eure Lungen, Ihr albernen Geschöpfe! sagte Paganel. Kommt doch und ersteigt diesen Berg.

– Und warum thun sie es nicht? fragte Glenarvan.

– Weil jener Häuptling hier beerdigt ist und sein Grab uns schützt, weil der Berg unter dem Tabou steht!

– Unter dem Tabou?

– Ja, meine Freunde! Eben deshalb habe ich mich auch hierher geflüchtet, wie in eine jener Freistätten des Mittelalters.

– Gott ist mit uns!« rief Lady Helena aus und hob die Hände gen Himmel.

Wirklich stand der Berg unter dem Tabou, und durch diese Art Heiligsprechung entging er dem Angriffe der abergläubischen Wilden.

Hiermit war das Wohl und Wehe der Flüchtlinge zwar noch nicht besiegelt, aber es war doch eine kleine Hilfe, aus der sie Nutzen zu ziehen gedachten.

Glenarvan sprach vor unsäglicher Erregung kein Wort, und der Major senkte den Kopf mit höchst zufriedener Miene.

»Und nun, meine Freunde, wenn diese Tölpel unsere Geduld auf die Probe zu stellen gedenken, sollen sie sich täuschen. Noch vor Verlauf zweier Tage werden wir vor den Angriffen dieser Schurken sicher sein.

– Wir werden fliehen, sagte Glenarvan, aber wie?

– Das weiß ich jetzt nicht, erwiderte Paganel; genug, wir fliehen Alle zusammen.«

Jetzt wollte Jeder die Abenteuer des Geographen erfahren. Sonderbarer Weise mußte man dem sonst so redseligen Manne die Worte fast abnöthigen, denn nur ausweichend stand er den Fragen seiner Freunde Rede.

»Meinen Paganel haben sie mir vertauscht!« dachte Mac Nabbs.

Wirklich war die Erscheinung des Gelehrten gar nicht mehr dieselbe. Er wickelte sich sorgsam in seine weite Phormiumhülle und schien neugierige Blicke zu fürchten. Sein verlegenes Benehmen, sobald von ihm die Rede war, entging Keinem, doch Niemand zeigte, daß er es bemerkte. Drehte sich das Gespräch nicht um ihn, so gewann er seine altgewohnte Freundlichkeit wieder.

[637] Seine Erlebnisse betreffend, theilte er, als sich Alle um ihn am Fuße des Grabes gesetzt hatten, Folgendes mit:

Nach dem Tode Kara-Tété's machte sich Paganel, ebenso wie Robert, das Gewühl der Eingeborenen zu Nutze und entsprang aus dem Pah. Aber minder glücklich, als der junge Grant, lief er spornstreichs in ein Maorilager. Dort befehligte ein hübsch gewachsener Häuptling von intelligentem Aussehen, der offenbar allen Kriegern seines Stammes überlegen war. Derselbe sprach vollkommen englisch, und begrüßte ihn, indem er seine Nasenspitze an der des Geographen rieb.

Paganel fragte ihn, ob er sich hier als Gefangener zu betrachten habe, oder nicht. Da er aber bemerkte, daß er auf Schritt und Tritt sehr höflich von dem Häuptling begleitet wurde, wußte er bald, woran er war.

Dieser Häuptling, Namens »Hihy«, das heißt »Sonnenstrahl«, war kein böser Mensch. Die Brille und das Fernrohr Paganel's stellten diesen in seinen Augen sehr hoch, und er versicherte sich seiner Person vollständig, nicht nur durch seine Wohlthaten, sondern auch durch gute Phormiumstricke, vorzüglich in der Nacht.

Drei ganze Tage dauerte das so fort. Wurde Paganel unterdessen gut oder schlecht behandelt? »Ja und Nein«, sagte er selbst, ohne sich darüber weiter auszulassen. Kurz, er war Gefangener und abgesehen von der angedrohten Todesstrafe, erschien ihm seine Lage beneidenswerther, als die seiner unglücklichen Freunde.

Zum Glück gelang es ihm, während einer Nacht seine Bande zu durchnagen und zu entfliehen. Von fern hatte er der Beerdigung des Häuptlings beigewohnt; er wußte, daß diese auf dem Maunganamu stattgefunden, und der Berg dadurch den Schutz des Tabou erlangt hatte. Dorthin strebte er zu entkommen, da er seine noch im Lande zurückgehaltenen Begleiter nicht verlassen wollte. Sein gefährliches Unternehmen gelang. In vergangener Nacht kam er am Grabe Kara-Tété's an, und erwartete, indem er neue Kräfte sammelte, daß der Himmel auch seine Freunde durch irgend welchen Zufall befreien werde.

Das war Paganel's Bericht. Ueberging er absichtlich irgend einen Umstand aus der Zeit seines Aufenthaltes bei den Eingeborenen? Mehr als einmal ließ seine Verlegenheit das annehmen. Wie dem auch sei, er erntete [638] einstimmig Glückwünsche, und nach Kenntnißnahme der Vergangenheit wandte man sich wieder der Gegenwart zu.

Die Situation blieb immer äußerst bedenklich. Wagten die Eingeborenen auch nicht, den Maunganamu zu besteigen, so rechneten sie auf den Hunger und den Durst, um der Gefangenen wieder habhaft zu werden. Es war das nur eine Frage der Zeit, und Wilde haben lange Geduld.

Glenarvan verhehlte sich die Schwierigkeiten der Lage nicht, aber er beschloß, günstige Umstände abzuwarten, oder diese nöthigenfalls herbeizuführen.

Zunächst wollte Glenarvan den Maunganamu gründlich kennen lernen, das heißt seine improvisirte Festung, nicht um sie zu vertheidigen, denn eine Belagerung war nicht zu befürchten, sondern um daraus fortzukommen.

Der Major, John, Robert, Paganel und er nahmen den Berg genau auf. Sie achteten auf die Richtung der Fußpfade, ihre Ausläufer und Neigungswinkel. Der Kamm, welcher in der Länge einer Meile den Maunganamu mit der Wahitikette verband, flachte sich gegen die Ebene zu ab. Sein enger und launenhaft geformter Grath bot den einzigen für eine Flucht brauchbaren Weg. Konnten die Flüchtlinge diesen unter dem Schutze der Nacht unbemerkt überschreiten, so hatten sie Aussicht, sich in den tiefen Thälern jener Bergkette zu verstecken und so den Maoris zu entgehen. – Dieser Weg bot aber mehr als eine Gefahr. In seinen tieferen Partien lag er noch in Büchsenschußweite. Die Kugeln der Eingeborenen, welche die unteren Ausläufer besetzt hielten, konnten sich dort kreuzen und ein eisernes Netz bilden, welches Niemand ungestraft überschreiten konnte.

Als sich Glenarvan und seine Freunde auf diesen gefährlichen Theil des Kammes gewagt hatten, wurden sie mit einem wahren Hagel von Blei begrüßt, der sie indeß nicht erreichte. Einige vom Winde entführte Pfropfen gelangten bis zu ihnen, sie waren aus Druckpapier gemacht, welches Paganel aus reiner Neugier aufhob und leicht entzifferte.

»Das ist schön! sagte er. Wißt Ihr, meine Freunde, was die Wilden zum Laden der Gewehre verwenden?

– Nein, Paganel, antwortete Glenarvan.

– Bibelblätter! Wenn das der Gebrauch ist, den sie von der Heiligen Schrift machen, dann bedaure ich die armen Missionaire um die Mühe, Maori-Bibliotheken zu gründen.

[639] – Und welche Bibelstelle haben uns die Eingeborenen zugeschossen? fragte Glenarvan.

– Ein Wort des allmächtigen Gottes, sagte John Mangles, der das halb verbrannte Papier nun auch gelesen hatte. Dieses Wort, fügte der junge Kapitän mit altschottischer Glaubensinnigkeit hinzu, ermahnt uns, daß wir auf ihn hoffen sollen.

– Lies, John«, sagte Glenarvan.

Und John las folgenden, von dem abgebrannten Pulver noch verschonten Vers:

»Psalm 90. – Weil er auf mich gehofft hat, werde ich ihn erretten.

– Diese verheißungsvollen Worte, meine Freunde, müssen wir unseren wackeren, lieben Begleiterinnen mitnehmen. Das wird für sie eine Herzstärkung sein.«

Glenarvan und seine Genossen stiegen wieder den holperigen Weg hinan, und gingen nach dem Grabe, das näher untersucht werden sollte.

Unterwegs erstaunten sie nicht wenig, in kurzen Zwischenräumen ein leises Erzittern des Bodens zu fühlen. Es war das keine eigentliche Bewegung, sondern eine Vibration, wie etwa die eines Kessels beim Ausströmen des Dampfes. Offenbar waren im Inneren des Berges von unterirdischem Feuer erzeugte Dämpfe eingeschlossen.

Diese Eigenthümlichkeit konnte aber Leute nicht Wunder nehmen, welche an den heißen Quellen des Waikato vorübergekommen waren. Sie wußten, daß diese centralen Gegenden Ika-na-Mouis wesentlich vulkanischer Natur sind. Sie gleichen einem Haarsiebe, welches die Dämpfe aus der Erde in siedenden Quellen und Solfataren (Schwefeldunstquellen) durch seine Maschen treten läßt.

Paganel lenkte, obgleich es ihnen nichts Neues war, doch die Aufmerksamkeit seiner Freunde auf die vulkanische Natur des Berges. Der Maunganamu stellt nur einen jener zahlreichen Gipfel dar, welche im Innern der Insel emporstarren und als Vulkane der Zukunft anzusehen sind. Die geringste mechanische Einwirkung konnte in diesen von kieseligem, hellfarbigem Tuff aufgebauten Wänden die Bildung eines Kraters veranlassen.


Der Steward sank in die Knie. (S. 644.)

»Wirklich sind wir aber, sagte Paganel, hier nicht mehr in Gefahr, als [640] neben dem Dampfkessel des Duncan. Diese Erdkruste ist schon ein solides Kesselblech.

– Zugegeben, meinte der Major, aber der beste Kessel springt einmal, wenn er zu lange Dienst thut.

– Mac Nabbs, sagte Paganel, mich gelüstet auch gar nicht, auf dieser Spitze zu bleiben. Zeige mir der Himmel einen Ausweg, und ich mache mich jeden Augenblick davon.

[641] – Ei, warum kann uns nur der Maunganamu, fiel John Mangles ein, nicht gleich selbst weiter befördern, da eine so ungeheure mechanische Kraft in ihm aufgespeichert ist. Unter uns schlummert, nutzlos und verloren, wahrscheinlich die Kraft von Millionen Pferden. Mit dem tausendsten Theile derselben trüge uns der Duncan an's Ende der Welt!«

Diese Erwähnung des Duncan regte in Glenarvan's Herzen eine Reihe der trübsten Gedanken auf. Denn so verzweifelt seine eigene Lage auch sein mochte, nicht selten vergaß er sie doch, wenn er sich des Schicksals seiner Mannschaft erinnerte. Er dachte noch daran, als er seine unglücklichen Begleiter auf dem Gipfel des Maunganamu wiederfand.

Sobald Lady Helena ihn sah, eilte sie ihm entgegen.

»Nun, lieber Edward, sagte sie, Ihr habt Euch über unsere Lage unterrichtet. Dürfen wir hoffen oder müssen wir fürchten?

– Hoffen, meine liebe Helena, erwiderte Glenarvan. Die Grenze dieses Berges werden die Eingeborenen nie überschreiten, und werden wir zunächst Zeit haben, einen Plan zur Flucht zu überlegen.

– Uebrigens, Madame, sagte John Mangles, befiehlt uns Gott selbst, die Hoffnung nicht sinken zu lassen.«

Er überreichte Lady Helena dabei das Bibelblatt, auf welchem jener Vers stand. Die offene Seele und das für alle Offenbarungen des Himmels empfängliche Herz der jungen Frau und des jungen Mädchens sahen in diesen Worten der Heiligen Schrift die untrügliche Prophezeihung ihrer Rettung.

»Und nun zum Oudoupa! rief Paganel. Das ist unsere Festung, unser Schloß, unser Speisesaal, unser Arbeitszimmer. Niemand wird uns belästigen. Die Damen werden mir erlauben, ihnen in dieser reizenden Wohnung die Honneurs zu machen.«

Alle folgten dem freundlichen Paganel. Als die Wilden bemerkten, wie die Flüchtlinge auf's Neue die geheiligte Grabstätte entweihten, schrieen und schossen sie im wilden Höllenlärmen durch einander. Glücklicherweise reichten die Kugeln nicht so weit wie das Geschrei, und fielen auf halbem Wege nieder, während jenes im unendlichen Raume verhallte.

Lady Helena, Mary Grant und die Herren betraten, mit der Ueberzeugung, daß der Aberglaube der Maoris selbst ihre Wuth überwiege, die Grabstätte.

[642] Um das Oudoupa des seeländischen Häuptlings zog sich eine Palissadenwand von roth gestrichenen Pfählen. Symbolische Figuren, eine wahre Tättowirung in Holz, erzählten von dem Adel und den Heldenthaten des Verblichenen. Rosenkränze von Amuletten, Muschelarbeiten und geschnittene Steine zogen sich von einem Pfahle zum andern. Im Innern war der Erdboden mit einem Teppich aus grünem Laubwerk bedeckt und im Mittelpunkte verrieth eine Erhöhung das frische Grab.

Da lagen die Waffen des Häuptlings, die geladenen und schußfertigen Gewehre, seine Lanze, seine prächtige Axt aus grünem Nephrit, nebst einem für die Jagden in der Ewigkeit ausreichenden Vorrath an Pulver und Kugeln.

»Da ist ja ein ganzes Arsenal, sagte Paganel, das wir besser benutzen werden, als der Todte. Ein hübscher Gedanke, daß diese Wilden ihre Waffen in die andere Welt mitnehmen wollen.

– Ei, das ist ja englisches Fabrikat! sagte der Major.

– Gewiß, bestätigte Glenarvan, und es ist eine sehr thörichte Sitte, den Wilden Feuerwaffen zum Geschenk zu machen. Sie bedienen sich ihrer dann gegen die Eindringlinge, und das mit Recht. Jedenfalls werden diese Gewehre uns von Nutzen sein.

– Noch mehr aber, fügte Paganel hinzu, die für Kara-Tété bestimmten Speisen und Getränke.«

Wirklich hatten die Verwandten und Freunde des Todten ihre Sache gut gemacht. An der Verproviantirung konnte man ihre Werthschätzung der Tugenden des Häuptlings abmessen. Nahrungsmittel waren vorhanden, welche für zehn Personen auf vierzehn Tage ausreichten, oder vielmehr für den Todten auf Ewigkeit. Sie bestanden aus eßbaren Farrn, süßen Pataten, dem »Convolvulus batatus« der Eingeborenen, und aus Kartoffeln, welche von Europäern schon seit langer Zeit hierher eingeführt sind. Große Krüge enthielten frisches Wasser, das immer zur seeländischen Mahlzeit gehört, und ein Dutzend zierlich geflochtener Körbe kleine Kuchen aus völlig unbekanntem grünlichen Gummi.

Gegen Hunger und Durst waren die Flüchtlinge demnach für einige Tage gesichert und ließen sich auch nicht lange bitten, ihre erste Mahlzeit auf Unkosten des Häuptlings einzunehmen.

Glenarvan schaffte die für die ganze Gesellschaft nöthigen Speisen herbei, [643] die er der Obhut Olbinett's übergab. Der Steward, der selbst unter den schwierigsten Verhältnissen an Förmlichkeiten hing, fand die Mahlzeit etwas mager. Auch wußte er die Wurzeln nicht zuzubereiten, wobei ihm ohnedem das Feuer fehlte.

Paganel kam ihm mit dem Rathe zu Hilfe, die Farrn und süßen Pataten einfach in den Boden zu graben.

Die Temperatur der oberen Erdlagen war nämlich eine sehr hohe, und ein Thermometer würde sicher sechzig bis fünfundsechzig Grad gezeigt haben. Olbinett hätte sich sogar fast selbst ernstlich verbrannt, denn als er ein Loch aushöhlte, um die Wurzeln hineinzulegen, sprang eine Dampfsäule einige Fuß hoch daraus hervor. Erschreckt fiel der Steward rückwärts nieder.

»Den Hahn zumachen!« rief der Major, welcher mit den beiden Matrosen hinzusprang und das Loch mit Bimssteinstücken ausfüllte, während Paganel, der die Erscheinung aufmerksam beobachtete, die Worte murmelte:

»Sieh da! Ah, schön! – Warum denn nicht?

– Sind Sie verwundet, fragte Mac Nabbs Olbinett.

– Nein, Herr Mac Nabbs, antwortete der Steward, ich versah mich nur nicht ...

– So vieler Wohlthaten des Himmels! fiel Paganel in Entzückung ein. Nach dem Wasser und den Lebensmitteln Kara-Tété's schenkt uns die Erde auch das Feuer! Dieser Berg ist ja ein wahres Paradies! Ich schlage vor, darauf eine Niederlassung zu gründen, ihn urbar zu machen und uns für den Rest unserer Tage hier einzurichten. Dann sind wir die Robinsons des Maunganamu. Ich finde wahrlich Nichts, was uns auf diesem wohlversorgten Gipfel fehlte.

– Nichts, wenn er nur haltbar ist, sagte John Mangles.

– Nun, er ist nicht von gestern, sagte Paganel. Schon lange widersteht er dem Feuer seines Innern, und wird auch bis zu unserm Abgange aushalten.

– Das Frühstück ist aufgetragen«, meldete Olbinett ebenso gravitätisch, als ob er im Schlosse Malcolm seinen Dienst versähe.

Sofort begannen die Flüchtlinge, an der Palissade sitzend, eine jener Mahlzeiten, welche ihnen die Vorsehung seit einiger Zeit so pünktlich bei den schwersten Lagen zusandte.

Niemand war wählerisch bezüglich der Nahrungsmittel, doch waren die [644] Ansichten über den Wohlgeschmack des eßbaren Farrnkrautes getheilt. Die Einen fanden es von süßem, angenehmem, die Anderen von schleimigschalem, gerbstoffigem Geschmacke. Die süßen Pataten, welche in dem heißen Erdboden gekocht waren, fand man ausgezeichnet. Der Geograph bemerkte, daß Kara-Tété nicht zu beklagen sei.

Sobald der Hunger gestillt war, schlug Glenarvan vor, über einen Plan zur Flucht zu verhandeln.

»Jetzt schon! sagte Paganel fast jammernd. Wollen Sie denn diesen köstlichen Ort schon verlassen?

– Aber Herr Paganel, bemerkte Lady Helena, zugegeben, daß wir uns hier wie in Capua befinden, so dürfen wir deshalb doch Hannibal nicht nachahmen.

– Ich werde mir nie erlauben, Madame, Ihnen zu widersprechen, antwortete Paganel, und da Sie verhandeln wollen, gut, so verhandeln wir.

– Zunächst ist meine Meinung, begann Glenarvan, daß wir eine Flucht schon eher versuchen, ehe uns der Hunger dazu zwingt. Kräfte fehlen uns jetzt nicht, und davon müssen wir Nutzen ziehen. Kommende Nacht suchen wir die östlicheren Thäler zu erreichen, indem wir unter dem Schutze der Finsterniß den Kreis der Eingeborenen überschreiten.

– Sehr wohl, sagte Paganel, wenn die Maoris uns ziehen lassen.

– Und wenn sie es zu hindern suchen? fragte John Mangles.

– Dann werden wir die großartigen Hilfsmittel anwenden, erwiderte Paganel.

– Sie haben noch großartige Hilfsmittel? forschte der Major.

– So viel, daß sie gar nicht alle benutzt werden«, entgegnete Paganel, ohne weitere Erläuterungen zu geben.

Es mußte also die Nacht abgewartet werden, um den Versuch zu machen, die Linie der Eingeborenen zu überschreiten.

Diese hatten ihren Platz nicht verlassen. Ihre Anzahl schien sogar durch verspätete Nachzügler gewachsen zu sein. Da und dort angezündete Wachtfeuer bildeten einen Flammenring um den Bergkegel. Sobald die benachbarten Thäler in Dunkel gehüllt waren, sah es aus, als ob der Maunganamu aus einem Feuerherde emporstiege, während sein Gipfel in dichter Finsterniß [645] verschwand. Sechshundert Fuß unter diesem hörte man das Hin- und Herlaufen, Geschrei und Murmeln des feindlichen Bivouacs.

Um neun Uhr, als es schon dunkle Nacht war, beschlossen Glenarvan und John Mangles auszukundschaften, ob sie ihre Begleiter den gefährlichen Weg hin führen könnten. Zehn Minuten lang stiegen sie geräuschlos nach abwärts bis nach jenem schmalen Kamme, welcher die Linie der Eingeborenen nur fünfzig Fuß über deren Lager durchschnitt.

Bis hierher ging Alles gut. Die um ihre Feuer liegenden Maoris schienen die beiden Flüchtlinge nicht zu bemerken, welche nun einige Schritte vorwärts wagten. Plötzlich knatterten aber rechts und links vom Kamme die Gewehrsalven.

»Zurück! rief Glenarvan, diese Banditen haben Katzenaugen und Riflebüchsen!«

John Mangles und er stiegen sofort den steilen Abhang wieder hinan und gelangten auch glücklich zu den Anderen, welche durch die Flintenschüsse nicht wenig erschreckt worden waren. Glenarvan's Hut hatten zwei Kugeln durchlöchert. Es war demnach unmöglich, sich zwischen den beiden Schützenlinien auf den langen Kamm hinauszuwagen.

»Bis morgen! sagte Paganel, und da wir die Wachsamkeit der Eingeborenen nicht täuschen können, so werden Sie mir gestatten, diesen morgen ein Gericht aus meiner Küche vorzusetzen!«

Es wurde empfindlich kalt. Glücklicherweise hatte Kara-Tété auch die besten Nachtkleider mit in's Grab bekommen, warme Phormiumdecken, in welche sich Alle ohne Scheu einhüllten, und bald schliefen die durch den Aberglauben der Eingeborenen geschützten Flüchtlinge hinter den Palissaden und auf dem warmen, von unterirdischen Kräften leise erzitternden Erdboden.

[646]
15. Capitel
Fünfzehntes Capitel.
Die grossen Mittel Paganel's.

Am folgenden Morgen, am 17. Februar, erweckte die aufgehende Sonne mit ihren ersten Strahlen die Schläfer des Maunganamu. Schon lange waren die Maoris am Fuße des Bergkegels in lebhafter Bewegung; sie dachten nicht daran sich von der Beobachtungslinie zu entfernen. Mit wildem Geschrei begrüßten sie die Erscheinung der Europäer, welche aus der von ihnen entweihten Enceinte hervorkamen.

Der Tag verlief ohne Störung von Seiten der Wilden. Nach dem Mißerfolg des ersten Fluchtversuches war natürlich Jeder begierig, Paganel's angedeutete Auskunftsmittel zu erfahren. Dieser wollte, den Aberglauben der Eingeborenen benutzend, eine leicht zu bewerkstelligende Eruption von Dämpfen in der Nähe des Oudoupa hervorrufen, um so die Maoris glauben zu machen, daß die Europäer dem Zorne der Gottheit verfallen seien, um sie zur Aufgabe dieser Belagerung zu veranlassen.

Um acht Uhr Abends verschwand der Gipfel des Maunganamu in düsterer Finsterniß. Der Himmel bot einen schwarzen Hintergrund für die auflodernden Flammen, welche Paganel eigenhändig nährte.

Die Maoris konnten ihre Gefangenen nicht mehr sehen. Der Augenblick zu handeln war gekommen.

Man mußte eiligst an das Werk gehen. Glenarvan, Paganel, Mac Nabbs, Robert, der Steward und die beiden Matrosen thaten es gleichzeitig.


Das Herabwälzen der Felsstücke. (S. 648.)

Zur Oeffnung des künstlichen Kraters wurde ein etwa dreißig Schritte von dem Grabmal Kara-Tété's entfernter Platz gewählt. Es war in der That von hoher Bedeutung, daß dieses Oudoupa durch den Ausbruch verschont blieb, denn mit ihm wäre auch der über den Berg ausgesprochene Tabou aufgehoben gewesen.

Dort hatte Paganel einen mächtigen Felsblock bemerkt, um welchen sich die Dämpfe in dichten Massen verbreiteten. Durch ihn wurde eine natürliche, kleine Kratermündung des Kegels verdeckt, durch sein Gewicht allein leistete er dem Ausbruch der unterirdischen Flammen Widerstand. Wenn es gelang,[647] ihn aus seinem Lager zu heben, mußten die Dämpfe und Lavamassen sogleich durch die frei gewordene Oeffnung hervorströmen.

Die im Inneren des Oudoupa aus dem Erdboden gerissenen Pfähle dienten den Arbeitern als Hebebäume.

Unter ihren gemeinschaftlichen Anstrengungen begann das Felsstück zu schwanken. Auf dem Abhange des Berges gruben sie für dasselbe eine Art Rinne, um es in dieser hinabgleiten zu lassen. Je höher es gehoben wurde, desto heftiger wurden die Erschütterungen des Bodens.

[648] Ein dumpfes Rollen der Flammen und zischende Töne wie aus einem Hochofen wurden unter der dünnen Erdkruste immer lauter und lauter. Die kühnen Arbeiter, wahre Cyklopen, welche die Feuer der Erde in Bewegung setzten, arbeiteten schweigend fort. Bald merkten sie, daß der Platz durch aufbrechende Erdspalten und Dampfstöße, die glühend heiß waren, gefährlich wurde. Noch eine furchtbare Anstrengung – und der Felsblock rollte den Abhang hinab und verschwand.


Eine Feuersäule stieg gen Himmel. (S. 650.)

Sogleich gab die dünne Erdschicht nach. Eine schwarze Feuersäule stieg [649] unter donnerartigem Getöse zum Himmel empor, während Ströme kochenden Wassers mit Lava vermischt sich in das Lager der Eingeborenen und in die tiefer liegenden Thäler ergossen.

Der ganze Bergkegel zitterte, man konnte glauben, daß er in einen grundlosen Schlund versinken werde.

Glenarvan und seine Gefährten hatten kaum Zeit, vor den gefährlichen Lavamassen zu fliehen; das Oudoupa bot ihnen rechtzeitig eine Zuflucht, nachdem sie bereits von einzelnen Tropfen Wassers, das eine Temperatur von vierundneunzig Grad hatte, erreicht worden waren. Dasselbe verbreitete zuerst einen leichten Bouillongeruch, der sich bald in einen stark schwefelartigen verwandelte.

Ganze Feuerströme durchfurchten die Abhänge des Maunganamu. Die nächsten Berge wurden durch die hervorbrechenden Flammen erleuchtet, während die tiefen Thäler in ihrem Widerscheine erglänzten.

Alle Wilden hatten sich erhoben, sie heulten vor Schmerz, als die kochenden Lavamassen sie mitten in ihrem Lager überraschten. Diejenigen, welche der glühende Strom nicht erreicht hatte, flohen hinauf auf die nächstgelegenen Hügel. Dort erst wagten sie sich erschrocken umzublicken und diese entsetzliche Naturerscheinung zu betrachten, einen Vulkan, in welchen der Zorn ihres Gottes die Schänder des heiligen Berges hinabstürzte.

Zuweilen, wenn der Donner des Kraters schwächer wurde, hörte man sie heulend ihr: Tabou! Tabou! Tabou! ausrufen.

Die aufzischenden Dämpfe, glühenden Steine und Lavamassen waren so gewaltig, daß der Maunganamu nicht mehr wie ein kleiner Krater, sondern wie der Hekla in Island erschien. Auf den Bergabhängen sah man Legionen von Ratten ihre unhaltbaren Löcher verlassen und den feurigen Boden fliehen.

Während der ganzen Nacht, in der ein heftiger Sturm sich entfesselt hatte, arbeitete der Berg so furchtbar, daß Glenarvan keine Ruhe fand.

Versteckt hinter der letzten Pfahlreihe verfolgten die Gefangenen die Fortschritte des Ausbruches.

Endlich brach der Morgen an, aber noch immer wollte die Wuth des Vulkans sich nicht besänftigen.

Dichte, gelbe Dämpfe vermischten sich mit den Flammen. Die Lavaströme rannen in Schlangenwindungen den Berg hinab.

[650] Glenarvan überblickte aus seinem Versteck mit zagendem Herzen jede einzelne Oeffnung der Palissadenreihe, sowie das Lager der Wilden.

Die Maoris waren aus dem Bereich des Vulkans entflohen. Einzelne Leichname lagen dort, verkohlt vom Feuer, am Fuße des Kegels. Weiterhin gegen den »Pah« zu hatte die Lava etwa zwanzig Hütten umfaßt, welche noch rauchten. In Gruppen betrachteten die Seeländer den feurigen Gipfel des Maunganamu mit religiösem Schauder.

Kai-Koumou kam in die Mitte seiner Krieger, Glenarvan erkannte ihn. Er ging bis an den Fuß des Kegels, wo die Lavamassen sich nicht hinabgestürzt hatten, aber er wagte nicht weiter vorzudringen.

Dort streckte er wie ein Geisterbeschwörer die Arme aus und machte einzelne Zeichen, deren Sinn den Gefangenen klar war. So wie es Paganel vorhergesehen hatte, sandte Kai-Koumou nach dem rächenden Berge hin sein kräftigstes »Tabou«.

Bald darauf zogen die Eingeborenen auf den gewundenen Pfaden, welche nach dem Pah zu führten, in Reihen ab.

»Sie brechen auf, rief Glenarvan. Sie verlassen ihren Posten. Gott sei Dank! Unser Angriffsplan ist gelungen. Meine theure Helena, meine braven Gefährten, nun sind wir todt und begraben. Aber diesen Abend oder in der Nacht werden wir wieder aufleben, unser Grab verlassen und diesen wilden Barbaren entfliehen.«

Man kann sich nur schwer die Freude vorstellen, welche in dem Oudoupa herrschte. Die Hoffnung war wieder in alle Herzen eingezogen. Diese muthigen Reisenden vergaßen die Vergangenheit und Zukunft, um nur an die Gegenwart zu denken. Und doch war der Versuch, eine europäische Niederlassung mitten in diesen unbekannten Gegenden zu finden, nicht leicht. Aber da Kai-Koumou verjagt war, hielt man sich für gerettet vor allen Wilden Neu-Seelands.

Der Major verbarg seinerseits nicht die tiefe Verachtung, welche ihm diese Maoris einflößten; es fehlte ihm nicht an treffenden Bezeichnungen, und Paganel wetteiferte darin mit ihm.

Ein ganzer Tag lag indeß bis zu ihrem vollständigen Abzuge noch vor ihnen, man benützte die Zeit, einen Fluchtplan zu entwerfen. Paganel hatte seine Karte von Neu-Seeland auf das Sorgfältigste aufbewahrt, und konnte auf ihr die sichersten Wege finden.

[651] Nach reiflicher Erwägung beschlossen die Flüchtlinge, sich nach Osten, nach der Plenty-Bucht, zu wenden. Man zog zwar durch unbekannte Gegenden, aber wahrscheinlich waren diese verlassen. Die Reisenden, bereits daran gewöhnt, natürliche Schwierigkeiten zu überwinden und physische Hindernisse zu beseitigen, fürchteten allein die Begegnung mit den Maoris. Diese mußte um jeden Preis vermieden und die östliche Küste der Insel erreicht werden, wo die Missionäre einige Stationen gegründet hatten. Die Entfernung zwischen dem Taupo-See und der Plenty-Bucht konnte man auf hundert Meilen schätzen. Das waren zehn Marschtage, wenn man zehn Meilen täglich zurücklegte, was zwar nicht ohne Anstrengungen geschehen konnte; aber Keiner dieser muthigen Gesellschaft zählte seine Schritte. Waren die Missionen einmal erreicht, so konnten die Reisenden sich erholen und eine günstige Gelegenheit abwarten, um Auckland zu erreichen, denn diese Stadt war ihr Hauptziel.

Nachdem diese verschiedenen Punkte erörtert waren, fuhr man fort, die Eingeborenen bis zum Abend zu überwachen. Es blieb auch nicht ein Einziger mehr am Fuße des Berges, und als die Dunkelheit über die Thäler des Taupo hereinbrach, zeigte kein Feuer die Gegenwart der Maoris am Fuße des Bergkegels mehr an. Der Weg war frei.

Um neun Uhr, als es bereits vollständig Nacht war, gab Glenarvan das Zeichen zum Aufbruch. Seine Gefährten und er, auf Kosten Kara-Tété's bewaffnet und ausgerüstet, begannen nun vorsichtig die Abhänge des Maunganamu hinabzusteigen. John Mangles und Wilson befanden sich an der Spitze, sie suchten Gehör und Gesicht zu verdoppeln. Bei dem geringsten Geräusch machten sie Halt und bemühten sich die Dunkelheit mit ihren Blicken zu durchdringen. Ein Jeder schmiegte sich gleichsam dicht an den Abhang des Berges an, um seine Gestalt möglichst verschwinden zu lassen.

Zweihundert Fuß unterhalb des Gipfels erreichte John Mangles und sein Matrose die gefährliche Felsenkante, welche von den Eingeborenen so hartnäckig vertheidigt worden war. Wenn die Maoris unglücklicherweise nur einen scheinbaren Rückzug angetreten hatten, um die Gefangenen listig hervorzulocken, oder wenn sie sich durch die vulkanische Eruption nicht hatten täuschen lassen, so mußte hier ihre Gegenwart entdeckt werden. Glenarvan konnte trotz seines ganzen Vertrauens, trotz der Scherze Paganel's nicht umhin, zu erbeben. Das Heil der Seinigen stand während dieser zehn Minuten, in denen man den Kamm des Berges zu überschreiten hatte, auf dem Spiele.

[652] Er hörte das Herz Lady Helena's, die sich krampfhaft an seinen Arm klammerte, pochen.

Uebrigens dachte er ebenso wenig wie John an einen Rückzug. Der junge Kapitän kletterte, gefolgt von Allen, unter dem Schutze der finstern Nacht auf die steilansteigende Kante, indem er anhielt, sobald nur ein Steinchen bis hinab auf das Plateau rollte. Wenn die Wilden noch im Hinterhalte lagen, mußte dieses ungewöhnliche Geräusch auf beiden Seiten einen furchtbaren Kampf veranlassen.

Indeß bei der gebückten Haltung und schleichenden Bewegung kamen die Flüchtlinge auf dem Abhange nicht schnell vorwärts. Als John Mangles den niedrigsten Punkt erreicht hatte, trennten ihn kaum fünfundzwanzig Fuß von dem Plateau, auf dem am Abend vorher die Wilden lagerten.

Die von da ab schroff aufsteigende Spitze war ganz oben eine Viertelmeile weit mit Buschwerk bedeckt. Dieser untere Theil wurde jedoch ohne Unfall zurückgelegt, die Reisenden stiegen schweigend bergan. Die Baumgruppe war unsichtbar, aber man kannte ihr Vorhandensein, und vorausgesetzt, daß ein Hinterhalt nicht vorbereitet war, hielt Glenarvan den Ort für sicher. Er wußte allerdings, daß er von diesem Augenblick an durch den Tabou nicht mehr geschützt war. Nach der Beschaffenheit des Terrains waren nicht nur die Flintenschüsse der Eingeborenen, sondern auch ein Handgemenge zu fürchten.

Während zehn Minuten kam die kleine Gesellschaft durch fast unmerkliche Bewegungen dem obersten Plateau nahe. John bemerkte nicht nur das dunkle Gebüsch, sondern mußte davon höchstens nur noch zweihundert Schritte entfernt sein.

Plötzlich hielt er an, ja er wich fast zurück. Er glaubte in dem Schatten ein Geräusch mit seinem Ohr aufgefangen zu haben. Sein Zögern hemmte den Marsch seiner Gefährten.

Er blieb unbeweglich – lange genug, um die Nachfolgenden zu beunruhigen. Man wartete. In welcher Angst, wer möchte das ausdrücken! Würde man gezwungen sein, den Rückzug nach dem Gipfel des Maunganamu anzutreten?

Als aber John bemerkte, daß das Geräusch sich nicht wiederholte, richtete er seine Schritte gerade auf die Spitze zu.

[653] Bald trat das Gebüsch aus dem Schatten hervor. Mit wenigen Schritten war es erreicht, und die Flüchtlinge verkrochen sich unter dem dichten Laubwerk der Bäume.

16. Capitel
Sechzehntes Capitel.
Zwischen zwei Feuern.

Die Nacht begünstigte diese Unternehmung. Sie mußte also benutzt werden, um die verhängnißvolle Gegend des Taupo-Sees zu verlassen.

Paganel trat an die Spitze der kleinen Gesellschaft, und der wunderbar scharfe Orientirungssinn des Reisenden bewährte sich von Neuem während dieser schwierigen Wanderung in den Bergen. Er bewegte sich mit einer überraschenden Geschicklichkeit mitten in der Finsterniß vorwärts, indem er bald hier ohne Zögern fast unsichtbare Pfade wählte, bald eine feste Richtung innehielt, von der er sich nicht entfernte. Es ist wahr, seine Tagblindheit 1 kam ihm sehr zu statten, und seine Augen, so scharf wie die einer Katze, erlaubten ihm, die geringsten Gegenstände in dieser vollkommenen Dunkelheit zu unterscheiden.

Während drei Stunden marschirte man, ohne Halt zu machen, über die weiten Abhänge der östlichen Bergseite.

Paganel hielt sich ein wenig nach Süd-Osten, um einen schmalen Durchstich zwischen den Kaimanara-und Wahiti-Ketten zu gewinnen, in dem sich die Straße nach Auckland längs der Hawkes-Bucht hinzieht. War man über diese Mulde hinaus, so konnte man nach seiner Berechnung die Straße ganz verlassen und, geschützt durch die hohen Bergketten, an der Küste hin durch die unbewohnten Gegenden der Provinz ziehen.

Um neun Uhr Morgens waren zwölf Meilen in zwölf Stunden zurückgelegt. Man konnte muthigere Frauen sich gar nicht denken. Uebrigens schien [654] die Gegend geeignet, um ein Lager aufzuschlagen. Die Flüchtlinge hatten den Engpaß erreicht, welcher die beiden Ketten trennt. Die Straße nach dem Oberland, welche nach Süden führte, blieb zur Rechten.

Paganel machte mit seiner Karte in der Hand eine halbe Schwenkung nach Nord-Ost, und um zehn Uhr erreichte die kleine Truppe einen schroffen Absatz, der durch einen Bergvorsprung gebildet war.

Man holte die Lebensmittel aus den Reisesäcken hervor und erwies ihnen alle Ehre. Mary Grant und der Major, welche bis jetzt dem eßbaren Seetang nicht den geringsten Geschmack hatten abgewinnen können, labten sich heute fast daran.

Man ruhte bis um zwei Uhr Nachmittags und setzte dann den Marsch nach Osten fort. Am Abend waren die Reisenden acht Meilen von den Bergen entfernt; sie überließen sich unter freiem Himmel dem Schlafe.

Am folgenden Morgen bot der Weg ziemlich ernste Schwierigkeiten. Man mußte durch dieses eigenthümliche Gebiet der vulkanischen Seen voller Krater und Schwefeldunstquellen ziehen, das sich östlich von den Wahiti-Ketten hinzieht. Das Auge fand dabei viel mehr Befriedigung, als die Beine. Jede Viertelmeile gab es Umwege zu machen und allerlei Hindernisse zu beseitigen, was sicher sehr ermüdend war. Aber welch' ein eigenthümliches Schauspiel, welche unendliche Verschiedenheit bot da die Natur in ihren Bildern!

Auf diesem weiten Raume von zwanzig Quadratmeilen stellte sich der Ausbruch der unterirdischen Kräfte unter allen Gestalten dar. Salzige Quellen von wunderbarer Durchsichtigkeit des Wassers mit Myriaden von Insekten bevölkert, sprudelten aus Gruppen von einheimischen Theebäumen hervor.

Sie verbreiteten einen durchdringenden Geruch, wie von verbranntem Pulver, und lagerten auf dem Boden einen Satz ab, so weiß wie leuchtender Schnee. Ihre Wasserströme waren fast siedend heiß, während aus anderen Quellen ganz in der Nähe eisige Sprudel emporstiegen. Mächtig schoß an ihren Rändern das Farrnkraut empor, und zwar unter der silurischen Vegetation ganz gleichen Verhältnissen.

Ueberall sprangen Wasserstrahlen, welche zischende Dämpfe mit sich führten, wie die Fontainen in einem Parke, aus dem Boden, die einen ununterbrochen, die anderen in Zwischenräumen, wie sie eben die Launen Pluto's erzeugten.


Salzquellen von seltener Klarheit. (S. 655.)

Weiterhin folgten auf die warmen Quellen und drohenden Kratermündungen die Schwefeldunstquellen. Die ganze Atmosphäre war mit dem beißenden und unangenehmen Geruche dieses Elementes erfüllt.

Man begreift daher, welche Mühen und Qualen die Reisenden auf dieser Wanderung auszustehen hatten. Man konnte dort schwerlich rasten, auch nicht ein ein [655] ziger Vogel bot sich den Jägern zum Schuß, um Olbinett einen Beitrag zur Küche zu liefern.

Sehr häufig mußte man sich mit Farrnwurzeln und süßen Erdäpfeln [656] begnügen, einer mageren Kost, welche die erschöpften Kräfte der Wanderer in keiner Weise stärkte. Ein Jeder eilte deshalb, aus diesem öden, unfruchtbaren Gebiete hinauszukommen.

Und doch bedurfte man nicht weniger als vier Tage dazu. Am 23. Februar endlich konnte Glenarvan in einer Entfernung von fünfzig Meilen von dem Maunganamu am Fuße eines ihm dem Namen nach unbekannten Berges rasten. Vor seinen Augen dehnten sich weite mit Buschwerk bewachsene Ebenen aus, und auch die großen Wälder erschienen wieder am Horizonte.

Das war ein gutes Zeichen, freilich nur für den Fall, daß die günstige Beschaffenheit dieser Gegenden nicht allzu viele Einwohner herbeigelockt hatte. Bis jetzt hatten die Reisenden auch nicht eine Spur von Eingeborenen angetroffen.

An diesem Tage tödteten Mac Nabbs und Robert drei »Kiwis«, welche ein wahres Festmahl lieferten; sie waren in einigen Minuten vollständig verzehrt. Beim Dessert, das aus süßen Erdäpfeln bestand, machte Paganel einen Vorschlag, welcher freudig aufgenommen wurde. Er schlug vor, den namenlosen Berg »Glenarvan« zu nennen, und bezeichnete ihn so sorgfältig als möglich auf seiner Karte, nebst seiner Höhe von etwa 3000 Fuß.

Der Rest der Wanderung verlief ohne besonders interessante Zwischenfälle. Nur zwei oder drei Thatsachen waren von einiger Bedeutung auf dieser Reise von den Seen bis zu dem Stillen Ocean.

Den ganzen Tag über marschirte man durch Wälder und Ebenen. John stellte seine Direction nach der Sonne und den Sternen fest. Obwohl ein gütiger Himmel sie vor Hitze und Regen bewahrte, hielt dennoch die zunehmende Müdigkeit die so hart geprüften Reisenden sehr auf; und doch hatten sie eine so große Sehnsucht nach den Missionsstationen.

Immerhin plauderten sie noch mit einander über allgemeinere Gegenstände. Die kleine Gesellschaft zerfiel in Gruppen, welche sich nicht durch eine enge Sympathie, sondern durch die gemeinsamen persönlichen Ideen gebildet hatten.

Glenarvan, welcher häufig allein ging, dachte, je mehr er sich der Küste näherte, desto mehr an den Duncan und seine unglückliche Besatzung. Er vergaß die Gefahren, welche ihn noch bis Auckland bedrohten, um an seine ermordeten Matrosen zu denken. Dieses schreckliche Bild verließ ihn nie.

Man sprach nicht mehr von Harry Grant. Wozu auch, da man Nichts [657] für ihn thun konnte? Wenn der Name des Kapitäns ja noch erwähnt wurde, so geschah es in den Gesprächen zwischen seiner Tochter und John Mangles.

John hatte Mary nie mehr daran erinnert, was das junge Mädchen ihm während der letzten Nacht des Waré-Atoua gesagt hatte. Seine Bescheidenheit wollte an einem Worte nicht festhalten, das in einem Augenblick der höchsten Verzweiflung gesprochen worden war. So oft John noch von Harry Grant sprach, machte er Vorschläge zu weiteren Forschungen. Er bestätigte Mary, daß Lord Glenarvan diese verunglückte Unternehmung wieder aufnehmen werde.

Dabei ging er von der Ansicht aus, daß die Richtigkeit des Schriftstückes nicht in Zweifel gezogen werden könnte. Also Harry Grant existirte noch irgendwo, und darum mußte man die ganze Welt durchsuchen, um ihn wiederzufinden. Mary war entzückt von diesen Worten; ihre Gedanken vereinigten sich mit denen John's zu derselben Hoffnung. Ost auch nahm Lady Helena an ihrer Unterhaltung Theil; aber sie gab sich nicht so trügerischen Gedanken hin, und hütete sich besonders, diese jungen Leute in die nackte Wirklichkeit zurückzuführen.

Während dieser Zeit jagten Mac Nabbs, Robert, Wilson und Mulrady, ohne sich jedoch allzu weit von der kleinen Truppe zu entfernen, und jeder von ihnen lieferte seinen Beitrag an Wildpret.

Paganel, stets stumm und schweigsam in seinen Mantel von Phormium gehüllt, hielt sich fern.

Und doch – man mußte es anerkennen – ungeachtet dieses Gesetzes der Natur, welches mitten unter Prüfungen, Gefahren, Anstrengungen und Entbehrungen selbst die besten Charaktere erkältet und verbittert, blieben alle diese Leidensgenossen einig, einander ergeben, bereit, sich für einander tödten zu lassen.

Am 25. Februar wurde ihre Marschroute durch einen Strom gesperrt, welcher nach Paganel's Karte der Waikari sein mußte. Man konnte ihn in einer Furth passiren.

Während zwei Tagen folgten sich die üppig bewachsenen Ebenen ohne Unterbrechung. Die Hälfte der Entfernung, welche den Taupo-See von der Küste trennt, war ohne Unfall, wenn auch nicht ohne Mühen, zurückgelegt worden.

[658] Darauf sah man unermeßliche Wälder, welche an diejenigen Australiens erinnerten; aber hier wurden die Eucalypten durch die Kauris ersetzt. Obwohl ihre Bewunderung in den vier Reisemonaten oft von den seltensten Gegenständen erregt worden war, waren Glenarvan und seine Gefährten doch noch überrascht bei dem Anblick dieser riesigen Fichten, würdigen Rivalen der Cedern des Libanon, und der »Mamouth-Bäume« Californiens. Diese Kauris maßen hundert Fuß bis zu den Aesten und wuchsen in getrennten Gruppen. Der ganze Wald bestand deshalb nicht aus Bäumen, sondern aus zahllosen Baumgruppen, welche ihr grünes Blätterdach an zweihundert Fuß hoch in den Lüften ausbreiteten.

Einige dieser Fichten waren noch jung, kaum hundert Jahre alt, und glichen den Rothtannen der europäischen Regionen. Sie trugen eine dunkle Krone und endigten in einer kegelförmigen Spitze. Ihre Ahnen dagegen, alte Bäume von fünf bis sechs Jahrhunderten, bildeten unermeßliche grüne Hallen, welche durch die unzerreißbaren Verschlingungen ihrer Aeste getragen wurden. Diese Patriarchen des seeländischen Waldes hatten einen Umfang bis zu fünfzig Fuß; die Reisenden konnten auch mit ihren verschlungenen Armen den gigantischen Stamm derselben nicht umfassen.

Während drei Tagen wanderten sie unter diesen mächtigen Gewölben auf einem thonichten Boden fort, welchen der Fuß der Menschen noch nicht betreten hatte.

Man sah es an den weichen Harzmassen, welche vielfach am Fuße der Kauris klebten, und deren Ausfuhr lange, lange Jahre erfordert hätte.

Die Jäger fanden in zahlreichen Banden die Kiwis, welche mitten in den von den Eingeborenen besuchten Gegenden so selten sind. In jene unzugänglichen Wälder hatten sich diese seltenen Vögel geflüchtet, um den Verfolgungen der seeländischen Hunde zu entgehen. Sie lieferten für die Mahlzeiten der Reisenden eine reichliche und gesunde Kost.

Paganel hatte das Glück, in der Ferne ein Paar riesenhafter Vögel in einem dichten Gestrüpp zu bemerken. Sein Forschungstrieb erwachte. Er rief seine Gefährten, und ungeachtet ihrer Müdigkeit machten sich der Major, Robert und er zur Verfolgung dieser Thiere auf.

Man wird die feurige Wißbegierde des Geographen begreifen, denn er hatte diese Vögel als »Moas« erkannt oder zu erkennen geglaubt, welche dem Geschlechte der »Dinormis« angehören und von mehreren Gelehrten [659] unter die verschwundenen Thiergattungen gerechnet werden. Diese Beobachtung der Thiere bestätigte also die Ansicht Herrn von Hochstetter's und anderer Reisenden über die Existenz dieser Riesen-Vögel ohne Flügel in Neu-Seeland.

Diese »Moas«, welche Paganel verfolgte, die Zeitgenossen der Megatheren und Pterodactylen, konnten achtzehn Fuß hoch sein. Es war eine Art ungeheuer großer und sehr furchtsamer Strauße, denn sie flohen mit unglaublicher Eile. Leider konnten dieselben durch keine Kugel in ihrem Laufe aufgehalten werden. Nach einigen Minuten verschwanden sie hinter großen Bäumen, und die Jäger hatten Pulver und Mühe umsonst verwandt.

An diesem Abend des 1. März verließen Glenarvan und seine Gefährten endlich den unermeßlichen Kauriwald und lagerten am Fuße des Berges Ikirangi, der bis zu seinem Gipfel 5500 Fuß maß.

Man hatte nun mehr als hundert Meilen vom Maunganamu an zurückgelegt, und die Küste war nur noch dreißig Meilen entfernt. John Mangles hatte gehofft, diesen ganzen Marsch in zehn Tagen zu machen; er kannte indeß die Schwierigkeiten nicht, welche diese Gegend bot.

In der That hatten die Umwege und Hindernisse der Marschroute, ferner die ungenauen Angaben der Karte sie um ein Fünftel verlängert, und unglücklicherweise waren die Reisenden bei ihrer Ankunft am Berge Ikirangi vollständig erschöpft.

Nun bedurfte man noch zwei tüchtiger Marschtage, um die Küste zu erreichen; Kraft und Ausdauer, sowie eine ganz besondere Wachsamkeit wurden nothwendig, denn man betrat eine von den Wilden viel besuchte Gegend.

Ein Jeder suchte daher seine Müdigkeit zu beherrschen, und am folgenden Morgen brach die kleine Gesellschaft sehr früh auf.

Zwischen den Bergen Ikirangi und Hardy, dessen Gipfel eine Höhe von 3700 Fuß erreichte, wurde der Weg sehr schwierig. Bei jedem Schritte verwickelten sich Arme und Beine in den Lianen, welche in schlangenartigen Windungen oft den ganzen Körper umstrickten. Während zwei Tagen mußte man beständig das Beil zur Hand haben, um gegen diese hundertköpfige Hydra zu kämpfen.

Die Jagd wurde deshalb auch in dieser Gegend unmöglich; die Vorräthe gingen zu Ende, man konnte sie nicht erneuern; das Wasser fehlte, so daß man nicht einmal den qualvollen Durst löschen konnte.

[660] So wurden die Leiden Glenarvan's und der Seinigen furchtbar, und zum ersten Male waren sie nahe daran, von ihrer moralischen Energie verlassen zu werden.

Endlich gelangten sie, während ihre Körper ohne Leben sich fast nur noch hinschleppten, allein durch den Erhaltungstrieb noch vorwärts gedrängt, an die Küstenspitze Lottie, am Ufer des Stillen Oceans.

Hier sahen sie einige verlassene Hütten, Ruinen eines eben erst durch den Krieg verwüsteten Dorfes, verlassene Felder, überall die Spuren der Plünderung und des Brandes.

Und hier hatte auch das Verhängniß eine neue und schreckliche Prüfung den unglücklichen Reisenden vorbehalten.

Sie setzten ihren Weg längs des Ufers fort, als plötzlich eine Meile von der Küste entfernt eine Abtheilung Wilder sich zeigte, welche ihnen mit geschwungenen Waffen entgegen stürzte. So dicht am Ufer konnte Glenarvan nicht fliehen; dennoch raffte er alle seine Kräfte zusammen, um seine Befehle für den Kampf zu geben, als John Mangles ausrief:

»Ein Boot, ein Boot!«

In der That, zwanzig Schritte vom Ufer entfernt war ein Canot, mit sechs Rudern ausgerüstet, auf der Sandbank aufgelaufen. Dasselbe in's Wasser bringen, sich hineinstürzen und dieses gefährliche Ufer fliehen, war das Werk eines Augenblickes. John Mangles, Mac Nabbs, Wilson und Mulrady ergriffen die Ruder, Glenarvan das Steuer; die beiden Frauen, Olbinett und Robert streckten sich zu seinen Füßen hin.

Zehn Minuten später war das Canot eine Viertelmeile weit auf hoher See. Das Meer war ruhig, die Flüchtlinge beobachteten ein tiefes Schweigen.

John, welcher sich nicht zu weit von der Küste entfernen wollte, befahl, nur an derselben entlang zu fahren, als sein Ruder plötzlich wie gebannt in seiner Hand still stand.

Er hatte in diesem Augenblick drei Boote bemerkt, welche von der Lottiespitze in der augenscheinlichen Absicht absegelten, auf ihn Jagd zu machen.

»In See! In See! schrie er. Lieber in den Fluthen untergehen.«

Das Boot, dessen vier Ruderer gewaltige Anstrengungen machten, nahm wiederum seine Richtung nach der hohen See. Während einer halben Stunde konnte es dieselbe festhalten; aber die unglücklichen und erschöpften Ruderer begannen zu ermatten, und die drei anderen Boote kamen ihnen immer näher [661] und näher. In diesem Augenblicke betrug die Entfernung bis zu ihnen kaum noch zwei Meilen. Es war also keine Möglichkeit vorhanden, den Angriff der Wilden zu vermeiden, die, bewaffnet mit ihren langen Gewehren, schon bereit waren, Feuer zu geben.

Was sollte Glenarvan nun thun? Aufrecht im Hintertheile des Bootes stehend, suchte er am Horizont wohl vergeblich nach Hilfe. Was erwartete er? Hatte er irgend eine Ahnung?

Plötzlich blitzten seine Augen auf, seine Hand wies auf einen Punkt auf der weiten Meeresfläche.

»Ein Schiff! Meine Freunde, ein Schiff! rief er aus, Muth, Muth!«

Kein einziger der vier Ruderer nahm sich die Zeit, sich nach diesem so unerwarteten Schiff umzublicken, denn man durfte nicht einen Ruderschlag verlieren. Paganel allein erhob sich und richtete sein Fernrohr auf den bezeichneten Punkt.

»Ja, sagte er, ein Schiff, ein Dampfer! Er kommt mit voller Dampfkraft heran, gerade auf uns zu! Muth, meine Gefährten!«

Die Flüchtlinge entfalteten eine neue Energie, und noch eine halbe Stunde lang trieben sie in jener Richtung mit beschleunigten Ruderschlägen das Canot vorwärts.

Der Dampfer kam immer näher in Sicht. Man unterschied schon seine beiden kahlen Masten und die mächtigen Dampfsäulen, welche er ausstieß. Glenarvan gab das Steuer an Robert, um das Fernrohr des Geographen zu erfassen und nicht eine Bewegung des Schiffes zu verlieren.

Aber was mußten John Mangles und seine Gefährten denken, als sie auf einmal die Züge des Lords sich verfinstern, sein ganzes Gesicht erbleichen, und das Instrument aus seinen Händen fallen sahen! Ein einziges Wort erklärte ihnen diese plötzliche Verzweiflung.

»Der Duncan! rief Glenarvan, der Duncan und die Sträflinge!

– Der Duncan! schrie John, indem er sein Ruder fahren ließ und aufsprang.

– Ja, der Tod von beiden Seiten!« murmelte Glenarvan vernichtet von so furchtbarer Angst.

Es war in der That die Yacht, man konnte sich nicht täuschen, die Yacht mit einer Mannschaft, die aus Verbrechern bestand. Der Major konnte einen Fluch nicht zurückhalten, den er gegen den Himmel schleuderte. Das war zu viel!

[662] Das Boot war sich einen Augenblick selbst überlassen. Wohin es richten? Wohin fliehen? War es möglich, zwischen den Wilden und den Verbrechern zu wählen?

Eine Kugel pfiff aus dem nächsten Canot der Wilden und traf das Ruder Wilson's. Noch einige Ruderschläge trieben das Boot gegen den Duncan.

Die Yacht segelte pfeilschnell heran und war nur noch eine halbe Meile entfernt. John Mangles wußte in seiner Verzweiflung nicht mehr, welche Richtung er einschlagen, welche er fliehen sollte. Die beiden armen Frauen knieten nieder und beteten inbrünstig.

Die Wilden gaben ganze Salven ab, so daß es Kugeln um das Boot regnete. In diesem Augenblick erfolgte von der Yacht her der Donner eines Kanonenschusses, eine Kugel flog über das Boot der Flüchtlinge hinweg.

So sahen sich diese zwischen zwei Feuern und blieben unbeweglich zwischen dem Duncan und den Canots der Wilden.

John Mangles erfaßte in wiler Aufregung die Axt. Er wollte ein Leck in das Boot schlagen und es mit seinen unglücklichen Gefährten in den Grund versenken, als ein Schrei Robert's ihn zurückhielt.

»Tom Austin! Tom Austin! rief der Knabe. Er ist an Bord. Ich sehe ihn! Er hat uns erkannt, er schwenkt seinen Hut!«

John ließ die Axt sinken.

Eine zweite Kanonenkugel pfiff über sein Haupt und zerschmetterte das nächste der drei Canots, während an Bord des Duncan ein Hurrah erschallte.

Die Wilden flohen entsetzt und gewannen die Küste.

»Zu Hilfe, zu Hilfe, Tom!« hatte John Mangles mit lauter Stimme gerufen.

Und einige Augenblicke später waren die zehn Flüchtlinge, ohne zu wissen, wie, alle an Bord des Duncan in Sicherheit.


Eine Kanonenkugel zerschmetterte die Pirogue. (S. 663.)
[663]
Fußnoten

1 Eine Augenstörung, bei welcher der damit Behaftete Abends besser sieht, als am vollen Tage.

17. Capitel
Siebenzehntes Capitel.
Wie der Duncan an die Ostküste von Neu-Seeland kam.

Wir wollen darauf verzichten, die Gefühle Glenarvan's und seiner Gefährten zu schildern, welche in ihnen die Gesänge des alten Schottland erweckten. In dem Augenblick, wo sie den Fuß auf das Verdeck des Duncan setzten, stimmte die ganze Mannschaft eine vaterländische Hymne [664] an und kräftige Hurrahs begrüßten die Rückkehr des Lords an Bord seines Schiffes.

Glenarvan, John Mangles, Robert, der Major selbst, sie Alle weinten und umarmten sich. Es war ein wahrer Freudenrausch. Der Geograph war vollständig außer sich; er tanzte, sprang und zielte mit seinem unzertrennlichen Fernrohre auf die letzten Piroguen, welche nach der Küste zu flohen.

Doch beim Anblick Glenarvan's und seiner Gefährten, deren Kleider in Fetzen hingen, deren Züge bleich und hager waren und die Spuren schrecklicher [665] Leiden trugen, unterbrach die Mannschaft ihre Freudenbezeugungen. Das waren Schattengestalten, und nicht jene kühnen und unternehmenden Reisenden, welche drei Monate vorher in der sicheren Hoffnung ausgezogen waren, die Spuren der Schiffbrüchigen zu entdecken. Der Zufall ganz allein führte sie diesem Schiffe zu, welches sie wieder zu sehen nicht mehr erwarteten. Und in welchem traurigen, heruntergekommenen Zustande befanden sie sich!


Rückkehr an Bord des Duncan. (S. 665.)

Aber bevor Glenarvan an seine Müdigkeit oder die gebieterische Mahnung des Hungers und Durstes dachte, frug er Tom Austin nach dem Grunde seiner Anwesenheit in diesen Gewässern.

Warum befand sich der Duncan auf der Ostküste von Neu-Seeland? Fiel er denn nicht in die Hände Ben Joyce's? Welches gütige Geschick hatte ihn auf die Spur der Flüchtigen gebracht?

Das waren alles Fragen, welche gleichzeitig bunt durcheinander an den bestürzten Tom Austin gerichtet wurden. Der alte Seemann wußte nicht, auf wen er hören sollte. Er beschloß daher, nur Lord Glenarvan Rede und Antwort zu stehen.

»Aber die Sträflinge? frug Glenarvan, was habt Ihr mit ihnen gemacht?

– Die Sträflinge? antwortete Tom Austin in dem Tone eines Menschen, der die Frage nicht begreift.

– Ja, die Sträflinge, welche die Yacht angegriffen haben?

– Welche Yacht? frug Tom Austin, die Ew. Herrlichkeit?

– Nun ja, Tom! Den Duncan meine ich und diesen Ben Joyce, welcher an Bord gekommen war?

– Ich kenne diesen Ben Joyce gar nicht, und habe ihn niemals gesehen, erwiderte Austin.

– Niemals gesehen? rief Glenarvan erstaunt über die Antworten des alten Seemanns aus. Dann Tom, sagt mir, warum der Duncan in diesem Augenblick auf der Küste von Neu-Seeland kreuzt?«

Wenn Glenarvan, Lady Helena, Miß Grant, Paganel, der Major, Robert, John Mangles, Olbinett, Mulrady und Wilson das Erstaunen des alten Seemanns gar nicht begriffen, wie groß war da erst ihre Verwunderung, als Tom mit ruhiger Stimme erwiderte:

»Aber der Duncan kreuzt hier auf Ew. Herrlichkeit Befehl.

– Auf meinen Befehl? rief Glenarvan.

[666] – Ja, Mylord. Ich habe mich lediglich an die Instructionen gehalten, welche in Ihrem Briefe vom 14. Januar stehen.

– Meinem Briefe! Meinem Briefe!« rief Glenarvan.

In diesem Augenblicke umringten die zehn Reisenden Tom Austin und verschlangen ihn fast mit ihren Blicken.

Also der Brief vom Snowy-River aus war dem Duncan zugekommen?

»Vor Allem, fuhr Glenarvan fort, verständigen wir uns, denn ich glaube zu träumen. Sie haben einen Brief erhalten, Tom?

– Ja, einen Brief, Ew. Herrlichkeit.

– In Melbourne?

– In Melbourne, in dem Augenblicke, wo ich meine Havarieschäden ausgebessert hatte.

– Und dieser Brief?

– War nicht von Ihrer Hand, aber von Ihnen unterzeichnet, Mylord.

– Das ist richtig. Dieser Brief ist Ihnen durch einen Sträfling Namens Ben Joyce überbracht worden.

– Nein, durch einen Matrosen, der Ayrton heißt, und Quartiermeister der Britannia war.

– Ja! Ayrton und Ben Joyce ist dieselbe Person. Nun, was stand in diesem Briefe?

– Er brachte mir den Befehl, Melbourne ohne Verzug zu verlassen und zu kreuzen auf der östlichen Küste von ...

– Von Australien! rief Glenarvan mit einer Heftigkeit, welche den alten Seemann ganz außer Fassung brachte.

– Von Australien? wiederholte Tom mit weit geöffneten Augen, nein – nein, von Neu-Seeland!

– Von Australien! Tom! Von Australien!« riefen Glenarvan's Gefährten wie aus einem Munde.

In diesem Augenblicke ergriff es Austin wie eine Verblendung. Glenarvan sprach zu ihm mit einer solchen Sicherheit, daß er fürchtete, sich beim Lesen des Briefes getäuscht zu haben. Er, der treue und stramme Seemann, er sollte einen ähnlichen Irrthum begangen haben? Er erröthete und wurde verwirrt.

»Beruhigen Sie sich, Tom, sagte Lady Helena, die Vorsehung hat es gewollt ...

[667] – Nein, nein, Madame, verzeihen Sie mir, wiederholte der alte Tom. Nein! Das ist nicht möglich! Ich habe mich nicht getäuscht! Ayrton hat ebenso wie ich den Brief gelesen, und er, gerade er ist es, welcher im Gegentheil mich verleiten wollte, nach der australischen Küste zu segeln.

– Ayrton? rief Glenarvan.

– Er selbst! Er behauptete, daß das ein Irrthum sei, daß Sie unser Zusammentreffen in der Twofold-Bai wünschten!

– Haben Sie den Brief, Tom? frug der Major, auf's Höchste gespannt!

– Ja, Herr Mac Nabbs, erwiderte Austin. Ich will ihn sogleich holen.«

Austin eilte nach dem Vorderdeck in seine Cabine.

Während seiner Abwesenheit betrachtete man sich eine Minute lang schweigend; nur der Major richtete fest sein Auge auf Paganel und sagte, indem er die Arme kreuzte:

»Nun, Paganel, ich muß gestehen, das wäre ein wenig stark.

– Wie das?« meinte der Geograph, der mit seinem gebeugten Rücken und der Brille auf der Stirn einem riesigen Fragezeichen glich.

Austin kam zurück. Er hielt den Brief in der Hand, welchen Paganel geschrieben und Glenarvan unterzeichnet hatte.

»Lesen Ew. Herrlichkeit selbst«, sagte der alte Seemann.

Glenarvan nahm den Brief und las:


»Befehl an Tom Austin, sofort in See zu gehen und den Duncan durch den siebenunddreißigsten Breitengrad an die östliche Küste von Neu-Seeland zu führen!


– Neu-Seeland!« rief Paganel aus, indem er einen förmlichen Satz machte.

Und er nahm den Brief aus den Händen Glenarvan's, rieb sich die Augen, setzte die Brille auf seiner Nase zurecht und las selbst.

»Neu-Seeland!« sagte er mit einem unbeschreiblichen Tone, während der Brief aus seinen Fingern glitt.

In diesem Augenblicke fühlte er, wie eine Hand sich schwer auf seine Schultern legte. Er wandte sich um und sah dem Major noch starr in's Gesicht.

»Was weiter, mein braver Paganel, sagte Mac Nabbs mit wichtiger Miene, es ist immer noch ein wahres Glück, daß Sie den Duncan nicht nach Cochinchina geschickt haben!«

[668] Dieser Scherz brachte den armen Geographen ganz außer sich. Ein allgemeines, homerisches Gelächter erschallte aus dem Munde der ganzen Mannschaft. Paganel lief wie närrisch umher, nahm seinen Kopf in beide Hände und riß sich fast die Haare aus.

Was er that, wußte er nicht mehr; was er thun wollte, noch weniger. Er stieg ganz maschinenmäßig die zur Hauptcajüte führende Treppe hinab, kletterte wieder auf das Verdeck und lief dort ganz geistesabwesend hin und her.

Dort verwickelten sich die Füße in eine Rolle Taue, er wankte, seine Hände klammerten sich an ein Seil.

Plötzlich erdröhnte ein furchtbarer Donnerschlag. Die Kanone des Vorderdecks ging los und übersäete die ruhigen Meereswogen mit einem Kugelregen.

Der arme, bedauernswerthe Paganel hatte sich an die Zugleine des noch geladenen Geschützes angeklammert, und durch ihre Anspannung das Losgehen veranlaßt.

Der Geograph wurde auf die Schanztreppe geworfen und verschwand durch die Treppenkappe in den Mannschaftsraum.

Auf das durch den Knall bewirkte Erstaunen folgte ein Schrei des Schreckens. Man glaubte, es sei ein Unglück geschehen. Zehn Matrosen stürzten in das Zwischendeck und schafften den halbtodten Paganel heraus. Der Geograph sprach nicht mehr.

Man trug diesen langen Körper auf das Verdeck.

Die Gefährten des braven Franzosen waren verzweifelt. Der Major, welcher bei solchen besonderen Gelegenheiten immer Arzt war, machte sich daran, die Kleider des unglücklichen Paganel zu entfernen, um seine Wunden zu verbinden; aber kaum hatte er Hand an den Sterbenden gelegt, als dieser sich umwandte, als ob er mit einer elektrischen Batterie in Berührung gekommen sei.

»Niemals, niemals! rief er aus, und indem er über seinen mageren Körper die Fetzen seiner Kleidungsstücke zusammenzog, knöpfte er sich mit besonderer Lebhaftigkeit zu.

– Aber, Paganel! sagte der Major.

– Nein, sage ich Ihnen!

– Man muß nachsehen ...

– Sie werden nicht nachsehen! ...

[669] – Sie haben vielleicht Etwas gebrochen ... fügte Mac Nabbs hinzu.

– Ja, erwiderte Paganel, der sich auf seinen langen Beinen mit großer Sicherheit aufrichtete, aber was ich zerbrochen habe, wird der Zimmermann wieder ganz machen!

– Was denn?

– Die Decke der Mannschaftscabine, welche unter meinem Falle zerbrochen ist.«

Bei dieser Erklärung begann das Gelächter von Neuem.

Diese Antwort hatte alle Freunde des würdigen Paganel versichert, daß er mit heiler Haut das Abenteuer mit der Kanone des Vorderdecks bestanden hatte.

»Auf alle Fälle, dachte der Major, ist das ein eigenthümlich verschämter Geograph!«

Aber Paganel hatte, nachdem er sich von dieser ganz unfreiwilligen Bewegung erholt, noch auf eine Frage zu antworten, welche er nicht vermeiden konnte.

»Nun, Paganel, sprach Glenarvan zu ihm, antworten Sie freimüthig. Ich erkenne an, daß Ihre Zerstreuung von der Vorsehung herbeigeführt war. Ohne Sie würde der Duncan sicher in die Hände der Sträflinge gefallen sein, ohne Sie wären wir von den Maoris wieder ergriffen worden! Aber sagen Sie mir um Himmels willen gleichwohl, durch welche eigenthümliche Verbindung der Gedanken, durch welche fast übernatürliche Geistesverwirrung Sie dazu gekommen sind, statt Australien Neu-Seeland zu schreiben?

– Nun, potz Tausend! rief Paganel aus, weil ...«

Aber in demselben Augenblicke richteten sich seine Blicke auf Robert und Mary Grant, er hielt inne; dann antwortete er:

»Was wollen Sie? Mein lieber Glenarvan, ich bin ein Thor, ein Narr, ein ganz unverbesserliches Wesen, und werde in der Haut des berühmtesten Zerstreuten sterben ...

– Falls man Sie nicht einmal hängt, fügte der Major hinzu.

– Mich hängen! rief der Geograph mit wüthender Geberde. Ist das eine Anspielung?

– Was für eine Anspielung, Paganel?« frug Mac Nabbs mit seiner ruhigen Stimme.

Der Zwischenfall hatte keine weiteren Folgen. Das Geheimniß der [670] Anwesenheit des Duncan war aufgeklärt; die so wunderbar geretteten Reisenden dachten nur noch daran, ihre bequemen Cabinen aufzusuchen und zu frühstücken.

Während die übrige Gesellschaft sich dorthin begab, hielten Glenarvan und John Mangles Tom Austin zurück. Sie hatten noch einige Fragen an ihn zu stellen.

»Jetzt, mein lieber Tom, sagte Glenarvan, antworten Sie mir. Ist Ihnen dieser Befehl, an der Küste von Neu-Seeland zu kreuzen, nicht eigenthümlich erschienen?

– Doch Ew. Herrlichkeit, erwiderte Austin, ich war sehr erstaunt, aber ich bin nicht gewöhnt, mit Befehlen zu rechten, welche ich empfange, und darum gehorchte ich. Konnte ich anders handeln? Wenn der Umstand, daß ich Ihren Befehlen nicht pünktlich nachkam, unglückliche Folgen gehabt hätte, wäre ich nicht schuldig gewesen? Würden Sie, Kapitän, anders gehandelt haben?

– Nein, Tom, erwiderte John Mangles.

– Aber was dachten Sie dabei? frug Glenarvan.

– Ich dachte, Ew. Herrlichkeit, daß das Interesse Harry Grant's es erfordere, nach Neu-Seeland zu gehen. Ich dachte, daß in Folge neuer Combinationen ein Schiff Sie dahin bringen sollte, und daß ich Sie auf der Ostküste der Insel zu erwarten habe. Uebrigens hielt ich bei der Abfahrt von Melbourne meine Bestimmung geheim, die Mannschaft erfuhr sie erst in dem Augenblicke, als wir auf hoher See waren, und nachdem die Küste Australiens aus unseren Augen bereits verschwunden war. Da aber trat an Bord ein Ereigniß ein, welches mich fast bestürzte.


»Niemals! Niemals!« rief Paganel. (S. 669.)

– Welches, Tom, frug Glenarvan.

– Ich will erzählen, erwiderte Tom Austin, daß, als Ayrton am folgenden Morgen die Bestimmung des Duncan erfuhr.

– Ayrton! rief Glenarvan. Er ist also an Bord?

– Ja, Ew. Herrlichkeit.

– Das ist Gottes Fügung«, sagte der junge Kapitän.

Im Nu, mit blitzähnlicher Geschwindigkeit wurde das Verhalten Ayrton's, sein lange vorbereiteter Verrath, Glenarvan's Verwundung, der Mordanschlag auf Mulrady, die verunglückte Expedition in den Sümpfen am Snowy, die Vergangenheit des Elenden, kurz alles das ihnen klar. Und nun war durch [671] ein ganz eigenthümliches Zusammentreffen von Umständen der Sträfling in ihrer Macht.

»Wo ist er? frug lebhaft Glenarvan.

– In einer Cabine des Vorderdecks, erwiderte Tom Austin, in strenger Haft.

– Warum diese Einkerkerung?

– Weil Ayrton in Wuth gerieth, sobald er sah, daß die Yacht Neu-Seeland zusegelte, weil er mich zwingen wollte, die Richtung des Schiffes zu [672] ändern, weil er mir drohte, weil er endlich einen Aufruhr unter der Mannschaft zu erregen suchte. Ich begriff, daß er überaus gefährlich war, daß ich darum Vorsichtsmaßregeln gegen ihn ergreifen müßte.

– Und seit dieser Zeit?

– Seit dieser Zeit ist er in seiner Cabine geblieben, die er nicht verlassen durfte.

– Gut, Tom.«


Ayrton schritt sicheren Fußes über das Verdeck. (S. 674.)

[673] In diesem Augenblick wurden Glenarvan und John Mangles in die Cajüte gerufen. Die Erquickung, deren sie so sehr bedürftig waren, war zubereitet. Sie nahmen an der Tafel Platz, ohne ein Wort von Ayrton zu sprechen.

Als aber die Mahlzeit beendet war, als die Tischgenossen gesättigt und gestärkt auf dem Verdeck vereinigt waren, machte ihnen Glenarvan die Anwesenheit des Quartiermeisters an Bord bekannt. Gleichzeitig gab er die Absicht kund, ihn vorführen zu lassen.

»Kann ich mich von diesem Verhöre fern halten? frug Lady Helena. Ich gestehe Dir, mein lieber Edward, daß der Anblick dieses Unglücklichen mir außerordentlich peinlich sein würde.

– Es ist nothwendig, ihn Euch Allen gegenüberzustellen, sagte Lord Glenarvan. Bleibe daher, ich bitte darum. Ben Joyce soll alle seine Opfer vor sich sehen.«

Lady Helena fügte sich dieser Bemerkung und nahm mit Mary Grant nahe bei Lord Glenarvan Platz. Rings um diesen stellten sich die übrigen Mitglieder der Gesellschaft auf, die ja alle so hart von dem Verrath des Sträflings betroffen worden waren.

Die Mannschaft der Yacht, welche den Ernst dieser Scene noch nicht begriff, bewahrte ein tiefes Schweigen.

»Laßt Ayrton kommen!« befahl Glenarvan.

18. Capitel
Achtzehntes Capitel.
Ayrton oder Ben Joyce.

Ayrton erschien. Er schritt sicher und fest über das Verdeck und betrat die Treppe zum Oberdeck. Seine Blicke waren düster, seine Lippen zusammengepreßt, seine Fäuste krampfhaft geschlossen. Seine Erscheinung verrieth weder Aufgeblasenheit, noch Demuth. Als er vor Lord Glenarvan stand, kreuzte er ruhig und stumm die Arme und erwartete dessen Fragen.

[674] »Nun, Ayrton, sagte Glenarvan, da sind wir nun Beide auf dem Duncan, den Sie den Raubgenossen des Ben Joyce in die Hände spielen wollten!«

Die Lippen des Quartiermeisters zitterten leicht bei diesen Worten. Eine Röthe überflog seine regungslosen Züge, aber es war nicht die des sich regenden Gewissens, sondern nur die Scham über seinen Mißerfolg. Auf derselben Yacht, auf der er den Herrn zu spielen gedachte, war er nun als Gefangener, und in wenigen Augenblicken mußte sein Schicksal sich entscheiden ...

Indeß gab er keine Antwort. Geduldig wartete Glenarvan, doch Ayrton verharrte in hartnäckigem Schweigen.

»Sprechen Sie, Ayrton, fuhr Glenarvan fort, was haben Sie zu sagen?«

Ayrton zögerte; tiefer furchte sich seine Stirne, dann sprach er mit ruhiger Stimme:

»Ich habe Nichts zu sagen, Mylord. Ich habe die Dummheit begangen, mich fangen zu lassen. Handeln Sie nach Belieben.«

Nach dieser Antwort wandte er den Blick nach der Küste, die sich im Westen entfaltete, und beobachtete eine vollkommene Gleichgiltigkeit gegen Alles, was um ihn her vorging. Wer ihn sah, hätte ihn für völlig unbetheiligt an dieser tiefernsten Angelegenheit gehalten. Glenarvan hatte sich aber vorgenommen, die Geduld nicht zu verlieren. Ein mächtiges Interesse fesselte ihn ja, gewisse Details aus dem geheimnißvollen Leben Ayrton's zu erfahren, mindestens in Bezug auf Harry Grant und die Britannia. Er nahm also seine Fragen wieder auf, sprach mit der äußersten Milde, und setzte der heftigen Erregung seines Herzens äußerlich die möglichste Ruhe entgegen.

»Ich hoffe, Ayrton, sagte er, daß Sie nicht verweigern werden, auf einige Fragen zu antworten, die ich an Sie richten möchte. Zunächst, habe ich Sie Ayrton oder Ben Joyce zu nennen? Sind Sie der Quartiermeister der Britannia? Ja oder Nein?«

Ayrton blieb unbewegt, taub für jede Frage, und fixirte die Küste.

»Wollen Sie mir mittheilen, wie Sie die Britannia verließen und weshalb Sie in Australien waren?«

Dasselbe Schweigen, dieselbe Bewegungslosigkeit.

»Hören Sie mich wohl, Ayrton, fuhr Glenarvan fort, es liegt in Ihrem eigenen Interesse, zu sprechen. Die Offenherzigkeit, Ihre letzte Hilfe, würde [675] zu Ihren Gunsten in Anschlag gebracht werden. Zum letzten Male also, wollen Sie meine Fragen beantworten?«

Ayrton wandte den Kopf zu Glenarvan und sah ihm in's Auge.

»Mylord, sagte er, ich habe Nichts zu antworten. Es wird Sache der Gerichte und nicht die meine sein, gegen mich Beweise beizubringen.

– Was sehr leicht sein wird! bemerkte Glenarvan.

– Leicht! Mylord? erwiderte Ayrton mit spöttischem Tone; da gehen Ew. Herrlichkeit zu weit. Ich, ich versichere Ihnen, daß auch der beste Richter von Temple-Bar bezüglich meiner Person in Verlegenheit sein wird.

Wer wird sagen, warum ich nach Australien gekommen bin, wenn Kapitän Grant nicht zur Stelle ist? Wer möchte beweisen, daß ich der von der Polizei gesuchte Ben Joyce sei, da diese mich nie in ihren Händen hatte und meine Kameraden in Freiheit sind? Wer vermag, außer Ihnen, zu meinem Nachtheile nicht ein Verbrechen, sondern nur eine strafbare Handlung anzugeben? Wer kann mir beweisen, daß ich mich habe von diesem Schiffe entfernen und es in Verbrecherhände spielen wollen? Niemand, verstehen Sie mich recht, Niemand! Sie haben Verdacht auf mich, gut; aber um einen Menschen zu verurtheilen, bedarf es der Gewißheit, und diese eben fehlt Ihnen. Bis zum Beweise des Gegentheils bin ich Ayrton, Quartiermeister der Britannia.«

Ayrton hatte sich beim Sprechen erregt, jetzt versank er wieder in seine frühere Gleichgiltigkeit. Er nahm ohne Zweifel an, daß seine Erklärung jede weitere Fragestellung abschneiden würde, aber Glenarvan nahm von Neuem das Wort und sagte:

»Ayrton, ich bin kein mit dem Verfahren gegen Sie beauftragter Richter, das ist meine Sache nicht. Es handelt sich nur darum, unser gegenseitiges Verhältniß zu klären. Ich frage Sie nach Nichts, was Sie compromittiren könnte. Das ist Sache der Justiz. Sie wissen aber, was ich suche, und mit einem Worte, Sie nur können mich auf die verlorene Spur zurückleiten. Wollen Sie also sprechen?«

Ayrton senkte den Kopf und schwieg.

»Wollen Sie mir sagen, wo der Kapitän Grant sich befindet? fragte Glenarvan.

– Nein, Mylord, entgegnete Ayrton.

[676] – Wollen Sie mir nur bekannt geben, wo die Britannia zu Grunde gegangen ist?

– Nicht minder.

– Ayrton, fuhr Glenarvan fast in bittendem Tone fort, wollen Sie, wenn Kapitän Grant's Aufenthalt Ihnen bekannt ist, ihn mindestens seinen armen Kindern mittheilen, welche nur ein Wort aus Ihrem Munde erwarten?«

Ayrton zauderte. Sein Gesicht verzog sich; doch murmelte er mit dumpfer Stimme:

»Ich kann nicht, Mylord.«

Sogleich fuhr er aber, als mache er sich einen schwachen Augenblick zum Vorwurf, heftig fort:

»Nein! Ich sage Nichts! Lassen Sie mich hängen, wenn Sie wollen!

– Hängen!« rief Glenarvan, den eine Aufwallung von Zorn übermannte. Dann antwortete er aber, sich beherrschend, mit ruhigerer Stimme:

»Hier sind weder Richter, noch Henker, Ayrton. Bei der ersten Gelegenheit werden Sie den englischen Behörden ausgeliefert werden.

– Eben das verlange ich!« antwortete der Quartiermeister.

Darauf kehrte er ruhigen Schrittes in die Cabine, welche ihm als Gefängniß diente, zurück, und zwei Matrosen wurden vor deren Thür aufgestellt, seine geringsten Bewegungen zu überwachen. Entrüstet und verzweifelt zogen sich auch diese Zeugen der Scene zurück.

Was blieb nun Glenarvan, wenn er an Ayrton's Verschlossenheit scheiterte, zu thun übrig? Offenbar galt es nun, die in Eden beschlossene Rückkehr nach Europa anzutreten, und auch auf eine spätere Wiederaufnahme dieses vom Unglück verfolgten Unternehmens zu verzichten.

Denn von jetzt ab schienen alle Spuren der Britannia unwiderruflich verwischt; dem Documente konnte keine neue Deutung abgewonnen werden, auch war auf dem siebenunddreißigsten Meridian kein in Frage kommendes Land mehr übrig. Der Duncan hatte nur noch zurückzukehren.

Nach Unterredung mit seinen Freunden besprach Glenarvan mit John Mangles eingehender die Rückfahrt. John inspicirte den Schiffsraum; sein Kohlenvorrath reichte für etwa vierzehn Tage. Jedenfalls mußte demnach beim nächsten Aufenthalt Brennmaterial eingenommen werden.

John schlug Glenarvan vor, die Bai von Talcahuano anzulaufen, wo der [677] Duncan sich schon vor der Umschiffung des Feuerlandes frisch verproviantirt hatte. Es wäre das die geradeste Linie, und lag auch noch auf dem siebenunddreißigsten Breitengrade. Von dort sollte die Yacht nach Süden, dann um das Cap Horn steuern und über den Atlantischen Ocean nach Schottland zurückkehren.

Nach Annahme dieses Planes wurde der Maschinenmeister angewiesen, stärkeren Dampf zu machen. Eine halbe Stunde später wurde das Bugspriet nach Talcahuano, zur Fahrt über ein Meer, welches den Namen des Pacifischen Oceans mit Recht verdient, gerichtet und um sechs Uhr Abends verschwanden die letzten Berge Neu-Seelands in den warmen Dünsten am Horizonte.

Hiermit begann also die eigentliche Rückreise. Eine traurige Ueberfahrt war es für unsere kühnen Sucher, welche nach dem Hafen zurückkehrten, ohne Harry Grant mitzuführen! In trauriger Stimmung begab sich auch die Besatzung, die bei der Abfahrt so fröhlich, so vertrauensvoll bezüglich der Erreichung ihres Zieles war, auf die Rückreise nach Europa. Von diesen braven Matrosen war Keiner unbewegt bei dem Gedanken, das Vaterland wiederzusehen, und doch hätten Alle gern noch lange den Gefahren des Meeres getrotzt, um den Kapitän Grant aufzufinden.

Dem Hurrahrufen, welches Glenarvan's Beschluß begleitete, folgte denn auch bald die Entmuthigung. Der frühere enge Zusammenhalt zwischen den Passagieren, die Unterhaltungen, welche den Weg so sehr verkürzten, – Alles war zu Ende. Jeder hielt sich gesondert in seiner Cabine zurück, und nur selten erschien Einer oder der Andere auf dem Verdeck des Duncan.

Der Mann, bei dem alle Gefühle, die freudigen und die traurigsten, den lebhaftesten Ausdruck fanden, Paganel, der sonst zur Noth eine Hoffnung erfunden hätte, blieb verdrießlich und schweigsam und war kaum sichtbar. Seine natürliche Plauderlust, seine französische Lebhaftigkeit waren der Stummheit und der Ermattung gewichen. Ja, er erschien noch entmuthigter als seine Gefährten. Sprach auch Glenarvan einmal von Wiederaufnahme der Nachforschungen, so schüttelte Paganel den Kopf, wie ein Mann, der nichts mehr hoffte und dessen Ueberzeugung bezüglich des Schicksals der Schiffbrüchigen der Britannia fest stand. Man bemerkte es, daß er sie für unwiderruflich verloren hielt.

Dennoch befand sich ein Mann an Bord, der über jene Katastrophe das [678] letzte Wort sprechen konnte, aber doch sein Schweigen fortsetzte, und zwar Ayrton. Es war kein Zweifel, daß dieser Elende, wenn er auch über den jetzigen Aufenthalt des Kapitän Grant Nichts wissen konnte, doch die Oertlichkeit des Schiffbruchs kennen mußte. Ohne Zweifel wäre aber der wiedergefundene Grant ein schwer belastender Zeuge wider ihn gewesen, deshalb schwieg er wohl so hartnäckig. Daher schrieb sich eben auch die heftige Wuth der Matrosen, die ihm gern einen schlechten Streich gespielt hätten.

Noch mehrmals wiederholte Glenarvan seine Versuche mit Ayrton. Versprechungen und Drohungen waren vergeblich. Der Starrsinn des Quartiermeisters ging so weit und war so unerklärlich, daß der Major zu der Meinung kam, er wisse gar Nichts, welche üb rigens der Geograph theilte, zumal da sie auch seine besonderen Ansichten über Harry Grant nur befestigten.

Wenn Ayrton aber Nichts wußte, warum gestand er es nicht ein? Das konnte ihm doch Nichts verschlagen, während sein Schweigen die Schwierigkeit, einen neuen Plan zu entwerfen, nur steigerte. Sollte man daraus, daß man den Quartiermeister in Australien traf, auch auf die Anwesenheit Harry Grant's auf diesem Continente schließen? Um jeden Preis mußte man Ayrton veranlassen, sich darüber zu erklären.

Da Lady Helena die Mißerfolge ihres Gatten sah, bat sie ihn um die Erlaubniß, selbst einmal gegen die Verstocktheit des Quartiermeisters anzukämpfen. Wo ein Mann gescheitert war, sollte da nicht der sanfte Einfluß einer Frau obsiegen? Ist es nicht eine alte Fabel, daß der Orkan den Schultern des Reisenden den Mantel nicht entreißen konnte, während es dem ersten warmen Sonnenstrahle gelang?

Da Glenarvan die Intelligenz seiner Frau kannte, ließ er ihr volle Freiheit des Handelns.

Ayrton wurde also, es war der 5. März, in Lady Glenarvan's Salon geführt. Mary Grant sollte der Zusammenkunft beiwohnen, denn der Einfluß des jungen Mädchens war nicht zu unterschätzen, und Lady Helena wollte Nichts zur Sicherung des Erfolges vernachlässigen.

Eine Stunde lang blieben die beiden Frauen mit dem Quartiermeister der Britannia allein, aber ihre Unterhaltung war fruchtlos. Was sie gesprochen, die Argumente, welche sie benutzten, um dem Verbrecher sein Geheimniß abzulocken, alle Einzelheiten des Gespräches blieben unbekannt.


Die beiden Frauen mit dem Quartiermeister. (S. 679.)

Als [679] aber Ayrton sie verließ, schienen sie Nichts aus gerichtet zu haben, denn ihre Züge verriethen die vollkommenste Entmuthigung.


Ayrton zuckte nur mit den Achseln. (S. 680.)

Als der Quartiermeister nach seiner Cabine zurückgeführt wurde, überhäuften die Matrosen den Vorübergehenden mit Drohungen. Dieser zuckte nur mit den Schultern, was die Aufregung der Mannschaft nur steigerte, so daß es des Dazwischentretens Glenar van's und John Mangles' bedurfte, um sie im Zaume zu halten.

Lady Helena hielt sich aber noch nicht für überwunden. Sie wollte bis [680] zuletzt gegen diese fühllose Seele kämpfen, und so ging sie am andern Tage selbst nach Ayrton's Cabine, um die Auftritte zu vermeiden, welche sein Erscheinen auf dem Deck hervorrief.

Zwei Stunden lang blieb die gute und sanfte Schottin allein, Auge in Auge mit dem Verbrecherhauptmann. Glenarvan lief, eine Beute seiner Erregung, vor der Cabine hin und her, einmal mit dem Entschlusse, jede Aussicht auf Erfolg zu erschöpfen, und dann wieder, seine Gattin dieser peinlichen Unterredung zu entziehen.

[681] Als Lady Helena aber diesmal herauskam, verriethen ihre Züge einige Hoffnung. Hatte sie nun das Geheimniß erfahren und in dem Herzen dieses Bösewichtes die letzten Fasern seines Gefühles getroffen?

Mac Nabbs, welcher sie zuerst sah, konnte ein sehr natürliches Zeichen des Unglaubens nicht zurückhalten.

Bald verbreitete sich unter der Mannschaft das Gerücht, daß der Quartiermeister dem Zureden der Lady Helena nachgegeben habe. Es wirkte wie eine elektrische Erschütterung. Alle Matrosen liefen auf dem Verdecke zusammen, und zwar schneller, als wenn Tom Austin's Pfeife sie zur Arbeit gerufen hätte.

Inzwischen war Glenarvan zu seiner Gattin geeilt.

»Hat er gesprochen? fragte er.

– Nein, erwiderte Lady Helena, aber er gab meinen Bitten so weit nach, daß er Dich zu sprechen wünscht.

– O, beste Helena, Du hast gewonnen!

– Ich hoffe es, Edward.

– Bist Du irgend ein Versprechen eingegangen, das ich zu erfüllen hätte?

– Ein einziges, mein Freund, daß Du allen Deinen Einfluß aufwenden werdest, das Loos, welches diesen Unglücklichen erwartet, zu mildern.

– Gut, meine Helena. Ayrton mag sofort kommen.«

Lady Helena zog sich in ihr Zimmer zurück, und der Quartiermeister wurde nach dem Versammlungsraum geführt, wo ihn Lord Glenarvan erwartete.

19. Capitel
Neunzehntes Capitel.
Ein Vertragsabschluß.

Sobald der Quartiermeister sich vor dem Lord befand, zogen seine Wächter sich zurück.

»Ihr verlangtet mich zu sprechen, Ayrton? fragte Glenarvan.

– Ja, Mylord, entgegnete der Gefangene.

[682] – Mich allein?

– Ja, doch dünkt mir, es wäre noch besser, wenn Major Mac Nabbs und Herr Paganel mit zugegen wären.

– Besser für wen?

– Für mich.«

Ayrton sprach ganz ruhig. Glenarvan sah ihn fest an; dann ließ er Paganel und Mac Nabbs rufen, welche auch sogleich erschienen.

»Nun, wir hören«, sagte Glenarvan, als seine beiden Freunde am Tische Platz genommen hatten.

Ayrton sammelte sich einige Augenblicke und sprach dann:

»Mylord, gewöhnlich sind bei dem Abschluß jedes Vertrags oder Vergleichs Zeugen zugegen. Aus diesem Grunde hab' ich der Herren Paganel und Mac Nabbs Anwesenheit gewünscht. Denn es handelt sich, um es gleich herauszusagen, um ein Geschäft, das ich Ihnen vorschlagen möchte.«

Glenarvan kannte Ayrton's Art und Weise und zuckte mit keinem Augenlide, obgleich ein Geschäft zwischen diesem Menschen und ihm etwas ganz Fremdartiges war.

»Und dieses Geschäft wäre?

– Kurz Folgendes, antwortete Ayrton. Sie wünschen von mir Einzelnes zu wissen, was Ihnen nützlich sein könnte. Ich wünsche von Ihnen einige Vortheile zu erlangen, die für mich von hohem Werthe sind. Eine Hand wäscht die andere, Mylord. Ist es Ihnen recht oder nicht.

– Nun, welche Einzelheiten erfahren wir? fragte lebhaft Paganel.

– Nein, fiel Glenarvan ein, welche Vortheile verlangt Ihr?«

Ayrton zeigte durch eine Bewegung des Kopfes, daß er die Wendung Glenarvan's verstand.

»Das sind Folgende, sagte er. Doch vorher, haben Sie noch immer die Absicht, Mylord, mich den englischen Behörden auszuliefern?

– Gewiß, Ayrton, das ist nur gerecht.

– Das bestreite ich nicht, antwortete ruhig der Quartiermeister. Sie würden also auf keinen Fall zu bestimmen sein, mir die Freiheit wieder zu geben?«

Glenarvan zögerte mit seiner Antwort auf diese so schnell an ihn herantretende Frage. Von dem, was er sagte, hing vielleicht das Schicksal Harry Grant's ab. Doch siegte sein Pflichtgefühl für menschliche Gerechtigkeit.

[683] »Nein, Ayrton, die Freiheit kann ich Euch nicht geben.

– Diese verlange ich auch nicht ganz, erwiderte stolz der Quartiermeister.

– Nun, und was dann?

– Ein Zwischending, Mylord, zwischen der Gewalt, die mir droht, und der Freiheit, die Sie mir nicht schenken können.

– Das wäre ...?

– Mich auf einer wüsten Insel des Stillen Oceans nebst den nöthigsten ersten Hilfsmitteln auszusetzen. Da würde ich sehen, wie ich auskäme, und, wenn ich Zeit dazu fände, bereuen!«

Glenarvan, der auf eine solche Eröffnung wenig vorbereitet war, sah seine beiden Freunde an, welche schweigend dabei saßen. Nach kurzer Ueberlegung erwiderte er:

»Und wenn ich Ihrem Verlangen entspreche, Ayrton, so werden Sie mir Alles mittheilen, was für mich von Interesse ist?

– Ja, Mylord, das heißt, was ich von Kapitän Grant und der Britannia weiß.

– Die volle Wahrheit?

– Die volle.

– Aber wer steht mir dafür?

– Ah, ich sehe, was Sie beunruhigt, Mylord. Freilich können Sie sich nur an mich halten, an das Wort eines Verbrechers, das ist wohl wahr. Aber was wollen Sie? Die Lage ist nun einmal so. Also annehmen oder lassen.

– Ich werde mich auf Alles verlassen, Ayrton, sagte einfach Glenarvan.

– Und daran thun Sie recht, Mylord. Wenn ich Sie täuschte, hätten Sie ja immer Mittel, sich zu rächen.

– Welche?

– Sie heben mich auf der Insel wieder auf, die ich doch nicht werde verlassen können.«

Ayrton hatte auf Alles eine Antwort. Er suchte Schwierigkeiten auf und führte gegen sich selbst unwiderlegliche Argumente an. Aus Allem war zu ersehen, daß er sein »Geschäft« in bester Hoffnung auf Gelingen behandelte. Es erschien unmöglich, sich noch mehr bloßzustellen, und doch sollte er Gelegenheit finden, in dieser Uneigennützigkeit noch weiter zu gehen.

»Mylord und meine Herren, fügte er hinzu, ich wünsche, daß Sie davon [684] überzeugt sind, daß ich mit offener Karte spiele. Ich suche Sie nicht zu täuschen, und ich will Ihnen einen weiteren Beweis meiner Aufrichtigkeit geben. Ich handle ganz freimüthig, weil ich selbst auf Ihre Loyalität rechne.

– Sprechen Sie, Ayrton, sagte Glenarvan.

– Mylord, noch habe ich Ihr Wort nicht, daß Sie meinem Vorschlage zustimmen, und doch zögere ich nicht, Ihnen zu gestehen, daß ich nur wenig bezüglich des Kapitän Grant weiß.

– Wenig nur! rief Glenarvan.

– Ja, Mylord, die Einzelheiten, welche ich Ihnen mitzutheilen in der Lage bin, beziehen sich mehr nur auf mich; sie werden auch nur wenig dazu beitragen, Sie wieder auf die verlorenen Spuren zu bringen.«

Auf den Zügen Glenarvan's und des Majors malte sich die Enttäuschung. Sie hatten den Quartiermeister im Besitz eines wichtigen Geheimnisses geglaubt, und jetzt gestand dieser selbst ein, daß seine Angaben ziemlich dürre sein würden. Paganel verharrte ganz unbeweglich.

Wie dem auch sei, dieses Geständniß Ayrton's, welcher sich ohne Garantie auslieferte, berührte seine Zuhörer eigenthümlich, vorzüglich als der Quartiermeister schließlich hinzusetzte:

»Sie wissen also nun, woran Sie sind, Mylord, und daß das Geschäft für mich vortheilhafter ist, als für Sie.

– Thut Nichts, antwortete Glenarvan. Ich nehme Ihren Vorschlag an, Ayrton. Sie haben mein Wort, auf einer der Inseln des Stillen Oceans ausgeschifft zu werden.

– Gut, Mylord«, antwortete der Quartiermeister.

War dieser sonderbare Mann wohl über diese Entscheidung erfreut? Man hätte daran zweifeln können, denn in seinem Gesichte zuckte kein Muskel. Es schien, als verhandle er für einen Andern, und nicht für sich selbst.

»Ich bin bereit, zu antworten, sagte er.

– Wir haben keine Fragen zu stellen, entgegnete Glenarvan. Sagen Sie, was Sie wissen, Ayrton, und beginnen Sie damit zu erklären, wer Sie sind.

– Meine Herren, erwiderte Ayrton, ich bin wirklich Tom Ayrton, der Quartiermeister der Britannia. Mit Harry Grant's Schiffe verließ ich Glasgow am 12. März 1861. Vierzehn Monate lang haben wir zusammen das Stille Weltmeer befahren und suchten eine geeignete Oertlichkeit auf, um [685] eine schottische Colonie zu gründen. Harry Grant ist ein zu Großem erschaffener Mann, aber oft erhoben sich zwischen uns schwere Zwistigkeiten. Sein Charakter mißfiel mir. Ich ziehe nicht leicht Segel ein; Harry Grant gegenüber ist aber, wenn er seinen Entschluß einmal gefaßt hat, jeder Widerstand unnütz. Gegen sich und Andere ist er ein Mann von Eisen. Trotzdem wagte ich mich zu empören. Ich suchte die Besatzung mit zu verführen und mich des Schiffes zu bemächtigen. Ob ich recht that oder nicht, kommt hier nicht in Frage. Wie dem auch sei, Harry Grant zögerte nicht, mich am 8. April 1862 auf der Westküste Australiens auszusetzen.

– Australiens! unterbrach der Major den Bericht, Sie haben die Britannia also vor der Landung am Callao, woher die letzten Nachrichten stammen, verlassen?

– Ja, antwortete der Quartiermeister, denn die Britannia ist niemals, so lange ich an Bord war, beim Callao vor Anker gegangen. Und wenn ich Ihnen in der Farm Paddy O'Moore's vom Callao sprach, so hatte ich das erst aus Ihren Erzählungen gehört.

– Fahren Sie fort, Ayrton.

– Ich befand mich also verlassen auf einer fast wüsten Insel, aber nur zwanzig Meilen entfernt von den Strafcolonien in Perth, der Hauptstadt des westlichen Australien. Beim Umherstreifen am Ufer traf ich auf eine Bande entsprungener Sträflinge, der ich mich anschloß. Sie werden mir erlassen, Mylord, von meinem Leben während der folgenden zweiundeinhalb Jahre zu berichten. Es genüge Ihnen zu wissen, daß ich unter dem Namen Ben Joyce das Haupt jener Deportirten wurde. Im Monat September 1864 erschien ich auf der irländischen Farm, und wurde daselbst unter meinem wahren Namen Ayrton in Dienst genommen. Dort erwartete ich nur die Gelegenheit, mich eines Schiffes zu bemächtigen. Das war mein letztes Ziel. Zwei Monate später kam der Duncan an. Während Ihrer Anwesenheit auf der Farm haben Sie, Mylord, die ganze Geschichte des Kapitän Grant erzählt. Ich hörte da, was ich noch nicht wußte, wie z.B. die Landung der Britannia am Callao; die letzten Nachrichten über sie vom Juni 1862, d.h. zwei Monate nach meiner Ausschiffung; die Geschichte von dem Documente; den Untergang des Schiffes auf einem Punkte des siebenunddreißigsten Breitengrades und endlich die wichtigen Gründe, welche Sie hatten, Harry Grant quer durch den australischen Continent zu suchen. Mein Entschluß war gefaßt; [686] ich wollte mir den Duncan zueignen, ein herrliches Fahrzeug, das die schnellsten Schiffe der britischen Marine ausstechen mußte. Erst war es aber nöthig, seine Havarien auszubessern. Ich ließ ihn also nach Melbourne abziehen und gab mich Ihnen als Quartiermeister zu erkennen mit dem Angebot, Sie durch Australien nach dem von mir fingirten Schauplatz des Schiffbruches an der Ostküste desselben zu führen. So leitete ich Sie, bald vor, bald hinter meiner Bande her, durch die Provinz Victoria. An der Camdenbrücke begingen meine Leute jenes höchst zwecklose Verbrechen, da doch der Duncan, wenn er nur an jene Küste kam, uns ja nicht entgehen konnte, und mit dieser Yacht wäre ich der Herr des Meeres gewesen. So führte ich Sie, ohne Argwohn Ihrerseits, bis zum Snowyflusse. Durch Gastrolobium vergiftet fielen nach und nach die Pferde und die Ochsen. Ich fuhr den Wagen in den Sümpfen jener Gegend absichtlich fest. Auf meine Bitten ... doch das Uebrige wissen Sie, Mylord, und können sicher sein, daß ich ohne Herrn Paganel's Zerstreutheit jetzt auf dem Duncan befehligte. Das ist meine Geschichte, meine Herren, die Sie leider nicht auf Harry Grant's Fährte zu bringen vermag, und Sie sehen, daß Sie bei dem Vergleiche mit mir ein schlechtes Geschäft gemacht haben.«

Der Quartiermeister schwieg, kreuzte nach seiner Gewohnheit die Arme und wartete. Auch Glenarvan und seine Freunde beobachteten Stillschweigen. Sie fühlten es heraus, daß dieser sonderbare Verbrecher wohl die volle Wahrheit gesagt habe. An dem Raube des Duncan war er nur durch Umstände, die nicht von ihm abhingen, gehindert worden. Seine Gefährten waren nach der Twofold-Bai gekommen, wie es der von Glenarvan aufgefundene Verbrecherkittel bewies. Dort hatten sie nach den Befehlen ihres Führers auf die Yacht gelauert und endlich, des Wartens müde, wieder ihr Geschäft als Räuber und Brandstifter in den Ländereien von Neu-Süd-Wales ergriffen.

Der Major begann zuerst zu fragen, um die die Britannia betreffenden Zeitangaben festzustellen.

»Es war also, wandte er sich an den Quartiermeister, am 8. April 1862, als Sie an der Westküste Australiens ausgeschifft wurden?

– An eben diesem Tage, antwortete Ayrton.

– Und wissen Sie, was Harry Grant damals vorhatte?

– Nur unbestimmt.


Ich bin wirklich Tom Ayrton. (S. 685.)

– Sprechen Sie nur, Ayrton, sagte Glenarvan, auch das kleinste Anzeichen könnte uns auf den richtigen Weg führen.

[687]

– Was ich sagen kann, entgegnete der Quartiermeister, ist etwa Folgendes: Der Kapitän Grant hatte die Absicht, Neu-Seeland zu besuchen. Dieser Theil seines Programms kam während meiner Anwesenheit an Bord nicht zur Ausführung. Dennoch wäre es nicht unmöglich, daß die Britannia, als sie den Callao verließ, jenes Inselreich angelaufen wäre. Das würde auch [688] mit dem Datum des 27. Juni 1862, den das Document angiebt, annähernd übereinstimmen.

– Offenbar, sagte Paganel, stimmt das.

– Doch deutet, wandte Glenarvan ein, in den Wortresten des Documentes Nichts auf Neu-Seeland.

– Darauf weiß ich nicht zu antworten, sagte der Quartiermeister.

– Nun gut, Ayrton, schloß Glenarvan, Sie haben Ihr Wort gehalten, ich werde es auch thun. Wir wollen uns überlegen, auf welcher Insel des Pacifischen Oceans Sie ausgesetzt werden sollen.

– O, das ist mir ziemlich gleichgiltig, Mylord.

– Gehen Sie jetzt nach Ihrer Cabine zurück und erwarten unsere Entscheidung.«

Unter der Bewachung zweier Matrosen zog sich der Quartiermeister zurück.

»Dieser Bösewicht hätte ein tüchtiger Mann sein können, sagte der Major.

– Ja, antwortete Glenarvan, er ist von starker und intelligenter Natur. Warum haben sich seine Fähigkeiten nach der bösen Seite entwickelt?

– Aber Harry Grant?

– Ich glaube nun wohl, daß er für immer verloren ist. Die armen Kinder, wer wird ihnen sagen können, wo ihr Vater ist?

– Ich! rief Paganel. Ja, ich!«

Man mußte bemerkt haben, daß der plauderlustige, gewöhnlich so ungeduldige Geograph während Ayrton's Verhör kaum ein Wort gesprochen hatte. Er hörte geschlossenen Mundes zu. Dieses letzte Wort von ihm wog aber viele andere auf und veranlaßte Glenarvan, sogleich aufzuspringen.

»Sie? rief er aus, Sie, Paganel, wissen, wo Kapitän Grant ist?

– Ja, wenigstens soweit das möglich ist, erwiderte der Geograph.

– Und woher wissen Sie es?

– Immer aus dem Documente.

– Aha! höhnte der Major im ungläubigsten Tone.

– Hören Sie erst, Mac Nabbs, sagte Paganel, und zucken Sie die Achseln nachher. Ich habe nicht eher gesprochen, weil es doch Niemand geglaubt hätte, und es zudem nutzlos war. Wenn ich es heute thue, so rührt das daher, weil Ayrton's Bericht meine Ansicht sehr wesentlich unterstützt hat.

[689] – Also Neu-Seeland? ... fragte Glenarvan.

– Hören Sie und urtheilen selbst, erwiderte Paganel. Den Irrthum, der uns gerettet hat, beging ich nicht ohne Veranlassung. In dem Augenblicke, da ich den von Glenarvan dictirten Brief schrieb, ging mir das Wort ›Zealand‹ durch den Kopf. Sie erinnern sich, daß wir uns im Wagen befanden. Mac Nabbs hatte Lady Helena eben die Geschichte der Deportirten mitgetheilt; er hatte die Nummer der ›Australian and Zealand Gazette‹ dabei, welche das Unglück an der Camdenbrücke berichtete. Gerade als ich schrieb, lag das Blatt auf dem Boden, aber so gebrochen, daß von seinem Titel nur zwei Sylben sichtbar waren. Diese beiden Sylben waren ›aland‹. Welches Licht ging mir damit auf! Aland war ein Wort des englischen Documentes, ein Wort, welches wir stets als ›an's Land‹ deuteten, und welches doch nur das Ende von ›Zealand‹ war.

– Aha! rief Glenarvan.

– Ja, fuhr Paganel mit voller Ueberzeugung fort, und auf diese Deutung kam ich nicht eher, weil mir das französische Document, welches vollständiger war, als die übrigen, hauptsächlich als Unterlage diente, in diesem aber gerade dieses wichtige Wort fehlt.

– Oho, fiel der Major ein, das ist zu viel Einbildung, Paganel, auch vergessen Sie sehr leicht die früheren Deutungen.

– Fragen Sie, Major, ich werde auf Alles antworten.

– Nun, sagte Mac Nabbs, was wird aus dem Worte ›austra‹?

– Es bleibt bei seiner Bedeutung und bezeichnet nur die ›östlichen‹ Gegenden.

– Gut. Aber die Sylbe ›indi‹, welche einmal der Stamm des Wortes ›Indianer‹, das andere Mal der von ›Indigènes‹ (Eingeborene) sein sollte.

– Richtig. Zum dritten und letzten Male, antwortete Paganel, ist es der Anfang des Wortes ›indigence‹ (Noth).

– Und ›contin!‹ rief Mac Nabbs, bedeutet es noch immer ›Continent‹?

– Nein! Insofern ja Neu-Seeland nur eine Insel ist.

– Nun, dann ...? fragte Glenarvan.

– Mein lieber Lord, antwortete Paganel, ich will Ihnen das Document nach meiner dritten Auslegung französisch zusammenstellen, und Sie mögen dann selbst urtheilen. Zuvor erlauben Sie mir aber zwei Bemerkungen: 1) Vergessen Sie die vorhergehenden Auslegungen soviel als möglich, und [690] befreien Sie sich vollkommen von vorgefaßten Meinungen. 2) Einzelne Stellen mögen Ihnen ›gezwungen‹ erscheinen, und es ist möglich, daß ich sie falsch übersetze; aber sie sind nur unwichtig, wie das Wort ›agonie‹, welches mich quält und das ich doch nicht anders erklären kann. Uebrigens dient mir das französische Document als Unterlage, welches von einem Engländer geschrieben ist, dem die Feinheiten der Sprache nicht so geläufig sein konnten. Dieses vorausgeschickt beginne ich.«

Paganel las mit besonderer Betonung der betreffenden Sylben folgende Sätze, welche wir hier in deutscher Sprache wiedergeben:


»Am 7. Juni 1862 scheiterte der Dreimaster Britannia aus Glasgow nach langem Kämpfen in den östlichen Meeren an der Küste von Neu-Seeland – englisch Zealand. – Zwei Matrosenund der Kapitän Grant vermochten sie zu erreichen. Sie haben, fortwährend eine Beute der grausamen Noth, dieses Document ausgeworfen unter ...° Länge und 37°11' Grad Breite. Kommt ihnen zu Hilfe, sonst sind sie verloren.«


Paganel schwieg. Seine Deutung war annehmbar. Da sie aber ebenso wahrscheinlich war, als die vorigen, konnte sie auch ebenso falsch sein. Glenarvan und der Major besprachen sie also nicht weiter. Da sich aber weder an der Küste von Patagonien, noch an der von Australien, da wo sie der siebenunddreißigste Breitengrad durchschnitt, Spuren von der Britannia gefunden hatten, so bot Neu-Seeland offenbar Aussichten auf Erfolg.

Diese Bemerkung Paganel's machte seine Freunde aufmerksam.

»Nun aber, Paganel, sagte Glenarvan, warum haben Sie diese Auslegung des Documentes gegen zwei Monate geheim gehalten?

– Weil ich in Ihnen keine leeren Hoffnungen erwecken mochte. Uebrigens gingen wir ja nach Auckland, also genau nach dem bezeichneten Punkte der Breite.

– Als wir aber gezwungen waren, von dieser Linie abzuweichen, warum gingen Sie dann nicht mit der Sprache heraus?

– Weil diese Deutung, und wenn sie noch so richtig wäre, zur Rettung des Kapitäns doch nichts beitragen konnte.

– Und warum das?

– Weil anzunehmen ist, daß Kapitän Grant, wenn er bei Neu-Seeland [691] scheiterte und nach zwei Jahren noch nicht wieder auftauchte, dem Schiffbruche oder den Neu-Seeländern zum Opfer gefallen ist.

– Also ist Ihre Meinung ...? fragte Glenarvan.

– Daß man wohl einzelne Spuren von dem Schiffbruche auffinden könne, aber daß die Schiffbrüchigen der Britannia selbst unwiderruflich verloren sind.

– Schweigen wir für jetzt, meine Freunde, und lassen Sie mich den geeigneten Augenblick wählen, um den Kindern des Kapitän Grant diese Trauerkunde mitzutheilen.«

20. Capitel
Zwanzigstes Capitel.
Ein Schrei in der Nacht.

Die Mannschaft ward bald inne, daß die Aussagen Ayrton's den Schleier über Kapitän Grant's Aufenthalt auch noch nicht gelüstet hatten. An Bord verbreitete sich eine tiefe Entmuthigung, denn auf den Quartiermeister hatte man noch seine Hoffnung gesetzt, und dieser wußte selbst Nichts, was den Duncan hätte auf die Fährte der Britannia bringen können.

Die Richtung der Yacht wurde also einfach beibehalten. Es galt nun blos noch, die Insel auszuwählen, auf welcher Ayrton ausgesetzt werden sollte.

Paganel und John Mangles zogen die Seekarten zu Rathe. Genau auf dem siebenunddreißigsten Breitengrade befand sich noch ein isolirtes, unter dem Namen Maria-Theresia-Insel bekanntes Eiland, ein im Stillen Ocean verlorener Felsen, der 3500 Meilen von der amerikanischen Küste und 1500 von Neu-Seeland entfernt war. Das nächste nördlich gelegene Land bildet den unter französischem Protectorate stehenden Pomotu-Archipel. Südlich trifft man von dort bis zu dem ewigen Eise des Südpolarmeeres Nichts an. Kein Fahrzeug näherte sich diesem verlassenen Stückchen Erde. Kein Echo der bewohnten Erde drang bis hierher. Nur die Sturmvögel ruhten dort auf ihren weiten Zügen aus, und viele Karten verzeichneten diese von[692] den Wogen des Pacifischen Oceans gepeitschten Felsmassen gar nicht einmal.

Konnte man irgendwo von einem vereinsamten Punkte sprechen, so war es auf dieser außerhalb der Straßen des Menschenverkehrs hingeworfenen Insel. Man theilte Ayrton deren Lage mit. Dieser ging darauf ein, dort fern von Seinesgleichen zu wohnen, und so steuerte die Yacht denn auf Maria-Theresia zu. Eine durch die Axe des Duncan gelegte gerade Linie hätte jetzt die Insel und die Bai Talcahuano getroffen.

Zwei Tage später, Nachmittags um zwei Uhr, meldete der Ausluger ein Land am Horizonte. Das war Maria-Theresia, welches niedrig, langgestreckt, kaum über die Wellen aufragend, fast einem riesigen Wallfische gleich erschien. Dreißig Meilen trennten das Land noch von der Yacht, deren Vordersteven die Fluthen mit der Schnelligkeit von sechzehn Knoten die Stunde durchschnitt.

Nach und nach zeichnete sich das Profil des Eilandes deutlicher am Horizonte ab. Die im Westen versinkende Sonne erleuchtete deutlich seinen sonderbaren Umriß. Da und dort stiegen einzelne niedrige Gipfel auf, die von den Strahlen der Himmelskönigin vergoldet wurden.

Um fünf Uhr glaubte John Mangles, einen leichten aufsteigenden Rauch zu erkennen.

»Ist dort ein Vulkan? fragte er Paganel, der das neue Land durch sein Fernrohr beobachtete.

– Ich weiß darüber Nichts, erwiderte der Geograph. Maria-Theresia ist sehr wenig bekannt. Doch wäre es nicht zu verwundern, wenn der Ursprung der Insel von der unterseeischen Bodenerhebung herrührte, diese also vulkanischer Natur wäre.

– Wenn sie aber eine solche Erhebung erzeugte, bemerkte Glenarvan, ist dann nicht zu befürchten, daß sie durch eine Senkung wieder verschwindet?

– Das ist doch unwahrscheinlich, antwortete Paganel. Kenntniß ihrer Existenz hat man schon seit mehreren Jahrhunderten, was doch eine gewisse Garantie bietet. Als die Insel Julia aus dem Mittelmeere auftauchte, blieb sie nicht lange über seiner Oberfläche, sondern verschwand schon wenige Monate nachher wieder unter den Wassern.

– Nun gut, sagte Glenarvan. Wird es wohl möglich sein, John, dieselbe vor Einbruch der Nacht anzulaufen?

[693] – Nein, Ew. Herrlichkeit. Ich darf den Duncan im Dämmerungsdunkel an einer mir unbekannten Küste keiner Gefahr aussetzen. Ich werde mit schwacher Spannung nahe der Küste laufen, und morgen mit Tagesanbruch senden wir ein Boot an's Land.«

Um acht Uhr Abends erschien Maria-Theresia trotz der geringen Entfernung von fünf Meilen, nur wie ein langer, kaum sichtbarer Schatten. Noch immer näherte sich ihr der Duncan.

Um neun Uhr leuchtete ein gut sichtbarer Schein in der Dunkelheit auf. Er war unbeweglich und anhaltend.

»Da ist die Bestätigung eines Vulkans, sagte Paganel nach aufmerksamer Beobachtung.

– In dieser kurzen Entfernung, warf Glenarvan ein, müßten wir indeß das Getöse hören, welches jede Eruption begleitet, und doch trägt der Ostwind nicht das geringste Geräusch an unser Ohr.

– Wirklich, meinte Paganel, dieser Vulkan leuchtet nur, aber spricht nicht. Man möchte fast sagen, daß er Unterbrechungen zeigt, wie ein Leuchtthurm mit Blickfeuer.

– Sie haben Recht, antwortete John Mangles, und doch sind wir wohl nicht seiner beleuchteten Seite gegenüber. Ah, rief er da plötzlich, ein zweites Feuer! Diesmal an der Küste! Sehen Sie dort, es bewegt sich, es wechselt den Ort.«

John täuschte sich nicht. Ein neues Feuer wurde sichtbar, das bald zu verlöschen, bald aufzuleuchten schien.

»Die Insel ist demnach bewohnt? sagte Glenarvan.

– Unzweifelhaft von Wilden, antwortete Paganel.

– Dann können wir den Quartiermeister aber dort nicht aussetzen.

– Nein, bemerkte der Major, das wäre selbst für Wilde ein zu schlechtes Geschenk.

– So suchen wir eine andere unbewohnte Insel auf, sagte Glenarvan, welche dem Zartgefühl unseres Mac Nabbs allseitig entspricht. Ich habe Ayrton die Erhaltung des Lebens zugesagt und will mein Versprechen halten.

– Auf jeden Fall rathe ich zur Vorsicht, fügte Paganel hinzu. Die Seeländer haben die nichtswürdige Gewohnheit, die Schiffe durch bewegliche Feuer zu täuschen, wie vordem die Bewohner von Cornwallis, und die Eingeborenen auf Maria-Theresia könnten dieses Manoeuvre kennen.

[694] – Geh' ein Viertel unter den Wind, rief John Mangles dem Steuermann zu. Morgen mit Sonnenaufgang wissen wir, woran wir sind.«

Um elf Uhr zogen sich die Passagiere und der Kapitän des Duncan in ihre Cabinen zurück. Am Vordertheil des Decks ging die Schiffswache auf und ab, am Hintertheil war der Mann am Steuer noch allein an seinem Posten.

Da betraten Mary Grant und Robert noch einmal das Oberdeck.

Die beiden Kinder des Kapitäns blickten, auf den Oberbalken gelehnt, traurig über das phosphorescirende und in der Fahrtspur des Duncan aufleuchtende Meer. Mary überdachte Roberts Zukunft, wie dieser die seiner Schwester. Beide dachten an ihren Vater. War er überhaupt noch am Leben, dieser angebetete Vater? Mußte man ihn verloren geben? Doch nein, was wäre ihr Leben ohne ihn? Was sollte aus ihnen werden? Was wäre ohne Lord Glenarvan und Lady Helena schon aus ihnen geworden?

Der durch das Unglück gereifte Knabe errieth die Gedanken seiner Schwester. Er nahm Mary's Hand.

»Mary, sagte er, man darf niemals verzweifeln. Erinnere Dich der Lehre unseres Vaters: ›Der Muth wiegt hienieden Alles auf!‹ Also laß auch uns diesen Muth bewahren, der ihn über Alles obsiegen ließ. Bis jetzt, mein Schwesterchen, hast Du für mich gearbeitet; nun wird die Reihe an mir sein.

– Du guter Robert! erwiderte das junge Mädchen.

– Eins muß ich Dir nun mittheilen, fuhr Robert fort, Du wirst doch nicht darüber böse werden?

– Warum sollte ich das, mein Junge?

– Und wirst mich gewähren lassen?

– Was in aller Welt hast Du? fragte beunruhigt das junge Mädchen.

– Meine liebe Schwester! Ich will Seemann werden ...

– Und mich verlassen! rief Mary, und faßte ihres Bruders Hände fester.

– Ja, Schwester! Ich will Seemann sein, wie mein Vater, Seemann, wie Kapitän John! Mary, meine liebste Mary, Kapitän John hat noch nicht alle Hoffnung verloren. Du hast, wie ich, Vertrauen zu seiner Ergebenheit. Er wird aus mir, das hat er versprochen, einen tüchtigen, einen großen Seemann machen, und bis dahin suche ich mit ihm zusammen unseren Vater.


Die beiden Kinder betrachteten das Meer. (S. 695.)

Sprich, daß Du es willst, Schwester. Was unser Vater für uns gethan [695] hätte, das ist auch unsere, mindestens meine Pflicht, für ihn zu thun. Mein Leben hat damit einen Zweck, dem es völlig gewidmet ist, zu suchen, den zu suchen, der Keinen von uns jemals verlassen hätte! Liebe Mary, wie war er so gut, unser armer Vater!


Ein Mann erschien an der Küste. (S. 702.)

– Und so edel, so wohlwollend! setzte Mary dazu. Weißt Du, Robert, daß er schon ein Glanzstern unseres Vaterlandes war und daß er jetzt zu seinen großen Männern gezählt würde, wenn ihn das Schicksal nicht auf bestem Wege ereilte!

[696] – Ob ich das weiß!« sagte Robert.

Mary Grant preßte den Bruder an's Herz. Der Knabe fühlte, daß Thränen auf seine Stirn tropften.

»Mary! Mary! rief er, o, sie haben gut reden und gut schweigen, unsere Freunde; ich hoffe noch und werde immer hoffen. Ein Mann wie mein Vater geht vor Erreichung seines Zieles nicht zu Grunde!«

Mary Grant konnte nicht antworten. Ihre Seufzer erstickten die Stimme. Tausend Gefühle durchwogten ihre Seele bei dem Gedanken, daß neue [697] Versuche, Harry Grant aufzufinden, unternommen werden sollten, und daß des jungen Kapitäns Ergebenheit wirklich ohne Grenzen sei.

»Herr John hofft also noch? fragte sie.

– Ja, antwortete Robert. Er ist ein Bruder, der uns nie verlassen wird. Ich werde Seemann werden, nicht wahr, Schwester, Seemann, um mit ihm meinen Vater aufzusuchen. Du willst es gewiß?

– Ach, ob ich es will! antwortete Mary. Aber uns trennen! setzte sie heimlicher hinzu.

– Du wirst nicht allein sein, Mary; das weiß ich. Mein Freund John hat es mir gesagt. Madame Helena wird nicht zugeben, daß Du sie verläßt. Du bist ein Weib; Du kannst, Du mußt Wohlthaten annehmen. Sie abzuschlagen wäre undankbar. Ein Mann aber, der Vater hat es mir hundertmal gesagt, ein Mann muß seines Glückes Schmied sein!

– Was wird aber aus unserem an Erinnerungen so reichen Hause in Dundee?

– Das erhalten wir uns, Schwesterchen. Alles das ist durch unseren Freund John und auch durch Lord Glenarvan wohl vorgesehen. Dieser wird Dich wie eine Tochter auf seinem Schlosse behalten. Der Lord hat es meinem Freunde John und dieser es wieder mir mitgetheilt. Dort wirst Du ganz zu Hause sein, wirst von unserem Vater sprechen können und die Zeit erwarten, bis wir ihn eines Tages zurückbringen. O, das wird ein herrlicher Tag sein! rief Robert, dessen Antlitz von Enthusiasmus strahlte.

– Mein Bruder! Mein Kind! antwortete Mary, wie glücklich wäre unser Vater, könnte er Dich hören. Wie gleichst Du ihm, Robert, diesem herzlich geliebten Vater. Wenn Du groß bist, wirst Du ganz sein Ebenbild sein!

– Gott hört Deine Worte, Mary, sagte Robert, der vor frommem kindlichen Stolze erröthete.

– Doch wie sollen wir das Lord und Lady Glenarvan je vergelten? nahm Mary wieder das Wort.

– O, das ist nicht zu schwer! rief Robert in leichter Jugendhoffnung. Man liebt sie, verehrt sie, sagt es ihnen, umarmt sie, und geht, wenn es sein muß, für sie in den Tod.

– Lebe lieber für sie! rief das junge Mädchen, das die Stirn des Bruders mit Küssen bedeckte, – das wird ihnen noch lieber sein, und mir auch.«

[698] Die Kinder des Kapitäns versanken in unbestimmte Träumereien und schauten schweigend in die unergründliche Finsterniß der Nacht hinaus. In Gedanken aber plauderten sie, fragten sich und gaben Antwort. Das ruhige Meer bewegte sich in langen Wellen, und leuchtend wirbelte das Kielwasser hinter der Schraube.

Da trat ein sonderbares und scheinbar übernatürliches Ereigniß ein. Bruder und Schwester hatten, wie durch magnetische Einwirkung auf Beider Seele, ganz gleichzeitig ein und dieselbe Sinnestäuschung.

Aus der Mitte dieser abwechselnd dunkeln und leuchtenden Wellen glaubten Robert und Mary eine Stimme in ihr Ohr schallen zu hören, deren tiefer und klagender Ton alle Fasern ihres Herzens erzittern machte.

»Zu Hilfe! Hierher! rief diese Stimme.

– Mary, rief Robert, hast Du es gehört? Du mußt es gehört haben.«

Sie streckten sich über den Oberbalken hinweg und forschten Beide übergeneigt in dem Dunkel der Nacht.

Doch Nichts sahen sie, als den Schatten, der sich endlos vor ihnen ausdehnte.

»Robert, sagte Mary, welche völlig erbleicht war, ich glaubte ... ja, ich glaubte ebenso, wie Du ... Doch wir fiebern Beide, Robert!«

Da hörten sie einen erneuten Zuruf, bei dem ihre Illusion eine derartige war, daß sie wie aus einem Munde: »Mein Vater! Mein Vater!« ausriefen.

Das war für Mary Grant zu viel. Von ihrer Erregung übermannt sank sie ohnmächtig in Roberts Arme.

»Zu Hilfe! schrie Robert. Meine Schwester! Mein Vater! Zu Hilfe!«

Der Mann vom Steuer lief herbei, das junge Mädchen aufzuheben. Die wachthabenden Matrosen sprangen hinzu, und dann John Mangles, Lady Helena und Glenarvan, welche schnell wieder aufgestanden waren.

»Meine Schwester stirbt und mein Vater ist dort!« rief Robert und zeigte auf das Wasser hinaus.

Niemand verstand seine Worte.

»Ja wohl, wiederholte er, dort ist mein Vater; ich habe seine Stimme gehört und Mary auch.«

Eben kam auch Mary Grant wieder zu sich und rief verwirrt, fast irrsinnig, aus:

»Mein Vater! Dort ist mein Vater!«

[699] Das unglückliche junge Mädchen erhob sich, beugte sich über den Oberbalken und wollte sich in's Meer stürzen.

»Mylord! Madame Helena! wiederholte sie händeringend, ich sage Ihnen, daß mein Vater dort ist. Ich versichere Ihnen, daß ich seine Stimme aus den Wellen herausgehört habe, wie eine Klage, wie ein letztes Lebewohl!«

Auf's Neue verfiel das arme Kind in Zuckungen und Krämpfe. Man mußte sie in ihre Cabine zurückbringen, und Lady Helena folgte, um ihr ihre Pflege angedeihen zu lassen, während Robert immer wiederholte:

»Mein Vater! Mein Vater ist dort! Ich weiß es sicher, Mylord!«

Die Zeugen dieses schmerzlichen Auftrittes begannen einzusehen, daß die beiden Kinder des Kapitäns von einer Hallucination betroffen gewesen waren. Aber wie sollte man ihre so furchtbar erregte Einbildung wieder beruhigen?

Glenarvan versuchte es. Er ergriff Robert's Hand und sagte:

»Du hast Deines Vaters Stimme gehört, liebes Kind?

– Ja, Mylord, dort mitten im Wasser. Er rief: ›Zu Hilfe! Hierher!‹

– Und Du hast diese Stimme auch wieder erkannt?

– Ich habe seine Stimme erkannt; ja, Mylord, ich schwöre es Ihnen! Meine Schwester hat sie gehört; sie erkannte sie auch! Können Sie glauben, daß wir uns Beide geirrt hätten? Mylord! Eilen wir meinem Vater zu Hilfe! Ein Boot! Ein Boot!«

Glenarvan sah wohl ein, daß er das arme Kind nicht entnüchtern könne. Trotzdem machte er einen letzten Versuch und rief den Mann vom Steuer heran.

»Hawkins, fragte er ihn, Sie waren am Steuerrade, als Miß Mary von dem sonderbaren Zufall betroffen wurde?

– Ja, Ew. Herrlichkeit, antwortete Hawkins.

– Und Sie haben Nichts gesehen oder gehört?

– Nichts!

– Da hörst Du es, Robert.

– Wenn es Hawkins' Vater gewesen wäre, antwortete der Knabe mit unbezwungener Zuversicht, so würde Hawkins nicht behaupten, daß er Nichts gehört habe. Es war doch mein Vater, Mylord! Mein Vater! Mein Vater ...!«

Robert's Stimme erstickte das Schluchzen. Jetzt verlor auch er, bleich und verstummend, das Bewußtsein.

[700] Glenarvan ließ Robert zu Bett bringen, wo das erregte Kind in eine tiefe Betäubung verfiel.

»Arme Waisen! sagte John Mangles. Gott prüft sie recht hart!

– Ja, erwiderte Glenarvan, das Uebermaß des Schmerzes hat bei Beiden zugleich die nämliche Sinnestäuschung erregt.

– Bei Beiden! murmelte da Paganel. Das ist sonderbar. Die strenge Wissenschaft würde das bezweifeln.«

Dann neigte er sich nach dem Meere hinaus und horchte gespannt, nachdem er Allen bedeutet hatte, zu schweigen.

Rings war tiefe Stille. Paganel rief mit starker Stimme; Nichts antwortete ihm.

»Sonderbar bleibt es! wiederholte der Geograph, als er wieder nach seiner Cabine ging. Die innigste Uebereinstimmung der Gedanken und des Schmerzes genügt noch nicht, diese Erscheinung zu erklären.«

Am anderen Tage, den 8. März, fünf Uhr Früh, waren die Passagiere, Mary und Robert, die nicht zurückzuhalten waren, unter ihnen, schon mit der Morgenröthe auf dem Verdeck versammelt. Jeder wollte das Tags vorher kaum sichtbare Land näher in's Auge fassen.

Hastig überliefen die Fernrohre die hervorragendsten Punkte der Insel. In einer Meile Entfernung fuhr die Yacht neben ihren Ufern hin. Das Auge vermochte die geringsten Einzelheiten zu unterscheiden.

Plötzlich stieß Robert einen Schrei aus. Der Knabe behauptete, zwei Menschen zu sehen, welche Zeichen gebend auf und ab liefen, während ein Dritter eine Flagge schwenkte.

»Die Flagge Altenglands! rief John Mangles, der auch sein Glas ergriffen hatte.

– Wahrhaftig! sagte Paganel, sich zu Robert wendend.

– Mylord, sagte dieser vor Aufregung zitternd, wenn Sie nicht wollen, daß ich nach der Insel schwimme, so lassen Sie ein Boot in's Meer hinab. Ach, Mylord, ich bitte Sie auf den Knieen, der Erste sein zu dürfen, der seinen Fuß an's Land setzt!«

An Bord sprach Keiner ein Wort. Wie? Auf dieser vom siebenunddreißigsten Meridian durchschnittenen Insel waren drei Menschen, Schiffbrüchige und Engländer! Jeder kam auf das Ereigniß von letzter Nacht zurück und dachte an die von Robert und Mary gehörte Stimme! ...

[701] Vielleicht hatten die jungen Leute sich doch nur in einer Richtung getäuscht: eine Stimme hatten sie vielleicht vernommen, aber konnte das die Stimme ihres Vaters sein? Nein, ach, tausendmal nein! Und Jeder, der an die grausame Enttäuschung, die ihrer harrte, dachte, zitterte davor, daß diese Nachricht wohl über ihre Kräfte gehen werde. Aber wie sollte man sie zurückhalten? Lord Glenarvan fühlte nicht den Muth dazu.

»Zum Boote!« befahl er.

Binnen einer Minute war das Boot niedergelassen. Die beiden Kinder des Kapitäns, Glenarvan, John Mangles und Paganel drängten sich hinein und schnell stieß es unter dem Ruderschlage sechs kräftiger Matrosen ab.

Zehn Klafter vom Ufer entrang sich Mary ein herzzerreißender Schrei.

»Mein Vater!«

An der Küste stand ein Mann zwischen zwei anderen. Seine große und kräftige Gestalt, seine sanften und doch kühnen Züge zeigten die deutliche Mischung von denen Mary's und Robert's Grant. Das war der Mann, den seine Kinder so oft beklagt hatten. Ihr Herz hatte sich nicht getäuscht. Das war ihr Vater, das war der Kapitän Grant!

Der Kapitän vernahm Mary's Aufschrei, breitete noch die Arme aus und sank, wie vom Blitze getroffen, auf den Ufersand nieder.

21. Capitel
Einundzwanzigstes Capitel.
Die Insel Tabor.

Vor Freude stirbt man nicht, auch der Vater und seine Kinder kamen, noch bevor man auf der Yacht anlangte, wieder zu sich. Aber wie läßt sich diese Scene mit Worten schildern? Allen auf dem Schiffe preßte es Thränen in die Augen, als sie diese drei Wesen in langer, stummer Umarmung sahen.

Als Harry Grant das Deck betrat, sank er in die Kniee. Der fromme Schottländer wollte, als er dasselbe, für ihn den Boden des Vaterlandes, berührte, zunächst dem Höchsten für seine Errettung danken.

[702] Dann wandte er sich an Lady Helena, Lord Glenarvan und deren Begleiter, um auch ihnen mit vor Erregung zitternder Stimme seinen Dank darzubringen. Seine Kinder hatten ihm während der kurzen Ueberfahrt von der Insel bis zur Yacht die Geschichte des Duncan mit wenigen Worten mitgetheilt.

Welche unendliche Verpflichtung schuldete er dieser edelmüthigen Dame und ihren Begleitern! Hatten nicht Alle, von Lord Glenarvan bis zu dem letzten Matrosen, für ihn gekämpft und gelitten? Harry Grant gab den Gefühlen, die sein Herz überfüllten, einen so einfach rührenden und edlen Ausdruck, sein männliches Antlitz flammte in so reiner und warmer Erregung auf, daß sich die ganze Schiffsgesellschaft vollkommen, ja noch über die erlittene Unbill hinaus, belohnt fühlte. Sogar der sonst unerregbare Major hatte die Augen feucht von Thränen, welche er nicht zu unterdrücken vermochte. Der brave Paganel weinte wie ein Kind, das seine Thränen noch nicht zu verheimlichen sucht.

Harry Grant konnte sich an seiner Tochter nicht satt sehen. Er fand sie schön, reizend! Er sagte es ihr immer und immer wieder und rief Lady Helena als Zeugin auf, um sicher zu sein, daß ihn seine Vaterliebe nicht verblende. Dann wandte er sich zu seinem Sohne:

»O, wie er gewachsen, wie er ein Mann geworden ist!« rief er ganz entzückt.

Und so, als hätten sie sich in der zweijährigen Abwesenheit in seinem Herzen aufgehäuft, verschwendete er tausend Küsse an diese geliebten Wesen.

Nach und nach stellte ihm Robert alle seine Freunde vor, und that das geschickt in immer wechselnder Art und Weise, obwohl er von Jedem fast dasselbe zu sagen hatte, nämlich, daß in den Augen der beiden Waisen Jeder in seiner Art vollkommen erschien. Als die Reihe der Vorstellung an John Mangles kam, erröthete dieser, wie ein junges Mädchen, und vermochte Mary's Vater nur mit zitternder Stimme zu antworten.

Lady Helena berichtete dann näher über die zurückgelegte Reise und machte Kapitän Grant auf seinen Sohn und seine Tochter völlig stolz.


»Dieses Eiland ist ein Paradies.« (S. 706.)

Harry Grant vernahm die Thaten des jungen Helden, und wie dieser Knabe schon einen Theil der väterlichen Schuld an Lord Glenarvan wett gemacht habe. Dann sprach John Mangles seinerseits in solchen Ausdrücken von Mary, daß Harry Grant, der durch einige Worte Helena's schon von [703] der Sachlage unterrichtet war, das Händchen seiner Tochter in die tapfere Hand des jungen Kapitäns legte. Dann, zu Lord und Lady Glenarvan gewendet, sagte er:


Der Quartiermeister bei der Abfahrt des Duncan. (S. 715.)

»Mylord, und Sie, Madame, segnen wir unsere Kinder!«

Als nun Alles zum hundertsten und tausendsten Male durchsprochen war, unterrichtete Glenarvan Harry Grant bezüglich Ayrton's. Grant bestätigte die Angaben seines Quartiermeisters betreffs dessen Ausschiffung an der australischen Küste.

[704] »Es ist ein intelligenter und kühner Mensch, sagte er, den unselige Leidenschaften zum Bösen verführt haben. Möchten Ueberlegung und Reue ihn doch besseren Gefühlen wieder zuführen.«

Bevor Ayrton aber auf die Insel Tabor versetzt wurde, wollte Harry Grant die neuen Freunde auch auf seinem Felseneilande empfangen. Er lud sie demnach ein, sein hölzernes Häuschen zu besuchen, und sich an dem Tische des oceanischen Robinson niederzulassen.

Mit Freuden gingen Glenarvan und seine Gäste darauf ein. Robert und [705] Mary Grant brannten vor Verlangen, die einsamen Orte zu sehen, an denen ihr Vater so manche Thräne vergossen hatte. Es wurde also ein Boot ausgerüstet, und der Kapitän nebst seinen zwei Kindern, Lord und Lady Glenarvan, der Major, John Mangles und Paganel landeten bald an der Insel.

Einige Stunden waren hinreichend, Harry Grant's Herrschaft zu durchwandern. Diese bestand in der That nur aus dem Gipfel eines unterseeischen Berges, einer Fläche mit vielen Basaltfelsen und vulkanischen Trümmern. In der Vorzeit war dieser Berg nach und nach durch unterirdische Feuer aus der Tiefe des Pacifischen Oceans emporgeschoben worden. Seit Jahrhunderten aber war der Vulkan schon zum friedlichen Berge geworden, und sein ausgefüllter Krater zur Insel. Dann mag die Humusbildung begonnen haben. Das Pflanzenreich eroberte sich den jungen Boden; etliche vorüberfahrende Wallfischjäger setzten einige Hausthiere, wie Schweine und Ziegen, an das Land. Jene vermehrten sich in wildem Zustande, und so war denn die Natur in allen ihren drei Reichen auf dieser Insel mitten im Stillen Ocean vertreten.

Als die Schiffbrüchigen von der Britannia dort eine Zuflucht gefunden hatten, griff die Hand des Menschen ordnend in das Schaffen der Natur ein. In zweiundeinhalb Jahren hatte Harry Grant mit seinen beiden Matrosen die Insel umgewandelt. Mehrere sorgfältig bearbeitete Landstrecken brachten z.B. vorzügliches Gemüse hervor.

Die Besucher gelangten zu dem von grünen Gummibäumen beschatteten Hause; vor seinen Fenstern dehnte sich das herrliche Meer, das im Sonnenschein glitzerte, aus. Harry Grant ließ seinen Tisch unter dem Baumschatten aufstellen, und Alle nahmen daran Platz. Ein Zickelkeule, ein Nardoubrod, einige Schlucke Milch, zwei bis drei wilde Wegwartwurzeln und klares, erfrischendes Wasser bildeten die Bestandtheile dieser einfachen und der Schäfer Arkadiens würdigen Mahlzeit.

Paganel war ganz entzückt. Seine alten Robinson-Ideen stiegen ihm zu Kopfe.

»Der Ayrton, dieser Schurke, wird gar nicht zu beklagen sein, rief er voller Enthusiasmus. Dieses Inselchen ist ja ein reines Paradies.

– Ja wohl, antwortete Harry Grant, das Paradies für drei hilflose Schiffbrüchige, denen der Himmel dort eine Zuflucht gewährte. Ich für meinen Theil bedauere aber, daß Maria-Theresia nicht eine große und [706] fruchtbare Insel ist und statt eines ordentlichen Hafens nur eine dem Wellenschlage des offenen Meeres ausgesetzte Bucht besitzt.

– Und warum das, Kapitän? fragte Glenarvan.

– Weil ich sonst hier die schottische Colonie begründet hätte, welche ich meinem Vaterlande im Stillen Oceane bescheeren möchte.

– Ah, Kapitän Grant, sagte Glenarvan, Sie haben also den Gedanken, der Sie in der Heimat so allbekannt und beliebt machte, noch immer nicht aufgegeben?

– Nein, Mylord, und Gott hat mich durch Ihre Hand sicher nur gerettet, um jenen noch auszuführen. Unsere armen Brüder im alten Caledonien und Alle, welche leiden, müssen eine Zuflucht aus dem Elend auf einem neuen Stück Erde finden! Unser theures Vaterland muß in diesen Meeren eine Colonie haben, die nur ihm angehört, und wo es wenigstens einen Theil der Unabhängigkeit und des Glückes genießt, das ihm in Europa fehlt.

– O, das ist schön gesprochen, Kapitän Grant, fiel Lady Helena ein. Es ist ein edles und eines großen Herzens würdiges Vorhaben! Doch diese kleine Insel ...

– Nein, Madame, diese ist nur ein Felsen, der wohl im Stande ist, einige wenige Ansiedler zu ernähren. Wir bedürfen dagegen eines ausgedehnten Landes, das die jungfräulichen Schätze des Bodens noch bewahrt.

– Nun wohl, Kapitän, rief Glenarvan, die Zukunft ist unser, und jenes neue Land suchen wir zusammen.«

Die Hände Harry Grant's und Glenarvan's fanden sich gegenseitig, wie um dieses Versprechen zu bekräftigen.

Jedermann lag nun daran, noch auf dieser Insel, in diesem niederen Hause die Geschichte der Schiffbrüchigen von der Britannia während ihrer zweijährigen Verlassenheit zu hören.

Harry Grant kam den Wünschen seiner neuen Freunde ungesäumt nach.

»Meine Geschichte begann er, ist die aller auf ein same Eilande verschlagenen Robinsons, welche, da sie nur auf Gott und sich selbst angewiesen sind, sich den Fortbestand ihres Lebens erkämpfen müssen.

In der Nacht vom 26. zum 27. Juni 1862 war es, als die schon sechs volle Tage vom Sturme gepackte Britannia an den Felsen von Maria-Theresia zerschellte. Das Meer war furchtbar wild; eine Rettung unmöglich, und meine ganze Mannschaft fand den Tod. Nur meine zwei Matrosen, Bob [707] Learce, Joe Bell und ich, wir konnten die Küste nach vielen fruchtlosen Versuchen erreichen.

Das Land, welches uns aufnahm, war nur eine wüste Insel von fünf Meilen Länge und zwei Meilen Breite, mit einigen dreißig Bäumen im Innern, etwas Wiese und einer Süßwasserquelle, welche zum Glück nie versiegte. Ich verzweifelte, allein mit meinen beiden Matrosen, auch in diesem Winkel der Erde niemals. Ich setzte mein Vertrauen auf Gott und war bereit, mannhaft zu kämpfen. Bob und Joe, meine braven Unglücksgefährten, ja, meine Freunde nenne ich sie, unterstützten mich dabei nach Kräften.

Wir singen, wie unser Vorbild, der nur erdachte Robinson Daniel de Foë's, damit an, Trümmer vom Schiffe, Werkzeuge, etwas Pulver, Waffen und einen Sack Getreide einzuheimsen. Die ersten Tage hatten ihre Noth, doch bald lieferten uns Jagd und Fischfang hinreichende Nahrung, denn wilde Ziegen gab es genug auf der Insel, und das Ufer wimmelte von Fischen. Nach und nach gewann unser Leben eine feste Form.

Durch meine geretteten Instrumente war mir die Lage der Insel genau bekannt. Wir ersahen, daß wir uns ganz außerhalb der gewöhnlichen Schiffscourse befanden und nur durch einen glücklichen Zufall erlöst werden könnten. Immer mit den Gedanken bei denen, die ich über Alles liebte und doch kaum wiederzusehen hoffen durfte, unterwarf ich mich muthig dieser Prüfung und schloß den Namen meiner Kinder in mein tägliches Gebet ein.

Indessen arbeiteten wir unverdrossen. Bald waren einige Acker Land mit den Sämereien von der Britannia her bestellt. Erdäpfel, Wegwart und Sauerampfer bildeten unsere tägliche Nahrung; späterhin auch andere Gemüse. Wir singen uns einige Ziegen ein, welche bald zahm wurden, und hatten nun Milch und Butter. Der Nardon, welcher in ausgetrockneten Creeks wuchs, lieferte uns eine Art recht nahrhaften Brodes, und bezüglich der nöthigsten Leibesbedürfnisse hatten wir bald alle Sorgen hinter uns.

Aus den Ueberresten der Britannia hatten wir dieses Bretterhaus gezimmert, das, mit sorgfältig getheerter Segelleinwand überdeckt, während der Regenzeit einen vollkommen ausreichenden Schutz gewährte. Dort wurde mancher Plan, auch manches Traumbild, besprochen, von denen der beste nun in Erfüllung gegangen ist.

Zuerst hatte ich nämlich die Idee, aus den Planken der Britannia ein [708] Boot zimmern zu lassen und mit diesem mich auf's Meer zu wagen. Aber 1500 Meilen trennten uns vom nächsten Lande, dem Pomotu-Archipel, und kein Boot hätte eine so lange Seereise ausgehalten. Ich gab also diesen Ausweg auf und vertraute allein der Hilfe des Höchsten.

Ach, meine armen Kinder! Wie unzählige Male haben wir hier vom Gipfel eines Uferfelsens aus auf Schiffe gelauert! Zwei- oder dreimal wurde ein Segel weit am Horizonte bemerkt, aber nur, um es sofort wieder verschwinden zu sehen. Zwei und ein halb Jahr schwanden so dahin. Wir hofften kaum mehr, aber wir verzweifelten auch nicht.

Gestern endlich bemerkte ich vom höchsten Punkte der Insel aus einen leichten Rauch im Westen. Er nahm zu. Bald zeigte sich ein Fahrzeug meinen Blicken. Es schien sich uns zu nähern. Aber wenn es nun doch dem Eilande auswich, das ihm ja keinen Landungsplatz bot!

O, welche Stunden der Angst und wie hämmerte das Herz in meiner Brust! Meine Gefährten zündeten auf einer Bergspitze ein Feuer an. Die Nacht kam, aber von der Yacht lehrte uns kein Zeichen, daß wir bemerkt worden seien. Jetzt war die Rettung uns so nahe! Sollte sie uns etwa noch nicht werden?

Ich zögerte nicht mehr. Es wurde schon dunkler. Das Schiff konnte während der Nacht an der Insel vorbei sein. Ich sprang in's Meer und schwamm in der Richtung auf jenes zu. Die Hoffnung verdreifachte meine Kräfte, ich theilte die Wellen mit übermenschlicher Kraft. Bis auf dreißig Klafter war ich der Yacht nahe, da legte sie sich vor den Wind!

Nun stieß ich jene verzweifelten Schreie aus, welche meine Kinder allein gehört haben, und die also keine Täuschung waren.

Erschöpft erreichte ich das Ufer wieder, von Aufregung und Anstrengung niedergeschlagen, wo meine Matrosen mich halbtodt aufnahmen. O, es war eine schreckliche Nacht, jene letzte auf dieser Insel, und wir glaubten uns schon für immer verlassen, als ich bei Tagesanbruch die Yacht wieder bemerkte, welche unter schwachem Dampfe an den Ufern kreuzte. Da wurde Euer Boot in's Meer gelassen ... wir waren gerettet, und, o Uebermaß der himmlischen Güte, meine Kinder, meine geliebten Kinder selbst waren da, die mich in ihre Arme schlossen!«

Unter Mary's und Robert's Küssen und Umarmungen schloß Harry Grant seinen Bericht. Er hörte bei dieser Gelegenheit, daß er seine Rettung dem [709] nahezu zur Hieroglyphe gewordenen Documente danke, das er acht Tage nach dem Schiffbruche einer Flasche und in dieser den Launen der Wellen anvertraut hatte.

Was dachte aber Paganel bei obigem Berichte des Kapitäns Grant? Tausendmal ließ sich der gelehrte Geograph die Worte des Documentes durch den Kopf gehen. Er ließ seine drei Auslegungen, welche nun doch alle falsch waren, geistig die Revue passiren. Wie konnte nur auf die Insel Maria-Theresia in den vom Meere wiedergegebenen Papieren hingedeutet sein?

Paganel blieb unklar und sagte, Kapitän Grant's Hand fassend:

»Kapitän, würden Sie mir nun wohl den Inhalt Ihres unentzifferbaren Documentes mittheilen?«

Dieser Wunsch des Geographen rief die allgemeinste Neugier wach, denn die Lösung des Räthsels, der man seit neun Monaten nachsann, sollte gegeben werden.

»Zunächst, Kapitän, fragte Paganel weiter, entsinnen Sie sich noch genau der Worte Ihres Documentes?

– Vollkommen, erwiderte Dieser, denn es verging kein Tag, an welchem ich mich nicht dieser Worte erinnerte, an denen noch unsere einzige Hoffnung hing.

– Und wie heißen sie, Kapitän? fragte Glenarvan; sprechen Sie, denn unsere Eigenliebe wird davon lebhaft berührt.

– Ich bin gern dazu bereit, antwortete Harry Grant, aber es ist Ihnen bekannt, daß ich zur Vermehrung unserer Aussichten auf Rettung in die Flasche drei in verschiedenen Sprachen abgefaßte Documente geschlossen habe. Welches wünschen Sie zu kennen?

– Sind sie denn nicht gleichlautend, rief Paganel aus.

– Gewiß, bis auf ein einziges Wort.

– Nun wohl, so theilen Sie uns das französische Schriftstück mit, sagte Glenarvan, es ist vom Wasser am meisten verschont geblieben und hat uns vorzüglich als Unterlage gedient.

– Mylord, es lautet Wort für Wort:

›Am 27. Juni 1862 scheiterte der Dreimaster Britannia von Glasgow, in der südlichen Hemisphäre, fünfzehnhundert Meilen von der Küste Patagoniens. An's Land geworfen, retteten sich zwei Matrosen und Kapitän Grant an die Insel Tabor‹ ...

[710] – Was?! rief Paganel.

›Sie haben, fortwährend eine Beute der grausamen Noth, dieses Document unter 153° der Länge und 37°11' der Breite ausgeworfen. Kommt ihnen zu Hilfe, sonst sind sie verloren.‹«

Bei Erwähnung des Namens Tabor hatte Paganel sich bestürzt erhoben und rief dann:

»Aber Insel Tabor! Das ist doch die Insel Maria-Theresia?

– Ohne Zweifel, Herr Paganel, erwiderte Harry Grant, Maria-Theresia heißt sie auf den deutschen und englischen Karten, aber Tabor auf den französischen!«

In diesem Augenblick fiel eine Hand wuchtig auf die Schulter Paganel's, der dabei fast zusammenbrach. Der Schlag rührte von dem Major her, der jetzt zum ersten Mal aus der Rolle seiner gewohnten Convenienz fiel.

»Geograph!« sagte Dieser im Tone der höchsten Verwunderung.

Aber Paganel hatte die Hand des Majors kaum gefühlt. Was bedeutete diese gegen den geographischen Faustschlag, der ihn getroffen hatte!

Er hatte sich zwar, wie er Kapitän Grant mittheilte, der Wahrheit immer mehr und mehr genähert und das Document fast vollständig entziffert. Nach und nach waren die Namen Patagonien, Australien, Neu-Seeland ihm mit unbestreitbarer Gewißheit vor Augen getreten. Contin ... war zuerst Continent, dann aber nach und nach zur richtigen Bedeutung von continuelle (fortwährend ...). Indi ... war nach und nach mit Indiens (Indianer), indigènes (Eingeborene) und endlich indigence (Entbehrung), in seinem richtigen Sinne, übersetzt worden. Nur die abgerissenen Sylben abor ... hatten den Scharfsinn des Geographen getäuscht. Paganel nahm sie hartnäckig für den Stamm des Zeitworts aborder (anlanden), während sie einem Eigennamen angehörten, der speciell französischen Bezeichnung der Insel Tabor, der Insel, welche den Schiffbrüchigen der Britannia zur Zuflucht diente! Es war ein schwer zu vermeidender Irrthum gewesen, da die Schiffskarten des Duncan der Insel den Namen Maria-Theresia beilegten.


Rückkehr nach Malcolm-Castle. (S. 716.)

– »Aber das thut Nichts, rief Paganel, sich die Haare raufend, ich durfte diese doppelte Benennung nie vergessen! Das bleibt ein unverzeihlicher Fehler, ein des Secretärs der Geographischen Gesellschaft unwürdiger Irrthum!

– Aber, Herr Paganel, mahnte Lady Helena, mäßigen Sie Ihren Schmerz.

– Nein, Madame, nein! Ich bin doch nur – ein Esel!


Vierzehn Tage später gab es eine Hochzeit. (S. 718.)

[711] – Und nicht einmal ein gelehrter!« antwortete der Major, als wenn er trösten wollte.

Die Mahlzeit war beendet. Harry Grant ordnete Alles in seinem Hause. Er nahm Nichts mit; der Schurke sollte die Schätze des Ehrenmannes erben.

Man kehrte an Bord zurück. Glenarvan wollte noch denselben Tag abfahren, und gab Befehl zur Aussetzung des Quartiermeisters. Ayrton wurde auf das Oberdeck geführt und sah sich Harry Grant gegenüber.

»Ich bin es, Ayrton, sagte Grant.

[712] Ja, Sie sind es, Kapitän, antwortete Ayrton ohne jedes Zeichen von Verwunderung. Es freut mich, Sie so gesund wiederzusehen.

– Es scheint, Ayrton, daß ich einen Fehler begangen hatte, Euch auf ein bewohntes Land auszusetzen.

– Es scheint so, Kapitän.

– Ihr werdet auf diesem Eiland nun an meine Stelle treten, gebe der Himmel, daß Ihr bereuen lernt.

– Amen!« setzte Ayrton mit ruhiger Stimme hinzu.

[713] Dann wandte sich Glenarvan an den Quartiermeister und sagte:

»Sie verharren bei dem Beschlusse, zurückgelassen zu werden, Ayrton?

– Ja, Mylord.

– Und die Insel Tabor ist Ihnen recht?

– Vollkommen.

– Nun, so vernehmen Sie meine letzten Worte, Ayrton. Hier werden Sie von jedem Lande entfernt und außer aller Verbindung mit Menschen sein, Wunder ereignen sich nur selten, und wenn der Duncan abgesegelt ist, werden Sie diese Insel nicht mehr verlassen können. Sie werden allein sein, nur unter den Augen Gottes, der auch in den Falten der Herzen liest, aber Sie werden nicht verloren oder Ihr Aufenthalt unbekannt sein, wie es mit Kapitän Grant der Fall war. So unwerth Sie des Andenkens der Menschen sein mögen, so werden doch Einige sich Ihrer erinnern. Ayrton, ich weiß, wo Sie sind, wo Sie aufzufinden sind – ich werde das nie vergessen.

– Gott erhalte Ew. Herrlichkeit!« antwortete einfach Ayrton.

Das waren die letzten zwischen Glenarvan und dem Quartiermeister gewechselten Worte. Das Boot lag bereit. Ayrton stieg hinab.

John Mangles hatte vorher einige Kisten mit conservirten Nahrungsmitteln, Kleidungsstücke, Werkzeuge, Waffen und einen Vorrath an Pulver und Blei nach der Insel schaffen lassen. Der Quartiermeister konnte sich also durch Arbeit wieder zum Menschen machen; Nichts fehlte ihm; nicht einmal Bücher, und unter diesen war die Bibel, welche dem Herzen jedes Engländers so theuer ist.

Die Stunde der Trennung hatte geschlagen. Mannschaften und Passagiere befanden sich auf dem Verdeck. Mancher hatte doch ein peinliches Gefühl im Herzen, und Lady Helena, sowie Mary Grant, konnten ihre Bewegung nicht unterdrücken.

»Es muß also sein? fragte die junge Frau ihren Gatten, der Unselige muß zurückgelassen werden?

– Es muß sein, Helena, antwortete Lord Glenarvan, das ist die versöhnende Buße!«

In diesem Augenblicke stieß das von John Mangles befehligte Canot ab. Ayrton stand, immer unbeweglich, darin aufrecht, lüftete seinen Hut und grüßte mit Würde.

Glenarvan entblößte das Haupt, mit ihm die ganze Mannschaft, wie man [714] es angesichts eines Menschen thut, welcher zum Tode geht, und bei tiefer Stille schoß das Boot dahin.

Als es an's Land stieß, sprang Ayrton auf den Sand, und jenes kehrte an Bord zurück. Es war nun um vier Uhr Nachmittags, und vom Oberdeck aus konnten die Passagiere den Quartiermeister mit gekreuzten Armen, unbeweglich gleich einer Statue, stehen sehen, wie er nach dem Schiffe schaute.

»Wir segeln ab, Mylord? fragte John Mangles.

– Ja, John, antwortete schnell Glenarvan, der aufgeregter war, als er scheinen wollte.

– Dampf geben!« rief John dem Maschinenmeister zu.

Prasselnd pfiff der Dampf wieder in die Rohre, die Schraube wühlte die Wellen auf, und um acht Uhr verschwanden die letzten Gipfel der Insel Tabor in der Dunkelheit der Nacht.

22. Capitel
Zweiundzwanzigstes Capitel.
Paganel's letzte Zerstreutheit.

Elf Tage nach der Abfahrt von der Insel, am 18. März, kam dem Duncan die Küste Amerikas in Sicht, und am folgenden Tage ankerte er in der Bai von Talcahuano.

Nach fünf Monaten gelangte er damit an diese Stelle zurück, während welcher er unter strenger Einhaltung des siebenunddreißigsten Breitengrades eine Reise um die Erde vollendet hatte. Die Theilnehmer dieser merkwürdigen Expedition, welche in den Annalen des Traveller-Club nicht ihres Gleichen fand, hatten Chile, die Pampas, die Argentinische Republik, den Atlantischen Ocean, die Insel Tristan d'Acunha, das Indische Meer, die Insel Amsterdam, Australien, Neu-Seeland, die Insel Tabor und den Stillen Ocean durchzogen. Ihre Mühen waren nicht vergeblich gewesen, sie brachten die Schiffbrüchigen von der Britannia in ihr Vaterland zurück.

Kein Einziger dieser wackeren Schotten, welche auf den Ruf ihres Lords [715] mit ausgezogen waren, fehlte beim Appell. – Alle kehrten sie nach dem alten Schottland heim, und erinnerte dieser Zug an die »Schlacht ohne Thränen« aus der alten Geschichte.

Nachdem der Duncan sich wieder frisch verproviantirt hatte, dampfte er längs der Küsten Patagoniens hinab, um das Cap Horn herum und quer durch den Atlantischen Ocean.

Die Reise verlief ganz ohne Unfall, die Yacht barg eine Ladung von Glück. An Bord gab es kein Geheimniß mehr, nicht einmal die Gefühle John Mangles' für Mary Grant.

Und dennoch – Eines. Ein dunkler Punkt ließ Mac Nabbs nicht zur Ruhe kommen. Warum hielt sich Paganel immer bis oben zugeknöpft und mit einem Shawl umhüllt, der bis an die Ohren reichte? Der Major brannte darauf, den Grund dieser sonderbaren Manie zu erfahren. Aber leider war Paganel trotz aller Fragen, Anspielungen und Verdächtigungen seitens Mac Nabbs' nicht zum Aufknöpfen zu bringen, nicht einmal als der Duncan die Linie passirte und auf dem Deck eine Hitze von fünfzig Graden lagerte.

»Er ist so zerstreut, daß er in St. Petersburg zu sein glaubt«, sagte der Major, als er den Geographen in einen weiten Reiseüberzieher eingehüllt sah, als ob das Quecksilber im Thermometer zu Eis würde.

Am 9. Mai endlich, dreiundfünfzig Tage nach der Abfahrt von Talcahuano, sah Glenarvan die Leuchtfeuer des Cap Clear aufblitzen. Die Yacht lief in den St. Georges-Canal ein, durchschnitt das Irische Meer, und am 10. Mai erreichte sie den Golf von Clyde. Um elf Uhr ankerte sie vor Dumbarton. Um zwei Uhr Nachmittags zogen die Passagiere, unter dem Hurrah der Hochländer, in Malcolm-Castle ein.

Das wäre also gesagt, daß Harry Grant und seine beiden Gefährten gerettet wurden; daß John Mangles Mary Grant in der alten Kathedrale St. Mungo ehelichen sollte, wo der Rev. Paxton, der neun Monate vorher für die Rettung des Vaters gebetet hatte, die Ehe zwischen dessen Tochter und seinem Retter einsegnete. Es ist auch schon mitgetheilt, daß Robert Seemann werden sollte, wie sein Vater und John Mangles, und daß er vereint mit ihnen, unter der hohen Protection Lord Glenarvan's, das große Ziel seines Vaters mit erreichen helfen wollte.

Ist aber auch schon gesagt, daß Paganel einst nicht unbeweibt sterben sollte?

[716] Nach seinen Heldenthaten konnte der gelehrte Geograph sich dem Berühmtwerden nicht entziehen. Seine Zerstreutheiten machten in der ganzen schottischen Gesellschaft Aufsehen. Man riß sich um ihn, und kaum konnte er den Ehrenbezeigungen Genüge leisten, welche man ihm darbrachte.

Da begab es sich, daß eine liebenswürdige Dreißigerin, niemand Geringeres, als eine Cousine des Major Mac Nabbs, welche selbst etwas excentrisch, aber gut und reizend war, von den Eigenheiten des Geographen eingenommen, diesem ihre Hand antrug. Es war auch eine Million darin; doch das berührte man nicht.

Paganel war weit entfernt, für die Zärtlichkeit Miß Arabella's gefühllos zu sein; doch sprach er sich nicht frei aus.

Da legte sich der Major zwischen diesen beiden Herzen, die für einander geschaffen schienen, in's Mittel.

»Gefällt Ihnen denn Miß Arabella nicht? fragte er unablässig Paganel.

– O, Major, sie ist reizend! rief Paganel, viel zu reizend, und ich muß Ihnen gestehen, daß sie mir, wenn sie das weniger wäre, vielleicht noch mehr gefiele. – Ich wünschte ihr einen Fehler.

– Darüber seien Sie ruhig, sie hat mehr als einen. Auch das vollkommenste Weib hat immer ein Bündelchen. Also, Paganel, – abgemacht?

– Ich wage es nicht.

– Aber, edler Freund, was zaudern Sie?

– Ich bin der Miß Arabella nicht würdig!« erwiderte unabänderlich der Geograph.

Darüber ging er nicht hinaus.

Endlich, als er wieder einmal von dem unverbesserlichen Major in's Gebet genommen worden war, gestand er ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit Etwas, das sein Signalement sehr bequem machen mußte, wenn er jemals mit der Polizei zu thun bekam.

»Bah! sagte der Major darauf.

– Es ist, wie ich Ihnen sage, wiederholte Paganel.

– Und was thut das? werther Freund?

– Sie glaubten ...

– Im Gegentheil, nun sind Sie erst recht etwas Apartes, was zu Ihren persönlichen Verdiensten noch hinzutritt. Das macht aus Ihnen den von Miß Arabella geträumten Mann ohne Gleichen!«

[717] Der Major, der einen unabänderlichen Ernst bewahrte, versetzte Paganel in die peinlichste Unruhe.

Zwischen Mac Nabbs und Miß Arabella fand eine kurze Unterredung statt.

Vierzehn Tage später wurde in der Capelle von Malcolm-Castle mit großem Pompe eine Hochzeit gefeiert. Paganel strahlte, war aber hermetisch zugeknöpft; Arabella war eine glänzende Erscheinung.

Das Geheimniß des Geographen würde immer vergraben geblieben sein, hätte der Major nicht mit Glenarvan davon gesprochen, der es Lady Helena nicht vorenthielt, welche es Mistreß Mangles mittheilte – kurz, es kam auch Mistreß Olbinett zu Ohren und damit an den Tag.

Jacques Paganel war während seiner dreitägigen Gefangenschaft bei den Maoris – tättowirt worden, aber tättowirt vom Kopf bis zu den Füßen, und trug auf der Brust das heraldische Bild eines Kiwi mit ausgebreiteten Flügeln, der nach seinem Herzen hackte.

Das war das einzige Abenteuer von Paganel's großer Reise, über das er sich niemals zufrieden gab und das er Neu-Seeland nie verzieh; das war es auch, was ihn trotz wiederholter Gesuche und trotz seines eigenen Bedauerns abhielt, nach Frankreich zurückzukehren. Er fürchtete in seiner Person die ganze Geographische Gesellschaft dem Spotte der Carricaturenzeichner und der kleinen Witzblätter auszusetzen, wenn er als frisch tättowirter Secretär wiederkehrte.

Die Rückkehr des Kapitäns nach Schottland wurde als Ereigniß begrüßt, und Harry Grant der populärste Mann des alten Caledoniens. Sein Sohn Robert bildete sich zum Seemann aus, wie er, wie der Kapitän John, und unter den Auspicien des Lord Glenarvan hat er das Project wieder aufgenommen, im Stillen Weltmeere eine Schotten-Colonie zu gründen.

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TextGrid Repository (2012). Verne, Jules. Romane. Die Kinder des Kapitän Grant. Die Kinder des Kapitän Grant. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-759F-F