Jules Verne
Der grüne Strahl


1. Capitel

[5] Erstes Capitel.
Bruder Sam und Bruder Sib.

»Bet! – Beth! – Beß! – Betsey! – Betty!«

So lauteten die Namen, welche unmittelbar hinter einander aus dem prächtigen Salon der Helenenburg ertönten – eine merkwürdige Gewohnheit des Bruders Sam und des Bruders Sib, die Verwalterin ihres Landgutes herbeizurufen.

[5] In diesem Augenblicke verhallten aber jene familiären Abkürzungen des Namens Elisabeth ebenso wirkungslos, als wenn die Trägerin desselben mit ihrem vollen Namen gerufen worden wäre.

Dagegen erschien der Intendant Patridge, die schottische Mütze in der Hand, in der Salonthür.

Patridge richtete seine Worte an zwei freundlich aussehende Männer, welche in der Nische des großen Fensters saßen, das mit drei buntglasigen Scheiben ein Stück über die Hausfaçade vorsprang.

»Die Herren haben nach Frau Beß gerufen, sagte er; Frau Beß befindet sich aber nicht im Hause.

– Wo ist sie denn, Patridge?

– Sie begleitet Miß Campbell, welche im Parke lustwandelt.«

Auf ein von beiden Männern gegebenes Zeichen zog sich Patridge würdevoll zurück.

Jene waren die Brüder Sam und Sib – oder nach eigentlichen Taufnamen Samuel und Sebastian – die Oheime der Miß Campbell. Schotten vom alten Schlage, Schotten aus einem antiken Clan der Hochlande, zählten sie zusammen hundertzwanzig Jahre, bei einem Altersunterschiede von nur fünfzehn Monaten zwischen dem älteren Sam und dem jüngeren Sib.

Um mit wenigen Zügen diese Musterbilder von Ehrenhaftigkeit, Wohlwollen und Aufopferungsfähigkeit zu skizziren, genügt wohl die Bemerkung, daß deren ganzes Leben einzig und allein ihrer Nichte geweiht gewesen war. Sie waren die Brüder der Mutter derselben, welche, schon nach einjähriger Ehe verwitwet, durch eine hitzige Krankheit frühzeitig dahingerafft wurde. Sam und Sib Melvill blieben also als natürliche Beschützer der kleinen Waise zurück. Uebereinstimmend in gleicher Zärtlichkeit, lebten, dachten und träumten sie nur für sie.

Um ihretwillen waren sie, ohne es eben zu bedauern, unverheiratet geblieben, zwei gutmüthige Naturen, welche hienieden keine andere Rolle als die eines Beschützers zu spielen haben. Ist es nicht schon genug gesagt, wenn wir von ihnen verrathen, daß der Aeltere gleichsam Vaterstelle, der Jüngere hingegen mehr Mutterstelle bei dem Kinde vertrat? So kam es zuweilen vor, daß Miß Campbell sie dementsprechend mit einem: »Guten Tag, Papa Sam! – Nun, wie geht's, Mama Sib?« begrüßte.

Wem hätte man sie passender vergleichen können, diese beiden Onkels, als, abgesehen von geschäftlicher Erfahrung und Findigkeit, jenen zwei so guten, so [6] übereinstimmenden und einander zärtlich zugethanen, hochherzigen Kaufleuten, den Gebrüdern Cheeryble aus der City von London, den beiden vollkommensten Geschöpfen, welche je der Phantasie Boz Dickens' entsprungen sind. Es wäre unmöglich gewesen, einen treffenderen Vergleich zu finden, und wenn man den Verfasser beschuldigen könnte, deren Typus dem bedeutendsten Werke Nicolas Nickleby's entlehnt zu haben, so würde Niemand dieses Plagiat zu bedauern haben.

Sam und Sib Melvill, durch ihrer Schwester Verheiratung verwandt mit einem Seitenzweige der alten Familie Campbell, hatten einander niemals verlassen. Die gleiche Erziehung hatte sie auch moralisch gleichmäßig gestaltet. Sie hatten zusammen den gleichen Unterricht in der nämlichen Schule und ein und derselben Classe genossen. Da sie stets über Alles denselben Gedanken zutage förderten und die gleichen Ausdrücke dafür zu gebrauchen pflegten, so konnte Jeder leicht einen angefangenen Satz des Andern vollenden, wobei den Hauptpunkten auch die nämlichen Gesten erhöhten Nachdruck verliehen. Mit einem Worte, diese beiden Wesen bildeten eigentlich nur ein einziges, obgleich ihre persönliche Erscheinung einige Verschiedenheit darbot. Sam war nämlich etwas größer als Sib, Sib etwas corpulenter als Sam; ihr graues Haar hätten sie aber vertauschen können, ohne den Charakter der grundehrlichen Gesichter zu verändern, denen der ganze Adel der Abkömmlinge des Clans von Melvill aufgeprägt war.

Müssen wir besonders hinzufügen, daß sie bezüglich des Schnittes ihrer einfachen, hinter der Mode des Tages stets etwas zurückbleibenden Kleidung, wie der Wahl der Stoffe aus vorzüglichem englischen Tuche ganz denselben Geschmack verriethen? Nur der eine kleine Unterschied – wer hätte den Grund dazu erklären können? – bestand zwischen ihnen, daß Sam die dunkelblaue, Sib dagegen die kastanienbraune Farbe zu bevorzugen schien.


Wenn der Eine die Tabaksdose hervorholte etc. (S. 10.)

Wer hätte nicht mit diesen ehrenwerthen Gentlemen gern auf vertraulichem Fuße gestanden? Gewohnt, im Leben immer gleichen Schrittes zu gehen, machten sie einst gewiß auch Einer unsern dem Andern Halt, wenn ihnen das Stündlein der ewigen Ruhe schlug. Immerhin konnte man diese beiden letzten Pfeiler der Familie Melvill noch als recht solid bezeichnen. Sie hielten gewiß noch lange Zeit das alte Gebäude ihrer Rasse aufrecht, welche dem 14. Jahrhundert entstammte, der epischen Zeit eines Robert Bruce und eines Wallace, der Heldenepoche, in der Schottland noch mit England um seine Unabhängigkeit rang.

Wenn Sam und Sib auch keine Gelegenheit hatten, für das Wohl des Vaterlandes zu kämpfen, wenn ihr minder bewegtes Leben unter dem Segen friedlicher[7] Ruhe verlief, den ein behäbiges Vermögen verleiht, so darf man ihnen daraus weder einen Vorwurf machen, noch sie für entartet halten wollen. Sie setzten eben in ihrem Bestreben, Gutes zu wirken, die edlen Ueberlieferungen ihrer Vorfahren fort.

Beide kerngesund, ohne daß sie sich den Vorwurf irgend welcher Unregelmäßigkeit der Lebensweise zu machen hatten, schienen bestimmt, hohe Jahre zu erreichen, ohne jemals, weder an Geist noch an Körper, zu altern.


Ein junges Mädchen mit Rosen auf den Wangen wurde sichtbar. (S. 15.)

Vielleicht hatten sie einen Fehler – wer könnte sich rühmen ohne einen solchen zu sein? – sie verbrämten ihre Unterhaltung gerne mit mannigfachen, dem [8] berühmten Burgvogt von Abbotsford entlehnten Bildern und Citaten, und vorzüglich auch mit solchen aus den epischen Dichtungen Ossian's, in welche sie geradezu vernarrt schienen. Doch wer könnte ihnen im Lande Fingal's und Walter Scott's daraus einen Vorwurf machen?

Um ihr Porträt durch die letzte Retouche zu vollenden, müssen wir noch hinzufügen, daß sie starke Schnupfer waren. Jedermann weiß ja wohl auch, daß die Tabakshandlungen im Vereinigten Königreiche meist einen kräftigen, in Nationaltracht prangenden Schotten mit der Dose in der Hand als allgemein verständliches Symbol [9] gebrauchen. Nun, die beiden Brüder Melvill hätten ganz gut dazu gepaßt, als Abzeichen auf den bemalten Zinkschildern zu figuriren, wie man solche an den Schutzdächern über den betreffenden Localen sieht. Sie schnupften eben so viel, wenn nicht gar noch etwas mehr, wie sonst Einer diesseits wie jenseits des Tweed. Dabei besaßen sie merkwürdiger Weise nur eine einzige Tabaksdose, natürlich ein sehr großes Exemplar. Dieses tragbare Stück Möbel wanderte stets abwechselnd in die Tasche des einen und des Andern und bildete damit gewissermaßen noch ein weiteres Band zwischen den Brüdern. Es versteht sich ganz von selbst, daß dieselben zu genau gleicher Zeit, etwa zehnmal in der Stunde, das Bedürfniß empfanden, sich an dem vortrefflichen, aus Frankreich bezogenen Pulver der Herba nicotiana zu erquicken. Wenn der Eine die Tabaksdose aus den Tiefen seines Rockes hervorholte, hatten eben Beide Appetit auf eine gute Prise, und Beide beglückwünschten sich, wenn sie niesten, mit einem: »Gott helfe uns!«

Alles in Allem waren sie zwei richtige erwachsene Kinder, die Brüder Sam und Sib, in Bezug auf alle praktischen Lebensfragen; von industriellen, finanziellen und commerciellen Angelegenheiten verstanden sie absolut nichts, und gaben sich auch gar nicht das Ansehen, davon etwas zu verstehen; politisch zählten sie im Grunde vielleicht zu den Jacobiten, bewahrten ein ererbtes Vorurtheil gegen die Dynastie Hannover und gedachten noch immer des Letzten der Stuarts, ungefähr wie in Frankreich Jemand dem Letzten der Valois pietätvolles Andenken bewahren könnte; in Herzenssachen gar waren sie noch weniger Kenner.

Und doch hatten die Brüder Melvill nur den einen Wunsch, klar zu sehen im Herzen der Miß Campbell, deren geheimste Gedanken zu errathen, diese, wenn nöthig, in bestimmter Richtung zu leiten, sie zu entwickeln, wenn das angezeigt erschien, und endlich sie an einen wackeren Mann ihrer (der Brüder) eigenen Wahl zu verheiraten, der gar nicht verfehlen könnte, das junge Mädchen glücklich zu machen.

Wenn man ihnen glauben durfte – oder vielmehr, wenn man sie reden hörte – schien es, als hätten sie jenen braven Mann schon gefunden, dem jene beneidenswerthe Aufgabe zufallen sollte.

»Helene ist also ausgegangen, Bruder Sib?

– Ja, Bruder Sam; aber es ist schon fünf Uhr und sie muß bald nach der Cottage heimkehren...

– Und wenn sie zurückkommt...

– Denk' ich, Bruder Sam, wird es die geeignete Zeit sein, mit ihr einmal ein recht ernsthaftes Gespräch zu führen.

[10] – Binnen wenigen Wochen, Bruder Sib, vollendet unsere Tochter das achtzehnte Lebensjahr.

– Das Alter der Diana Vernon, Bruder Sam. Ist sie nicht eben so liebreizend, wie die bewundernswerthe Heldin von Rob-Roy?

– Gewiß, Bruder Sib, und bei der Grazie ihres Auftretens...

– Bei der Lebhaftigkeit ihres Geistes...

– Bei der Originalität ihrer Ideen...

– Erinnert sie nicht mehr an Diana Vernon als an Flora Mac Ivor, die große, imponirende Gestalt aus Waverley?«

Die auf ihren Nationaldichter stolzen Brüder Melvill citirten noch mehrere andere Namen weiblicher Hauptcharaktere aus dem »Antiquar«, »Guy Mannering«, dem »Abbé«, dem »Kloster«, dem »schönen Mädchen von Perth«, dem »Kenilworth« u.s.w., aber ihrer Meinung nach mußten Alle der Miß Campbell den Vorrang lassen.

»Sie ist ein junger Rosenstock, Bruder Sib, der etwas schnell aufgeschossen ist, und dem es eine Wohlthat sein wird...

– Ihm eine Stütze, einen Beschützer zu geben, Bruder Sam, und da hab' ich mir sagen lassen, daß der beste Beschützer...

– Natürlich nur ein Ehemann sein kann, Bruder Sib, denn er schlägt in demselben Boden Wurzel...

– Und wächst ganz entsprechend, Bruder Sam, mit dem Rosenstocke, den er schützt.«

Beide Brüder und Oheime Melvill waren gleichmäßig auf diese, dem »Vollkommenen Gärtner« entlehnte Metapher gekommen. Offenbar gewährte ihnen das eine gewisse Befriedigung, denn es erweckte ein ganz gleiches, selbstzufriedenes Lächeln auf ihren gutmüthigen Gesichtern. Bruder Sib öffnete die gemeinsame Tabaksdose und griff säuberlich mit zwei Fingerspitzen hinein; dann wanderte dieselbe in die Hand des Bruders Sam, der sich eine tüchtige Prise zulangte und sie dann gelassen in die Tasche gleiten ließ.

»Also stimmen wir überein, Bruder Sam?

– Wie immer, Bruder Sib!

– Auch bezüglich der Wahl des Beschützers?

– Könnte man überhaupt eine sympathischere und für Helene passendere Persönlichkeit finden als jenen jungen Gelehrten, der uns zu wiederholten Malen so anerkennenswerthe Gefühle kundgegeben...

[11] – Ob ebenso ernsthaft gemeinte?

– Wer sollte daran zweifeln? Wohl unterrichtet und graduirt auf den Universitäten von Oxford und Edinburgh...

– Ein Physiker wie Tyndall...

– Ein Chemiker wie Faraday...

– Der alle Dinge dieser Erde aus dem Fundamente kennt, Bruder Sam...

– Und den man mit keiner Frage in Verlegenheit zu setzen vermöchte, Bruder Sib...

– Der Abkömmling einer hochangesehenen Familie der Grafschaft Fife und daneben Besitzer eines zulänglichen Vermögens...

– Ohne seiner, meiner Empfindung nach, trotz der Aluminiumbrille höchst ansprechenden Persönlichkeit zu erwähnen...!«

Die Augengläser dieses Helden hätten nun freilich in Stahl, in Nickel oder Gold gefaßt sein können, so hätte das seinen Werth in der Anschauung der Brüder Melvill weder vermehrt noch vermindert. Solche optische Hilfsmittel stehen jungen Gelehrten meist recht gut zu Gesicht, da sie deren Physiognomie den Stempel eines gewissen würdigen Ernstes aufdrücken helfen.

Doch würde dieser Graduirte der oben genannten Universitäten, dieser leidenschaftliche Physiker und Chemiker, auch Miß Campbell ebenso angenehm sein? Glich Miß Campbell einigermaßen der Diana Vernon, so weiß Jedermann, daß Diana Vernon für ihren gelehrten Vetter Rasleigh keine andere Empfindung hegte, als die einer dauernden, aufrichtigen Freundschaft, und daß sie diesen am Ende des Buches nicht heiratete. Schön! Das war indeß gar nicht dazu angethan, die Brüder Melvill zu beunruhigen. Sie gingen hier gänzlich mit der Erfahrung alter Junggesellen zu Werke, d. h. sie verstanden von derartigen Dingen gar nichts.

»Sie sind einander schon öfters begegnet, Bruder Sib, und unser junger Freund schien für die Schönheit Helena's nicht unempfänglich zu sein.

– Das glaub' ich gern, Bruder Sam. Wäre dem göttlichen Ossian die Aufgabe zugefallen, ihre Tugenden, ihre Schönheit und Grazie zu preisen, so würde er sie »Moina«, das heißt »Die von der ganzen Welt Geliebte« genannt haben...

– Wenn er, Bruder Sib, für sie nicht auf den Namen »Fiona«, das heißt »Die Schöne ohne Gleichen aus der gaëlischen Zeit«, gekommen wäre.

– Hat er, Bruder Sam, nicht gewissenmaßen vorahnend unsere Helena geschildert, wenn er sagt: »Sie verläßt das schützende Dach, wo sie im Geheimen [12] geseufzt, und erscheint in ihrer vollen Schönheit, wie die Mondscheibe am Rande einer Wolke des Orients...

Und der Glorienschein ihrer Reize umrahmt sie gleich Lichtstrahlen, Bruder Sib, während der sanfte Schall ihrer leichten Schritte wie Musik an das Ohr schlägt!«

Glücklicher Weise sanken die beiden Brüder, ihre Citationen unterbrechend, aus dem etwas nebelumhüllten Himmel der Barden wieder in das Bereich der Wirklichkeit hernieder.

»Jedenfalls, meinte der Eine, wenn Helena unserm jungen Gelehrten gefällt, kann es gar nicht fehlen, daß er auch ihren Beifall findet...

– Und wenn sie ihrerseits, Bruder Sam, ihm noch nicht alle die Aufmerksamkeit erwiesen hat, welche die großen Eigenschaften verdienen, mit denen er von der Hand der Mutter Natur so reichlich ausgestattet ist...

– So kommt das, Bruder Sib, einzig und allein daher, daß wir ihr noch nicht gesagt haben, es sei Zeit für sie, in den Stand der heiligen Ehe zu treten.

– An dem Tage aber, an dem wir ihre Gedanken diesem Ziele zugelenkt haben werden, wird sie, selbst angenommen einen gewissen Widerwillen ihrerseits, nicht gegen den erwählten Gatten, doch gegen die Ehe im Allgemeinen...

– Gar nicht zögern, uns mit einem freudigen »Ja« zu antworten, Bruder Sam...

– Ganz wie der vortreffliche Benedict, Bruder Sib, der, nachdem er sich lange gesträubt...

– Doch bei der Lösung des Knotens in »Viel Lärm um nichts« die Beatrix heiratet.«

In dieser Weise legten sich die beiden Oheime der Miß Campbell die zu erwartenden Dinge zurecht, und der auf ein allgemeines Wohlgefallen hinauslaufende Ausgang ihrer Combination erschien ihnen gleich naturgemäß, wie jener in der Komödie Shakespeare's.

In voller Uebereinstimmung waren sie aufgestanden und sahen einander mit seinem, befriedigtem Lächeln an, rieben sich auch, von derselben Empfindung inspirirt, die Hände. Es war einmal eine abgemachte Sache, diese Heirat. Welche Schwierigkeit hätte sich derselben entgegenstellen können? Der junge Mann hatte schon verblümt um das junge Mädchen angehalten, und diese würde darauf eine Antwort ertheilen, um deren Inhalt sie sich keinerlei Sorge zu machen[13] brauchten. Alle Vorbedingungen schienen ja erfüllt – es konnte sich höchstens noch darum handeln, etwa den Termin der Hochzeit festzusetzen.

Das sollte und mußte eine schöne, erhebende Feier werden, die in Glasgow vor sich gehen sollte; hier aber, um diesen Nebenumstand wenigstens zu erwähnen, nicht in der Kathedrale Saint Mungo, der einzigen Kirche Schottlands, welche, mit Saint Magus auf den Orcaden, im Zeitalter der Reformation unangetastet geblieben war. Nein! Diese war in ihrer Construction zu massig und deshalb etwas zu düster für eine Trauung, welche, nach der Vorstellung der Brüder Melvill, einer vollen Blüthenentfaltung frischer Jugend, einem Strahlenkranze von Liebe gleichen mußte Sie gedachten dazu eher Saint Andrew oder Saint Enoch oder sogar die Kirche Saint George zu wählen, welche sich im vornehmsten Theile der Stadt erhebt.

Bruder Sam und Bruder Sib fuhren fort, ihre Projecte in einer Form zu entwickeln, welche mehr an einen Monolog, denn an einen Dialog erinnerte, weil ihr Gespräch ausnahmslos dieselbe Reihenfolge in ganz gleicher Weise ausgedrückter Ideen zutage förderte. So plaudernd, betrachteten sie durch die rautenförmige Oeffnung des Fensters die schönen Bäume des Parkes, unter denen Miß Campbell eben lustwandelte, die herrlich grünen Rabatten, welche plätschernde Bäche umrahmten, den von einem fast phosphorescirenden seinen Dunste bedeckten Himmel, der den Hochlanden des inneren Schottlands eigenthümlich zu sein scheint.

Sie sahen sich gar nicht an; das wäre unnütz gewesen; von Zeit zu Zeit aber faßten sie sich, wie getrieben durch einen zärtlichen Instinct, am Arme und drückten einander die Hände, als wollten sie durch Schließung einer Art magnetischen Stromes die Ueberleitung ihrer Gedanken gegenseitig erleichtern.

O, das sollte herrlich werden! Alles müßte den Stempel edler Vornehmheit tragen, die armen Leute von der West-George-Street, wenn es dergleichen gab – doch wo fänden sich Arme nicht? – würden natürlich auch nicht vergessen werden bei dem frohen Feste. Wenn Miß Campbell unerwarteter Weise für größere Einfachheit der Ceremonie sein und ihre beiden Oheime in diesem Sinne zu beeinflussen suchen sollte, so würden diese ihr zum ersten Male in ihrem Leben ernstlich Widerpart halten. Weder in diesem Punkte, noch in irgend einem andern gedachten sie sich zu Concessionen herbeizulassen. Unter höchster Feierlichkeit sollten die Gäste beim Hochzeitsmahle nach altem Brauche »aus dem hölzernen Truthahn« trinken. Und der rechte Arm des Bruders Sam streckte sich zur Hälfte gleichzeitig [14] aus, wie der rechte Arm des Bruders Sib, als wenn sie einander schon im Voraus einen jener berühmten schottischen Trinksprüche zuriefen.

Da öffnete sich eben die Thür des Salons. Ein junges Mädchen mit Rosen auf den Wangen, die ein rascherer Gang auf sie gemalt, wurde sichtbar. In der Hand hielt sie ein aufgeschlagenes Journal. Sie trat auf die Brüder Melvill zu und bewillkommnete Jeden mit zwei herzlichen Küssen.

»Guten Tag, Onkel Sam, sagte sie.

– Guten Tag, mein liebes Kind!

– Wie geht es, Onkel Sib?

– Vortrefflich, liebes Kind,

– Helena, nahm Bruder Sam wieder das Wort, wir haben mit Dir ein kleines Arrangement zu besprechen.

– Ein Arrangement? Welches Arrangement? Was habt Ihr heimlich wieder geplant, liebe Onkels? fragte Miß Campbell, deren Augen nicht ohne einen gewissen gutmüthigen Spott von Einem zum Andern wanderten.

– Du kennst einen jungen Mann, Herrn Aristobulos Ursiclos?

– Gewiß kenne ich ihn.

– Mißfällt er Dir?

– Warum sollte er mir mißfallen, Onkel Sam?

– Also gefällt er Dir?

– Warum sollte er mir gefallen, Onkel Sib?

– Nun, nach reiflicher Ueberlegung haben der Bruder und ich geglaubt, ihn Dir als Gatten vorschlagen zu sollen.

– Ich soll mich verheiraten? Ich? rief Miß Campbell, während sie in so herzliches Gelächter ausbrach, wie der Widerhall im Salon wohl noch keines zurückgegeben hatte.

– Du willst Dich also nicht verheiraten? sagte Bruder Sam.

– Wozu sollte das nützen?

– Niemals?... sagte Bruder Sib.

– Niemals, erklärte Miß Campbell, ernsthafte Miene annehmend, welche ihr lächelnder Mund Lügen strafte, wenigstens nicht eher, als bis ich...

– Als bis Du was? riefen Bruder Sam und Bruder Sib einstimmig.

– Nicht eher, als bis ich – den Grünen Strahl gesehen habe.«

[15]

2. Capitel

Zweites Capitel.
Helena Campbell.

Das von den Brüdern Melvill und Miß Campbell bewohnte Landhaus lag eine (englische) Meile von dem freundlichen Städtchen Helensburgh, am Ufer des Gare-Loch, einer jener pittoresken Einbuchtungen, welche sich hier und dort am linken Clyde-Ufer in's Land hineinziehen.

Während des Winters hausten die Brüder Melvill und ihre Nichte in einem alten Hôtel der West-George-Street, im aristokratischen Viertel der Neustadt von Glasgow, unsern des Blythswood-Square. Hier hielten sie sich sechs Monate lang im Jahre auf, wenn sie nicht eine Laune Helena's – der sich die Brüder ohne Widerrede fügten – auf lange Zeit von der Heimat weg, nach den Küstenländern Italiens, Spaniens oder Frankreichs entführte. Während dieser Reisen sahen sie nur noch mit den Augen des jungen Mädchens, gingen dahin, wohin es ihr zu gehen beliebte, verweilten, wo es ihr gefiel zu bleiben, und bewunderten nur, was sie gerade bewunderte. Wenn Miß Campbell dann ihr Album, in welchem sie ihre Bleistiftzeichnungen oder mit der Feder ihre Reiseeindrücke aufbewahrte, geschlossen hatte, begaben sie sich friedlich wieder auf den Rückweg nach dem Vereinigten Königreiche und bezogen, nicht ohne eine gewisse Befriedigung, die behaglich vornehme Wohnung in der West-George-Street.

Schon war der Monat Mai drei Wochen alt, und Bruder Sam und Bruder Sib fühlten ein unstillbares Verlangen, auf's Land überzusiedeln. Das ergriff sie gerade in dem Augenblicke, wo Miß Campbell den nicht weniger lebhaften Wunsch zu erkennen gab, gleichzeitig mit Glasgow dem Geräusche einer großen Industriestadt, dem geschäftlichen Treiben, welches zuweilen bis in das Quartier des Blythswood-Square fluthete, zu entfliehen, endlich einen weniger verräucherten Himmel wieder zu sehen und eine minder mit Kohlensäure überladene Luft zu athmen, als den Himmel und die Luft dieser alten Metropole, deren commercielle Bedeutung die Tabaksgrafen, »Tabacco-Lords«, vor Jahrhunderten begründet haben.

Das ganze Haus, Herren und Dienerschaft, reiste also nach dem, höchstens zwanzig Meilen entfernten Landsitze ab.

[16] Es ist ein hübscher Ort, das Städtchen Helensburgh. Man hat es zu einer Gesundheitsstation gemacht, welche vielfach von denen aufgesucht wird, welche in der glücklichen Lage sind, ihre gewohnten Spaziertouren am Clyde mit einem Ausfluge nach dem, von allen Vergnügungsreisenden hochgeschätzten Lac Katrine oder nach dem Lac Lomond zu vertauschen.


Das Landhaus »Helenenburgh«. (S. 17.)

Eine Meile von diesem kleinen Städtchen entfernt, am Ufer des Gare-Loch hatten die Brüder Melvill den reizendsten Platz ausgewählt, um daselbst ihr Landhaus zu errichten.

[17] Es lag hier versteckt in prächtigen Bäumen, mitten in einem Netze klarer Wasseradern, auf wechselndem Terrain, das sich zur Anlegung eines Parkes ganz vorzüglich eignete. Erquickende schattige Partien, frisch grünender Rasen, verschiedene Baumgruppen, Blumenbeete, Wiesen, auf denen ein ausgezeichnetes Futter für die zur Belustigung gehaltenen Lämmer wuchs, Teiche mit klaren dunklen Wasserflächen, bevölkert von wilden Schwänen, von jenen graziösen Vögeln, über welche Wordsworth gesagt hat: »Der Schwan schwimmt zweimal – Der Schwan und sein Schattenbild!« kurz, was die Natur nur vereinigt bieten kann, um das Auge zu ergötzen, ohne daß des Menschen Hand viel daran zu schaffen hat – so war der Sommersitz der reichbegüterten Familie beschaffen.

Wir dürfen nicht vergessen hinzuzufügen, daß der, über dem Gare-Loch liegende Theil des Parkes eine wirklich entzückende Aussicht bot. Jenseits des beschränkten Golfs zur Rechten wurde der Blick zuerst gefesselt von der Halbinsel Rosenheat, auf der sich eine dem Herzog von Argyle gehörige Villa in italienischem Styl erhob.

Zur Linken begleitete die Häuserreihe des Städtchens Helensburgh die Wellenlinie des Strandes, ragten zwei oder drei Thürme empor, streckte sich der elegante Pier aus, der als Anlageplatz für Dampfboote in den See hinausgebaut ist, und stieg endlich der hügelige Hintergrund, den da und dort verstreute freundliche Besitzungen belebten, terrassenförmig in die Höhe. Geradeaus, am linken Ufer des Clyde, bildeten Port-Glasgow, die Ruinen des Schlosses Newark und Greenock mit seinem buntbewimpelten Mastenwalde ein abwechslungsreiches Panorama, von dem sich das Auge nur ungern trennte.

Diese Aussicht gewann noch an Reiz, wenn man den Hauptthurm des Landhauses erstieg, von wo aus eine weite Strecke bis zum Horizonte zu überschauen war.

Diesen viereckigen Thurm, mit leichten, an drei Ecken seiner Plattform angesetzten Ausbauten, mit seinen Zinnen und Schießscharten, den auch ein Gürtel ausgezahnter Steine umschloß, überragte an der vierten Ecke noch ein achtseitiges Thürmchen. Hier erhob sich die Flaggenstange, welche man in dieser Gegend überhaupt auf dem Dache jedes Hauses ebenso wiederfindet, wie am Hintertheil der Schiffe des Vereinigten Königreichs. Diese Art Donjon von neuem Datum beherrschte also sämmtliche zur eigentlichen »Cottage« gehörenden Baulichkeiten mit ihren unregelmäßigen Dächern, den fast nach Gutdünken angebrachten Fenstern, den vielgestaltigen Giebeln und die Façade unterbrechenden Vorbauten, mit den[18] die Fenster umrahmenden Gesimsen und den am oberen Ende verzierten Schornsteinen, Alles in Allem geschmackvolle Phantasien, welche die angelsächsische Architektur überhaupt liebt.

Hier auf der Plattform des oberen Thurmes, unter der Nationalflagge, welche sich bei der Brise entfaltete, verträumte Miß Campbell gern manche Stunde des Tages. Sie hatte sich da oben ein reizendes Plätzchen zurecht gemacht, wo sie – in der freien Luft wie auf einer Sternwarte – bei jeder Witterung, geschützt vor Wind, Sonnenbrand und Regen, lesen, schreiben und schlummern konnte. Hier mußte man sie meistentheils suchen Befand sie sich nicht hier, so lustwandelte sie ihrer Neigung folgend in den Alleen des Parkes, allein oder in Begleitung der Frau Beß, wenn ihr feuriges Roß sie nicht durch die umliegende Landschaft trug, wobei ihr der getreue Patridge folgte, der sein Pferd tüchtig antreiben mußte, um hinter der jungen Herrin nicht zurückzubleiben.

Aus der zahlreichen Dienerschaft der Cottage müssen wir vorzüglich die beiden genannten Leute hervorheben, welche schon von Jugend auf mit der Familie Campbell gewissermaßen verwachsen waren.

Elisabeth, die »Luckie«, die Mutter – wie man die Hausverwalterin in den Hochlanden Schottlands gern nennt – zählte jener Zeit ebenso viele Jahre, als sie Schlüssel an ihrem gewaltigen Bunde trug, und deren waren nicht weniger als siebenundvierzig. Sie stellte eine wirklich umsichtige, ordentliche, ernste, gesetzte Herrscherin des Hauswesens vor, das hier auch in allem Umfange ihrem Ressort angehörte. Vielleicht meinte sie gar, die beiden Brüder Melvill, obwohl diese älter waren als sie, selbst aufgezogen zu haben; jedenfalls widmete sie wenigstens der Miß Campbell mütterliche Sorgfalt.

Neben dieser schätzenswerthen Intendantin figurirte der Schotte Patridge, ein seinen Herren unter allen Bedingungen ergebener Diener, der noch dem alten Clan treu geblieben war. Unveränderlich bekleidet mit dem nationalen Costüm der Bergschotten, trug er die bunte hohe Mütze, den Schurz aus großgewürfeltem Wollenstoff, der ihm über den kurzen Rock bis zu den Knien herabhing, den Pouch, eine Art Beutel aus langen Fasern, die hohen, durch rautenförmig geflochtene Schnüre gehaltenen Gamaschen und die gebräuchliche Fußbekleidung mit Sandalen aus Rindsleder.

Eine Frau Beß als Wirthschafterin, und einen Patridge als Schutz des Hauses, was konnte es mehr bedürfen, um sich hienieden der Sicherheit häuslicher Ruhe zu erfreuen?

[19] Der Leser wird bemerkt haben, daß Patridge bei Beantwortung der Fragen der Brüder Melvill, als er von dem jungen Mädchen sprach, nur »Miß Campbell« sagte.

Hätte der wackere Schotte sie nämlich »Miß Helena«, also bei ihrem Taufnamen genannt, so würde er sich eines groben Verstoßes gegen die Regeln schuldig gemacht haben, welche die gesellschaftliche Stellung der Personen bezeichnen – eine Verletzung des Anstandes, die man speciell mit dem Wort »Snobismus« zu kennzeichnen pflegt.

In der That trägt die letzte, respective die einzige Tochter einer vornehmen Familie niemals ihren Taufnamen. Wäre Miß Campbell die Tochter eines Pairs gewesen, so würde sie »Lady Helena« genannt worden sein; der Zweig der Campbells aber, zu dem sie gehörte, war nur in Seitenlinie und ziemlich entfernt verwandt mit der directen Linie des Paladin Sir Colin Campbell, dessen Ahnen bis zu den Kreuzzügen zurückreichen. Seit mehreren Jahrhunderten schon hatten sich aus dem gemeinsamen Stamme Zweige getrennt, von der Linie des ruhmreichen Ahnherrn, an welchen die Clans von Argyle, von Breadalbane, von Lochnell und Andere anknüpfen; so entfernt sie diesen auch stand, fühlte Helena doch von ihrem Vater her in ihren Adern ein wenig Blut rollen von dem Blute jener weitberühmten Familie.

Außer eine stammesechte Miß Campbell war sie jedoch auch eine wahre Schottin, eine jener edlen herrlichen Töchter von Thule mit blauen Augen und blonden Haaren, deren von Findon oder Edwards gemaltes Porträt, wenn es unter die Minnas, Brendas, Amy Robsarts, Flora Mac-Ivors, Diana Vernons, die Miß Wardour, Catherine Glovers oder Mary Avenels placirt wurde, die »Keepsakes« (Erinnerungszeichen und Sammlungen) nicht verunziert hätte, in denen die Engländer die schönsten weiblichen Typen ihres großen Romanciers zusammenzustellen lieben.

Wirklich, sie war reizend, diese Miß Campbell. Jedermann bewunderte ihr hübsches Gesicht mit den blauen Augen – dem Blau der schottischen Seen, wie man gern sagte – ihre mittelgroße, aber elegante Figur, den etwas stolzen Gang, ihre meist etwas träumerische Physiognomie, wenn nicht ein leicht ironischer Anflug ihre Züge belebte, endlich überhaupt die ganze von Grazie und Vornehmheit zeugende Erscheinung.

Und Miß Campbell war nicht allein schön, sie war auch gutherzig. Reich durch ihre beiden Onkels, vermied sie es doch stets, prahlsüchtig zu erscheinen[20] Mitleidigen Herzens, bemühte sie sich vielmehr, das alte, gaëlische Sprichwort zu bestätigen: »Möchte die Hand, welche sich öffnet, stets voll sein!«

Vor Allem hing sie mit ganzem Herzen an ihrer heimatlichen Provinz, an ihrem Clan und ihrer Familie, mit einem Worte, sie war mit Leib und Seele eine echte Schottin. Sie hätte ohne Bedenken dem niedrigsten Sawney den Vortritt vor dem größten und reichsten John Bull zugestanden, die patriotischen Fibern ihres Herzens erzitterten wie die Saiten einer Harfe, wenn von der Stimme eines Bergbewohners im Lande ein nationaler Pibroch der Hochländer an ihr Ohr schlug.

De Maistre hat gesagt: »Es gibt in uns zwei Wesen: »Ich und der Andere«.

Dieses »Ich« der Miß Campbell drückte sich aus in dem ernsten, überlegenden Wesen, welches das Erdenleben ebenso vom Standpunkt der Pflichten, wie der Rechte in's Auge faßte. Der »Andere« verrieth sich in der romantischen, etwas zum Aberglauben neigenden Natur, welche die wunderbaren Sagen liebt, die in der Heimat Fingal's naturgemäß so leicht auftauchen. Etwas verwandt mit den Lindamires, den vielbewunderten Heroinen der Ritterromane, durchstreifte sie die benachbarten Thäler und Schluchten, um dem »Dudelsack von Strathdearne« zu lauschen, wie die Hochländer den Wind nennen, wenn er durch einsame Alleen hinweht.

Bruder Sam und Bruder Sib liebten ganz gleichmäßig jenes »Ich« und jenes »Andere« der Miß Campbell; doch wir dürfen nicht verheimlichen, daß wenn das Erstere sie durch seine Vernunft entzückte, das Andere sie zuweilen ganz außer Fassung brachte durch unerwartete Antworten, durch launenhafte Fernblicke und durch plötzliche Seitensprünge in das Reich der Träume.

War es nicht dieser zweite Theil ihrer Natur gewesen, der auf den Vorschlag der Brüder eine so bizarre Antwort gegeben hatte?

»Mich verheiraten!« würde das »Ich« gesagt haben. Herrn Ursiclos heiraten!... Wollen sehen... davon können wir ja später sprechen.

– Niemals, so lange ich noch nicht den Grünen Strahl gesehen!« hatte die »Andere« in ihr eingewendet.

Die Brüder Melvill sahen einander verblüfft an, während Miß Campbell in dem großen gothischen Lehnstuhle in der Fensternische es sich bequem machte.

»Was versteht sie unter dem Grünen Strahl? fragte der Bruder Sam.

– Und warum will sie den Grünen Strahl sehen?« antwortete der Bruder Sib.

Warum? Das werden wir sofort erfahren.

[21]

3. Capitel

Drittes Capitel.
Der Artikel der »Morning-Post«.

Denselben Tag, an dem sich die im Vorhergehenden geschilderte Scene abspielte, hätten Liebhaber von Merkwürdigkeiten Folgendes in der »Morning-Post« lesen können:

»Haben Sie jemals die Sonne beobachtet, wenn sie unter einem Meereshorizonte verschwand? – Ja, sicherlich. Sind Sie ihr auch mit dem Blick gefolgt bis zu Moment, wo sie, wenn der obere Rand ihrer Scheibe den Wasserrand berührt. eben gänzlich untergehen will? – Höchst wahrscheinlich. Aber haben Sie dabei die Erscheinung bemerkt, welche genau in dem Augenblicke auftritt, wo sie uns, vorausgesetzt, daß der dunstlose Himmel eine durch nichts gestörte Fernsicht gewährt, ihren letzten Strahl zusendet? – Nein, vielleicht nicht. Nun, so bald sich Ihnen eine Gelegenheit bietet – und das ist nur selten der Fall – bei der Sie diese Beobachtung machen können, so werden Sie wahrnehmen, daß nicht, wie man glauben könnte, ein rother, sondern ein »grüner« Strahl die Netzhaut des Auges trifft, aber ein Strahl von ganz wunderbarem Grün, von einem Farbenton, wie ihn kein Maler auf seiner Palette erzeugen kann, einem Grün, welches die Natur selbst weder in der so verschiedenen Färbung der Pflanzen, noch in der der klarsten, durchsichtigsten Meere jemals wieder in gleicher Nuance hervorbringt. Wenn es im Paradiese Grün gibt, so kann es nur das hier gemeinte sein, welches ohne Zweifel das wirkliche Grün der Hoffnung darstellt!«

So lautete der Artikel der »Morning-Post«, welches Blatt Miß Campbell beim Eintritt in den Salon in der Hand hielt. Die kurze Notiz hatte sie vollkommen eingenommen. Mit enthusiastischer Stimme las sie ihren beiden Onkels auch die angeführten wenigen Zeilen vor, welche in lyrischer Form die Schönheit jenes Grünen Strahles priesen.

Miß Campbell sagte dabei aber nicht, daß gerade dieser Grüne Strahl mit einer alten Legende in Verbindung steht, deren wirklicher Sinn ihr bisher verborgen geblieben war, einer gleich vielen anderen überhaupt unerklärten [22] sagenhaften Ueberlieferung, nach welcher derjenige, der jenen Grünen Strahl nur einmal gesehen, sich in Herzenssachen nicht mehr täuschen könne; sein Erscheinen zerstört alle Illusionen und Unwahrheiten; wer so glücklich war, ihn nur einmal wahrzunehmen, sieht dann eben so klar im eigenen Herzen wie in dem Anderer.

Verzeihe man der jungen Schottin der Hochlande das poetische Vertrauen, welches die Lectüre obigen Artikels der »Morning-Post« auf's Neue belebte.

Bei Anhörung der Worte der Miß Campbell starrten sich die Brüder Sam und Sib mit großen Augen an. Bisher hatten sie ohne jenen Grünen Strahl gelebt und waren der Meinung, man könne auch leben, ohne denselben jemals gesehen zu haben.

Damit schien freilich Helena nicht übereinzustimmen, welche den wichtigsten Schritt ihres Lebens der Beobachtung dieses immerhin seltsamen Phänomens unterzuordnen verlangte.

»Ah, also das ist es, was man den Grünen Strahl nennt? sagte Bruder Sam, leise den Kopf bewegend.

– Ja, erklärte Miß Campbell.

– Der, den Du auf jeden Fall sehen willst? sagte Bruder Sib.

– Und den ich mit Eurer Erlaubniß, liebe Onkels, sehen und, wenn es Euch, wie ich erwarte, genehm ist, binnen recht kurzer Zeit sehen werde.

Und dann, wenn Du ihn gesehen hast?...

– Wenn ich ihn gesehen habe, werden wir von Herrn Aristobulos Ursiclos sprechen können.«

Bruder Sam und Bruder Sib warfen sich einen sinnigen Blick zu und lächelten einander verständnißinnig an.

»So wollen wir uns bemühen, den Grünen Strahl zu Gesicht zu bekommen, sagte der Eine.

– Ohne nur einen Augenblick zu verlieren,« setzte der Andere hinzu.

Aber als sie schon das Fenster des Salons öffnen wollten, hinderte sie Miß Campbell's Hand daran.


... wenn ihr feuriges Roß sie nicht etc. (S. 19.)

»Man muß dazu warten, bis die Sonne untergeht, sagte sie.

– Also diesen Abend... antwortete Bruder Sam.

– Bis die Sonne am reinsten aller Horizonte verschwindet, fügte Miß Campbell hinzu.

– Schön, so werden wir nach dem Essen alle Drei nach der Rosenheatspitze wandern, erklärte Bruder Sib.

[23] – Oder wir steigen einfach auf den Thurm unseres Hauses, meinte Bruder Sam.

– An der Rosenheatspitze, wie auf dem Thurm der Cottage, wandte Miß Campbell ein, erblicken wir keinen anderen Horizont als den der Ufer des Clyde. Es heißt aber ausdrücklich, daß die Sonne an der Linie zwischen Himmel und Wasser beim Untergange in's Meer beobachtet werden solle. Daraus werden meine lieben Onkels die Nothwendigkeit erkennen, mich so bald als möglich unter diese einzig zweckentsprechenden Bedingungen zu versetzen!«

[24] Miß Campbell sprach so ernsthaft und begleitete ihre Worte mit einem so verführerischen Lächeln, daß die Brüder Melvill der Ausführung eines solchen Planes nicht zu widerstehen vermochten.

»Es eilt damit wohl nicht so sehr?«... glaubte doch Bruder Sam bemerken zu müssen.

Und der Bruder Sib zögerte nicht, ihm hilfreich beizuspringen mit den Worten:

»Dazu werden wir immer Zeit haben...«

Miß Campbell schüttelte neckisch den Kopf.

[25] »Nein, dazu werden wir nicht immer Zeit haben, erwiderte sie, und im Gegentheil, die Sache hat Eile.

– Wäre es deshalb... vielleicht im Interesse des Herrn Aristobulos Ursiclos... sagte Bruder Sam.

– Dessen Lebensglück, scheint es, von der Beobachtung dieses Grünen Strahles abhängt, setzte Bruder Sib seine Worte fort.


»Sehen Sie, Patridge...« (S. 29.)

– Zunächst, liebe Onkels, deshalb, weil wir uns schon im Monat August befinden, antwortete Miß Campbell, und es also nicht mehr lange währen kann, bis die Nebel den Himmel Schottlands verdüstern; deshalb, weil es gerathen erscheint, die schönen Abende, welche das Ende des Sommers und der Anfang des Herbstes noch in Aussicht stellen, zu benützen. Wann reisen wir ab?«

Wenn Miß Campbell freilich noch dieses Jahr mit aller Gewalt den Grünen Strahl kennen lernen wollte, so war keine Zeit zu verlieren. Ohne nur einen Tag verstreichen zu lassen, hatte man dann nichts weiter zu thun, als sich unverzüglich nach irgend einem gegen Westen liegenden Punkte der schottischen Küste zu begeben, sich daselbst so bequem als möglich einzurichten, jeden Abend den Sonnenuntergang in Augenschein zu nehmen und endlich auf dessen allerletzten Strahl zu achten. Dann gelang es Miß Campbell vielleicht, bei einigem Glück, ihren etwas phantastischen Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen, wenn der Himmel die Beobachtung der Erscheinung überhaupt begünstigte, was freilich ungemein selten ist, wie die »Morning-Post« sehr richtig bemerkte.

Es hatte Recht, das wohlinformirte Journal.

Zunächst handelte es sich um Aufsuchung und Auswahl eines geeigneten Punktes der westlichen Küste, von dem aus die Erscheinung überhaupt beobachtet werden konnte. Um einen solchen zu finden, mußte man wenigstens über den Busen des Clyde hinausgehen.

In der That ist diese Einbuchtung seewärts des Firth of Clyde mit allerlei Hindernissen erfüllt, welche das Gesichtsfeld einschränken. Da sind die Kyles von Bute, die Insel Arran, die Halbinseln Knapdale und Cantyre, Jura, Islay, lauter aus geologischer Epoche her verstreute Felsenmassen, welche den größten Theil der Grafschaft Argyle zu einem Archipel umgestalten und es unmöglich machen, daselbst einen Kreisabschnitt des Meeres zu entdecken, innerhalb welchem das Auge den Untergang der Sonne beobachten könnte.

Wollte man nun Schottland selbst nicht verlassen, so mußte man sich mehr nach dem Norden oder nach dem Süden des Landes begeben, wo sich ein [26] unbegrenzter Fernblick bietet, und das auch noch vor dem Auftreten der Herbstnebel ausführen.

Wohin die Reise gehen würde, das galt der Miß Campbell gleichviel. Ob nach der Küste von Irland, der von Frankreich, Norwegen, Spanien oder Portugal – sie wäre überall mit hingegangen, wo das Strahlengestirn des Himmels sie beim Untergang mit seinem letzten Lichtblitze begrüßen konnte, und ob das den Brüdern Melvill paßte oder nicht, sie mußten ihr eben nachgeben.

Die beiden Onkels beeilten sich also das Wort zu nehmen, nachdem sie sich einen fragenden Blick zugeworfen – aber welchen Blick, und wie durchleuchtete denselben der frohe Schimmer eines seinen diplomatischen Schachzuges!

»Nun gut, meine liebe Helena, begann Bruder Sam, es ist ja ganz leicht, Deinen Wunsch zu erfüllen. Wir wollen nach Oban gehen.

– Es liegt auf der Hand, daß es einen geeigneteren Punkt als Oban gar nicht geben kann, setzte Bruder Sib hinzu.

– Meinetwegen nach Oban, versetzte Miß Campbell. Aber hat Oban wirklich auch einen freien Meereshorizont vor sich?

– Das will ich meinen! rief Bruder Sam.

– Es hat deren vielleicht gar zwei! bestätigte Bruder Sib.

– Gut, so reisen wir dahin.

– Binnen drei Tagen, meinte einer der Onkels.

– Binnen zwei Tagen, sagte der Andere, welcher es für angezeigt hielt, diese kleine Concession zu machen.

– Nein, morgen, erklärte Miß Campbell aufstehend, da eben die Tischglocke läutete.

– Morgen... ja wohl, morgen! sagte Bruder Sam kleinlaut.

– Ich möchte, wir wären schon da«, äußerte Bruder Sib.

Sie sagten Beide die Wahrheit. Warum aber diese Eile? Weil Aristobulos Ursiclos sich seit vierzehn Tagen zum Landaufenthalte nach Oban begeben hatte; weil Miß Campbell, welche davon nichts wußte, sich dort in Gesellschaft dieses jungen Herrn befinden würde, den sie aus allen Gelehrten erwählt, während die Brüder Melvill gar nicht daran zweifelten, daß es in Oban entsetzlich langweilig sei. Die jetzt etwas hinterlistigen Brüder rechneten nämlich darauf, daß Miß Campbell es zeitig genug überdrüssig werden dürfte, vergeblich auf einen geeigneten Sonnenuntergang zu harren, daß sie dann von ihrer etwas phantastischen Schrulle absehen und dem ihr zugedachten Verlobten die Hand reichen werde.

[27] Doch selbst wenn Helena das geahnt hätte, würde es für sie einflußlos gewesen sein. Die Anwesenheit Aristobulos Ursiclos' war nicht dazu angethan, sie zu geniren.

»Bet!

– Beth!

– Beß!

– Betsey!

– Betty!«

Wieder schallte die ganze Rufnamenreihe durch den Salon; diesmal aber erschien Frau Beß in eigener Person und empfing den Befehl, morgen Alles zu einer bevorstehenden Abreise bereitzustellen.

Es galt in der That zu eilen. Der jetzt über 30 und 3/10 »Zoll (760 Mm.) hoch stehende Barometer versprach noch andauernde gute Witterung. Wenn man morgen früh abreiste, konnte man noch zu guter Stunde in Oban eintreffen, um den Sonnenuntergang zu beobachten.

Natürlich waren Frau Beß und Patridge wegen dieser plötzlichen Reise mit Arbeit überhäuft. Die siebenundvierzig Schlüssel der wackeren Frau klirrten und klingelten, wie die Schellen am Lederzeug eines spanischen Maulesels. Wie viele Schränke, wie viele Kästen gab es da zu öffnen und zu verschließen. Vielleicht blieb die Cottage in Helensburgh auf lange Zeit verlassen. Wer konnte die Launen der Miß Campbell ahnen? Wenn es nun dem liebenswürdigen Mädchen einfiel, ihrem Grünen Strahl nachzulaufen? Und wenn dieser Grüne Strahl gar damit coquettirte, sich zu verstecken? Wenn nun der Horizont von Oban nicht die zu derartigen Beobachtungen unerläßliche Klarheit darbot? Wenn es sich nöthig machte, einen anderen astronomischen Standpunkt am südlicheren Ufer Schottlands, an den Englands oder Irlands aufzusuchen, vom Continent ganz zu schweigen? Morgen würde man abreisen, das stand wohl fest; aber wann würde man nach der Cottage zurückkehren? Nach einem oder nach sechs Monaten, nach einem oder nach sechs Jahren?

»Wie kommt sie nur auf die Idee, den Grünen Strahl sehen zu wollen? fragte Frau Beß, welche Patridge nach Kräften unterstützte.

– Ja, weiß ich's? antwortete Patridge, doch es muß wohl seinen guten Grund haben, denn unsere junge Herrin thut nichts ohne vernünftige Ursache, das wissen Sie ja so gut wie ich, Mavourneen!«

Mavourneen ist ein Schmeichelwort, das man in Schottland oft und gerne anwendet, und dem etwa im Deutschen »mein Schätzchen« entspricht. Der vortrefflichen [28] Hausverwalterin mißfiel es nicht im geringsten, sich von dem braven Schotten so nennen zu hören.

»Patridge, antwortete sie, ich vermuthe ganz wie Sie, daß dieser Einfall der Miß Campbell, der ihr über Nacht gekommen sein muß, irgend einen geheimen Hintergedanken bergen möge.

– Welchen?

– O, wer weiß? Wenn nicht eine Ablehnung, so doch eine Hinausschiebung der Projecte ihrer Onkels.

– Wahrhaftig, erwiderte Patridge, ich begreife nicht, warum die Herren Melvill auf jenen Herrn Ursiclos so reinweg versessen sind. Ist denn das der rechte Mann für unser Fräulein?

– Halten Sie sich überzeugt, Patridge, entgegnete Frau Beß, daß sie ihn, wenn er ihr nur zur Hälfte gefällt, überhaupt nicht heiratet. Sie wird ihren beiden Onkels ein nettes rundes »Nein« sagen, küßt sie dabei auf die Wangen, und ihre beiden Onkels werden sofort höchlich erstaunt sein, wie sie an den Genannten nur je haben denken können, an ihn, dessen Anmaßungen mir auch keinesfalls gefallen.

– So wenig wie mir, Mavourneen!

– Sehen Sie, Patridge, Miß Campbell's Herz gleicht ganz dieser Schublade, welche mit einem Sicherheitsschloß versehen ist. Sie allein hat den Schlüssel dazu, und um dieselbe zu öffnen, muß sie ihn herausgeben...

– Wenn man ihr denselben nicht wegnimmt, meinte Patridge zustimmend lächelnd.

– Das wird nicht geschehen, so lange sie ihn sich nicht nehmen lassen will, versicherte Frau Beß, und da soll der Wind mir doch meine Haube gleich nach dem Glockenthurm von St. Mungo entführen, wenn unser junges Fräulein jemals Herrn Ursiclos heiratet!

– Einen Südländer! rief Patridge, einen »Southern«, der, wenn er je in Schottland geboren ist, doch stets südlich des Tweed gelebt hat!«

Frau Beß schüttelte den Kopf. Die beiden Hochländer verstanden sich vollkommen. In ihren Augen bildeten die niedrigen Landestheile kaum ein Zubehör des alten Caledoniens, trotz aller Verträge der Union. Entschieden waren die Beiden keine Begünstiger des geplanten Ehebundes; sie erhofften für Miß Campbell eine bessere Partie. Wenn die vorliegende auch nach manchen Seiten passend erschien, so genügte sie ihnen doch noch nicht.

[29] »Ach, Patridge, nahm Frau Beß wieder das Wort, die alten Gewohnheiten der Hochländer waren doch die besten, und ich glaube, daß die Heiraten, zufolge der Sitten der alten Clans, mehr Glück gewährt haben, als das heutzutage der Fall ist.

– Sie haben nur ein wahres Wort gesprochen, Mavourneen! antwortete Patridge ernsthaft. Jener Zeit wählte man etwas mehr unter Befragung des Herzens und weniger unter Befragung des Geldbeutels. Das Geld ist ja ganz gut, aber die Zuneigung ist doch noch besser und mehr werth.

– Ja wohl, Patridge, und außerdem hielt man auch darauf, sich kennen zu lernen, ehe man an den Altar trat. Erinnern Sie sich noch der Gepflogenheiten von der Messe zu Saint Olla in Kirkwall? Während ihrer ganzen Dauer, das heißt vom Anfang des August an, traten die jungen Leute zu Paaren zusammen und diese Paare nannte man »Bruder und Schwester vom 1. August«. Bruder und Schwester, bildete das nicht eine vortreffliche Vorschule, um später Mann und Frau zu werden? Doch dabei fällt mir ein, daß wir heute gerade den richtigen Tag haben, an dem die Messe von Saint Olla, welche Gott wieder in's Leben rufen möge, eröffnet wurde.

– O könnte er Sie hören! antwortete Patridge. Auch Herr Sam und Sib selbst wären, wenn sie irgend einer anderen jungen Schottin zugesellt worden wären, dem allgemeinen Schicksale nicht entgangen, und Miß Campbell würde jetzt in ihrer Familie zwei Tanten mehr zählen.

– Das geb' ich gerne zu, Patridge, bestätigte Frau Beß, aber nun stellen Sie sich einmal vor, heute Miß Campbell dem Herrn Ursiclos zuzutheilen, da flösse doch gleich der Clyde von Helensburgh bis Glasgow stromaufwärts, wenn diese Verbindung nicht binnen acht Tagen aus den Fugen ginge!«

Ohne die Unzuträglichkeiten hervorzuheben, welche jene jetzt übrigens verschwundenen, den Geschwistern von Kirkwall zugestandenen Vertraulichkeiten mit sich führen konnten, müssen wir doch damit übereinstimmen, daß die Thatsachen der Frau Beß unzweifelhaft Recht gegeben hätten.

Wie dem auch sei, Messen sind um der Geschäfte, nicht um der Heiraten willen da. Wir müssen also Frau Beß und Patridge ihrer Trauer überlassen, obwohl die Beiden trotz ihres Plauderns keine Minute versäumten.

Die Abreise war festgesetzt; die Stelle für den Landaufenthalt gewählt. In den Journalen der vornehmen Welt las man sicher am nächsten Tage unter der Rubrik »Ortsveränderungen und Villeggiaturen« die Namen der beiden Brüder [30] Melvill und der Miß Campbell als abgereist nach Oban. Doch auf welche Weise sollte diese Ortsveränderung vor sich gehen? Diese Frage harrte noch der Lösung.

Zwei verschiedene Wege bieten sich, nach jener kleinen Stadt zu gelangen, welche an der Meerenge von Mull einige hundert Meilen nordöstlich von Glasgow liegt.

Der eine ist ein Landweg. Man fährt nach Bowling, berührt nachher, über Dumbarton längs des rechten Ufers des Leven, Balloch am Ende des Lomond, überschreitet diesen herrlichsten See Schottlands mit seinen dreißig Inseln zwischen dessen historischen Gestaden, an welchen sich, im Lande Rob Roy's und Robert Bruce's, das Andenken der Mac-Gregor und der Mac-Farlane knüpft; von hier aus kommt man nach Dalmaly und endlich gelangt der entzückte Tourist auf einer Straße, welche die Bergabhänge umkreist, oft nahe der Küste verläuft, über Wasserfälle und Fjorde quer durch die Vorläufer der Grampianberge hinführt und dabei sich durch Thäler hinschlängelt, welche von Eichen, Lärchenbäumen und Weiden erfüllt sind, hinunter nach Oban, dessen Uferland sich getrost mit den schönsten Küstenpunkten des Atlantischen Oceans messen kann.

Das Ganze ist ein herrlicher Ausflug, den jeder Reisende in Schottland gemacht hat oder doch machen sollte; einen Meereshorizont bietet er freilich in seinem Verlaufe nirgends. Die Brüder Melvill, welche diesen Weg Miß Campbell vorschlugen, erfuhren des halb auch nur eine Abweisung.

Die zweite Linie verläuft theils in Strömen, theils auf dem Meere. Wer diese einschlägt, hat zunächst den Clyde hinabzufahren bis zu dem, seinen Namen tragenden Golf, dann zwischen den Inseln und Holmen hinzusegeln, die diesen wunderlichen Archipel der Riesenhand einer Skelets ähnlich erscheinen lassen, welche diesen Theil des Oceans umkrallt, und von hier führt er nach der rechten Seite weiter bis zum Hasen von Oban. Das entsprach ganz den Wünschen der Miß Campbell, für welche das hochinteressante Land um den Lac Lomond und den Lac Katerine keine Geheimnisse mehr barg. Uebrigens eröffnete sich durch den Zwischenraum zwischen je zwei Inseln, draußen jenseits der Meerengen und Golfe, da und dort ein weiter Ausblick über das Meer, dessen kreisrunde Grenze das Wasser bildete. Wenn nun gelegentlich dieser kurzen Fahrt in der letzten Stunde derselben keine Dunstwand den Horizont verdeckte, wäre es ja nicht unmöglich gewesen jenen Grünen Strahl zu beobachten, dessen Dauer kaum eine Fünftelsecunde beträgt.

[31] »Du begreifst, Onkel Sam, sagte Miß Campbell, und siehst ein, Onkel Sib, daß es sich eben nur um einen Moment handelt. Wenn ich gesehen habe, wonach mir verlangt, ist die Reise als vollendet zu betrachten und wird es zwecklos, sie noch bis Oban auszudehnen.«


Die Broomielaw-Brücke in Glasgow. (S. 34.)

Das stimmte mit den heimlichen Motiven der Brüder Melvill freilich nicht überein. Sie wollten sich für einige Zeit in Oban häuslich niederlassen – wir wissen es ja weshalb – und verlangten gar nicht danach, durch ein schnelles Auftreten jenes Phänomens ihre Projecte zerstört zu sehen.


Das Schloß Dumbarton. (S. 37.)

Da Miß Campbell's Stimme von jeher die tonangebende war, und sie für den Seeweg eintrat, so wurde denn auch dieser gewählt und vom Landwege war keine Rede mehr.

»Zum Kukuk mit diesem Grünen Strahl! platzte Bruder Sam heraus, als Helena den Salon verlassen.

– Und mit Denen, die ihn erfunden haben!« tönte [32] das Echo des Bruder Sib.

[33]

4. Capitel

Viertes Capitel.
Den Clyde stromabwärts.

In der ersten Morgenstunde des nächsten Tages, des 2. August, bestieg Miß Campbell in Begleitung der Brüder Melvill und gefolgt von Patridge und Frau Beß den Frühzug in der Bahnhofshalle von Helensbourgh. Sie wollten rechtzeitig in Glasgow den Dampfer erreichen, der bei seinen täglichen Touren zwischen der Metropole und Oban an keinem Küstenpunkte des Golfes anlegt.

Um sieben Uhr setzte der Zug die fünf Passagiere in der Ankunftshalle des Glasgower Bahnhofs ab, und ein Wagen führte dieselben nach der Broomielaw-Bridge.

Dort erwartete der Dampfer »Columbia« seine Fahrgäste; aus seinen beiden Schornsteinen wirbelte in dichten Wolken ein schwarzer Rauch empor, der sich mit dem noch ziemlich dicken Nebel auf dem Clyde mischte; schon fing jedoch der Morgendunst an sich zu lösen und die bisher bleierne Sonnenscheibe schmückte sich bereits mit ihren goldenen Tinten. Alles versprach einen schönen Tag.

Nachdem ihr Reisegepäck an Bord gebracht war, schifften sich Miß Campbell und ihre Begleiter sofort ein.

Eben jetzt sandte die Deckglocke etwaigen Nachzüglern das dritte und letzte Zeichen zu. Dann stellte der Mechaniker die Maschine an, die einmal vor- und dann nach rückwärts rotirenden Schaufelräder wirbelten mächtige gelbliche Wellen auf, ein langer Pfiff, die Taue am Lande wurden losgeworfen und die »Columbia« glitt bald in dem breiten Strome dahin.

Im Vereinigten Königreiche kommen Reisende schwer dazu, sich zu beklagen. Es sind lauter prächtige Boote, welche die Transportgesellschaften ihnen zur Verfügung stellen. Da gibt es keinen noch so beschränkten Wasserlauf, keinen so kleinen See oder engen Golf, der nicht tagtäglich von eleganten Dampfern durchfurcht würde. Es ist also gar nicht zu verwundern, daß der Clyde in dieser Beziehung besonders bevorzugt erscheint. Längs der Broomielaw-Street, an den Rampen des Dampfbootquais liegen auch, am Hek wie am Achter mit lebhaften Farben geschmückt, unter denen Gold und Zinnober um den Vorrang streiten, immer rauchend und fertig, viele Dampfer, um nach allen Richtungen abzugehen.

[34] Die »Columbia« machte keine Ausnahme von dieser Regel. Sehr lang, am Vordertheil sehr schlank gebaut, in der Wasserlinie sehr sein gehalten und versehen mit einer mächtigen Maschine, welche Schaufelräder von großem Durchmesser trieb, gehörte sie zu den schnellsten Schiffen des Hasens. Das Innere bot in den Salons, den Einzelcabinen und Speisesälen jeden erdenklichen Comfort; das Deck überragte ein geräumiges sogenanntes Spardeck mit Bänken und einzelnen, gar noch gepolsterten Sitzplätzen und – durch ein Zelt von Segelleinwand vor den Sonnenstrahlen geschützt – eine wirkliche, von zierlichem Bordgeländer umschlossene Terrasse, wo die Passagiere die freie Luft und die herrlichste Aussicht genossen.

An Reisenden fehlte es nicht. Sie kamen fast von überall her, ebenso aus Schottland wie aus England. Der Monat August wird hier mit Vorliebe zu Ausflügen benützt, und unter diesen sind wiederum die längs des Clyde und nach den Hebriden vor Allen beliebt. Hier gab es Familien von erstaunlicher Kopfzahl, welche der Himmel offenbar besonders gesegnet hatte; muntere junge Mädchen, etwas ruhigere junge Leute und Kinder, welche schon an die kleinen Zufälligkeiten einer solchen Fahrt gewöhnt schienen; ferner Geistliche, die man überhaupt viele auf allen Dampfern antrifft, mit dem hohen Seidenhute auf dem Kopfe, dem langen schwarzen Ueberrocke mit Stehkragen und die weiße Cravatte über die Weste hängend; dazu mehrere Farmer mit schottischen Mützen, welche durch ihr Benehmen ein wenig an die schwerfälligen alten »Bonnet-Lairds« erinnerten, wie man sie noch vor sechzig Jahren sah; endlich ein halbes Dutzend Fremde, Deutsche, welche auch im Auslande eine gewisse nachdenkliche Würde bewahren, und zwei oder drei Franzosen, welche auch außerhalb Frankreichs die angeborene Liebenswürdigkeit nicht verläßt.

Hätte Miß Campbell den meisten ihrer Landsleute geähnelt, welche sich, sobald sie an Bord gekommen sind, eine Ecke aufsuchen und während der ganzen Reise kein Sterbenswörtchen sprechen, so würde sie von den Ufern des Clyde nichts weiter gesehen haben, als was gerade, ohne den Kopf zu wenden, an ihren Augen vorüberzog. Sie aber liebte es umherzuspazieren, einmal nach dem Hinterdeck und dann wieder nach dem Vorderdeck des Dampfers zu gehen, und alle die Städte, Burgen, Dörfer und Weiler zu betrachten, mit welchen das Uferland in ununterbrochener Reihe besäet ist. Das hatte die nothwendige Folge, daß die Brüder Melvill, welche sie auf Schritt und Tritt begleiteten, ihr Rede und Antwort standen ihre Bemerkungen bestätigten und ihre Beobachtungen zu[35] wiederholen suchten, zwischen Glasgow und Oban keine Stunde der Ruhe finden konnten. Uebrigens dachten sie gar nicht daran, sich zu beklagen, weil das zu ihrer Function als Leibgarde ja gehörte, und sie unterzogen sich dem gleichsam instinctiv, während sie nur gelegentlich eine frische Prise austauschten, welche sie bei guter Laune erhielt.

Frau Beß und Patridge, welche auf dem vordersten Theil des Spardecks Platz genommen hatten, plauderten vertraulich über vergangene Zeiten, über verschwundene Sitten und über die alten, in Auflösung begriffenen Clans. Wo waren sie hin, die früheren Jahrhunderte, welche sie noch heute beklagten? Jener Zeit verschwand der Horizont des Clyde noch nicht hinter der kohlenstoffreichen Ausathmung der Fabriken, seine Gestade zitterten nicht bei den schweren Donnerschlägen der Dampfhämmer, seine friedlichen Gewässer wurden nicht durch die Aufwendung von einigen Tausend Pferdekräften aufgewühlt!

»Diese schöne Zeit wird auch wiederkommen, und vielleicht noch eher, als man es erwartet, sagte Frau Beß mit überzeugungsvollem Tone.

– Ich hoffe es, antwortete Patridge ernsthaft, und mit ihr werden wir die alten Sitten unserer Vorfahren wieder aufleben sehen!«

Inzwischen drängte sich der Vordersteven der »Columbia« schnell zwischen den Ufern des Clyde hin, welche wie ein bewegliches Panorama erschienen. Zur rechten Hand zeigte sich an der Mündung des Kelvin das Dorf Patrick mit den geräumigen Docks, in denen man Schiffe baut und welche denen von Govan auf dem anderen Ufer gegenüber liegen. Welcher Lärm von Eisenplatten und Stangen, welche Wolken von Rauch und Dampf stiegen da empor und verletzten Augen und Ohren des braven Patridge, wie der Frau Beß!

Aber all' dieser Höllenspectakel einer regen Industrie, wie der düstere Kohlendunst nahm bald mehr und mehr ab. An Stelle der Zimmerplätze, der offenen Hallen, der hohen Schornsteine und jener gigantischen Eisengerippe, welche mehr den Käfigen einer Menagerie von Mastodons gleichen, traten schon freundliche Wohnhäuser auf, unter Bäumen versteckte Cottages und Villen in angelsächsischem Styl, welche auf üppig grünen Wiesen zerstreut lagen. Das Ganze bildete eine fast lückenlose Folge von Landhäusern und Schlössern, welche gleichsam eine Stadt mit der anderen verknüpften.

Nach der alterthümlichen Burg von Renfrew, auf dem linken Flußufer, erhoben sich zur Rechten die bewaldeten Hügel von Kilpatrick über dem Dorfe gleichen Namens, an dem kein Irländer vorüberkommen kann, ohne sich zu [36] erkennen zu geben mit dem Aufrufe: »Hier wurde Saint Patrick, der Schutzheilige Irlands, geboren!«

Der Clyde, bisher nur ein Strom, begann sich allmählich zum wirklichen Meeresarm auszubreiten; Frau Beß und Patridge begrüßten die Ruinen von Dunglas-Castle, welche einige alte Erinnerungen aus der Geschichte Schottlands wachrufen; ihre Augen wendeten sich jedoch ab von dem Obelisk, der einst zu Ehren Harry Bell's, des Erfinders jenes ersten mechanischen Fahrzeugs, dessen Räder die friedlichen Wässer störten, errichtet wurde.

Wenige Meilen weiter betrachteten die Touristen, ihren Bädeker oder Murray in der Hand, das Schloß Dumbarton, welches sich auf einem Basaltfelsen über fünhundert Fuß hoch erhebt. Von den beiden Kegeln des Berggipfels führt der eine noch den Namen, »der Thron Wallace's«, eines der Helden des Unabhängigkeitskampfes.

In diesem Augenblicke glaubte sich ein Herr von der Commandobrücke aus – ohne daß ihn Jemand darum ersucht hätte, aber auch ohne daß es Jemand einfiel, das nicht hübsch zu finden – verpflichtet, einen kleinen geschichtlichen Vortrag zur Belehrung seiner Reisegefährten zu improvisiren. Eine halbe Stunde später war es keinem Passagier der »Columbia« – vorausgesetzt, daß er sich eines gefunden Gehörorgans erfreute – mehr gestattet, nicht zu wissen, daß höchst wahrscheinlich schon die Römer Dumbarton befestigt hatten, daß dieser historische Felsen sich zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts in eine königliche Festung verwandelt, daß er, gemäß einer Convention im Unionsvertrage, zu den vier Plätzen des Königreichs Schottland gehört, welche nicht geschleift werden dürfen, daß Maria Stuart im Jahre 1548 von diesem Hasen aus nach Frankreich abreiste, wo ihre Verheiratung mit Franz II. sie zur »Eintagskönigin« machen sollte, und endlich, daß hier im Jahre 1815 Napoleon in Hast gehalten wurde, bis das Ministerium Castlereagh zu dem Entschluß kam, ihn auf St. Helena zu interniren.

»Das ist ja ungemein lehrreich, sagte Bruder Sam.

– Lehrreich und interessant, antwortete Bruder Sib. Dieser Herr verdient unser Aller Dank!«

Und wirklich, die beiden Onkel hatten kein Wort von dem ganzen Vortrage verloren; sie zauderten auch gar nicht, dem unerwarteten Lehrer der Geschichte ihre gerechte Billigung für seine Bemühungen zu erkennen zu geben.

In ihre eigenen Gedanken vertieft, hatte Miß Campbell nichts von der historischen Lection gehört. In diesem Augenblicke entbehrte die Sache für sie[37] alles Interesses. Sie richtete den Blick nicht einmal auf die Ruinen von Cardroß, wo Robert Bruce starb. Ihre Augen suchten, freilich vergeblich, einen Meereshorizont; einen solchen konnte sie aber nicht eher wahrnehmen, als bis die »Columbia« diese Kette von Ufern, Vorgebirgen und Hügeln hinter sich hatte, welche den Golf des Clyde umgrenzen. Uebrigens glitt der Dampfer eben bei dem Städtchen Helensburgh vorüber.

Port Glasgow, die Ueberreste des Schlosses von Newark, wie die Halbinsel Rosenheat konnte das junge Mädchen aber tagtäglich von den Fenstern ihrer Cottage aus sehen. Ja, es erschien ihr fast, als wenn der Dampfer nur den launischen Windungen eines Wasserlaufs in einem größeren Parke folge.

Und warum hätten sich ihre Gedanken weiterhin verirren sollen in die Hunderte von Fahrzeugen aller Art, die sich in den Hafenbassins von Greenock, an der Mündung des Stromes, zusammendrängen? Welche besondere Bedeutung hatte es für sie, daß der berühmte unsterbliche Watt in dieser Stadt von 40.000 Einwohnern geboren war, welche man als den industriellen und commerciellen Vorort von Glasgow zu betrachten gewohnt ist? Warum hätten ihre Blicke, drei Meilen weiter hinaus, auf dem Dorfe Gourock am linken, oder auf dem Dorfe Dunoon am rechten Ufer haften sollen, an den tief eingeschnittenen buchtenreichen Fjords, welche die Küstenlinie der Grafschaft Argyle so vielfach durchbrechen, daß diese fast dem Scherengürtel Norwegens ähnelt?

Nein, Miß Campbell's Blicke suchten voller Ungeduld nur den in Ruinen liegenden Thurm Leven. Erwartete sie da irgend einen Burggeist zu sehen? Nicht im mindesten; sie wollte nur die Erste sein, welche das Auftauchen des Pharus von Clock meldete, der den Ausgang des Firth of Clyde beleuchtet.

Der Leuchtthurm erschien endlich, gleich einer riesenhaften Lampe, hinter einer Krümmung der Ufer.

»Clock, Onkel Sam, rief sie, Clock, Clock!

– Ganz richtig, Clock, antwortete Bruder Sam, mit der Sicherheit und Genauigkeit eines Echos der Hochlande.

– Das Meer, Onkel Sib!

– In der That das Meer, bestätigte Onkel Sib.

– Wie herrlich das ist!« wiederholten beide Onkels.

Man hätte vermuthen können, daß sie es zum ersten Male sähen.

Hier war kein Irrthum möglich; draußen über der Oeffnung des Golfes breitete sich der Meereshorizont aus.

[38] Inzwischen hatte die Sonne noch nicht die Hälfte ihres Tageslaufs zurückgelegt. Unter dem 57. Breitengrade mußten mindestens noch sieben Stunden vergehen, bevor sie in der Salzfluth untertauchen konnte, sieben Stunden peinigender Ungeduld für Miß Campbell! Uebrigens erstreckte sich dieser Horizont mehr nach der südwestlichen Seite des Himmels, das heißt, er bildete ein Segment, welches das Tagesgestirn nur zur Zeit des Wintersolstitiums streifen konnte. Dort also war der Eintritt der fraglichen Erscheinung bestimmt nicht zu suchen, sondern weiter im Westen, selbst etwas nach Norden, da die ersten Tage des August den Aequinoctien des Septembers noch um sechs volle Wochen vorangehen.

Doch darauf kam es unseren Reisenden weniger an, es war doch ein Meereshorizont, der sich jetzt vor dem Auge der Miß Campbell ausbreitete. Jenseits des Zwischenraumes zwischen den Inseln Cumbray, jenseits der großen Insel Bute, deren Profil durch seinen Dunst gemildert erschien, und jenseits der kleinen Kämme des Aisla-Craig und der Berge von Arran flossen der Himmel und das Wasser in einer wie mit dem Lineal gezogenen Linie zusammen.

Völlig in Gedanken versenkt und ohne ein Wort zu sprechen, gab sich Miß Campbell der Betrachtung des vor ihr liegenden Bildes hin. Auf der Commandobrücke unbeweglich stehend, warf die Sonne nur einen kurzen Schatten zu ihren Füßen. Sie schien die Länge des Bogens zu messen, welcher jene noch von dem Punkte trennte, wo ihre Scheibe in die Gewässer des Archipels der Hebriden untertauchen mußte... vorausgesetzt, daß der jetzt so reine Himmel dann nicht von dem Nebel der Dämmerung verhüllt ward.

Da weckte eine Stimme die junge Träumerin aus ihren sinnenden Gedanken.

»Es ist Zeit, sagte Bruder Sib.

– Zeit? Wozu, lieber Onkel?

– Es ist Zeit zu frühstücken, erklärte Bruder Sam.

– Nun gut, so gehen wir zum Frühstück,« erklärte Miß Campbell.

[39]

5. Capitel

Fünftes Capitel.
Von einem Dampfer zum anderen.

Nach der zur Hälfte warmen, zur Hälfte kalten Mahlzeit – in dem »Dining-room« der »Columbia«, war ein vortreffliches Frühstück nach englischer Sitte aufgetragen worden – kehrten Miß Campbell und die Brüder Melvill nach dem Deck zurück.

Helena konnte einen Schrei der Enttäuschung nicht unterdrücken, als sie ihren Platz auf dem Spardeck wieder eingenommen hatte.

»Wo ist mein Horizont hin?« rief sie.

Allerdings, ihr Horizont war nicht mehr vorhanden, sondern vor nur wenigen Minuten verschwunden. Der Dampfer lief jetzt, mit dem Bug nach Norden, durch die lange Meerenge der Kyles of Bute.

»Das ist nicht hübsch, Onkel Sam! beklagte sich das junge Mädchen und verzog schmollend den feingeschnittenen Mund.

– Aber mein liebes Kind...

– Ich werde mir's merken, Onkel Sib!«

Die beiden Brüder wußten nicht, was sie antworten sollten, und doch konnte unmöglich sie Jemand dafür verantwortlich machen, daß die »Columbia nach Aenderung der vorher eingehaltenen Richtung jetzt gegen Nordwesten dampfte.

Es gibt nämlich zwei verschiedene Routen, um auf dem Wasserwege von Glasgow nach Oban zu gelangen.

Der eine, dem die »Columbia« nicht gefolgt war, ist der weit längere. Nach dem Anlaufen von Rothesay, dem Hauptorte der Insel Bute, der von seinem alten, aus dem elften Jahrhunderte stammenden Schlosse beherrscht und nach Westen von tiefen Thälern umrahmt wird, welche ihn gegen rauhe Winde von der Seeseite schützen, kann der Dampfer noch weiter den Golf von Clyde hinabgehen, das östliche Ufer der Insel passiren; dabei kam er in Sicht von Groß- und Klein-Cumbray vorüber und gelangte in gleicher Richtung bis zum südlichen Theil der Insel Arran, welche fast gänzlich, vom Fuße ihres Felsenuntergrundes bis zum Gipfel des Goatfell, der ziemlich achthundert Meter über das Meer emporsteigt und dem Herzoge von Hamilton gehört. Hierauf legt der [40] Steuermann das Ruder um, so daß die Compaßnadel sich weiter nach Westen dreht; man umsegelt die Insel Arran, ferner den langen Vorsprung der Halbinsel Cantyre fährt an der Westküste hinauf, dringt durch den zwischen der Insel Islay und Jura sich hinziehenden Sund in die Gigha-Straße ein und erreicht dann den weitoffenen Kreisabschnitt des Firth of Lorn, dessen kurzer Schenkel ihn ein wenig oberhalb Oban abschließt.


Die lange Meerenge der Kyles of Bute (S. 40.)

Wenn Miß Campbell Alles in Allem irgend einen Grund hatte, darüber zu klagen, daß die »Columbia« nicht diesen Cours eingeschlagen hatte, so hatten [41] vielleicht auch die beiden Onkels Ursache, es zu bedauern. Wenn man nämlich längs des Küstengeländes von Islay hinfährt, wäre ihren Blicken der alte Stammsitz der Mac Donald erschienen, welche, zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts besiegt und vertrieben, den Campbells weichen mußten. Vor dem Schauplatze einer historischen Thatsache, welche sie selbst so nahe berührte, hätten die Brüder Melvill, ohne hier von Frau Beß und Patridge zu reden, ihre Herzen gewiß kräftiger und schneller, aber unisono klopfen gefühlt.

Was Miß Campbell anbetrifft, so hätte sich der so bedauerte Horizont länger ihrer Bewunderung dargeboten. Von der Spitze von Arran bis zum Vorgebirge Cantyre liegt das Meer nämlich nach Süden zu offen; von der Mull von Cantyre bis zur äußersten Spitze von Islay dehnt es sich nach Westen hin frei aus, das heißt, hier glitzert die ungeheure Wasserfläche, welche erst die Küste Amerikas in einer Entfernung von dreitausend Meilen begrenzt.

Dieser Weg aber ist lang, manchmal beschwerlich, wenn nicht gar gefährlich, und ein Passagierdampfer muß auch mit denjenigen Touristen rechnen, welche vor den Wechselfällen einer oft stürmischen Fahrt zurückschrecken, wenn es gilt, der starken hohlen See in der Gegend der Hebriden Trotz zu bieten.

Die Ingenieure – jeder ein kleiner Lesseps – haben den Gedanken gehabt, aus dieser Halbinsel Cantyre eine wirkliche Insel zu machen. Dank ihren Arbeiten, ist in deren nördlichen Theile der Canal von Crinan ausgehoben worden; er kürzt die Reise um wenigstens zweihundert Meilen ab und erfordert nur drei bis vier Stunden zur Durchfahrt.

Auf diesem Wege hielt sich die »Columbia« auf ihrer Fahrt nach Oban zu, immer zwischen den Lochs und Meerengen, mit keinem anderen Ausblick als den auf Küsten, auf Wälder und Berge. Von allen Passagieren war übrigens Miß Campbell zweifellos die Einzige, welche die andere Route vorgezogen hätte, doch sie mußte sich wohl oder übel fügen. Voraussichtlich fand sie ja den ersehnten Meereshorizont ein wenig oberhalb des Canals von Crinan, einige Stunden später und jedenfalls noch eher wieder, als die Sonne ihre Scheibe in's Meer versenken konnte.

In dem Augenblicke, als die Touristen, welche sich im »Dining-room« ein wenig verspätet hatten, nach dem Deck zurückkamen, berührte die »Columbia« am Eingang des Loch Ridden fast die kleine Insel Elbangreig, die letzte Veste, nach der sich der Herzog von Argyle flüchtete, ehe dieser im Kampfe für die politische und religiöse Befreiung Schottlands ehrenvoll unterlegene Held seinen Kopf nach [42] Edinburgh unter das Fallbeil der schottischen Guillotine trug. Dann wandte sich der Dampfer wieder nach Süden, ging die Meerenge von Bute hinunter inmitten jenes bewunderungswürdigen Panoramas von baumlosen oder bewaldeten Inseln, über denen ein leichter Dampf zu ruhen schien, der ihre schroffen Profile abrundete. Nachdem er endlich das Cap Ardlamont umschifft, schlug er durch den Loch Fyne wieder eine nördliche Richtung ein, ließ auf der Küste von Cantyre das Dorf East Tarbert zur Linken, glitt am Cap Ardrishaig hin und erreichte an der Burg von Lochgilpheat den Eingang des Canals von Crinan.

Hier mußten die Reisenden die »Columbia« verlassen, welche für die Dimensionen des Canals zu groß ist. Dieser Durchstich, dessen Niveau-Unterschied durch fünfzehn Schleusen ausgeglichen wird, eignet sich in seinem neun Meilen langen Laufe nur für schmale Fahrzeuge von geringem Tiefgang.

Ein kleines Dampfboot, der »Linnet«, erwartete die Passagiere der »Columbia«. Die Uebersiedelung ging binnen wenigen Minuten von Statten. Jedermann richtete sich nach Belieben auf dem Spardeck des Dampfers ein; dann schlüpfte der »Linnet« raschen Laufes zwischen den Rändern des Canals hin, während ein »Bagpiper«, das ist ein Dudelsackpfeifer im Nationalcostüm, sein Instrument ertönen ließ. Es gibt kaum etwas melancholischeres als jene wunderlichen Lieder, welche von den Baßtönen dreier Schnurrpfeifen begleitet werden, die nur zwei Töne zu erzeugen im Stande sind, während ihnen die halben Töne gänzlich fehlen, ganz wie in den alten Weisen vergangener Jahrhunderte.

Es ist eine reizende Fahrt durch diesen Canal, der bald zwischen hohen steilen Ufern sich hinwindet, bald sich der Seite eines mit Gebüsch bestandenen Hügels anschmiegt. der hier durch offenes Land verläuft, dort sich durch enge Felsenmauern zwängt. An den Schleusen gibt es selbstverständlich einigen Aufenthalt. Während die betreffenden Leute das Schiff möglichst rasch heben oder senken, bieten junge Männer oder junge Mädchen, die Kinder des Landes, den Touristen frisch gemolkene Milch an und sprechen dabei jenes gaëlische Idiom, dessen sich die alten Kelten dereinst bedienten, eine Sprache, welche ein Fremder gar nicht und selbst ein Engländer nur selten versteht.

Sechs Stunden später – an einer der Schleusen, welche schlecht functionirte, war ein Aufenthalt von zwei Stunden entstanden – verschwanden allmählich die Weiler und Farmen, der sonst etwas traurigen Gegend, gleichwie die ungeheuren Sümpfe von Add, die sich an der rechten Seite des Canals ausdehnen. Der »Linnet« hielt beim Dorfe Ballanoch kurze Zeit an. Hier mußte eine zweite Uebersiedlung [43] stattfinden. Die Passagiere der »Columbia«, jetzt solche des »Glengarry«, dampften nun nach Nordwesten, um aus der Bucht von Crinan herauszukommen und die Landspitze zu umschiffen, auf der sich das alte Feudalschloß Duntroon-Castle erhebt.

Seit jenem kurzen Augenblicke, bei Umsegelung der Insel Bute, war der Meereshorizont noch nicht wieder erschienen.

Man begreift leicht die Ungeduld der Miß Campbell. Auf diesen, nach allen Seiten eingeschlossenen Gewässern hätte sie eher geglaubt, mitten in Schottland, in der Gegend der Landseen, im Land Rob Roy's zu sein. Ueberall pittoreske Inseln mit weichen Wellenlinien und von Weiden und Lärchenbäumen bestanden.

Endlich überholte der »Glengarry« die Nordspitze der Insel Jura, und zwischen dieser Spitze und der kleinen Insel Scarba, welche davon losgelöst ist, erschien die ausgedehnte Fläche des Meeres, welche sich mit dem unteren Himmelsrande berührte.

»Nun, da sieh, liebe Helena, sagte Bruder Sam, während seine Hand nach Westen hindeutete.

– Es war ja nicht unser Fehler, fügte Bruder Sib hinzu, wenn diese verzwickten Inseln, die der alte Nick versenken möge, Dir den Ausblick eine zeitlang gehemmt haben.

– Ihr seid vollständig entschuldigt, liebe Onkels, antwortete Miß Campbell, aber ich wünschte doch, daß so etwas nicht wieder vorkäme.«

6. Capitel

Sechstes Capitel.
Der Strudel von Corryvrekan.

Es war jetzt sechs Uhr Abends. Die Sonne hatte höchstens vier Fünftel ihrer Bahn durchlaufen, und aller Wahrscheinlichkeit nach mußte der »Glengarry« Oban erreichen, bevor das Tagesgestirn in den Wogen des Atlantischen Oceans zur Ruhe gegangen war. Miß Campbell konnte also glauben, daß ihre Wünsche vielleicht noch diesen Abend in Erfüllung gehen würden. Der wolken- und dunstlose Himmel schien wie geschaffen zur Beobachtung der Erscheinung, und der [44] Meereshorizont mußte zwischen den Inseln Oronsay, Colonsay und Mull während dieses letzten Theiles der Fahrt immer sichtbar bleiben.

Da sollte ein unvorhergesehenes Ereigniß die Fahrt des Dampfers einigermaßen verzögern.

Von ihrer fixen Idee beherrscht und immer auf demselben Platze ausharrend, verlor Miß Campbell niemals die Kreislinie aus den Augen, die sich zwischen den zwei Inseln ausdehnte. An der Berührungsstelle mit dem Himmel bildete der Widerschein ein glänzendes Dreieck, dessen letzte Farbentöne an der Flanke des »Glengarry« erstarben.

Ohne Zweifel war Miß Campbell die Einzige an Bord, deren Blicke an jenem Theile des Horizontes gefesselt blieben; sie war auch die Einzige, welche bemerkte, wie heftig das Meer zwischen der genannten Spitze und der Insel Scarba aufgeregt schien. Gleichzeitig klang ihr von ferne her das Rauschen mächtig durch einander gewühlter Wellen an's Ohr, obwohl der leichte Wind kaum einzelne Streifchen auf dem fast schleimigen Wasser hinterließ, so ruhig war das Meer in nächster Umgebung des Dampfers.

»Wodurch entsteht denn jene Wasserbewegung und dieses Geräusch?« fragte Miß Campbell sich an ihre Onkel wendend.

Die Brüder Melvill wären in die schönste Verlegenheit gekommen, wenn sie ihr hätten Aufklärung geben müssen, denn sie begriffen ebensowenig wie das junge Mädchen, was dort in der Entfernung von etwa drei Meilen in jener engen Wasserstraße vorging.

Miß Campbell wandte sich aber nun an den Capitän des »Glengarry«, der auf der Commandobrücke auf und ab ging, und fragte diesen, was die Ursache dieses Donnerns und Polterns der Wogen sei.

»Eine einfache Erscheinung der steigenden Fluth, antwortete der Capitän. Was Sie hier hören, ist das Geräusch des Strudels von Corryvrekan.

– Aber das Wetter ist ganz prächtig, bemerkte Miß Campbell, und von Wind ist kaum etwas zu spüren.

– Jene Erscheinung hängt auch nicht im mindesten von der Witterung ab, antwortete der Capitän, sie ist die Wirkung der steigenden Meeresfluth, die beim Austreten durch den Jurasund keinen anderen Ausweg findet, als den zwischen den Inseln Jura und Scarba. Daher erklärt es sich, daß die Wogen mit ungewöhnlicher Kraft hereinstürzen, und es dürfte für ein Fahrzeug von geringem Tonnengehalt sehr gefährlich sein, sich da hinein zu wagen.«

[45] Dieser Strudel von Corryvrekan, den man in jenen Gegenden mit Recht fürchtet, wird als eine der merkwürdigsten Stellen im Archipel der Hebriden bezeichnet. Vielleicht ließe er sich vergleichen mit der wilden Strömung von Sein, welche durch Einengung des Meeres zwischen dem Damme gleichen Namens und der Bai der Trépassés, an der Küste der Bretagne, gebildet wird, oder der Fluth von Blanchart, durch welche sich zwischen Aurigny und dem Uferland von Cherbourg die Gewässer des Aermelcanals hindurch zwängen. Nach der Sage verdankt diese Stelle ihren Namen einem skandinavischen Fürsten, dessen Schiff zur Zeit der alten Kelten daselbst zu Grunde ging. In der That befindet sich hier eine höchst gefährliche Passage, in welcher viele Schiffe schon den Untergang fanden und die rücksichtlich des übeln Rufes ihrer Strömungen mit dem düsteren Maëlstrom an der Küste Norwegens wetteifern kann.

Miß Campbell verfehlte keinen Augenblick, die enormen Wasserberge jenes Strudels zu betrachten, als ihre Aufmerksamkeit plötzlich auf einen bestimmten Punkt der Meerenge hingelenkt wurde. Es hatte den Anschein, als ob da ein Fels mitten aus dem tobenden Wasser aufragte, wenn seine Masse sich nicht mit den Bewegungen der hohlen See gehoben und gesenkt hätte.

»Sehen Sie, sehen Sie da, Capitän, rief Miß Campbell, wenn das kein Felsen ist, was ist es sonst?

– Ja, wirklich, antwortete der Capitän, das kann nur eine Seetrifft sein, die von der Strömung dahin geführt worden ist, oder gar....«

Er setzte das Fernrohr vor die Augen:

»Ein Boot! rief er laut.

– Ein Boot! wiederholte Miß Campbell.

– Ja, ich täusche mich nicht... es ist ein Boot, das sich auf den Strudel von Corryvrekan verirrt hat!«

Bei diesen Worten des Capitäns waren noch mehrere Personen auf die Commandobrücke geeilt. Alle starrten in der Richtung nach dem Strudel hinaus. Daß ein kleines Fahrzeug auf diese Höllenwirbel verschlagen worden sei, unterlag keinem Zweifel mehr. Gepackt von der Strömung der steigenden Fluth, von der Kraft jenes todbringenden Wirbels angezogen, ging es offenbar seinem Untergange entgegen.

Alle Blicke waren nach jenem Punkte des Strudels gerichtet, der etwa vier bis fünf Meilen vom »Glen garry« lag.

»Das ist wahrscheinlich nur eine losgerissene und fortgetriebene Schaluppe, meinte einer der Passagiere.

[46] – O nein, ich erkenne darin einen Menschen, antwortete ein Anderer.

– Einen Mann... zwei Männer!«rief Patridge, der jetzt neben Miß Campbell Platz genommen hatte.

In der That, es befanden sich zwei Männer darin, welche offenbar nicht mehr Herren ihres Bootes waren. Die schwache, vom Lande herwehende Brise hätte ihre Segel nicht genug spannen können, um es aus dem Wogenschwall zu treiben, und die Ruder konnten sie unmöglich von dem Anziehungscentrum des Corryvrekan fernhalten.

»Capitän, rief Miß Campbell, wir können die beiden Unglücklichen nicht untergehen lassen!... Sie sind verloren, wenn man sie sich selber überläßt!... Sie müssen Hilfe haben!... Sie müssen!...«

Alle an Bord hatten den nämlichen Gedanken, und erwarteten ängstlich die Entscheidung des Capitäns.

»Der »Glengarry«, erklärte dieser, kann sich nicht bis in die Mitte des Corryvrekan wagen, doch wenn wir uns diesem Punkte nur nähern, gelingt es vielleicht, der Schaluppe nahe genug zu kommen, um ihr Rettung zu bringen.«

Er wandte sich dabei an die übrigen Passagiere, wie um von diesen ein Zeichen der Billigung zu erhalten.

Miß Campbell trat noch einmal auf ihn zu.

»Es muß sein, Capitän, es muß sein! rief sie mit zitternder Stimme. Meine Reisegenossen verlangen dasselbe wie ich! Es steht das Leben von zwei Menschen auf dem Spiele, welches Sie vielleicht retten können... o, Capitän, ich bitte Sie inständigst!...

– Ja, ja!« stimmten einige der Passagiere zu, erregt durch die warmherzige Intervention des jungen Mädchens.

Der Capitän ergriff sein Fernglas, beobachtete mit Aufmerksamkeit den Verlauf der Strömung in der Enge und wandte sich dann an den neben ihm auf der Brücke stehenden Steuermann.

»Achtung! rief er, das Ruder nach Steuerbord!«

Unter der Wirkung des Steuers drehte der Dampfer nach Westen bei. Der Maschinist erhielt Befehl, vollen Dampf zu geben, und der »Glengarry« ließ bald die Spitze der Insel Jura zur Linken liegen.

An Bord sprach kein Mensch ein Wort. Aller Augen hingen mit ängstlicher Spannung an der mehr und mehr sichtbar werdenden Schaluppe.

[47] Es war nur ein kleines Fischerboot, dessen Mast die Insassen niedergelegt hatten, wahrscheinlich um den Gegenstoß zu vermeiden, den der heftige Anprall der Wellen hätte erzeugen müssen.


Alle Blicke waren nach jenem Punkte des Strudels gerichtet. (S. 46.)

Von den beiden Männern, welche sich in dem Fahrzeuge befanden, lag der Eine nahe dem hinteren Ende desselben ausgestreckt; der Andere bemühte sich mit aller Anstrengung seiner Kräfte, dem Mittelpunkt der Anziehungskraft des Wassers fern zu bleiben. Gelang ihm das nicht, so waren Beide unrettbar verloren.


»Meine Unbesonnenheit wäre uns bald theuer«... (S. 52.)

Eine halbe Stunde später erreichte der »Glengarry« die Grenze des Corryvrekan und begann schon unter den ersten Wellenbergen furchtbar zu stampfen; doch Niemand an Bord beschwerte sich darüber, obgleich die Hast der Strömung wohl dazu angethan war, einfache Touristen zu erschrecken.

[48]

In diesem Theile der Meerenge erschien das Wasser gleichmäßig weiß, als wenn wenigstens ein Dreireffwind darüberbliese. Man gewahrte nichts als eine ungeheure Fläche von Schaum, der bei der verhältnißmäßig geringen Tiefe des Wassers zu ungeheuren Bergen aufwallte.

[49] Die Schaluppe war nur noch eine halbe Meile entfernt. Von den beiden Insassen machte der, welcher die Riemen führte, ungeheure Anstrengungen, sich aus dem Wirbel zu befreien. Er begriff recht gut, daß der »Glengarry« ihm zu Hilfe kam, aber er sah wohl ein, daß der Dampfer nicht viel weiter vorwärts laufen konnte und es seine Sache sei, jenen zu erreichen. Sein im Hintertheile liegender Gefährte schien des Bewußtseins beraubt.

Eine Beute der peinigendsten Aufregung hasteten Miß Campbell's Blicke auf diesem Boote in höchster Seenoth, das sie zuerst auf dem Wasser des Strudels entdeckt, und auf welches, Dank ihrer inständigen Bitte, der »Glengarry« jetzt zuhielt.

Inzwischen gestaltete sich die Situation immer kritischer. Man konnte fürchten, daß der Dampfer nicht rechtzeitig sein Ziel erreichte. Er bewegte sich jetzt nur mit verminderter Geschwindigkeit, um jedenfalls einer ernstlicheren Beschädigung zu entgehen, und dennoch drohten die ihn von vorn packenden Wogen schon die Lichtöffnung des Maschinen- und Heizraumes zu überschäumen, wobei das Wasser unabwendbar die Kesselfeuer löschen mußte, eine Möglichkeit, welche inmitten dieser entsetzlichen Strömung hätte von den gefährlichsten Folgen sein müssen.

Auf die Eisenstangen am Rande der Commandobrücke gestützt, achtete der Capitän darauf, in dem Canale nicht außer Cours zu kommen, und manövrirte mit Geschick, um das Schiff sich nicht in der Breite gegen die Strömung legen zu lassen.

Der Schaluppe gelang es übrigens nicht, sich selbst aus dem Strudel ganz zu befreien. Zeitweilig verschwand sie vollkommen hinter einem riesenhaften Wogenschwalle; zeitweilig wieder schoß sie, von der concentrischen Strömung des Strudels erfaßt, dessen Schnelligkeit sich in gleichmäßigem Verhältnisse mit dem zunehmenden Umfange vergrößerte, mit der Geschwindigkeit eines Pfeiles oder richtiger eines am Ende einer Schleuder sich kreisförmig bewegenden Steines dahin.

»Schneller, schneller!« drängte Miß Campbell, welche ihre ängstliche Ungeduld nicht zu bemeistern vermochte.

Beim Anblick der sich überstürzenden, brodelnden Wasserberge ließen einzelne Passagiere jedoch schon dann und wann einen leisen Schrei des Schreckens ertönen. In Erwägung der auf ihm lastenden Verantwortlichkeit zögerte der Capitän, weiter in die enge Fahrstraße des Corryvrekan vorzudringen.

Die Schaluppe und den »Glengarry« trennte inzwischen kaum noch die Entfernung einer halben Kabellänge, das heißt ein Zwischenraum von dreihundert[50] Fuß, auch konnte man jetzt deutlich die beiden Unglücklichen erkennen, welche in jener ihrem Verderben entgegeneilten.

Es war ein bejahrter Seemann und ein junger Mann, der Erstere im Hintertheile ausgestreckt liegend, während der Zweite sich mit den langen Riemen abquälte.

In diesem Moment schnellte eine ungeheure Woge den Dampfer hoch empor und brachte ihn in recht bedrohliche Lage.

In der That, der Capitän durfte nicht weiter in die Meerenge hineindampfen, und hatte allein Mühe genug, das Schiff durch langsame Drehung der Radschaufeln mit dem Bug gerade gegen die Wellen gerichtet zu halten.

Plötzlich glitt das Boot, nachdem es einen Augenblick auf haushohem Wellenkamme getanzt, zur Seite und verschwand.

An Bord ertönte nur ein Schrei, ein Aufschrei des Entsetzens!...

War das gebrechliche Fahrzeug in den Abgrund geschleudert worden? Nein. Es stieg auf dem Rücken einer anderen Woge wieder empor, und eine erneute Anstrengung des Ruderers brachte es näher der Flanke des Dampfers.

»Achtung! Aufgepaßt!« riefen einige am Vordertheil stehende Matrosen.

Sie schwangen ein zu Ringen zusammengelegtes Seil und paßten den rechten Augenblick ab, dessen Ende hinaus zu schleudern.

Da bemerkte der Capitän eine Fläche ruhigeren Wassers zwischen zwei brandenden Kämmen und ertheilte den Befehl, der Maschine Volldampf zu geben. Der »Glengarry« drängte sich schneller vorwärts und wagte sich kühn zwischen die beiden Inseln hinein, während die Schaluppe noch einige Faden näher an seine Seite heranschwankte.

Da flog das Seil hinaus, wurde erfaßt und um den Fuß des Mastes geschlungen, dann erhielt der »Glengarry« Gegendampf, um schneller frei zu kommen, während die an seiner Seite liegende Schaluppe im Schlepptau mitlief.

In diesem Momente ließ der junge Mann die Ruder los, packte seinen Begleiter mit kraftvollem Arme, und unter Mithilfe der Matrosen des Dampfers wurde jener alte Seemann an Bord gezogen. Von furchtbarem Wogenschlag getroffen, während Beide in die Meerenge getrieben worden waren, war ihm jede Möglichkeit geraubt worden, die Anstrengungen des jungen Mannes zu unterstützen, der damit auf seine eigenen Kräfte beschränkt war.

Dieser sprang indeß auf das Deck des »Glengarry«. Er hatte seine ganze Kaltblütigkeit bewahrt, sein Gesicht erschien ruhig und sein Auftreten bewies, daß sein moralischer Muth ebenso natürlichen Ursprungs war, wie der physische.

[51] Sofort bemühte er sich, seinem Begleiter alle mögliche Sorgfalt angedeihen zu lassen. Es war das der Besitzer der Schaluppe, den übrigens ein herzhafter Schluck Brandy bald wieder zu sich und halbwegs auf die Füße brachte.

»Herr Olivier! sagte er halblaut.

– Ach, mein wackerer Seemann, antwortete der junge Mann, der schreckliche Wellenschlag...

– Hat mir nichts zu Leid gethan; hab's gelegentlich schlimmer erlebt; 's ist ja schon nichts mehr davon zu sehen....

– Gott sei Dank... Aber meine Unbesonnenheit, immer noch weiter vorwärts zu drängen, wäre uns bald theuer zu stehen gekommen!... Endlich sind wir gerettet!

– Mit ihrer Hilfe, Herr Olivier!

– Nein... mit der Hilfe Gottes!«

Der junge Mann drückte dabei den alten Seemann an die Brust und versuchte gar nicht, die Erregung zu verbergen, welche die Zuschauer dieser Scene nicht wenig rührte.

Darauf wandte er sich zu dem Capitän des »Glengarry«, eben als dieser die Commandobrücke herabkam.

»Herr Capitän, ich weiß nicht, wie ich Ihnen den Liebesdienst, den Sie uns erwiesen, vergelten soll...

– Mein Herr, ich that nichts als meine Pflicht, und aufrichtig gesagt, haben meine Passagiere mehr Anspruch auf Ihre Dankbarkeit, als ich selbst.«

Der junge Mann drückte herzlich die Hand des Capitäns, zog dann den Hut und begrüßte die Passagiere mit eleganter Verbeugung.

Unbedingt wären ohne Dazwischenkunft des »Glengarry« er und sein Begleiter, nachdem der Strudel von Corryvrekan sie einmal gepackt hatte, rettungslos verloren gewesen.

Miß Campbell hatte es während des Austausches dieser Höflichkeiten für angezeigt erachtet, sich etwas zurückzuziehen. Sie wünschte es zu vermeiden, daß der ihr gebührende Theil an der glücklichen Durchführung dieser fast dramatischen Lebensrettung nicht besonders hervorgehoben würde. So hielt sie sich mehr auf dem Vordertheil des Spardecks, als ihr plötzlich, als ihre Phantasie aus dem Schlummer erwachte, während sie sich nach Westen hinwandte, die Worte entfuhren:

»Und der Strahl?... Die Sonne?...

– Es ist keine Sonne mehr da, sagte Bruder Sam.

[52] – Und also ist auch kein Strahl mehr zu sehen,« setzte Bruder Sib hinzu.

Ja, jetzt war's zu spät. Die hinter einem Horizont von wunderbarer Klarheit versunkene Gluthscheibe hatte ihren letzten Grünen Strahl schon in den Weltraum entsandt. In dem betreffenden Augenblick beschäftigten sich Miß Campbell's Gedanken freilich mit etwas ganz Anderem; ihr zerstreutes Auge hatte diese Gelegenheit vorübergehen lassen, welche sich vielleicht in langer Zeit nicht wieder bot.

»Das ist schade!« murmelte sie, übrigens ohne viel Bedauern in Betrachtung dessen, was eben Alles geschehen.

Inzwischen machte der »Glengarry« die nöthigen Evolutionen, um aus der Corryvrekan-Straße frei zu kommen, und schlug den früheren Cours nach Norden wieder ein. Jetzt kletterte der alte Seemann, nach Auswechslung eines letzten Händedrucks mit seinem vorherigen Begleiter, nach der Schaluppe hinunter und segelte, als ob gar nichts vorgefallen wäre, nach der Insel Jura zurück.

Der junge Mann selbst, dessen »Dorlach«, eine Art lederner Reisesack, an Bord geschafft worden war, bildete nun einen Touristen mehr, den der »Glengarry« nach Oban beförderte.

Die Inseln Shuna und Luing, auf denen sich die reichen Schieferbrüche des Marquis von Breadalbane befinden, zur Rechten lassend, glitt der Dampfer an der Insel Seil vorbei, welche diesen Theil der schottischen Küste schützt; bald nachher in den Firth of Lorne eindringend, wand er sich zwischen der vulkanischen Insel Kerrera und dem offenen Lande dahin und warf, mit dem letzten Schimmer der Abenddämmerung, an dem Pfahldamme des Hasens von Oban seine Sorrtaue aus.

7. Capitel

Siebentes Capitel.
Aristobulus Ursiclos.

Wenn Oban auch einen ebenso großen Zusammenfluß von Badegästen nach seinem Strande gelockt hätte, wie die so stark besuchten Küstenstationen von Brigthon, Margate oder Ramsgate, eine so werthvolle Persönlichkeit wie Aristobulos Ursiclos hätte darunter nicht unbemerkt bleiben können.

[53] Ohne sich zu der Höhe seiner Rivalen zu erheben, ist Oban nichtsdestoweniger ein von den Müßiggängern des Vereinigten Königreichs gern aufgesuchter Badeort. Seine Lage an der Meerenge von Mull, sein Geschütztsein vor den scharfen Westwinden, deren directe Einwirkung die Insel Kerrera abhält, zieht eine Menge Fremder hierher. Die Einen kommen wohl, sich in dem heilsamen Wasser wirklich zu stärken, Andere lassen sich hier gleichsam an einem Centralpunkt nieder, von dem die Wege nach Glasgow, Inwerneß und nach den merkwürdigsten Inseln der Hebriden ausstrahlen Es verdient auch hervorgehoben zu werden, daß Oban nicht wie mancher anderer Badeplatz, eine Art Hospital darstellt; die Meisten, welche hier die warme Jahreszeit zu verbringen lieben, sind völlig gesund, und man riskirt nicht, wie an gewissen anderen Badeplätzen, seinen Whist mit zwei Kranken und einem Todten zu spielen.

Obans Existenz reicht kaum auf fünfzig Jahre zurück; es trägt deshalb in der Lage seiner Plätze, in der Einrichtung der Häuser und der Anordnung der Straßenzüge ganz den Stempel der Neuzeit. Doch bietet seine Kirche, eine Art normanisches Bauwerk, mit hübschem Glockenthurm, das alte von dichtem Epheu umrahmte Schloß von Dunolly, dessen Gemäuer sich nach Norden zu auf einem losgerissenen Felsblocke erhebt, ferner das Panorama seiner weißen Häuser und bunten Villen, die verstreut aus der Hügelreihe hinter der Stadt hervorblinken, endlich das ruhige Wasser seiner Bucht, auf der sich nicht wenige elegante Lustyachten schaukeln, Alles das im Verein ein liebliches, abwechslungsreiches Bild.

In diesem Jahre, und vor Allem im Monat August, mangelte es der kleinen Stadt nicht an Touristen oder Badegästen. In der Fremdenliste eines der besten Gasthäuser konnte man schon seit einigen Wochen unter anderen mehr oder weniger bekannten Namen auch den des Herrn Aristobulos Ursiclos aus Dumfries (Nieder-Schottland) lesen.

Es war das eine »Personnage« von achtundzwanzig Jahren, welche niemals jung gewesen zu sein und niemals alt zu werden bestimmt schien. Der Mann hatte das Licht der Welt unzweifelhaft gleich in dem Alter erblickt, in dem er sich später gleichbleibend halten sollte. Sein Auftreten nahm weder für, noch gegen ihn ein; von Gesicht war er »gewöhnlich«, wie es in Steckbriefen heißt, von Haar für einen Mann etwas zu blond; unter seiner Brille leuchteten ein Paar kurzsichtige Augen; dazu hatte er eine kurze Nase, welche man gar nicht für die richtige Nase seines Gesichtes hielt. Von den hundertdreißigtausend Haaren, welche jeder menschliche Schädel nach den neuesten Erfahrungen tragen soll, [54] waren ihm höchstens noch sechzigtausend übrig geblieben. Eine Krause von Barthaar umrahmte ihm Wangen und Kinn, was seinem Gesicht etwas von dem eines Affen verlieh. Wäre er ein solcher gewesen, so hätte man ihn einen hübschen Affen nennen und vielleicht als den bezeichnen können, der in der Stufenleiter der Darwinisten noch fehlt, um als Verknüpfung des Thiergeschlechts mit der Menschheit zu dienen.

Aristobulos Ursiclos war reich an Gut und Geld, aber noch reicher an Ideen. Viel zu unterrichtet für einen jungen Gelehrten, der oft nichts Anderes weiß, als Jedermann mit seiner allumfassenden Weisheit zu langweilen, graduirt auf den Universitäten Oxford und Edinburghh, vereinigte er in sich mehr Kenntnisse der Physik, Chemie, Astronomie und Mathematik, als solche der Literatur. Im Grunde ziemlich anspruchsvoll, fehlte ihm oft nicht gar viel zum vollständigen Narren. Seine Hauptmanie oder seine Monomanie, wie man eben will, war es, zur ungeschickten Zeit und am unpassendsten Orte Aufklärung über Alles zu geben, was mit der Naturgeschichte in irgend welchem Zusammenhange stand; mit einem Worte, er war Pedant mit manchmal recht unliebenswürdigen Eigenschaften. Man lachte nicht gerade direct über ihn, weil er selbst nicht lachensfähig war, vielleicht aber hinter seinem Rücken, weil dieser Mangel eben lächerlich erschien. Niemand wäre minder würdig gewesen als dieser junge Mann, eigentlich gefälscht junge Mann, sich die Devise der englischen Freimaurer: Audi, vide, tace! (Höre, sieh' und schweige) zuzulegen. Er hörte nicht, er sah nicht und er schwieg niemals. Um einen Vergleich zu gebrauchen, der im Lande Walter Scott's ganz angebracht erscheint, erinnerte Aristobulos Ursiclos mit seinem positiven Industrialismus mehr an den Landrichter Nicol Jarvie, als an dessen poetischen Vetter Rob-Roy Mac-Gregor.

Welche Tochter der Hochlande, Miß Campbell nicht ausgenommen, hätte aber Rob-Roy nicht dem Nicol Jarvie vorgezogen?

So war Aristobulos Ursiclos Wie hatten die Brüder Melvill nur auf diesen Pedanten verfallen können, um ihn gar zu ihrem gesetzmäßigen Neffen zu erhöhen? Wie konnte er überhaupt den würdigen Sechzigern Gefallen einflößen? Vielleicht einzig und allein dadurch, daß er als der Erste mit einem Vorschlage die ser Art bezüglich ihrer Nichte aufgetreten war. In einer Art naiver Entzückung hatten sich Bruder Sam und Bruder Sib ohne Zweifel gesagt:

»Das ist ein reicher junger Mann aus guter Familie, der über das Vermögen, welches sich durch Erbschaft von Eltern und Anverwandten auf seinem


Westküste von Schottland.

[55]
Darauf wandte er sich zu dem Capitän... (S. 52.)

Haupte angehäuft hat, frei zu verfügen vermag, und der sich nebenbei durch einen gleich großen Reichthum an Kenntnissen auszeichnet. Das wäre eine prächtige Partie für unsere liebe Helena! Die Heirat wird sich ganz allein machen; sie muß ja alle passenden Verhältnisse darbieten, weil sie – uns passend [56] vorkommt.«

Sie hielten sich selbst auch für ganz besonders pfiffig, Miß Campbell – Dank deren eigenthümlicher Schrulle, betreffend den Grünen Strahl – nach Oban verlockt zu haben. Hier würde sie, ohne daß die Sache vorbereitet erschien, [57] wieder mit Aristobulos Ursiclos zufällige Begegnungen haben, welche seit dessen Abwesenheit unterbrochen worden waren.

Jetzt hatten die Brüder Melvill nebst Miß Campbell die Cottage Helenenburg gegen die schönsten Zimmer des Caledonian-Hôtels vertauscht. Im Fall sich ihr Aufenthalt in Oban länger hinzog, empfahl es sich vielleicht, eine Villa auf den die Stadt beherrschenden Anhöhen zu miethen; inzwischen sahen sich aber Alle mit Hilfe der Frau Beß und des treuen Patridge höchst bequem und wohnlich in dem Etablissement des Meister Mac-Fyne untergebracht. Weitere Entschlüsse blieben vorbehalten.

So traten denn die Brüder Melvill gegen neun Uhr des Morgens, am Tage nach ihrer Ankunft, aus dem Vestibül des am Strande, fast genau gegenüber dem Pfahldamme am Hasen gelegenen Caledonian-Hôtels. Miß Campbell ruhte noch in ihrem Zimmer der ersten Etage, ohne die leiseste Ahnung davon, daß ihre Onkels nur ausgingen, um Aristobulos Ursiclos aufzusuchen.

Die beiden Unzertrennlichen begaben sich hinunter nach dem Strande und schlugen, unterrichtet davon, daß ihr »Prätendent« in einem der am Nordende der Bai erbauten Hôtels wohne, die Richtung nach jenen Gebäuden ein.

Man muß zugeben, daß dieselben sich von einem gewissen Vorgefühle leiten ließen. In der That begegnete ihnen, kaum zehn Minuten nach ihrem Aufbruche von zuhause, Herr Aristobulos Ursiclos, der jeden Morgen seine wissenschaftliche Promenade nach den letzten Anschwemmungen der Fluth unternahm, und wechselte mit ihnen einen jener banalen Händedrücke, welche so häufig mehr mechanisch ausgetauscht werden.

»Herr Ursiclos! sagten beide Brüder Melvill.

– Ah, die Herren Melvill! antwortete Aristobulos in einem Tone, der seine Ueberraschung ausdrücken sollte. Die Herren Melvill... hier... in Oban?

– Seit gestern Abend, belehrte ihn Bruder Sam.

– Und wir schätzen uns glücklich, Herr Ursiclos, Sie bei so vortrefflicher Gesundheit zu sehen, sagte Bruder Sib.

– O, ich danke, meine Herren, – Sie kennen ohne Zweifel schon die gestern eingetroffene Depesche?

– Depesche? fragte Bruder Sam. Sollte etwa das Ministerium Gladstone schon...

– Hier handelt es sich nicht um das Ministerium Gladstone, erwiderte Aristobulos Ursiclos ziemlich wegwerfend, sondern um eine meteorologische Depesche.

[58] – Ah so! antworteten beide Onkels.

– Ja, man kündigt darin an, daß die über Swinemünde liegende Depression sich unter beträchtlicher Vertiefung mehr nach Norden gewendet hat. Ihr Centrum liegt heute über Stockholm, wo das Barometer, das um einen Zoll – gleich fünfundzwanzig Millimeter, um dem unter den Gelehrten gebräuchlichen Decimalsystem zu folgen – gefallen ist, nur noch achtundzwanzig sechs Zehntel Zoll, d. h. siebenhundertsechsundzwanzig Millimeter zeigt. Wenn der Luftdruck in England und Schottland noch so ziemlich der gleiche geblieben ist, ist er doch gestern in Valencia um ein Zehntel und in Stornoway um zwei Zehntel gefallen.

– Und diese Depression?... fragte Bruder Sam.

– Führt zu welchem Schlusse?... setzte Bruder Sib hinzu.

– Daß das schöne Wetter nicht mehr andauern wird, erklärte Aristobulos Ursiclos, und daß der Himmel unter Auftreten südwestlicher Windströmungen bald von den Ausdünstungen des Nord-Atlantischen Oceans bedeckt erscheinen dürfte.«

Die Brüder Melvill dankten dem jungen Gelehrten, ihnen diese interessanten Vorhersagungen mitgetheilt zu haben, und folgerten daraus, daß der Grüne Strahl lange genug auf sich warten lassen werde – ein Umstand, der ihnen nicht besonders unangenehm erschien, da er ihren Aufenthalt in Oban verlängern mußte.

»Und Sie sind gekommen, meine Herren?...« fragte Aristobolus Ursiclos, nachdem er einen Strandkiesel aufgehoben, den er mit größter Aufmerksamkeit prüfte.

Die beiden Onkels hüteten sich wohl, ihn bei diesem Studium zu stören.

Doch als der Silex sich der schon vorhandenen Sammlung in der Tasche des jungen Gelehrten zugesellte, sagte Bruder Sib:

»Wir sind in der sehr natürlichen Absicht gekommen, einige Zeit hier zu verweilen.

– Und müssen hinzufügen, sagte Bruder Sam, daß auch Miß Campbell uns begleitet hat....

– Ah, Miß Campbell! rief Aristobulos Ursiclos. – Ich glaube dieser Silex stammt aus der gaëlischen Epoche... er enthält noch Spuren... wirklich, es wird mich besonders freuen, Miß Campbell wieder zu sehen!... von meteorologischem Eisen. Dieses ganz besondere milde Klima wird ihr ausgezeichnet wohlthun.

[59] – Sie befindet sich übrigens ganz nach Wunsch, bemerkte Bruder Sam, und hat nicht etwa das Bedürfniß, ihre Gesundheit wieder herstellen zu müssen.

– Thut nichts, erwiderte Aristobulos Ursiclos. Die Luft hier ist vorzüglich. Null Komma einundzwanzig Sauerstoff, null neunundsechzig Stickstoff mit nur wenig Wasserdampf, gerade soviel, wie physiologisch von Vortheil ist. Von Kohlensäure nur Spuren. Ich nehme jeden Tag eine Analyse vor.«

Die Brüder Melvill glaubten darin eine zarte Aufmerksamkeit gegen Miß Campbell erblicken zu dürfen.

»Aber, fragte Aristobulos Ursiclos, wenn Sie nicht aus Gesundheitsrücksichten nach Oban gekommen sind, meine Herren, darf ich dann wissen, aus welchem Grunde Sie Ihre Cottage Helenenburg verlassen haben?

Wir haben keine Ursache, es vor Ihnen zu verbergen, in Erwägung der Lage, in welcher wir uns befinden... antwortete Bruder Sib zögernd.

– Darf ich in dieser Ortsveränderung, nahm der junge Mann, die angefangene Phrase unterbrechend, das Wort, den übrigens ganz natürlichen Wunsch erblicken, mir Gelegenheit zu geben. mit Miß Campbell häufiger und unter Verhältnissen zusammenzutreffen, unter denen wir uns besser kennen, d. h. schätzen lernen können.

– Ganz recht, erklärte Sib. Wir glaubten, auf diese Weise würde sich unser gemeinsames Ziel leichter erreichen lassen....

– Ich stimme Ihnen vollkommen zu, meine Herren, sagte Aristobulos Ursiclos. Hier auf neutralem Boden werden Miß Campbell und ich beste Gelegenheit finden, mit einander plaudern zu können, z.B. über die Bewegungen des Meeres, über die Richtung der Winde, die Höhe der Wellen, die Wechsel der Gezeiten und andere physikalische Phänomene, welche sie ja in hohem Grade interessiren müssen.«

Nachdem die Brüder Melvill ein Lächeln der Befriedigung ausgetauscht, verneigten sie sich als Zeichen der Zustimmung und fügten hinzu, daß sie bei ihrer Rückkehr nach der Cottage Helenenburg sehr glücklich sein würden, ihren liebenswürdigen Gast unter einem anderen Titel begrüßen zu können.

Aristobulos Ursiclos antwortete, daß das noch mehr auf seiner Seite sein werde und um so besser passe, als die Regierung gerade jetzt in dem Clyde ausgedehnte Baggerarbeiten zwischen Helensbourgh und Greenock vornehmen lasse, bei denen man sich des elektrischen Lichtes zu bedienen gedenke, und wobei auch neue elektrische Maschinen versucht werden sollten.

[60] Befand er sich dann erst in der Cottage, so werde er deren Anwendungsweise bequem beobachten und ihren Nutzeffect berechnen können.

Die Brüder Melvill konnten nur anerkennen, daß dieses Zusammentreffen unter Umständen ihren Projecten besonders günstig sei. Während der Mußestunden in der Cottage würde der junge Gelehrte den verschiedenen Phasen der hochgelehrten, interessanten Arbeiten ohne Beschwerde folgen können.

»Sie haben aber doch, fragte Aristobulos Ursiclos, einen Vorwand gebraucht, hierher zu gehen, denn Miß Campbell erwartet jedenfalls nicht, mich hier in Oban zu treffen?

– Ja freilich, antwortete Bruder Sib, und diesen Vorwand hat uns Miß Campbell gar selbst geliefert.

– Ach, sieh' da, rief der junge Gelehrte, und welcher ist es?

– Es handelt sich ihr um Beobachtung einer physikalischen Erscheinung, für welche in Helensbourgh die Vorbedingungen nicht gegeben sind.

– Wahrhaftig, meine Herren, platzte Aristobulos Ursiclos heraus, indem er seine Brille zurechtschob, das beweist ja schon, daß zwischen Miß Campbell und mir eine gewisse sympathische Verwandtschaft herrscht! Darf ich erfahren, welches Phänomen es ist, das in Helensbourgh nicht studirt werden konnte?

– Dieses Phänomen ist ganz einfach der Grüne Strahl, belehrte ihn Bruder Sam.

– Der Grüne Strahl? rief Aristobulos Ursiclos erstaunt, von dem habe ich ja niemals reden gehört! Erlauben Sie mir, da weiter zu fragen, was es mit diesem Grünen Strahl für eine Bewandtniß hat?«

Die Brüder Melvill erklärten, so gut sie konnten, die Erscheinung, welche die »Morning-Post« unlängst der Aufmerksamkeit der Leser empfohlen hatte.

»Pah, machte Aristobulos Ursiclos, das ist nur eine simple Curiosität ohne großes Interesse, welches schon mehr zu dem kindischen Gebiete der unterhaltenden Physik gehört.

– Miß Campbell ist ja ein junges Mädchen, entschuldigte sie Bruder Sib, und sie scheint diesem Phänomen eine unzweifelhaft weit übertriebene Bedeutung beizulegen...

– Denn sie will sich nicht verheiraten, hat sie gesagt, bevor sie es nicht beobachtet hat, setzte Bruder Sam hinzu.

– Nun wohl, meine Herren, prahlte Aristobulos Ursiclos, wir werden ihr ihn zeigen, ihren Grünen Strahl?«

[61] Hierauf begaben sich alle Drei längs eines durch Wiesen in der Nähe des Strandes verlaufenden Weges nach dem Caledonian-Hôtel zurück.

Aristobulos Ursiclos konnte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, den Brüdern Melvill darzulegen, wie der Geist der Frauen noch immer an Kleinigkeiten hänge, und er legte dabei in großen Zügen Alles dar, was nothwendig sei, um das Niveau ihrer ganz falsch aufgefaßten Erziehung zu heben, obwohl er gewiß nicht glaubte, daß deren, gegenüber dem des Mannes mit weniger Gehirnsubstanz ausgestattetes Gehirn, dessen Faseranordnung außerdem eine andere sei, sie jemals zu wirklich hohen Speculationen geeignet erscheinen lassen werde. Aber ohne so weit zu gehen, könne man doch vielleicht dahin gelangen, dasselbe durch speciell berechnete Erziehung, respective Trainirung zu vervollkommnen, wiewohl, so lange die Welt besteht, sich noch keine Frau durch derartige Entdeckungen ausgezeichnet hat, wie etwa Aristoteles, Euklid, Hervey, Hahnemann, Pascal, Newton, Laplace, Arago, Humphry Davy, Edison, die Humboldt's, Virchow, Pasteur, Siemens u. A. Hierauf erging er sich in der Erklärung verschiedener Naturerscheinungen und schwatzte von omni re scibili – Miß Campbell freilich erwähnte er mit keinem Worte.

Die Brüder Melvill hörten andächtig zu – um so bereitwilliger, als sie unfähig gewesen wären, zwischen diesen, in einer Schnurre declamirten Monolog, den Aristobulos Ursiclos mit den nöthigen hums! hums! spickte und verzierte, ein Wörtchen einzuschieben.

So gelangten sie bis etwa hundert Schritte vor das Caledonian-Hôtel und blieben einen Augenblick stehen, um von einander Abschied zu nehmen.

Da zeigte sich eine jugendliche Erscheinung am Fenster ihres Zimmers. Sie schien eifrig beschäftigt, wenn nicht gar ganz außer Fassung zu sein. Sie blickte gerade hinaus, nach links und nach rechts und sachte offenbar einen Horizont, den sie nicht finden konnte.

Plötzlich bemerkte Miß Campbell – denn sie war es – ihre Onkels. Sofort flog das Fenster klirrend zu und wenige Minuten später kam das junge Mädchen die Arme halb gekreuzt, das Gesicht sehr ernst, die Stirn voll drohender Vorwürfe, nach dem Strande hinab.

Die Brüder Melvill sahen einander an. Was mochte Helena fehlen? War es nur die Anwesenheit Aristobulos Ursiclos', welche diese Symptome außerordentlicher Aufregung hervorrief?

[62] Inzwischen trat der junge Gelehrte einen Schritt vor und begrüßte Miß Campbell mechanisch.

»Herr Aristobulos Ursiclos, sagte Bruder Sam, indem er den Gelehrten mit einiger Förmlichkeit vorstellte.

– Der sich rein infolge eines glücklichen Zufalles... gerade in Oban aufhält, setzte Bruder Sib hinzu.

– Ah,... Herr Ursiclos!«

– Miß Campbell ließ sich kaum herab, den Gruß zu erwidern.

Dann wendete sie sich gleich an die höchst verlegenen Brüder Melvill, welche gar nicht wußten, woran sie waren.

– Meine Onkels? sagte sie sehr ernst.

– Liebe Helena, antworteten die beiden Onkels mit sichtlich unruhiger Stimme.

– Wir sind doch wohl in Oban? fragte sie.

– In Oban... ganz gewiß.

– Am Hebridenmeere?

– Sicherlich.

– Nun gut, in einer Stunde werden wir nicht mehr hier sein!

– In einer Stunde?

– Hatte ich nicht als Hauptsache einen freien Horizont verlangt?

– Das bestreitet Niemand, liebe Tochter...

– Wollt Ihr vielleicht die Güte haben, mir zu zeigen, wo derselbe sich findet?«

Verdutzt drehten sich die Brüder Melvill nach allen Seiten um.

Geradeaus, aber ebenso nach Südwesten, wie nach Nordosten, zeigte sich zwischen den vorgelagerten Inseln kein freier Raum, wo Himmel und Wasser hätte zusammentreffen können. Seil, Kerrera und Kismore bildeten eine ununterbrochene Brücke von einem Lande zum andern. Man mußte wohl oder übel zugestehen, daß der verlangte und versprochene Horizont in Oban fehlte.

Die beiden Brüder hatten darauf bei ihrer Promenade längs des Strandes gar nicht geachtet. So machte sich ihre Verwunderung in den zwei echt schottischen Interjectionen Luft, welche eine gewaltige Enttäuschung, vermischt mit etwas übler Laune, bezeichnen, indem der Eine

»Pooh! ausrief, und der Andere mit

– Pswha!« antwortete.

[63]

8. Capitel

Achtes Capitel.
Ein Wölkchen am Horizont.

Jetzt war einer Erklärung nicht auszuweichen; da Aristobulos Ursiclos aber damit nichts zu thun hatte, grüßte ihn Miß Campbell kühl und wandte sich nach dem Caledonian-Hôtel zurück.

Aristobulos Ursiclos hatte den Gruß des jungen Mädchens nicht minder kühl erwidert. Offenbar hatte die Erfahrung, seine gelehrte Persönlichkeit mit einem Grünen Strahl gleichwerthig angesetzt zu sehen, auf ihn wie eine kalte Douche gewirkt, und so schlug er, unverständliche Worte vor sich hinmurmelnd, den Weg längs des Strandes wieder ein.

Bruder Sam und Bruder Sib fühlten sich in ihrer Haut auch nicht besonders wohl. In ihren reservirten Salon eingetreten, erwarteten sie mit gesenkten Ohren, daß Miß Campbell das Wort nehmen werde.

Die Erklärung fiel ziemlich kurz, aber desto deutlicher aus. Sie waren nach Oban gekommen, um einen freien Meereshorizont zu sehen; einen solchen sah man hier nicht oder doch nur so wenig, daß es sich nicht der Mühe lohnte, davon zu reden.

Die beiden Onkels konnten sich nur damit entschuldigen, daß sie im guten Glauben gehandelt hätten. Sie kannten Oban vorher selbst noch nicht. Wer hätte geahnt, daß das Meer, das freie offene Meer nicht ebenfalls da zu finden sei, wo so viele Badegäste zusammenströmten? Hier war freilich der einzige Punkt der Küste, wo, Dank diesen unglückseligen Hebriden, die Kreislinie des Wassers nicht den Himmel begrenzte!

»Nun gut, sagte Miß Campbell in einem Tone, dem sie eine möglichst strenge Färbung verlieh, es wird also nichts Anderes übrig bleiben, als einen anderen Küstenpunkt aufzusuchen, selbst auf den Verlust des unschätzbaren Vortheils hin, mit Herrn Aristobulos Ursiclos zusammen zu sein!«

Die Brüder Melvill neigten instinctiv den Kopf, ohne auf die kleine Bosheit zu antworten.

»Wir werden sofort das Nöthige besorgen, fuhr Miß Campbell fort, um noch heute abzureisen.

[64] – Ja, ja, wir wollen abreisen!« stimmten die beiden Onkels zu, welche ihre Unbesonnenheit nur durch einen Act passiven Gehorsams glaubten wett machen zu können.

Sogleich erklang es wieder nach alter Gewohnheit:

»Bet!

– Beth!

– Beß!

– Betsey!

[65] Betty!«–


Oban. (S. 54.)

Frau Beß erschien, gefolgt von Patridge. Beide wurden von dem neuen Beschlusse unterrichtet, und da sie von jeher wußten, daß ihre junge Herrin immer Recht haben mußte, grübelten sie gar nicht über den Grund dieser eiligen Abreise.

Hier hatte man jedoch buchstäblich die Rechnung ohne den Wirth, d. h. ohne Master Mac-Fyne, den Besitzer des Caledonian-Hôtels, gemacht.

Man müßte diese schätzenswerthen Industriellen, selbst in dem so gastlichen Schottland, sehr schlecht kennen, um zu glauben, daß sie eine aus drei Personen und zwei Dienstleuten bestehende Familie so ruhig wegziehen ließen, ohne alles Mögliche aufzustellen, sie zurückzuhalten. Und das traf auch in unserem Falle ein.

Kaum hatte Master Mac-Fyne von dem für ihn bedeutungsvollen Vorhaben erfahren, als er mit der Erklärung zur Hand war, daß sich ja Alles zur allgemeinen Befriedigung arrangiren ließe, ohne dabei von der persönlichen Befriedigung zu sprechen, die er darüber empfand, so anständige Gäste so lange als möglich zu behalten.

Was wünschte Miß Campbell und was verlangten deshalb die Herren Melvill?

Eine unbeschränkte Aussicht über das Meer, wenigstens nach Westen und Nordwesten? Dieser Wunsch war ja leicht genug zu erfüllen, zumal es sich im Grunde doch nur darum handelte, den Untergang der Sonne beobachten zu können. Von dem Gestade von Oban konnte man denselben nicht sehen? Zugegeben. Wäre das von der Insel Kerrera aus möglich gewesen? Auch nicht. Die vorgelagerte große Insel Mull gestattete höchstens einen Blick nach einem sehr beschränkten Theil des Atlantischen Oceans in der Richtung nach Südwesten. Wenn man hingegen an der Küste hinabging, gelangte man nach der kleinen Insel Seil, deren nördlichster Punkt durch eine Brücke mit dem Festlande Schottlands verbunden ist. Hier konnte nichts den Ausblick nach Westen über zwei Fünftel des Compasses behindern.

Sich nach dieser Insel zu begeben, dazu bedurfte es nur eines Spazierweges von vier bis fünf Meilen, nicht mehr, und bei passender Witterung konnte ein vorzüglicher, mit schnellfüßigen Pferden bespannter Wagen Miß Campbell und ihre Begleitung dahin bequem binnen einundeinerhalben Stunde bringen.

[66] Zur Bekräftigung seiner Aussage verwies der redegewandte Hôtelier noch auf die im Vestibül des Hauses aushängende, in großem Maßstabe entworfene Karte der Umgebung. Miß Campbell konnte sich also unschwer überzeugen, daß Meister Mac-Fyne die Wahrheit sagte. Wirklich verbreitete sich seewärts der Insel Seil ein breiter, mindestens ein Drittel des Horizonts umfassender Sector, welchen die Sonne während mehrerer Wochen vor und nach der Tagundnachtgleiche durchzog.

Die Sache ordnete sich also zur größten Zufriedenheit des Meisters Mac-Fyne und zur größten Bequemlichkeit der Brüder Melvill. Miß Campbell sicherte ihnen edelmüthig volle Verzeihung zu und unterließ sogar jede verletzende Anspielung bezüglich der Anwesenheit des Aristobulos Ursiclos.

»Aber, sagte Bruder Sam, es ist doch merkwürdig, daß gerade Oban keinen Meereshorizont hat!

– Ja, die Natur hat eben ihre Launen!« antwortete Bruder Sib.

Aristobulos Ursiclos war ohne Zweifel sehr glücklich, daß Miß Campbell nun nicht fortging, um eine für ihre meteorologische Beobachtung geeignetere Oertlichkeit aufzusuchen; er war aber so vertieft in seine wissenschaftlichen Probleme, daß er ganz vergaß, seine Befriedigung darüber zu erkennen zu geben.

Das phantastische junge Mädchen wußte ihm Dank für seine Zurückhaltung, denn, wenn sie sich auch hinfort indifferent benahm, so empfing sie ihn doch weniger kühl, als bei der ersten Begegnung.

Inzwischen hatte sich der Zustand des Himmels einigermaßen verändert. Wenn das Wetter auch noch schön blieb, so verdeckten doch stets einzelne Wolken, welche auch die Mittagshitze nicht aufzulösen vermochte, den Horizont beim Auf- und Untergang der Sonne. Es wäre demnach ganz nutzlos gewesen, einen Beobachtungspunkt auf der Insel Seil aufzusuchen; das mußte vergebliche Mühe sein, und so galt es denn, sich in Geduld zu fassen.

Während dieser langen Tage schweifte Miß Campbell, welche ihre Onkels gern der Gesellschaft des Verlobten ihrer Wahl überließ, manchmal in Begleitung der Frau Beß, meist aber allein, auf dem Vorlande der Bai umher.

Sie vermied gern jene Welt von Müßiggängern, welche, fast überall in ganz gleichem Charakter, die flottirende Bevölkerung der Badeorte bildet; Familien, deren einzige Beschäftigung darin besteht, das Meer sinken und steigen zu sehen, während die kleinen Mädchen und Knaben mit echt britannischer Ungebundenheit der Bewegung über den flüchtigen Sand kollern; schon alte, ernste und phlegmatische Herren unter häufig gar zu rudimentärem Badecostüm, deren Hauptgeschäft [67] darin besteht, sich sechs Minuten lang in das salzige Wasser zu tauchen; dazu Herren und Damen von größter »respectability«, welche regungslos und steif auf den grünen Holzbänken mit rothen Kissen sitzen und einige Seiten eines cartonuirten, illustrirten und meist überaus enggedruckten Buches durchblättern, wie man solche als Erzeugnisse der englischen Typographie leider gar zu oft findet; ferner einzelne Touristen mit dem Fernglase am Riemen, den Schlapphut auf der Stirne, lange Gamaschen an den Beinen und den Sonnenschirm unter dem Arme, welche gestern angekommen sind und morgen wieder weiterziehen werden; endlich, inmitten jener Menge, Händler mit ausschließlich tragbarer und beweglicher Industrie, Elektriker, welche das geheimnißvolle Fluidum für zwei Pence Jedem verkaufen, der zum Probiren desselben Lust verspürt; Künstler, deren mechanisches Piano auf Rädern Motive aus einheimischen Liedern mit verunstalteten französischen Chansonnettes vermischt; Photographen unter freiem Himmel, die von zufällig zusammensitzenden Familien sofort Dutzende von Augenblicksbildern liefern; Händler im schwarzen Ueberzieher und Händlerinnen im blumengeschmückten Hute, ihre kleine Karren vor sich herschiebend, in denen sie die schönsten Früchte aus der Welt feilbieten; »Minstrels« endlich, die, ganz erstaunliche Gesichter schneiden, volksthümliche Scenen unter schonungsloser Travestirung abspielen und dazu herzbrechende Gassenhauer in unzähligen Couplets singen, inmitten eines Zuhörerkreises von Kindern, welche die Refrains mit heiligem Ernste nachsingen.

Für Miß Campbell hatte dieses alltägliche Treiben eines Badeortes nicht den Reiz der Neuheit mehr. Sie zog es vor, diesem Gewimmel von Menschen zu entfliehen, welche einander eben so fremd zu sein schienen, als wären sie aus allen vier Winkeln Europas zusammengeströmt.

Wenn ihre, über das Ausbleiben des jungen Mädchens besorgten Onkels sie suchen wollten, so mußten sie sich immer nach dem einsamen Strande an irgend einer vorspringenden Spitze der Bai begeben.

Da saß Miß Campbell, gleich der nachsinnenden Minna aus dem »Piraten«, den Ellenbogen auf ein Felsstück gestützt, den Kopf in der einen Hand ruhend, während sie mit der anderen wilden Fenchel enthülste, der hier zwischen den Steinen wuchs. Ihr zerstreuter Blick wandte sich von einem »Stack«, dessen Felsengipfel lothrecht emporragte, nach irgend einer dunklen Höhle, einer jener »Helyers«, wie man sie in Schottland nennt, welche von dem Brausen des einfluthenden Meeres widerhallen.

[68] In der Ferne saßen in geraden Linien Seeraben unbeweglich, gleich hieratischen Vögeln, und sie folgte ihnen weithin mit den Blicken, wenn diese, aus ihrer Ruhe gestört, mit schwerem Flügelschlage dicht über die Brandungswellen hinstreiften. Woran dachte wohl das junge Mädchen?

Aristobulos Ursiclos hätte unzweifelhaft Anmaßung und ihr Onkelpaar Naivetät genug besessen, zu glauben, daß sie an ihn denken müsse; sie hätten sich damit freilich gründlich getäuscht.

In der Erinnerung durchlebte Miß Campbell noch einmal die Scenen beim Corryvrekan. Sie sah die mit dem Untergange bedrohte Schaluppe, die Manöver des »Glengarry«, wie dieser mitten in die enge Fahrstraße hineindampfte. Tief im innersten Herzen empfand sie noch einmal jene Erregung, welche sie so athemlos bedrückt hatte, als jene Unbesonnenen in der Aushöhlung des wirbelnden Wassers verschwan den.... Dann trat ihr die gelungene Rettung vor Augen, die im rechten Moment geschleuderte Leine, der elegante junge Mann, wie er das Deck des Schiffes betrat – so ruhig, so lächelnd, weit weniger erregt als sie, und wie er mit zwangloser Handbewegung die Passagiere des Dampfers begrüßte.

Für einen etwas schwärmerischen Kopf war das der Anfang eines Romans, doch hatte es den Anschein, als ob dieser nicht über das erste Capitel hinauskommen solle. Das angefangene Buch hatte sich unter Miß Campbell's eigenen Händen plötzlich geschlossen. Welche Seite desselben würde sie jemals wieder aufschlagen können, da »ihr Held«, ähnlich einem Wodan der gaëlischen Urzeit, nicht wieder erschienen war?

Aber hatte sie denn überhaupt inmitten dieser theilnahmslos an einander vorüberstreifenden Menge, von der es auf dem Strande von Oban wimmelte, nach ihm gesucht? – Vielleicht. – War er ihr da vor Augen gekommen? – Nein. Er hätte sie natürlich nicht wiedererkennen können. Wie hätte er sie auch an Bord des »Glengarry« besonders bemerken sollen? – Weshalb hätte er ihr näher treten sollen? Wie konnte er errathen, daß er seine Rettung zum Theil nur ihr verdankte? Und doch war vor allen Uebrigen sie es gewesen, welche das in Seenoth befindliche Fahrzeug bemerkt, sie die Erste, die den Capitän gebeten hatte, ihm zu Hilfe zu eilen. Und zuletzt hatte ihr das an jenem Abend wahrscheinlich noch ihren Grünen Strahl gekostet! Das konnte man wirklich vermuthen.

Während der drei Tage, welche der Ankunft der Familie Melvill in Oban folgten, hätte der Himmel einen Astronomen der Sternwarten von Edinburgh [69] oder Greenwich rein zum Verzweifeln gebracht. Er zeigte sich gleichsam wattirt mit einer Art seinem Dunst, der jeder Beobachtung noch hinderlicher war als vereinzelte, scharf begrenzte Wolken. Selbst die mächtigsten Fernrohre oder Teleskope, das Spiegelteleskop von Cambridge ganz wie das Riesen-Instrument von Parsonstown, wären außer Stande gewesen, denselben zu durchdringen. Höchstens die Sonne hätte Kraft genug besessen, ihn mit ihren Strahlen zu durchbrechen, bei ihrem Niedergange aber hüllte die Meeresgrenze sich in seine Nebel, welche den Westhimmel mit purpurnen Farbentönen übergossen.

Der Grüne Strahl konnte dabei freilich unmöglich zu den Augen eines Beobachters gelangen.

Von etwas phantastischer Einbildung erfüllt, vermengte Miß Campbell in ihren Träumereien den Schiffbrüchigen aus dem Strudel von Corryvrekan und den Grünen Strahl in ein und derselben Vorstellung. Sicherlich kam der Eine so wenig wie der Andere zur Erscheinung. Wenn die Dünste diesen verdeckten, so verbarg das Incognito ihr jenen.

Machten die Brüder Melvill den Versuch, ihre Nichte zur Geduld zu ermahnen, so kamen sie freilich schlecht an. Miß Campbell genirte sich gar nicht, sie für die hartnäckigen atmosphärischen Störungen verantwortlich zu machen; sie selbst wieder hielten sich an das vortreffliche Aneroïd-Barometer, das sie in vorsorglicher Weise von Helensbourgh mitgenommen hatten und dessen Zeiger dabei verharrte, sich nicht vorwärts zu bewegen. Sie hätten wirklich ihre geliebte Tabaksdose d'rum gegeben, einmal einen Sonnenuntergang bei wolken- und nebelfreiem Himmel zu erlangen!

Der gelehrte Ursiclos beging eines Tages, bezugnehmend auf die Dunstmassen, welche den Himmel bedeckten, gar die Ungeschicklichkeit, deren Entstehung ganz natürlich zu finden. Von dieser Erkenntniß bis zur Eröffnung eines ambulatorischen Cursus über Physik war bei ihm selbstverständlich nur ein Schritt, den er in Gegenwart der Miß Campbell denn auch that. Er sprach dabei von den Wolken im Allgemeinen, von ihrer abwärts steigenden Bewegung, welche sie mit Erniedrigung der Lufttemperatur dem Horizonte zuführt, von der Umbildung der Dünste in Bläschenform, von ihrer wissenschaftlichen Eintheilung in Nimbus, Stratus, Cumulus, Cyrrhus – wir brauchen wohl nicht zu versichern, daß er in dem Genusse, seine Weisheit an den Mann zu bringen, schwelgte.

Das lag so klar auf der Hand, daß die Brüder Melvill gar nicht wußten, welche Haltung sie dieser improvisirten Belehrung gegenüber einnehmen sollten[70] Miß Campbell selbst »coupirte« – um in modernem Dandyjargon zu sprechen – den jungen Gelehrten glatt weg; erst gab sie sich den Anschein, als sähe sie in einer ganz anderen Richtung hin, um ihn nicht zu hören; dann heftete sie die Augen unverwandt auf das Schloß von Dunolly, um ihn scheinbar gar nicht zu bemerken; endlich blickte sie auf die Spitzen ihrer zierlichen Badeschuhe nieder – was als nicht mißzudeutendes Zeichen von Indifferenz gilt, als der Beweis vollkommensten Mangels an Beachtung, den eine junge Schottin, ebenso bezüglich der Worte eines Sprechenden wie seiner eigenen Persönlichkeit, nur immer beizubringen vermag.

Aristobulos Ursiclos, der gewöhnlich nichts sah und hörte als sich selbst, der stets nur für sich selbst sprach und docirte, bemerkte davon freilich nichts oder hatte wenigstens den Anschein, nichts zu bemerken.

So vergingen der 3., 4., 5. und 6. August; am letzteren Tage aber stieg zur großen Freude der Brüder Melvill das Barometer um einige Linien über »Veränderlich«. Der folgende Tag brach unter den günstigsten Aussichten an. Um zehn Uhr Morgens leuchtete die Sonne in blendendem Glanze und der Himmel breitete über dem Meere einen Azur von herrlicher Klarheit aus.

Miß Campbell konnte sich diese günstige Gelegenheit nicht entgehen lassen. In dem Schuppen des Caledonian-Hôtels wurde ein Wagen stets zu ihrer Verfügung gehalten. Jetzt oder niemals war der Augenblick gekommen, von demselben Gebrauch zu machen.

Um fünf Uhr Abends nahmen also Miß Campbell und die Brüder Melvill in der Kalesche Platz, die ein, mit der Leitung eines Viergespanns wohlvertrauter Kutscher führte. Patridge nahm den Dienersitz am Rücktheil ein, und die durch eine Peitsche mit sehr langer Schnur angetriebenen Pferde jagten auf der Landstraße von Oban nach Glachan dahin.

Aristobulos Ursiclos hatte, zu seinem größten Leidwesen – wohl kaum auch zu dem der Miß Campbell – wegen dringlicher Beschäftigung mit einer wissenschaftlichen Abhandlung, nicht von der Partie sein können.

Der Ausflug war in jeder Hinsicht ein höchst lohnender. Der Wagen folgte der Straße längs der Küste und der Meerenge, welche die Insel Kerrera vom schottischen Lande trennt. Die Insel, vulcanischen Ursprungs, bot einen herrlichen Anblick, litt aber an dem einen unverzeihlichen Fehler, Miß Campbell die freie Aussicht über das Meer zu rauben. Da unter diesen Verhältnissen jedoch nur vierundeinhalb Meilen zurückzulegen waren, so verhehlte sie doch nicht ganz ihre Bewunderung


»Und Sie sind gekommen, meine Herren?...« (S. 59.)

des harmonischen Profils derselben, dessen scharfe Linien sich vom leuchtenden Hintergrunde, geschmückt mit den, die Spitze der mittelsten Bodenerhebung bedeckenden Ruinen eines Dänenschlosses, [71] um so deutlicher abhoben.

»Das war einstmals der Stammsitz der Mac Douglas von Lorne, bemerkte Bruder Sam.


Während die kleinen Mädchen und Knaben über den Sand kollern. (S. 67.)

– Und für unsere Familie, fügte Bruder Sib hinzu, besitzt jenes Schloß ein besonderes Interesse, weil es durch die Campbell's zerstört wurde, die es nach schonungslosem Massacre aller Insassen in Brand steckten!«

[72] Diese Großthat schien ganz vorzüglich den Beifall Patridges zu finden, der zur Ehre des Clans leise in die Hände klatschte.

Als man an der Insel Kerrera vorüber war, lenkte der Wagen in eine schmale Straße mit leichten Bodenwellen ein, die nach dem Dorfe Glachan führte. Dort rollte er über den künstlichen Isthmus, der in Form einer engen Brücke eine beschränkte Wasserstraße überspannt und die Insel Seil mit dem Festlande in Verbindung setzt. Nach Zurücklassung des Wagens in einer romantischen Thalschlucht, erklomm die kleine Gesellschaft den ziemlich steilen Abhang[73] eines Hügels und nahm dann auf hervorspringendem Felsenrande, ganz nahe dem Ufer, Platz.

Diesmal konnte nichts die nach Westen gerichteten Blicke der Beobachter behindern, weder das Eiland Easdale, noch die kleine Insel Inish, welche beide aussehen, als wären sie in der Nähe von Seil gestrandet. Zwischen dem Vorgebirge Ardanalish auf der Insel Mull, einer der größten der Hebriden im Nordwesten, und der Insel Colonsay im Südwesten erglänzte eine breite, ununterbrochene Meeresfläche, in welcher die Sonnenscheibe nun bald ihr Feuer löschen sollte.

Ganz in Gedanken verloren hielt sich Miß Campbell immer ein wenig vor den Andern. Einzelne Raubvögel, Adler oder Falken, belebten allein diese Einöde und zogen große Kreise über den »Dens«, d. i. eine Art gleich Trichtern in felsiger Wand ausgehöhlter Thäler.

Nach astronomischer Berechnung mußte die Sonne zu dieser Jahreszeit und unter dieser Breite genau um sieben Uhr vierundfünfzig Minuten in der Richtung links vom Vorgebirge Ardanalish untergehen.

Einige Wochen später wäre es unmöglich gewesen, ihr Versinken hinter der Kreislinie des Meeres zu beobachten, denn dann hätte die Insel Colonsay sie dem Blicke entzogen.

An eben diesem Abende waren also Zeit und Oertlichkeit für Beobachtung jener Erscheinung ganz passend gewählt.

Jetzt bewegte sich schon die Sonne in sehr schräger Richtung über den vollkommen wolkenlosen Himmel.

Kaum vermochten die Augen den Glanz ihrer in flammendes Roth übergegangenen Scheibe auszuhalten, den das Wasser in langen glitzernden Lichtstreifen wiederspiegelte.

Und doch hätten sich weder Miß Campbell noch ihre Oheime dazu vermögen können, die Lider nur für einen Augenblick zu schließen – nein, jetzt in der entscheidenden Minute unmöglich!

Doch bevor das Tagesgestirn den Horizont mit sei nem unteren Rande berührte, stieß Miß Campbell einen Schrei der Enttäuschung aus.

Eben tauchte ein seines Wölkchen auf, dünn wie ein Federstrich, aber lang wie der Wimpel eines Kriegsschiffes. Es trennte die Sonnenscheibe in zwei ungleiche Theile und schien mit derselben zum Meere herabzusinken.

Ein Windhauch, wenngleich ein noch so leichter, hätte hinreichen müssen, dasselbe zu vertreiben, zu zerstreuen!... Der Windhauch kam nicht!

[74] Und als von dem Sonnenrund nur noch ein ganz kleiner Kreisschnitt sichtbar war, da verdeckte diese Dunstwolke die Linie zwischen Himmel und Wasser.

Der sich in diesem zarten Wölkchen verlierende letzte Grüne Strahl hatte das Auge der Beobachter nicht erreichen können.

9. Capitel

Neuntes Capitel.
Plaudereien der Frau Beß.

Die Rückkehr nach Oban ging schweigend von statten. Miß Campbell sprach nicht, die Brüder Melvill wagten nicht zu sprechen, obgleich es doch ihr Fehler gewiß nicht war, daß jener so unzeitmäßige Rauch oder Dampf gerade eine solche Stelle eingenommen hatte, in welcher derselbe den letzten Strahl der Sonne abfing. Uebrigens brauchte man ja deshalb nicht zu verzweifeln. Die schöne Jahreszeit währte mindestens noch sechs Wochen. Es hätte doch ein ganz besonderer Unstern über ihnen walten müssen, wenn sich während der Dauer des Frühherbstes kein einziger schöner Abend mit einem dunstfreien Horizonte darbieten sollte.

Auf jeden Fall war ihnen heute ein wunderbar schöner Abend verloren gegangen, wie ihn das Barometer – wenigstens für die nächste Zeit – kaum wieder zu versprechen schien, denn im Laufe der Nacht kehrte die launenhafte Nadel des höchst empfindlichen Instruments langsam auf »Veränderlich« zurück. Was für alle Welt noch als schöne Witterung gelten konnte, das war doch keineswegs eine solche in den Augen der Miß Campbell.

Am folgenden Tage, dem 8. August, durchbrachen die Sonnenstrahlen nur zeitweise die warmen Dunstmassen am Himmelsgewölbe. Die gewöhnliche Mittagshitze erlangte nicht die Stärke, sie zu zerstreuen. Gegen Abend glänzte der Himmel im lebhaftesten Farbenspiel. Ineinander fließende Farbentöne aller Art, vom Chromgelb bis zum dunklen Ultramarin, verliehen dem Horizont das blendende Aussehen der Palette. eines Malers. Unter dem Flockenschleier seiner Wölkchen [75] färbte die untergehende Sonne Himmel und Land mit allen Strahlen des Spectrums, außer demjenigen, den die phantastische und etwas abergläubische Miß Campbell zu sehen verlangte.

Ganz ähnlich verhielt es sich am nächsten und am übernächsten Tage. Der Wagen blieb also unbenützt in der Remise des Hôtels. Wozu hätte es gedient, zum Zwecke einer Beobachtung auszufahren, welche der Zustand des Himmels von vornherein vereiteln mußte? Die Anhöhen der Insel Seil konnten ja keine günstigeren Bedingungen darbieten, als der Strand von Oban, und es war immer besser, sich einer Enttäuschung nicht erst auszusetzen.

Ohne gerade mürrischer zu sein, als die Umstände es rechtfertigten, begnügte sich Miß Campbell, bei einbrechender Dunkelheit ihr Zimmer aufzusuchen, und überließ sich wachend ihren Träumereien. Was betrafen diese? Etwa die mit dem Grünen Strahl verknüpfte Legende? Bedurfte sie dessen wirklich noch, um in ihrem Herzen klar zu sehen? Vielleicht auch nicht in dem ihrigen, aber etwa in dem Anderer?

An diesem Tage hatte Miß Campbell, der sich Frau Beß anschloß, ihr Mißgeschick nach den Ruinen von Dunolly-Castle spazieren geführt. Hier am Fuße einer alten, mit dichtem Epheugeschling bedeckten Mauer, breitete sich ein wundervolles Panorama aus, welches der tiefe Landeinschnitt der Bai von Oban, die wild zerklüfteten Gesteine der Insel Kerrera, die im Hebridenmeere verstreuten Eilande und Holme, und endlich die Insel Mull bildeten, deren westwärts schauendes Felsenufer den ersten Anprall der Stürme aus dem Atlantischen Ocean zu erleiden und zu brechen hat.

Wohl ruhte Miß Campbell's Auge auf dem herrlichen Bilde, das sich hier vor ihr entrollte; aber sah sie dasselbe auch? Zog sie nicht vielmehr irgend welche Erinnerung hartnäckig von demselben ab?

Jedenfalls konnte man sicher sein, daß das Bild Aristobulos Ursiclos' die Ursache dazu nicht war. Es wäre für ihn kein Engelsgesang gewesen, wenn der junge Gelehrte die Worte vernommen hätte, welche Frau Beß heute mehr als freimüthig über ihn äußerte.

»Er gefällt mir nicht, wiederholte sie öfters, nein, er gefällt mir nicht! Er hat nur den einen Gedanken, sich selbst zu gefallen. Welche Figur sollte er in der Cottage zu Helensbourgh spielen? Er gehört zu dem Clan der »Mac-Egoisten«, auf die ich mich nicht verstehe. Wie konnten die Herrn Melvill nur je den Gedanken fassen, daß Der ihr Neffe werden könnte? Patridge mag ihn [76] ebensowenig leiden wie ich, und der versteht sich auf so etwas. Sagen Sie aufrichtig, Miß Campbell, gefällt er Ihnen denn selbst?

– Von wem sprichst Du? fragte das junge Mädchen, welche die Aeußerungen der Frau Beß ganz überhört hatte.

– Von Dem, an den Sie nicht denken können – und wenn's nur um der Ehre des Clans willen wäre.

– An wen glaubst Du, daß ich nicht denken könne?

– Nun, an jenen Herrn Aristobulos Ursiclos, der überhaupt besser thäte, nach jenseits des Tweed zu verschwinden und sich zu erkundigen, ob jemals die Familie Campbell mit einem Ursiclos etwas zu schaffen hatte!«

Frau Beß legte ihre Worte schon gewöhnlich nicht auf die Goldwage, aber sie mußte sich für die eigene Ansicht ganz besonders erwärmt haben, um sich in Gegensatz zu ihren Herren zu setzen – freilich zu Gunsten ihrer jungen Herrin. Sie fühlte es übrigens recht gut heraus, daß Helena für diesen Prätendenten nichts weiter als Gleichgiltigkeit empfand, hätte dagegen schwerlich ahnen können, daß diese Gleichgiltigkeit durch den Gedanken an einen Andern gar noch verdoppelt wurde.

Einen gewissen Verdacht hätte Frau Beß indessen schöpfen können, als Miß Campbell sie fragte, ob sie vielleicht in Oban den jungen Mann wiedergesehen habe, dem der »Glengarry« so zur rechten Zeit Unterstützung und Hilfe gebracht hatte.

»Nein, Miß Campbell, erwiderte Frau Beß, er muß wohl gleich wieder abgereist sein, aber Patridge glaubt ihn bemerkt zu haben...

– Wann denn?

– Gestern, auf dem Wege nach Dalmaly. Er soll da, mit einer Art Ranzen auf dem Rücken, gleich einem reisenden Künstler gekommen sein. O, das ist ein unbesonnener Mensch, dieser junge Mann! Sich so in den Strudel von Corryvrekan hineinziehen zu lassen, das ist von übler Vorbedeutung für seine Zukunft! 's wird nicht allemal ein Schiff bei der Hand sein, ihm Hilfe zu bringen, und er wird noch zeitig genug Unglück haben.

– Glaubst Du das, Frau Beß? Wenn er aber unbesonnen war, so hat er sich wenigstens muthvoll erwiesen, denn in jenen gefährlichen Minuten schien ihm die Kaltblütigkeit keinen Augenblick verloren gegangen zu sein.

– Mag sein; jedenfalls aber, Miß Campbell, nahm Frau Beß wieder das Wort, hat jener junge Mann nicht erfahren, daß Sie es waren, der er seine [77] Rettung hauptsächlich verdankt, sonst hätte er sich doch wohl am Tage nach seiner Ankunft in Oban eingestellt, Ihnen seinen Dank abzustatten....

– Sich bei mir bedanken? antwortete Miß Campbell. Und warum? Ich habe für ihn nur gethan, was ich für jeden Anderen ebenfalls und, glaube mir, was auch jeder Andere an meiner Stelle gethan hätte.

– Würden Sie ihn wiedererkennen? fragte Frau Beß, das junge Mädchen schärfer ansehend.

– Ja, erklärte Miß Campbell offenherzig, und ich gestehe, daß der Charakter, der sich an ihm verrieth, der ruhige Muth, den er bei seinem Erscheinen auf Deck an den Tag legte, als ob er gar nicht eben dem Tode entronnen wäre, die warm empfundenen Worte, welche er an seinen bejahrten Begleiter richtete, während er ihn umarmte, daß alles das mich ergriffen hat.

– Meiner Treu, antwortete die würdige Frau, wem er ähnelt, das könnte ich allerdings nicht sagen; aber jedenfalls ähnelt er nicht jenem Herrn Aristobulos Ursiclos!«

Miß Campbell lächelte, ohne darauf zu antworten, erhob sich, blieb noch einen Moment, einen Blick nach den fernen Anhöhen der Insel Mull werfend, unbeweglich stehen und stieg dann, gefolgt von Frau Beß, den kahlen Fußpfad hinab, der nach der Straße von Oban führte.

An diesem Abende versank die Sonne in einer Art leuchtenden Staubes, der so leicht war, wie mit Zinnflittern übersäeter Tüll, und ihr letzter Strahl erlosch schon im Abenddunkel.

Miß Campbell kehrte nach dem Hôtel zurück, that dem Diner, welches die Brüder Melvill ganz nach ihrem Geschmacke bestellt hatten, sehr wenig Ehre an, und zog sich, nach kurzem Spaziergange auf dem Strande, in ihr Zimmer zurück.

[78]

10. Capitel

Zehntes Capitel.
Eine Partie Croquet.

Die Brüder Melvill – wir müssen es wohl gestehen – singen allmählich an die Tage zu zählen, wenn sie nicht schon dabei waren, nach Stunden zu rechnen. Die Sache nahm nicht den von ihnen gewünschten Verlauf. Die sichtbare Langweile ihrer Nichte, das sie erfüllende Bedürfniß, allein zu sein, das wenig einladende Auftreten gegen den hochgelehrten Ursiclos, an welchem dieser vielleicht weniger Anstoß nahm, als sie selbst, alles Das war nicht gerade geeignet, den Aufenthalt in Oban zu einem angenehmen zu machen. Sie wußten gar nicht, was sie beginnen sollten, diese lästige Eintönigkeit zu unterbrechen. Vergeblich beobachteten sie die geringsten atmosphärischen Veränderungen und sagten sich zum Troste, daß Miß Campbell nach Erfüllung ihres Wunsches fügsamer und – für sie wenigstens – zugänglicher sein werde.

Seit zwei Tagen vergaß die noch mehr als früher träumerische Helena sogar, ihnen den gewohnten Morgenkuß zu bieten, der den beiden Junggesellen erst für den Rest des Tages die gute Laune sicherte.

Das gegen alle Drohungen und gelinden Wuthausbrüche der beiden Onkels ganz unempfindliche Barometer zeigte nicht die geringste Andeutung eines bevorstehenden Witterungsumschlages. Wenn sie auch nicht unterließen, täglich wohl zehnmal daran zu klopfen, um ein Oscilliren der Nadel zu erleichtern – die Nadel rührte sich nicht vom Flecke. O, diese Barometer können Einen zum Verzweifeln bringen!


Miß Campbell's Auge ruhte auf dem herrlichen Bilde... (S. 68.)

Da kam den Brüdern Melvill ein erlösender Gedanke. Am Nachmittag des 11. August fiel es ihnen ein, Miß Campbell eine Partie Croquet vorzuschlagen, um sie, wenn möglich, etwas zu zerstreuen, und obwohl Aristobulos Ursiclos daran theilnehmen sollte, schlug es Helena doch nicht ab, weil sie wußte, daß ihnen damit ein Gefallen geschähe.

Hier muß bemerkt werden, daß Bruder Sam und Bruder Sib sich auf ihre Meisterschaft in genanntem Spiel, dem man im Vereinigten Königreiche ungemein huldigt, nicht wenig einbildeten. Dasselbe besteht bekanntlich aus dem [79] alten »Mailspiel«, welches dem Bedürfniß und dem Geschmacke der weiblichen Jugend sehr glücklich angepaßt wurde.

Gerade in Oban gab es verschiedene, zur Ausführung dieses sehr lebendigen Spiels gut geeignete Plätze. Wenn man sich in den meisten Badeorten mit mehr oder weniger eingeebneten Gras- öder Sandflächen begnügt, so beweist das weniger die genügsamen Ansprüche der Spieler, als ihre Gleichgiltigkeit und ihren Mangel an Eifer für diesen edlen Zeitvertreib. Hier sind die Spielplätze nicht öde Sandflächen, sondern wie sich's gehört, mit seinem Rasen bewachsen [80] – was man speciell »Croquet-grounds« nennt – hier werden sie jeden Abend mit feinstrahligen Druckspritzen angefrischt, jeden Morgen mit speciell dazu bestimmten Maschinen geglättet und erlangen dadurch eine so weiche, zarte Oberfläche wie Sammet, der eben aus der Plättmühle kommt.


Die geschickt fortgetriebene Kugel rollte durch den Bogen... (S. 83.)

Kleine, in gleicher Ebene mit dem Boden stehende Steinwürfel sind zum Einstecken der Bögen und der Pfähle an beiden Enden angebracht. Eine wenige Zoll tief ausgehobene Furche bezeichnet die Grenze jedes Spielplatzes, der die für die Operationen der Theilnehmer nöthigen 1200 Quadratfuß enthält.

[81] Wie viele Male hatten die Brüder Melvill den jungen Leuten beiderlei Geschlechts etwas neidisch zugesehen, wenn diese auf solch' vorzüglich geeigneten Plätzen spielten, und welch' große Befriedigung gewährte es ihnen, als Miß Campbell ihre Einladung dazu annahm. Sie erhielten dadurch Gelegenheit, das junge Mädchen zu zerstreuen, indem sie selbst ihr Lieblingsspiel vor einem Kreise von Zuschauern betrieben, an denen es ihnen hier ebenso wenig fehlen konnte, wie in Helensbourgh. – Die liebe Eitelkeit!

Der rechtzeitig benachrichtigte Aristobulos Ursiclos stimmte zu, seine Arbeiten zu unterbrechen, und fand sich zur angesetzten Stunde auf dem Kampfplatze ein. Er erhob den Anspruch, im Croquet gleichstark in der Theorie wie in der Praxis zu sein, es als Gelehrter, als Geometer, als Physiker, als Mathematiker, mit einem Worte nach dem Satze a + b = c zu spielen, wie es sich für einen solchen x-Kopf geziemte.

Der Miß Campbell kam es ganz selbstverständlich vor. den jungen Pedanten als Partner zu haben. Wie hätte das auch anders sein können? Hätte sie ihren Onkels den Kummer bereiten sollen, sie bei diesem Wettkampfe zu trennen und als Feinde einander gegenüber zu stellen, sie, die ja ganz eins waren im Gedanken und im Herzen, nach Körper und Geist, sie, die nie anders als mit einander spielten? Nein, das hätte sie nicht über's Herz gebracht.

»Miß Campbell, sagte da zur Einleitung Aristobulos Ursiclos, ich preise mich glücklich, Ihr Secundant zu sein, und wenn Sie mir gestatten, Ihnen die ausschlaggebenden Bedingungen des Schlages auseinander zu setzen...

– Herr Ursiclos, anwortete Helena, ihn etwas beiseite nehmend, vor Allem müssen wir meine Onkels gewinnen lassen.

– Gewinnen?

– Ja, ohne ihnen die Absicht merken zu lassen.

– Aber, Miß Campbell...

– Sie würden sich sehr unglücklich fühlen zu verlieren.

– Indeß... erlauben Sie!... erwiderte Aristobulos Ursiclos, das Croquetspiel ist mir geometrisch bekannt, dafür verbürge ich mich! Ich habe alle Combinationen von Linien, die Werthe der Curven berechnet, und glaube zu dem Verlangen berechtigt zu sein...

– Ich kenne kein anderes Verlangen, unterbrach ihn Miß Campbell, als das, mich meinen Gegnern gefällig zu zeigen. Uebrigens sind dieselben sehr stark im Croquet, das sag' ich Ihnen im Voraus, und ich glaube kaum, daß alle Ihre Wissenschaft gegen deren Gewandtheit wird aufkommen können.

[82] – Das dürfte sich ja zeigen!« murmelte Aristobulos Ursiclos, den keine Rücksichten bestimmen konnten, sich freiwillig besiegen zu lassen – nicht einmal Miß Campbell zu Gefallen.

Inzwischen war der Kasten mit den Endpfählen, den Losmarken, den Bögen, Kugeln und Schlägeln von dem kleinen, für den Croquet-Ground bestellten Aufwärter herbeigeschafft worden.

Die neun Bögen wurden in verschobenem Vierecke in den Bodensteinen befestigt, und die beiden Pfähle erhoben sich an den Enden der großen Achse des Vierecks.

»Losen wir!« rief Bruder Sam.

Die Marken wurden in einen Hut geworfen. Jeder Theilnehmer entnahm eine derselben.

Der Zufall bestimmte die folgenden Farben für die Ordnung des Spieles: Eine blaue Kugel und ebensolchen Schlägel dem Bruder Sam; rothe Kugel und Schlägel dem Aristobulos Ursiclos; gelbe Kugel und Schlägel dem Bruder Sib; grüne Kugel und Schlägel der Miß Campbell.

»In Erwartung eines gewissen Strahls von derselben Farbe! sagte sie. Das ist von guter Vorbedeutung!«

Bruder Sam hatte das Spiel zu eröffnen, und er fing denn an, nachdem er mit seinem Partner noch eine tüchtige Prise genommen.

Da mußte man ihn sehen, den Körper weder zu gerade, noch zu gebeugt, den Kopf halb seitwärts gewendet, um die Kugel genau am richtigen Punkte zu treffen; die Hände, eine der andern benachbart am Griffe des Schlägels, die linke unten, die rechte oben, die Beine leicht geschlossen, die Kniee mäßig gebogen, um die Rückwirkung des Schlages besser aufzunehmen, den linken Faß gerade vor der Kugel und den rechten ein wenig zurückgezogen – der vollendete Typus eines »Gentleman croqueter!«

Dann erhob Bruder Sam den Schlägel, den er langsam einen Halbkreis beschreiben ließ, führte damit einen sicheren Schlag gegen die, achtzehn Zoll vom »Fock« oder Ausgangspfahle entfernt liegende Kugel, und hatte nicht nöthig, von der ihm zustehenden Vergünstigung einer noch zweimaligen Wiederholung des ersten Schlags Gebrauch zu machen.

Die geschickt fortgetriebene Kugel rollte durch den ersten Bogen und sofort durch den zweiten; ein zweiter Schlag trieb sie durch den dritten, und erst beim vierten Bogen nahm sie, etwas zu viel Eisen«, und blieb stehen.

[83] Für die Spieleröffnung war das gewiß eine anerkennenswerthe Leistung. Ein schmeichelhaftes Gemurmel lief auch durch die Zuschauer, die sich außerhalb des kleinen Grabens um den Rasenplatz hielten.

Jetzt kam Aristobulos Ursiclos an die Reihe. Er war minder glücklich. Ob aus Ungeschicklichkeit oder aus unglücklichem Zufall, jedenfalls mußte er dreimal von Neuem beginnen, um die Kugel durch den ersten Bogen zu treiben, und den zweiten fehlte er dann wieder.

»Höchst wahrscheinlich, bemerkte er gegen Miß Campbell, ist diese Kugel nicht richtig calibrirt. In diesem Falle veranlaßt der excentrisch gelegene Schwerpunkt eine Abweichung in ihrem Laufe...

– Du bist daran, Onkel Sib,« sagte Miß Campbell, ohne auf diese gelehrte Auseinandersetzung zu hören.

Der Bruder Sib war des Bruders Sam würdig. Seine Kugel lief durch zwei Bögen und blieb nahe der Aristobulos Ursiclos' liegen, welche ihm dazu diente, den dritten Bogen zu passiren, nachdem er roquirt, d. h. sie durch Anprallenlassen der seinigen berührt hatte, dann roquirte er noch einmal den jungen Gelehrten, dessen ganze Physiognomie zu verkünden schien: »Warte nur, wir werden es noch besser machen!« Endlich, nachdem beide Kugeln in Berührung mit einander gebracht waren, setzte er den Fuß fest auf seine eigene, führte gegen dieselbe einen herzhaften Schlag und croquirte damit die Kugel des Gegners, d. h. er trieb sie durch die Wirkung des Gegenschlags, respective der Elasticität des Holzes, sechzig Schritte weit über die Grenze des Spielraums hinaus.

Aristobulos Ursiclos mußte seiner Kugel nachlaufen; er that das mit aller Würde des gesetzten Mannes und wartete dann in der Haltung eines Generals, der über einen großen Coup nachdenkt.

Miß Campbell nahm nun ihre grüne Kugel und schlug sie geschickt durch die zwei ersten Bögen.

Das Spiel nahm einen für die Brüder Melvill sehr vortheilhaften Fortgang, und diese ließen keine Gelegenheit vorüber, die feindlichen Kugeln zu roquiren und zu croquiren. Das war ein Massacre! Sie machten sich kaum bemerkbare Zeichen, verstanden sich schon durch Blinken mit den Augen, so daß sie der Worte entbehren konnten, und schließlich gewannen sie einen gewaltigen Vorsprung, zur großen Genugthuung ihrer Nichte, aber zum geheimen Aerger Aristobulos Ursiclos'.

Als Miß Campbell fünf Minuten nach Beginn der Partie sich hinlänglich überholt sah, fing sie an aufmerksamer zu spielen und zeigte dabei weit mehr [84] Gewandtheit als ihr Partner, der ihr nichtsdestoweniger seine wissenschaftlichen Rathschläge nicht ersparte.

»Der Reflexionswinkel, belehrte er sie, ist allemal gleich dem Einfallswinkel, und daraus können Sie die Richtung ableiten, welche die Kugeln in Folge des Anschlags nehmen müssen. Man muß daraus den Vortheil ziehen...

– Ziehen Sie nur selbst den möglichsten Vortheil daraus, antwortete ihm Miß Campbell. Sie sehen, mein Herr, daß ich Ihnen um zwei Bögen voraus bin.«

In der That blieb Aristobulos Ursiclos jämmerlich zurück. Zehnmal schon hatte er versucht, den doppelten Mittelbogen zu nehmen, ohne dazu zu gelangen. Er sachte die Ursache nun in dem Drahtbogen selbst, ließ ihn anders richten, die Entfernung prüfen, und versuchte sein Glück von Neuem.

Das Glück wollte ihm einmal nicht günstig sein. Seine Kugel traf jedesmal das Eisen, wollte aber nie darunter hindurch.

Miß Campbell wäre wirklich vollberechtigt gewesen, sich über ihren Partner zu beklagen. Sie selbst spielte sehr gut und verdiente die Lobeserhebungen, mit denen ihre beiden Onkels sie freigebig bedachten. Es war aber auch reizend anzusehen, wenn sie sich so voll und ganz diesem Spiele hingab, welches für die Entwicklung körperlicher Grazie so geeignet ist. Ihren rechten Fuß halb erhoben, um die Kugel des Gegners zu fesseln, wenn sie dieselbe croquirte, die beiden gefällig gerundeten Arme, wenn sie ihren Schlägel einen halben Kreis beschreiben ließ, die Lebhaftigkeit des mehr als hübschen Gesichts, die ungezwungene Neigung des Körpers, ihr reizvoll schwankender Oberkörper – Alles zusammen bot einen fesselnden Anblick. Nur Aristobulos Ursiclos sah davon natürlich nichts!

Man darf ihm wohl nachsehen, wenn er innerlich wüthete. Die Brüder Melvill hatten jetzt einen so großen Vorsprung, daß an ein Einholen derselben kaum zu denken war. Immerhin bringt das Croquetspiel oft so unerwartete Wendungen mit sich, daß man niemals an dem möglichen Siege zu verzweifeln braucht.

Die Partie lief unter so ungleichen Verhältnissen weiter, bis ein Zwischenfall dieselbe unterbrach.

Aristobulos Ursiclos fand endlich Gelegenheit, die Kugel des Bruder Sam zu roquiren, welche den Mittelbogen, vor dem er so unbarmherzig zurückgehalten blieb, schon auf dem Rückwege passirt hatte. Voller Verzweiflung und doch mit dem Bemühen, vor den Augen der Zuschauer möglichst ruhig zu erscheinen,[85] gedachte er jetzt einen Meisterstreich auszuführen, seinem Gegner Gleiches mit Gleichem zu vergelten und ihn über die Spielplatzgrenze hinaus zu jagen. Er legte also seine Kugel neben die des Bruders Sam, sicherte deren Berührung durch Anhäufung einigen Grases, stemmte den linken Fuß darauf, beschrieb beim Ausholen einen vollen Bogen, um dem Schlage mehr Kraft zu verleihen, und schlug dann tüchtig zu.

Ei, da entfuhr ihm ein Schrei! Es war ein wirkliches Schmerzgeheul; der unrichtig dirigirte Schlägelkopf hatte statt der Kugel den Fuß des Croquetstümpers getroffen, der nun, auf einem Bein umherhinkend, unzweifelhaft sehr natürliche, aber doch etwas lächerliche Schmerzensäußerungen zum Besten gab.

Die Brüder Melvill eilten auf ihn zu. Glücklicher Weise hatte das dicke Leder seines Schnürschuhs die Heftigkeit des Schlages gebrochen, so daß er ohne ernsthaftere Verletzung weggekommen war. Aristobulos Ursiclos glaubte aber sein Mißgeschick auf folgende Weise erklären zu müssen:

»Der durch seinen Schlägelstiel gebildete Strahl oder Radius, sagte er docirend, doch nicht ohne dabei das Gesicht zu verziehen, hat einen, zu demjenigen, der als Tangente den Erdboden streifen sollte, concentrischen Kreis beschrieben, weil ich den Radius zu kurz bemessen habe. Deshalb mußte der Schlag...

– Unter solchen Umständen, mein Herr, wollen wir die Partie doch wohl lieber aufgeben? fragte Miß Campbell.

– Die Partie aufgeben! rief Aristobulos Ursiclos. Uns als besiegt erklären? Nimmermehr! Unter Zuhilfenahme der Formeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung läßt sich nachweisen...

– Nun, wie Sie wollen; so spielen wir weiter,« schnitt ihm Miß Campbell den Faden der Gelehrsamkeit ab.

Alle Formeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung aber würden den Gegnern der beiden Onkels auch nur geringe Aussichten eröffnet haben.

Schon war Bruder Sam »Räuber« geworden, d. h. seine Kugel hatte alle Bögen passirt, und den »Besan«, den Ausgangspflock, wieder berührt, so daß es ihm nun frei stand, seinem Partner in jeder Weise zu Hilfe zu kommen, indem er alle Kugeln roquirte und croquirte.

In der That war die Partie nach wenigen weiteren Schlägen entschieden, und die Brüder Melvill triumphirten, aber nur bescheiden, wie das Meistern zukommt. Aristobulos Ursiclos dagegen hatte trotz seiner wissenschaftlich begründeten Ansprüche nicht dazu gelangen können, den Mittelbogen zu passiren.

[86] Miß Campbell gab sich nun den Anschein, viel ärgerlicher zu sein, als sie es in Wirklichkeit war, und mit kräftigem Schlage, auf dessen Richtung sie gar nicht achtete, trieb sie ihre Kugel weit weg.

Die Kugel rollte in der Richtung nach dem Meere zu, über das durch die Furchen begrenzte Spielterrain hinaus, prallte an einen Stein an, sprang dadurch in die Höhe und flog, ihre Schwere multiplicirt mit dem Quadrate der Geschwindigkeit, wie Aristobulos Ursiclos gesagt haben würde, nach dem Strande zu.

Unglücklicher Schlag!

Dort saß ein junger Künstler vor seiner Staffelei, beschäftigt, eine Ansicht des Meeres bis zur Südspitze der Rhede von Oban aufzunehmen. Die Kugel erreichte gerade die aufgespannte Malerleinwand, befleckte ihre eigene grüne Farbe, indem sie über jene hinstrich, mit allen Farben der Palette und warf endlich die ganze Staffelei um.

Der Maler drehte sich ruhig um und sagte:

»Gewöhnlich sendet man eine Kriegserklärung, ehe ein Bombardement begonnen wird!«

Im Vorgefühl eines bevorstehenden Unheils war Miß Campbell, noch ehe dieses eintrat, dem Strande zugelaufen.

»Ach, mein Herr, sagte sie, sich an den jungen Künstler wendend, bitte, verzeihen Sie mir meine Ungeschicklichkeit!«

Der Angeredete erhob sich, grüßte lächelnd das junge, in ihrer Verlegenheit desto schönere Mädchen, die sich eben entschuldigt hatte....

Es war der »Schiffbrüchige« aus dem Strudel von Corryvrekan!

11. Capitel

Elftes Capitel.
Olivier Sinclair.

Olivier Sinclair war ein »netter Mann«, um den Ausdruck zu gebrauchen, den man oftmals in Schottland für wackere, lebhafte und geistig geweckte junge Leute anwandte; doch wenn ihm diese Bezeichnung in geistiger Beziehung zukam, so muß man gestehen, daß sie auch äußerlich auf ihn paßte.

[87] Der letzte Sproß aus vornehmer Familie Edinburghs, war dieser junge Athener des nordischen Athens der Sohn eines bejahrten Raths der Hauptstadt von Milothian. Zeitig vater- und mutterlos, so daß er bei seinem Onkel, einem der vier Oberrichter der Munizipalverwaltung, erzogen wurde, hatte er auf der Universität seinen Studien mit gutem Erfolge obgelegen; im Alter von zwanzig Jahren sicherte ihm der Heimfall eines nicht unbeträchtlichen Vermögens mehr Unabhängigkeit, und begierig, die Welt zu sehen, bereiste er die wichtigsten Staaten Europas, ferner Indien und Amerika, und die bekannte »Revue« von [88] Edinburgh veröffentlichte wiederholt einige Skizzen seiner Reisen. Ein sehr begabter Maler, der seine Bilder gewiß hätte zu ansehnlichen Preisen verkaufen können; Dichter, wenn er in poetischer Stimmung war – und wem widerführe das nicht in einem Alter, wo einem das ganze Leben entgegenlacht? – von warmem Herzen und Künstler von Natur, war er geschaffen, zu gefallen, und gefiel ohne Ziererei und Eitelkeit.


Miß Campbell spielte sehr gut. (S. 85.)

In der Hauptstadt des alten Caledoniens ist es leicht, sich zu verheiraten. Die Geschlechter sind dort an Zahl sehr ungleich, und das schwache überragt [89] numerisch das stärkere bei Weitem. Einem jungen, gebildeten, liebenswürdigen, vornehmen und wohlgestalteten jungen Mann kann es da gar nicht fehlen, eine vermögende Frau nach seinem Geschmack zu finden.


»Gewöhnlich sendet man eine Kriegserklärung... (S. 87.)

Olivier Sinclair schien freilich auch mit sechsundzwanzig Jahren noch nicht das Bedürfniß zu Zweien zu leben empfunden zu haben. Hielt er den Fußpfad des Lebens für zu schmal, um Arm in Arm darauf zu wandeln? Nein, gewiß nicht; doch wahrscheinlich befand er sich wohl dabei, allein zu gehen, kreuz und quer, ganz seiner Laune folgend, hier- und dorthin zu irren, wie es ihm sein Geschmack als Künstler und Reisender eben eingab.

»Es ist nur ein kleiner Unfall, kein Unglück, erklärte der junge Mann lächelnd. Eine Sudelei, nichts weiter, an der die Kugel die gerechteste Kritik geübt hat!«

Olivier Sinclair äußerte das so freimüthig, daß die Brüder Melvill ihm fast ohne alle Umstände die Hände entgegen gestreckt hätten. Jedenfalls glaubten sie sich gegenseitig vorstellen zu sollen, wie das unter Gentlemen Sitte ist.

»Herr Samuel Melvill, sagte Bruder Sib.

– Herr Sebastian Melvill, sagte Bruder Sam.

– Und deren Nichte, Miß Campbell,« setzte Helena hinzu, welche, um nicht ausgeschlossen zu bleiben, sich lieber gleich selbst vorstellte.

Das war eine an den jungen Mann gerichtete Aufforderung, auch nun seinerseits Namen und Stand anzugeben.

»Miß Campbell, meine Herren, sagte er sehr ernsthaft, ich könnte Ihnen antworten, daß ich mich »Fock« (Ausgangspflock beim Croquet) nenne, da ich von jener Kugel getroffen worden bin; in der That heiße ich ganz einfach Olivier Sinclair.

– Herr Sinclair, begann da Miß Campbell, welche sich seine Antwort nicht so recht zu deuten wußte, noch einmal, gestatten Sie zum letzten Male, daß ich höflichst um Verzeihung bitte...

– Und wir gleichfalls, fügten die Brüder Melvill hinzu.

– Miß Campbell, erwiderte Olivier Sinclair, ich wiederhole Ihnen, daß die ganze Sache nicht »der Mühe werth ist. Ich suchte den Effect anlaufender Brandungswellen zu erhaschen, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß Ihre Kugel, ganz wie der Schwamm, ich weiß nicht welchen Malers des Alterthums, den dieser auf seine Gemälde schleuderte, gerade die Wirkung hervorgebracht hat. die ich mit dem Pinsel vergeblich zu erzielen suchte.«

[90] Das wurde in so liebenswürdigem Tone gesprochen, daß Miß Campbell und die Brüder Melvill ein Lächeln nicht unterdrücken konnten.

Hierbei wollen wir zu erwähnen nicht unterlassen, daß Aristobulos Ursiclos nicht mit gekommen war, um diesen Austausch von Entschuldigungen und Höflichkeiten mit anzuhören.

Olivier Sinclair war übrigens bestimmt geschaffen, irgend welcher jungen blonden Tochter Schottlands mehr als bloße Sympathie einzuflößen. Sein eleganter Wuchs, sein offenes Gesicht mit dem männlichen Ausdruck, der ebenso energisch durch seine Züge, wie anderseits sanft durch sein Auge erschien, die natürliche Grazie seiner Bewegungen, das Vornehme seines Wesens, seine geläufige und geistvolle Redeweise, sein leichter Gang, das Lächeln seines Blickes – Alles vereinigte sich, ihm eine gewisse Anziehungskraft zu verleihen. Er war freilich viel zu wenig Geck, um darauf zu achten, oder er achtete absichtlich nicht darauf, da er keine Lust verspürte, sich zu binden.

Wenn ihm der weibliche Clan von Auld-Reeky 1 nur Schmeichelhaftes nachrühmte, so gefiel er nicht minder seinen jugendlichen Genossen und Universitätsfreunden; nach einem hübschen gaëlischen Sprichworte gehörte er zu denen, »Welche nie einem Freunde, und nie einem Feinde den Rücken zukehren«.

Heute, im Augenblicke jenes Angriffs, wendete er freilich Miß Campbell den Rücken zu. Miß Campbell dagegen war auch weder seine Feindin noch seine Freundin. In seiner Stellung, oder vielmehr, so wie er saß, hatte er die, von dem Schlägel des jungen Mädchens so unbedacht fortgetriebene Kugel natürlich nicht bemerken können. So kam es, daß das Geschoß mitten auf die Bildfläche platzte, und seine gesammten Malergeräthschaften über den Haufen warf.

Miß Campbell hatte auf den ersten Blick den Helden von Corryvrekan wieder erkannt, der Held dagegen nicht die junge Reisende des »Glengarry«. Während der Weiterfahrt von der Insel Scarba bis Oban mochte er Miß Campbell kaum an Bord bemerkt haben. Hätte er geahnt, welch' großen, persönlichen Antheil gerade sie an seiner Rettung gehabt, so würde er, wenn auch nur aus reiner Höflichkeit, unzweifelhaft seinen besonderen Dank abgestattet haben; das wußte er aber noch nicht, und sollte es wahrscheinlich niemals erfahren.

Noch an jenem Tage verbot – ja, das ist das richtige Wort – verbot Miß Campbell ebenso ihren Oheimen, wie Frau Beß und Patridge, jenem jungen[91] Manne gegenüber eine jede Anspielung auf die Vorgänge, welche sich auf dem »Glengarry« vor seiner Rettung abspielten.

Nach dem Vorfalle mit der Kugel waren die Brüder Melvill, womöglich noch mehr erschrocken als ihre Nichte, dieser nachgeeilt, und brachten eben ihre persönlichen Entschuldigungen bei dem jungen Künstler an, als dieser sie mit den Worten unterbrach:

»Mein Fräulein... meine Herren... Ich bitte Sie, glauben Sie, daß die ganze Sache der Mühe gar nicht werth ist.

– Mein Herr, erwiderte Bruder Sib, nein, wir sind wirklich untröstlich...

– Und wenn das Unglück unverbesserlich wäre, wie leider zu fürchten ist«... setzte Bruder Sam hinzu.

Nach Beendigung der Partie hatte der junge Gelehrte, gereizt, seine theoretischen Kenntnisse mit der praktischen Fertigkeit nicht haben in's Gleichgewicht setzen zu können, sich in's Hôtel zurückgezogen. Vor drei bis vier Tagen war kaum auf ein Wiedererscheinen desselben zu rechnen, denn er beabsichtigte eben nach der Insel Luing, einer der kleinen Hebriden abzureisen, welche im Süden der Insel Seil liegt, um daselbst vom geologischen Standpunkt aus die reichen Schieferbrüche zu untersuchen.

Dem Gespräche drohten also keine lehrreichen Unterbrechungen, welche er doch aufgetischt hätte, über die Flugkraft geschleuderter Körper, wie über andere mit dem Unfall zusammenhängende Fragen.

Olivier Sinclair hörte dabei auch, daß er den Gästen des Caledonian-Hôtels nicht völlig unbekannt sei, und erfuhr von einigen Vorkommnissen während der Ueberfahrt.

»Wie, Miß Campbell, und Sie, meine Herren, rief er, Sie befanden sich an Bord des »Glengarry«, der mich so zur rechten Zeit noch auffischte?

– Ja, Herr Sinclair.

– Und Sie haben uns nicht wenig erschreckt, setzte Bruder Sib hinzu, als wir rein durch Zufall Ihr in den Strudeln von Corryvrekan verlorenes Boot bemerkten.

– Ja, durch sehr glücklichen Zufall, fuhr Bruder Sam fort, und wahrscheinlich wären Sie ohne das Dazwischentreten von... Hier gab Miß Campbell ihm durch ein Zeichen zu verstehen, daß sie nicht als Retterin geschildert sein möchte. Die Rolle einer »Heiligen Jungfrau der Schiffbrüchigen« wollte sie auf keinen Fall übernehmen.

[92] – Aber, Herr Sinclair, nahm Bruder Sam wieder das Wort, wie konnte der alte Fischer, welcher Sie begleitete, nur so unklug sein, sich in jenen Wirbelstrom zu wagen...

– Deren Gefährlichkeit er als Landeskind doch kennen mußte? schloß Bruder Sib den Satz.

– Ihn trifft keine Schuld, meine Herren, antwortete Olivier Sinclair. Die Unklugheit war ganz auf meiner Seite, und kurze Zeit glaubte ich gar, mir den Tod des wackeren Mannes zuschreiben zu müssen. Aber da auf der Oberfläche des gurgelnden Wassers spielten so überraschende Farbentöne, daß es aussah, als wäre eine seine Spitze über einen Grund von blauer Seide ausgebreitet. Ohne weitere Ueberlegung, trieb es mich gleichsam zur Jagd auf einige neue Nuancen dieses lichtgeschwängerten Wasserstaubes. Dabei gelangte ich weiter und weiter vor. Mein alter Fischer kannte die Gefahr recht gut und bemühte sich, uns zurückzuhalten, er wollte nach der Insel Jura hinübersteuern, ich aber hörte ihn kaum, bis unser Boot endlich von einer Strömung gepackt und dann unwiderstehlich dem tollen Strudel zugetrieben wurde. Wir versuchten Alles, der Anziehung entgegen zu arbeiten... da verletzte ein heftiger Wogenschlag meinen Begleiter, der mich nun nicht ferner zu unterstützen vermochte, und ohne das Erscheinen des »Glengarry«, ohne die Hilfswilligkeit des Capitäns und die Menschenfreundlichkeit der Passagiere wären wir, mein Fischer und ich, nun schon der Legende verfallen und im Nekrolog des »Corryvrekan« katalogisirt gewesen!«

Miß Campbell hörte ihm zu, ohne ein Wort zu äußern, und erhob zuweilen ihre schönen Augen zu dem jungen Manne, der sie mit seinen Blicken keineswegs zu behelligen sachte. Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als er von seiner Jagd oder vielmehr von seinem Fischzug nach Farbennuancen des Meeres erzählte.

War sie nicht auf ähnliche, wenn auch weniger gefährliche Abenteuer ausgezogen, auf die Jagd nach einer Farbennuance des Himmels, auf die Jagd nach dem Grünen Strahle?

Die Brüder Melvill machten auch unwillkürlich eine dahinzielende Bemerkung, indem sie von der Veranlassung sprachen, die sie nach Oban geführt, d. h. von der Absicht, jenes physikalische Phänomen zu beobachten, dessen Natur sie dem jungen Maler erklärten.

»Der Grüne Strahl! rief Olivier Sinclair.

[93] – Hätten Sie ihn schon gesehen, mein Herr, fragte lebhaft das junge Mädchen, hätten Sie ihn schon einmal gesehen?

– Nein, Miß Campbell, antwortete Olivier Sinclair. Wenn ich überhaupt nur gewußt hätte, daß es irgendwo einen Grünen Strahl gebe! Nein, wirklich nicht! Nun wohl, auch ich will ihn sehen. Die Sonne wird niemals unter dem Horizont verschwinden, ohne daß sie mich zum Zeugen ihres Unterganges hat; und, beim heiligen Dunstan, ich werde nie mehr anderes, als das Grün ihres letzten Strahles wiedergeben!«

Es ließ sich zuerst nur schwierig unterscheiden, ob Olivier Sinclair nicht mit leichtem ironischen Anflug sprach oder aber sich wirklich von seiner Künstlernatur so plötzlich hinreißen ließ. Der Miß Campbell sagte ein gewisses Vorgefühl, daß der junge Mann nicht scherzte.

»Herr Sinclair, nahm sie das Wort, der Grüne Strahl ist nicht mein ausschließliches Eigenthum; er leuchtet für alle Welt und wird nichts an seinem Werthe verlieren, wenn er sich mehreren Neugierigen auf einmal zeigt. Wir können also, wenn es Ihnen recht ist, versuchen, ihn zusammen zu sehen.

– Mit großem Vergnügen, Miß Campbell.

– Doch es gehört ein wenig Geduld dazu.

– Daran soll's nicht fehlen...

– Und man darf nicht davor zurückschrecken, sich Augenschmerzen zuzuziehen, warf Bruder Sam ein.

– Der Grüne Strahl ist es schon werth, das um seinetwillen zu riskiren, versicherte Olivier Sinclair, und ich sage Ihnen, daß ich Oban nicht verlassen werde, ohne ihn gesehen zu haben.

– Wir haben uns schon einmal, sagte Miß Campbell, nach der Insel Seil begeben, um diesen Strahl zu beobachten, aber gerade in dem Augenblick, wo die Sonne versank, verhüllte sie eine kleine, am Horizont hinziehende Wolke.

– Das war ja fatal!

– Gewiß, höchst fatal, Herr Sinclair, denn seit jenem Tage haben wir noch nicht hinreichend reinen Himmel gehabt.

– Der wird wohl nicht ausbleiben, Miß Campbell, der Sommer hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen, und vor Eintritt der schlechten Jahreszeit, glauben Sie mir, wird die Sonne uns auch noch mit dem Almosen ihres Grünen Strahls bedenken.

[94] – Um Ihnen Alles zu gestehen, Herr Sinclair, fuhr Miß Campbell fort, hätten wir ihn am Abend des zweiten August am Horizont des Corryvrekan gewiß wahrnehmen können, wenn unsere Aufmerksamkeit nicht durch eine gewisse Rettung abgelenkt worden wäre, an der...

– Wie, Miß Campbell, fiel ihr Olivier Sinclair in's Wort, ich wäre der Unglücksvogel gewesen, der ihre Augen in so entscheidendem Momente abgezogen hätte, meine Unbesonnenheit hätte Ihnen den Grünen Strahl gekostet! Dann bin ich Ihnen ja schuldig, Sie um Verzeihung zu bitten, und das thue ich hiermit unter größtem Bedauern meines ungeschickten Dazwischentretens. Das soll mir nicht wieder vorkommen!«

Man plauderte noch von Dem und Jenem auf dem Rückwege nach dem Caledonian-Hôtel, in dem auch Olivier Sinclair, nach Beendigung eines Ausflugs in die Umgebung von Dalmaly, abgetreten war. Der junge Mann, dessen freimüthiges Wesen und mittheilsame Heiterkeit den beiden Brüdern keineswegs mißfiel, wurde gelegentlich veranlaßt, von Edinburgh und seinem Onkel, dem Oberrichter Patrick Oldimer, zu sprechen. Da stellte sich heraus, daß die Brüder Melvill mit dem Oberrichter Oldimer mehrere Jahre bekannt gewesen waren. Zwischen den beiden Familien bestand damals ein ziemlich vertraulicher Verkehr, den nur die spätere örtliche Trennung unterbrochen hatte. Man war also eigentlich schon mit einander bekannt, und Olivier Sinclair wurde von den Brüdern Melvill aufgefordert, diese Verbindung fortzusetzen. Da dieser nun keinerlei Ursache hatte, sein Künstlerzelt anderswo als in Oban aufzuschlagen, so erklärte er sich mehr als je vorher entschlossen, hier zu bleiben, um an den Nachforschungen nach dem Grünen Strahle theilzunehmen.

Miß Campbell, die Brüder Melvill und er begegneten sich während der folgenden Tage häufig auf dem Strand von Oban. Sie prüften zusammen, ob der Zustand der Atmosphäre sich endlich günstiger gestalte. Zehnmal des Tages wurde das Barometer gefragt, das manchmal einige Neigung zu steigen bemerken ließ. In der That überschritt das liebenswürdige Instrument am Morgen des 14. August siebenunddreißigsiebenzehntel Zoll. – Mit welcher Befriedigung überbrachte Olivier Sinclair an diesem Tage die freudige Nachricht! Ein Himmel so rein wie das Auge einer Madonna; ein Azur, der nach und nach alle Schattirungen zwischen Indigo und Ultramarin durchlief. Nicht eine Spur hygrometrischen Dunstes in der Luft, die Aussicht auf einen herrlichen Abend und einen Sonnenuntergang, der jeden Astronomen einer Sternwarte entzückt hätte.

[95] »Wenn wir bei Sonnenuntergang unseren Grünen Strahl heut' nicht sehen, behauptete Olivier Sinclair, so müßten wir eben blind sein.

– Ihr hört, liebe Onkels, sagte Miß Campbell, es gilt heute Abend!«

Man kam also dahin überein, vor dem Abendessen nach der Insel Seil zu fahren, und das geschah gegen fünf Uhr.


Auf der pittoresken Straße von Glachan... (S. 96.)

Auf der pittoresken Straße von Glachan führte die Kalesche Miß Campbell dahin, welche vor Freude strahlte, Olivier Sinclair, der diese Strahlen wiederspiegelte, und die Brüder Melvill, welche auch ihren Theil von diesem Glanze absingen. Man hätte wahrlich sagen können, sie hätten die Sonne mit sich auf einem Wagensitze, und die vier Pferde des eleganten Gefährts wären die Hippogryphe des Wagens Apollos, des Tagesgottes.


Olivier gab möglichst deutliche Zeichen... (S. 98.)

Auf der Insel Seil befanden sich die schon vorher enthusiasmirten Beobachter gegenüber einem Horizonte, dessen scharfe Linien kein Hinderniß unterbrach. Sie nahmen auf der äußersten Spitze eines Vorgebirges Platz, welches zwei Einbuchtungen des Gestades trennte und eine Meile weit in's Meer hinaus [96] ragte. Hier konnte nach Westen und über ein Viertel des Horizonts nichts die Aussicht versperren.

[97] »Endlich werden wir ihn also schauen, diesen wunderlichen Strahl, der sich so gewaltig ziert, ehe er sich einmal blicken läßt, sagte Olivier Sinclair.

– Ich glaube es, sagte Bruder Sam.

– Ich bin dessen gewiß, setzte Bruder Sib hinzu.

– Und ich, ich hoffe es,« meinte Miß Campbell, als sie das verlassene Meer und den fleckenlosen Himmel betrachtete.

In der That deutete alles darauf hin, daß das Phänomen sich beim Untertauchen der Sonne im vollen Glanze zeigen werde.

Schon war das Strahlengestirn, das in schräger Linie niedersank, nur noch wenige Grade oberhalb des Horizonts. Seine rothglühende Scheibe übergoß den Abendhimmel mit gleichmäßiger Farbe und warf einen langen glänzenden Streifen auf das wie in Schlummer versunkene Meer.

Stumm in Erwartung der Erscheinung, etwas erregt von dem Ende eines schönen Tages, beobachteten Alle die Sonne, welche allmählich tiefer sank und einem ungeheuren Feuerballe ähnelte. Plötzlich entrang sich Miß Campbell ein unwillkürlicher Schrei; ihm folgte ein ängstlicher Ausruf, den weder die Brüder Melvill, noch Olivier Sinclair hatten unterdrücken können.

Von dem Eilande Easdale, am Fuße der Insel Seil, stieß eben eine Schaluppe ab, und schlug einen Cours nach Westen ein. Ihr gleich einem Lichtschirm aufgespanntes Segel überragte die Linie des Horizonts. Würde es die Sonne gerade in dem Augenblicke verhüllen, wo diese in den Wogen erlosch?

Das war nur eine Frage von Secunden. Zurückzueilen, sich nach einer oder der anderen Seite zu begeben, um sich gegenüber dem letzten Berührungspunkte zu befinden, dazu hatte man keine Zeit. Die Schmalheit des Vorberges gestattete es nicht, sich unter einem entsprechenden Winkel zu entfernen, um wieder in gleiche Richtung mit der Sonne zu kommen.

Verzweifelt über diese Widerwärtigkeit, lief Miß Campbell auf dem Felsen hin und her. Olivier Sinclair gab der Schaluppe möglichst deutliche Zeichen und rief sie an, das Segel einzuziehen.

Vergebliches Bemühen! Man sah ihn dort nicht, und konnte ihn unbedingt nicht hören. Die Schaluppe glitt unter leichtem Winde mit der Welle, die sie trug, immer weiter nach Westen.

In dem Augenblicke, als der obere Rand der Sonnenscheibe verschwinden sollte, strich das Segel vor derselben vorüber und verdeckte sie mit seinem undurchsichtigen Trapez.

[98] Grausame Enttäuschung! Dieses Mal war der Grüne Strahl von der untersten Linie des dunstlosen Horizonts ausgegangen, hatte sich aber in dem Segel gefangen, ehe er den Vorberg erreichte, auf dem so viele Blicke ihn begierig erwarteten.

Ganz verblüfft, und vielleicht erzürnter, als es der unglückliche Zufall verdiente, standen Miß Campbell, Olivier Sinclair und die Brüder Melvill wie versteinert auf ihrem Platze und vergaßen sogar fortzugehen, während sie nur die Schaluppe und Alle, die sie trug, verwünschten.

Inzwischen stieß das Boot an einem kleinen Einschnitt der Insel Seil, am Fuße des Vorberges, an's Land.

Da sprang ein Passagier an's Ufer, während die beiden Fischer, die ihn von der Insel Luing über das Meer hergebracht hatten, in dem Fahrzeuge zurückblieben; er lief um das Vorland herum und klomm die vordersten zugänglichen Felsen in die Höhe, offenbar in der Absicht, nach dem Vorberge zu gelangen.

Unzweifelhaft hatte der Pechvogel die auf dem oberen Plateau stehenden Beobachter bemerkt und erkannt, denn er grüßte dieselben mit einer gewissen Vertraulichkeit.

»Herr Ursiclos! rief Miß Campbell.

– Er! Er ist es gewesen! antworteten die Brüder.

– Wer mag dieser Herr sein?« fragte sich Olivier Sinclair.

In der That, es war Aristobulos Ursiclos in höchst eigener Person, der eben von seinem mehrtägigen Ausflug nach der Insel Luing zurückkehrte.

Wie er von Denen empfangen wurde, denen er die Erfüllung ihres innigsten Wunsches vereitelt hatte, braucht wohl kaum geschildert zu werden.

Bruder Sam und Bruder Sib vergaßen, aller Regeln gewöhnlicher Höflichkeit uneingedenk, sogar Olivier Sinclair und Aristobulos Ursiclos einander vorzustellen. Vor der bemerkbaren Unzufriedenheit Helenas senkten sie lieber die Augen, um den Prätendenten ihrer Wahl womöglich gar nicht zu sehen.

Die kleinen Hände geballt, die Arme über die Brust gekreuzt und die Augen feuersprühend, sah Miß Campbell ihn an, ohne ein Wort zu sprechen. Endlich entfuhren ihrem Munde die Worte:

»Herr Ursiclos, Sie hätten auch besser gethan, nicht gerade zur rechten Zeit zu kommen, um eine Dummheit zu begehen.«

Fußnoten

1 »Die alte Eingeräucherte«, ein Spitzname Edinburghs.

12. Capitel

[99] Zwölftes Capitel.
Neue Pläne.

Die Rückfahrt nach Oban erfolgte unter weit weniger angenehmen Verhältnissen, als die Fahrt nach der Insel Seil. Man hatte geglaubt, einem Erfolge entgegen zu gehen, und kam von einem Mißerfolge zurück.

Wenn die Enttäuschung, welche Miß Campbell empfand, durch irgend etwas gelindert werden konnte, so war es dadurch, daß Aristobulos Ursiclos die Ursache derselben bildete. Sie gewann dadurch das Recht, ihm, dem großen Verbrecher, ihre Meinung zu sagen und sein Haupt mit Verwünschungen zu bedecken. Daran ließ sie es denn auch nicht fehlen. Die Brüder Melvill wären schlecht angekommen, wenn sie ihn hätten vertheidigen wollen. Nein, es war fast nothwendig gewesen, daß das Boot mit dem Tölpel, an den man in jenem Augenblick gar nicht dachte, gerade denjenigen Punkt am Horizonte einnehmen mußte, wo er denselben in dem Augenblick bedeckte, an dem die Sonne ihren letzten leuchtenden Strahl aussandte. Das waren Dinge, welche jede Verzeihung ausschlossen.

Es versteht sich von selbst, daß Aristobulos Ursiclos, der sich zur Entschuldigung obendrein erlaubt hatte, über die ganze Geschichte mit dem Grünen Strahl zu spötteln, nach dieser zornerfüllten Predigt wieder nach der Schaluppe entwichen war, um nach Oban zu gelangen. Er handelte darin sehr weise, denn höchst wahrscheinlich hätte man ihm doch keinen Platz in der Kalesche angeboten, nicht einmal den dahinter schwebenden Dienersitz.

Zweimal war der Sonnenuntergang also unter Verhältnissen vor sich gegangen, die es gestattet hätten, das ersehnte Phänomen zu beobachten, und zweimal hatte sich das begierige Auge der Miß Campbell den glühenden Liebkosungen des Gestirns ausgesetzt, von welchen sie als Nachwehen mehrere Stunden lang eine bemerkbare Störung der Sehfähigkeit davontrug. Zuerst hatte die Rettung Olivier Sinclair's und heute das Vorüberkommen Aristobulos Ursiclos' ihr die günstige Gelegenheit geraubt, welche vielleicht in langer Zeit nicht wiederkehrte. In beiden Fällen freilich waren die begleitenden Umstände nicht die [100] nämlichen gewesen, und so sehr Miß Campbell den Einen entschuldigte, eben so sehr zürnte sie nun dem Andern. Wer könnte sie deshalb der Parteilichkeit zeihen?

Am folgenden Morgen lustwandelte Olivier Sinclair, etwas in Gedanken versanken, am Strande.

Wer war dieser Herr Aristobulos Ursiclos? Ein Verwandter der Miß Campbell und der Brüder Melvill oder nur ein Freund von ihnen? Auf jeden Fall stand er mit der Familie auf vertrautem Fuße; das bewies schon die Art und Weise, wie Miß Campbell sich hatte gehen lassen, als sie ihm seine Ungeschicktheit vorwarf. Doch was ging ihn, Olivier Sinclair, das überhaupt an? Wollte er wissen, woran er sei, so brauchte er ja nur Bruder Sam oder Sib zu fragen; aber gerade das verbot er sich selbst und that es auch wirklich nicht.

Die Gelegenheit dazu fehlte ihm natürlich nicht.

Jeden Tag begegnete Olivier Sinclair den Brüdern Melvill, die entweder zusammen lustwandelten – wer hätte sich überhaupt schmeicheln können, je einen derselben allein gesehen zu haben? – oder von ihrer Nichte begleitet waren, am Ufer des Meeres. Man plauderte von Tausenderlei, und vorzüglich von der Witterung, was im vorliegenden Falle durchaus keine Aushilfe war, etwas zu sprechen, ohne etwas zu sagen. Würde es noch einmal einen so klaren Abend geben, wie man einen erwartete, um wieder nach der Insel Seil zu fahren? Daran konnte man vielleicht zweifeln. Seit den tadellos schönen Tagen des 2. und des 14. August zeigte der Himmel stets ein ungewisses Aussehen, mit Regenwolken, gelegentlichem Wetterleuchten und abendlichen Nebeln – mit allen Unarten, die einen jungen Astronomen zur Verzweiflung gebracht hätten, wenn dieser, am Objectivglas seines Fernrohrs sitzend, einen Bruchtheil der Himmelskarte hätte durchmustern wollen.

Warum sollten wir nicht zugestehen, daß der junge Maler sich jetzt ebenso wie Miß Campbell von dem Grünen Strahl hatte einnehmen lassen? Er ritt ganz dasselbe Steckenpferd wie das junge Mädchen; er ergab sich dieser Phantasie mit nicht weniger Hitze, um nicht zu sagen, mit nicht weniger Ungeduld, wie seine junge Gefährtin. O, er war kein Aristobulos Ursiclos, der, den Kopf in den Wolken der Wissenschaft verborgen, für eine einfache, optische Erscheinung nichts wie Verachtung hatte. Beide verstanden sich und Beide wollten nun einmal zu den wenigen Auserwählten gehören, welche der Grüne Strahl mit seinem Erscheinen beehrt hatte.

[101] »Wir werden ihn noch sehen, Miß Campbell, wiederholte Olivier Sinclair, wir werden ihn sehen, und wenn ich ihn selbst anzünden sollte! Es war ja mein Fehler, daß er Ihnen beim ersten Male entging, und ich bin ebenso schuldig, wie jener Herr Ursiclos... Ihr Verwandter... wenn ich nicht irre?

– Nein, mein Bräutigam... wie es scheint..,« antwortete heute Miß Campbell und entfernte sich mit einiger Hast, um sich ihren Onkels anzuschließen, welche unsern von ihr gingen und sich die unvermeidliche Prise anboten.

Ihr Bräutigam! Es war eine eigenthümliche Wirkung, welche diese einfache Antwort, und vorzüglich der Ton, in dem sie gegeben wurde, auf Olivier Sinclair hervorbrachte. Doch, warum hätte jener junge Pedant nicht ein Bräutigam sein können? Unter dieser Voraussetzung erklärte sich wenigstens seine Anwesenheit in Oban. Daß er das Unglück haben mußte, sich zwischen die untergehende Sonne und Miß Campbell zu stellen, daraus folgte doch noch nicht... was folgte daraus noch nicht? Olivier Sinclair wäre sehr in Verlegenheit gekommen, das zu sagen.

Nach zweitägiger Unsichtbarkeit war Aristobulos Ursiclos übrigens wieder auf der Bildfläche erschienen. Olivier Sinclair beobachtete ihn zuweilen in Gesellschaft der Brüder Melvill, die ihm unmöglich mehr zürnen konnten. Er schien mit ihnen auf bestem Fuße zu stehen. Wiederholt waren sich auch, entweder am Strande oder im Salon des Caledonian-Hôtels, der junge Gelehrte und der junge Künstler selbst begegnet. Die beiden Onkels hatten es nun doch für angezeigt gehalten, sie einander vorzustellen.

»Herr Aristobulos Ursiclos aus Dumfries!

– Herr Olivier Sinclair aus Edinburgh!«

Die beiden jungen Leute begnügten sich mit einer sehr mittelmäßigen Begrüßung, einer leichten Neigung des Kopfes, woran der etwas zu steif gehaltene Körper keinen Antheil nahm. Allem Anscheine nach konnte zwischen diesen beiden Charakteren niemals irgend welche Sympathie aufkommen. Der Eine durchmusterte den Himmel, um ihm bildlich seine Sterne zu rauben, der Andere, um deren Elemente zu berechnen; der Eine, der Künstler ließ sich nicht verleiten, auf dem Piedestal der Kunst Stellung zu nehmen; der andere machte aus seiner Wissenschaft ein Piedestal, von welchem herab er Vorstellungen gab.

Was Miß Campbell betrifft, so schmollte sie noch immer mit Aristobulos Ursiclos. Wenn er anwesend war, so schien sie ihn gar nicht zu bemerken, wenn er vorüber kam, wendete sie sich bemerkbar weg. Mit einem Worte, und wie wir [102] bereits oben geschildert haben, sie »coupirte« ihn mit aller Schärfe des britischen Formalismus. Die Brüder Melvill hatten genug Mühe, die Stückchen von ihm zusammenzulesen. Doch wie dem auch war, Alles würde sich ja, ihrer Ansicht nach, zum Besten kehren, wenn dieser launenhafte Strahl sich ein einziges Mal sehen lassen wollte.

Dann und wann betrachtete Aristobulos Ursiclos den hübschen Olivier Sinclair über seine Brille hinweg, wie es Kurzsichtige zu thun pflegen, welche etwas sehen wollen, ohne es sich merken zu lassen. Und was er da bemerkte, die unverdrossene Zuvorkommenheit des jungen Mannes gegenüber Miß Campbell, die Liebenswürdigkeit, mit der das junge Mädchen ihm bei jeder Gelegenheit entgegenkam, Alles das war nicht besonders geeignet, ihm zu gefallen. Doch hielt er sich, seiner Sache gewiß, stets reservirt.

Bei dem immer so ungewissen Himmel und vor einem Barometer, dessen beweglicher Nadel es niemals einfiel, einen festen Stand einzunehmen, fühlten übrigens Alle ihre Geduld auf sehr harte Probe gestellt. In der Hoffnung, einen dunstfreien Horizont zu finden, wäre es auch nur für wenige Augenblicke zur Zeit des Sonnenuntergangs, unternahm man noch zwei bis drei Ausflüge nach der Insel Seil, an welchen Aristobulos Ursiclos nicht theilnehmen zu sollen glaubte.

Vergebliche Mühe! Der dreiundzwanzigste August kam heran, ohne daß das Phänomen sich herabgelassen hätte, zu erscheinen.

Diese Phantasie nahm allmählich die Gestalt einer fixen Idee an, welche einer anderen gar keinen Raum ließ. Das steigerte sich bis zum Zustand der Besessenheit. Man träumte davon Tag und Nacht, so daß eine neue Art Monomanie zu entstehen drohte – zu einer Zeit, wo man solche überhaupt nur noch schwer zählen kann. Unter dieser Beeinflussung des Geistes verwandelten sich alle Farben in eine einzige, der blaue Himmel erschien grün, die Landstraßen sahen grün aus, der Strand war grün, die Felsen waren grün, Wasser und Wein schimmerten grün wie Absynth! Die Brüder Melvill bildeten sich ein, in grüner Kleidung einherzugehen und hielten sich für ein paar Papageien, welche grünen Tabak aus grüner Dose schnupften. Mit einem Wort, es war eine grüne Tollheit! Alle erschienen von einer Art Daltonismus befallen, und Augenärzte hätten hier Gelegenheit gehabt, ihre ophthalmologischen Revuen mit interessanten Memoiren zu bereichern. Das konnte nicht lange fortdauern.

Glücklicher Weise kam Olivier Sinclair ein rettender Gedanke.

[103] »Miß Campbell, begann er eines Tages, und Sie, meine Herren Melvill, es scheint mir doch, Alles in Allem, daß wir in Oban recht schlecht daran sind, das fragliche Phänomen zu betrachten.

– Und wen trifft dieser Fehler? antwortete Miß Campbell, während sie die beiden Schuldigen, welche beschämt die Köpfe senkten, scharf ansah.

– Hier giebt es keinen Meereshorizont, fuhr der junge Künstler fort. Wir sind deshalb genöthigt, einen solchen allemal auf der Insel Seil zu suchen, und laufen Gefahr, uns gerade in dem geeigneten Augenblick nicht dort zu befinden.

[104] – Das liegt auf der Hand, stimmte Miß Campbell zu. Ich weiß in der That nicht, wie meine Onkels dazu gekommen sind, gerade diesen entsetzlichen Platz für unsere Beobachtungen zu wählen.


Man plauderte von Tausenderlei. (S. 101.)

– Liebe Helena, antwortete hierauf Bruder Sam etwas kleinlaut, ohne recht zu wissen, was er eigentlich sagen sollte, wir haben nun allerdings geglaubt...

– Ja... geglaubt... daß dasselbe... fügte Bruder Sib hinzu, um ihm zu Hilfe zu kommen.

[105] – Daß die Sonne es nicht unter ihrer Würde finden würde, jeden Abend am Horizonte von Oban unterzugehen....


Der »Pionier« glitt nach der Meerenge von Kerrera zu. (S. 108.)

– Weil Oban doch am Meere liegt.

– Ihr habt eben eine sehr falsche Vorstellung gehabt, liebe Onkels, eine ganz falsche, da sie, von hier gesehen, nicht in's Meer versinkt.

– Leider, stammelte Bruder Sam. Wenn nur diese verwünschten Inseln nicht wären, welche uns die Aus sicht auf das offene Meer rauben.

– Ihr verlangt doch nicht etwa, daß sie in die Luft gesprengt werden sollen? fragte Miß Campbell.

– Das wäre ganz sicher schon geschehen, wenns überhaupt möglich wäre, erklärte Bruder Sib in entschlossenem Tone.

– Wir können uns aber nicht auf der Insel Seil niederlassen, bemerkte Bruder Sam.

– Und warum nicht?

– Liebe Helena, wenn Du es unbedingt willst...

– Unbedingt!

– So brechen wir dahin auf!« antworteten Bruder Sib und Bruder Sam resignirten Tones.

Und die beiden opferwilligen Wesen erklärten sich sofort bereit, Oban zu verlassen.

Da nahm Olivier Sinclair noch einmal das Wort.

»Miß Campbell, sagte er, gern bereit Ihren Willen zu erfüllen, glaube ich doch, daß wir noch etwas Besseres thun könnten, als nach der Insel Seil überzusiedeln.

– Reden Sie, Herr Sinclair, und wenn Ihr Vorschlag noch besser ist, werden meine Onkels sich nicht weigern ihn zu befolgen.«

Die Brüder Melvill verneigten sich mit so automatischer Bewegung, daß sie sich vielleicht noch nie so ähnlich gesehen hatten, wie in diesem Augenblicke.

»Die Insel Seil, erklärte Olivier Sinclair, ist wirklich nicht geeignet, auf derselben längere Zeit zu wohnen, wenn das auch für einige Tage angehen möchte. Wenn Sie gezwungen sind, Geduld zu üben, Miß Campbell, so darf das doch nicht auf Kosten Ihres Wohlbefindens geschehen. Ich habe mich auch überzeugt, daß von Seil aus der Blick nach dem Meere durch die Gestaltung der Inseln sehr eingeengt ist. Wenn's das Unglück wollte, daß wir über Erwarten lange warten müßten, wenn unser Aufenthalt daselbst sich vielleicht gar über [106] einige Wochen ausdehnte, könnte es kommen, daß die Sonne, welche jetzt nach Westen zu zurückweicht, endlich hinter der Insel Colonsay, der Insel Oronsay oder gar hinter Groß-Islay verschwände und aus Mangel an hinreichendem Rundblick jede Beobachtung unmöglich machte.

– Wahrhaftig, sagte Miß Campbell, das wäre der letzte Schlag des neidischen Geschicks...

– Dem wir sehr leicht entgehen können, indem wir eine mehr außerhalb des Archipels der Hebriden gelegene Station aufsuchen, vor der sich der Atlantische Ocean in voller Unendlichkeit ausbreitet.

– Und wäre Ihnen eine solche bekannt, Herr Sinclair?« fragte Miß Campbell lebhaft.

Die Brüder Melvill hingen gespannt an den Lippen des jungen Mannes.

Was würde er antworten? Wohin, zum Teufel, würde sie die Phantasie ihrer Nichte zuletzt noch verschleppen?

Die Antwort Olivier Sinclair's brachte auf sie jedoch eine beruhigende Wirkung hervor.

»Miß Campbell, sagte er, nicht weit von hier liegt eine Station, die mir alle günstigen Bedingungen zu vereinigen scheint. Sie befindet sich hinter jenen Höhen der Insel Mull welche den Horizont im Westen von Oban begrenzen. Es ist eine der kleinen Hebriden, die am weitesten in den Atlantischen Ocean vorgeschoben liegt, die reizende Insel Jona.

– Jona, rief Miß Campbell, Jona, meine Herren Onkels, und da sind wir noch nicht?

– Morgen werden wir da sein, erwiderte Bruder Sib.

– Morgen noch vor Sonnenuntergang, fügte Bruder Sam hinzu.

– So begeben wir uns dorthin, erklärte Miß Campbell, und wenn wir auch in Jona unerwarteter Weise einen nicht hinreichend ausgebreiteten Horizont antreffen, so wißt, liebe Onkels, daß wir nach einem anderen Punkt der Küste suchen werden, von John O'Groats am nördlichen Ende Schottlands bis nach Land's End, an der Südspitze Englands, und wenn selbst das noch nicht hinreichend sein sollte...

– Das ist ganz einfach, fiel Olivier Sinclair ein, dann fahren wir eben um die ganze Erde!«

[107]

13. Capitel

Dreizehntes Capitel.
Die Wunder des Meeres.

Wer sich ganz verzweifelt stellte, als er den Entschluß seiner Gäste erfuhr, das war der Wirth des Caledonian-Hôtels. Als ob Meister Mac Fyne, wenn er es gekonnt hätte, alle die Inseln und Eilande nicht hätte sprengen lassen, welche in Oban die Aussicht auf das Meer beschränkten! Er tröstete sich übrigens, sobald sie abgereist waren, unter dem Ausdruck des größten Bedauerns, eine solche Familie von Monomanen beherbergt zu haben.

Um acht Uhr des Morgens schifften sich die Brüder Melvill, Miß Campbell, Frau Beß und Patridge auf dem »Swift Steamer Pioneer« – so lautete es im Prospect – ein, der die Insel Mull umsegelt, dabei in Jona und auf Staffa anlegt und gegen Abend wieder in Oban eintrifft.

Olivier Sinclair befand sich schon vor seinen Begleitern am Hasen an der Pfahlbrücke und erwartete Jene auf der Commandobrücke, welche von einem Radkasten des Dampfers zum andern reichte.

Von Aristobulos Ursiclos war bezüglich dieser Reise keine Rede. Die Brüder Melvill hatten inzwischen geglaubt, ihn von der plötzlichen Ortsveränderung benachrichtigen zu sollen. Die einfachste Höflichkeit verlangte diesen Schritt, und sie gehörten zu den höflichsten Leuten von der Welt.

Aristobulos Ursiclos hatte die Mittheilung der beiden Onkels ziemlich kühl angehört, und sich einfach begnügt, ihnen zu danken, ohne etwas von seinen eigenen Projecten zu erwähnen.

Die Brüder Melvill zogen sich darauf zurück, indem sie sich wiederholten, daß, wenn ihr Günstling sich so äußerst reservirt zeigte, und wenn Miß Campbell gegen ihn jetzt auch eine gewisse Abneigung fühlen mochte, das alles in Folge eines einzigen schönen Herbstabends vorübergehen werde, wenn nur ein reiner Sonnenuntergang sich gefunden hatte, mit dem die Insel Jona hoffentlich nicht geizen wurde.

Als alle Passagiere an Bord waren, wurden die Sorrtaue beim dritten Ertönen der Dampfpfeife losgeworfen, und der »Pioneer« glitt in der Richtung nach Süden davon, aus der Bai hinaus und nach der Meerenge von Kerrera zu.

[108] Er führte an Bord eine gewisse Anzahl jener Touristen, welche zwei- oder dreimal in jeder Woche diese reizende Rundfahrt um die Insel Mull, die nur zwölf Stunden in Anspruch nimmt, herbeilockte. Miß Campbell und ihre Gefährten sollten denselben jedoch schon beim ersten Landungsplatz verlassen.

Es verlangte sie wirklich, in Jona, d. h. auf ihrem neuen Beobachtungsfelde, anzukommen. Das Wetter war prächtig und das Meer still wie ein Landsee. Die Ueberfahrt verlief höchst angenehm. Wenn auch der heutige Abend die Erfüllung ihrer Wünsche noch nicht bescheeren sollte, nun, so würden sie eben geduldig warten, nachdem sie sich auf der Insel eingerichtet hatten. Hier hofften sie, werde der Vorhang sich schon einmal heben, mindestens waren sie jeden Augenblick auf dem Schauplatze. Eine Verzögerung konnte nur durch schlechte Witterung bedingt sein.

Kurz vor Mittag schon wurde das Ziel der Reise erreicht. Der rasche »Pioneer« dampfte die Straße von Kerrera hinab, bog um die Südspitze der Insel herum, glitt über die weite Oeffnung des Firth of Lorn hinweg, ließ zur Linken Colonsay mit der alten, im vierzehnten Jahrhundert von den berühmten Lords der Inseln gestifteten Abtei, und hielt sich dann dicht an der Küste der im offenen Meere gelegenen Insel Mull, welche einer ungeheuren Krabbe ähnelt, deren eine Scheere sich leicht nach Südwesten hin abneigt. Einen Moment zeigte sich auch der Ben More in einer Höhe von dreitausendfünfhundert Fuß über den entfernten, schroffen und rauhen Hügeln, deren natürlichen Schmuck nur vereinzelte Gesträuche bilden, während der Gipfel des Genannten von Rinderheerden belebte Weiden beherrscht, welche die Spitze von Ardanalish mit ihrer imposanten Bergmasse steil abschließt.

Das hübsche Jona erschien nun am nordwestlichen Horizont, fast an der äußersten Scheere der Insel Mull. Von dort aus erstreckte sich das ungeheure Atlantische Meer ohne Grenzen in die Weite.

»Sie lieben wohl den Ocean, Herr Sinclair?« fragte Miß Campbell ihren jungen Begleiter, der, noch immer auf der Commandobrücke des »Pioneer« sitzend, das Bild vor sich betrachtete.

– Ob ich ihn liebe, Miß Campbell! antwortete er. O, und ich gehöre nicht zu jenen Unwürdigen, welche das Leben desselben einförmig finden. Meinen Augen scheint nichts abwechslungsreicher als sein Anblick, aber man muß das Meer unter verschiedenen Verhältnissen beobachtet haben. In Wahrheit bietet es eine solche Fülle wunderbar mit einander vermischter Nuancen, daß es für einen [109] Maler vielleicht schwerer ist, die scheinbar einförmige und doch verschiedene Gesammtwirkung wiederzugeben, als ein Gesicht getreu zu malen, wenn dessen Physiognomie auch eine noch so lebhafte ist.

– Gewiß, sagte Miß Campbell, es verändert sich unausgesetzt, selbst ohne jeden Wind, und wechselt je nach dem Lichte, das sich darin spiegelt, jede Stunde.

– Betrachten Sie es zum Beispiele eben jetzt, Miß Campbell, fuhr Olivier Sinclair fort. Es ist vollkommen ruhig. Könnte man nicht sagen, es gliche einem schönen schlummernden Gesicht, dessen wunderbare Reinheit nichts trübt? Es hat kein Fältchen, es ist jung und schön. Ja, es bildet einen ungeheuren Spiegel, aber einen Spiegel, welcher das Bild des Himmels wieder giebt und in dem Gott sich sehen kann.

– Ein Spiegel, der freilich unter dem Wüthen des Sturmes nicht selten anläuft! setzte Miß Campbell hinzu.

– O, erwiderte Olivier Sinclair, das bringt eben die große Verschiedenheit im Aussehen des Oceans hervor. Sobald nur ein leichter Wind aufspringt, verändert sich das Gesicht, bekommt Furchen, seine Stirn schmückt sich mit weißen Haaren, es altert gleichsam einen Augenblick und sieht um hundert Jahre älter aus, aber es bleibt doch immer prachtvoll mit seiner wunderbaren Phosphorescenz und den kochenden Schaumkämmen.

– Glauben Sie, Herr Sinclair, fragte Miß Campbell, daß je der größte Maler im Stande wäre, alle Schönheiten des Meeres auf der Leinwand wiederzugeben?

– Das glaub' ich nicht, Miß Campbell, und wie wäre das auch möglich? Das Meer hat keine eigentliche Farbe – es erscheint nur als ungeheure Rückstrahlung des Himmels. Ist es etwa blau? – Nein, blau kann man es nicht malen. Ist es grün? – Es läßt sich auch nicht grün darstellen. Man wird es eher treffen, wenn ich so sagen darf, während seines Wüthens, wenn es düster, bleifarben und drohend aussieht, wenn es erscheint, als mischte der Himmel alle Wolken mit hinein, die er über demselben schwebend hält. O, Miß Campbell, je mehr ich ihn sehe, desto herrlicher finde ich ihn, diesen Ocean! Ocean! Dieses Wort sagt Alles – es bedeutet das Unermeßliche! Er bedeckt mit seinen unergründlichen Tiefen grenzenlose Wiesen, denen gegenüber die unsrigen wahre Wüsteneien wären, hat Darwin behauptet. Was sind ihm gegenüber die gewaltigsten Continente, einfache Inseln, umrauscht von seinen Wässern.

[110] Er bedeckt über zwei Drittel der Erdkugel. Durch eine Art unablässigen Kreislaufs – gleich einem lebenden Geschöpf, dessen Herz in der Linie des Aequators schlüge – ernährt er sich selbst mit den Dunstmassen, die er aussendet, durch welche er die Quellen speist, die ihm als Flüsse wieder zuströmen, oder die er unmittelbar, als aus seinem Busen hervorgegangenen Regen, wieder aufnimmt. Ja, der Ocean, das ist die Unendlichkeit, wie der Weltraum, der sich in seinen Wellen wiederspiegelt.

– Ich liebe es, Sie mit solchem Enthusiasmus reden zu hören, Herr Sinclair, antwortete Miß Campbell, und ich theile diesen Enthusiasmus. Ja, ich liebe das Meer ebenso, wie Sie es nur lieben können!

– Und Sie würden auch vor den Gefahren, die es zuweilen bietet, nicht zurückschrecken? fragte Olivier Sinclair.

– Nein, wirklich, ich hätte keine Furcht! Kann man denn fürchten, was man bewundert?

– Sie hätten es auch unternommen, als kühne Reisende in die Welt zu gehen?

– Vielleicht, Herr Sinclair, erwiderte Miß Campbell. Jedenfalls ziehe ich unter allen Reiseberichten, die ich gelesen, diejenigen vor, deren Zweck und Ziel Entdeckungen in fernen Meeren waren. Wie oft hab' ich dieselben mit den großen Seefahrern besucht! Wie viele Male bin ich nicht mit vorgedrungen in diese unbekannten Welten, freilich nur in Gedanken; aber ich kenne doch nichts Beneidenswertheres, als die Aufgaben jener Helden, welche so Großes geleistet haben.

– Ja, Miß Campbell, was giebt es in der Geschichte der Menschheit Erhebenderes und Schöneres, als jene Entdeckungen! Zum ersten Male den Atlantischen Ocean zu durchfurchen mit Columbus, das Stille Meer mit Magellan, die Polarmeere mit Parry, Franklin, d'Urville und Anderen – welche Träume! Ich kann kein Schiff auslaufen sehen, weder ein Kriegsschiff, noch ein Handelsfahrzeug, ja nicht einmal die kleinste Fischerschaluppe, ohne mein ganzes Sein und Wesen darauf mit einzuschiffen. Ich glaube zum Seemann geboren zu sein, und wenn diese Laufbahn nicht von Jugend auf die meinige wurde, so bedauere ich es jeden Tag!

– Aber Sie haben doch wenigstens Seereisen ausgeführt? fragte Miß Campbell.

– So viel ich konnte, ja, antwortete Olivier Sinclair. Ich habe zum Beispiel das Mittelmeer besucht von Gibraltar bis zu den Grenzen des Morgenlandes, ein wenig den Atlantischen Ocean bis Nordamerika, dazu die nördlichen


»Das Meer!... Eine chemische Verbindung...« (S. 114.)

Meere Europas, und ich kenne alle die Gewässer, mit [111] welchen die Natur England so freigebig ausgestattet hat....

– Und so prächtig dazu, Herr Sinclair.


Und etwas von jenen »Sowens«... (S. 118.)

– Ja wohl, Miß Campbell. Ich kenne nichts, was mit der Umgebung unserer Hebriden zu vergleichen wäre, zu denen dieser Dampfer uns hinführt. Das ist ein wirklicher Archipel, dessen Himmelsbläue viel leicht matter glänzt als die des Orients, der dafür aber in seinen wilden Felsgebilden und den, sozusagen duftigen Horizonte mehr Poesie besitzt als jener.

[112] Die Inselwelt Griechenlands hat eine große Gesellschaft Götter und Göttinnen geboren. Zugegeben! Sie werden dagegen leicht bemerken, daß das sehr bürgerliche Gottheiten waren, so greifbare Gestalten mit sehr materiellem Leben, welche ihre kleinen Geschäfte haben und über ihre Ausgaben Buch führen. Meiner Empfindung nach gleicht der Olymp einem mehr oder weniger gut ausgestatteten Salon, in dem sich die Götter versammeln, welche etwas gar zu sehr jenen Menschen ähnelten, deren Schwachheiten sie theilten. Nicht so ist es mit unseren Hebriden! Sie sind die Wohnung übernatürlicher Wesen. Die immateriellen[113] , ätherischen skandinavischen Gottheiten haben keine greifbare Form, keine Körper. Odin ebenso wie Ossian und Fingal und die ganze Schaar jener poetischen Phantome – Alle sind sie aus Ueberlieferungen der Sagas hervorgegangen. Wie schön sie sind, diese Gestalten, deren Erscheinung unsere Phantasie inmitten der Nebel des Nordmeeres hervorzurufen, die sie im Schnee der hyperboreïschen Regionen zu gewahren vermag! Das ist ein weit göttlicherer Olymp als der des alten Griechenlands. Diesen entstellt nichts Irdisches, und wenn man solchen Wesen würdige Wohnstätten suchen wollte, so könnte es nur das Meer der Hebriden sein. Ja, Miß Campbell, hierher trieb es mich selbst, unsere Gottheiten zu verehren, und als echtes Kind des alten Caledonien würde ich unseren Archipel mit seinen zweihundert Inseln, seinem bedeckten Himmel, seinen auf- und abwallenden, vom Golfstrom freundlich erwärmten Fluthen, niemals gegen alle Archipele des Morgenlandes vertauschen!

– Und der gehört uns, den Schottländern der Hochlande! antwortete Miß Campbell, ganz entflammt von den Worten des jungen Mannes, uns, den Schotten aus der Grafschaft Argyle! O, Herr Sinclair, ich bin gleich Ihnen leidenschaftlich eingenommen für unsere caledonische Inselwelt. Sie ist so schön, und ich liebe sie, wenn auch der Sturm dieselbe durchtobt.

– Ja, sie sind göttlich, jene Inselmauern, erklärte Olivier Sinclair. Nichts bricht die Wuth der Windstöße, welche nach dreitausend Meilen langem Laufe auf sie stürzen. Nur die amerikanische Küste dehnt sich gegenüber der Küste Schottlands aus. Wenn dort auf der anderen Seite des Atlantischen Meeres die furchtbaren Stürme des Oceans aufbrausen, – hier donnern die Wogen und der Wind zuerst an das westliche Europa! Doch was vermögen sie gegen unsere Hebriden, welche muthiger sind, als der Mann, von dem Livingstone spricht, der die Löwen nicht fürchtete, vor dem Ocean sich jedoch ängstigte, diese fest auf ihrer granitnen Unterlage aufgethürmten Inseln, welche der Wuth des Orcans und des Meeres spotten...

– Das Meer!... Eine chemische Verbindung aus Wasserstoff und Sauerstoff nebst zweieinhalb Procent Kochsalz! Ja, es giebt nichts Schöneres, als das Wüthen von Kochsalz!«

Miß Campbell und Olivier Sinclair hatten sich umgedreht, als sie diese, offenbar für sie gemeinten Worte vernahmen, welche gewissermaßen als Antwort auf ihren Enthusiasmus gelten konnten. Aristobulos Ursiclos befand sich auch auf der Commandobrücke.

[114] Der Unglückselige hatte dem Wunsche, Oban zu gleicher Zeit mit Miß Campbell zu verlassen, nicht widerstehen können, da er ja wußte, daß Olivier Sinclair sie nach Jona begleitete. Vor ihnen schon auf dem Schiffe, hatte er sich während der ganzen Ueberfahrt im Salon des »Pioneer« aufgehalten und kam erst jetzt in Sicht der Insel von dort hervor.

Das Wüthen von Kochsalz! Welcher Dolchstoß in den schönen Traum Olivier Sinclair's und der Miß Campbell!

14. Capitel

Vierzehntes Capitel.
Das Leben auf Jona.

Inzwischen tauchte Jona – mit seinem alten Namen »die Insel der Wogen« – der Abbé-Hügel in der Mitte etwa vierhundert Fuß über der Meeresfläche emporragend, mehr und mehr auf, und der Dampfer näherte sich demselben raschen Fluges.

Gegen Mittag legte der »Pioneer« an einem aus kaum behauenen Steinen errichteten Hafendamm daselbst an, den das oftmals darüber spülende Wasser im Laufe der Zeit ganz grün gefärbt hatte. Die Passagiere gingen an's Land, die Einen, und zwar die Mehrzahl, um sich schon nach einer Stunde wieder einzuschiffen und durch die Meerenge von Mull nach Oban zurückzukehren, die Anderen in kleinerer Zahl, wir wissen ja welche, mit der Absicht, auf Jona zu bleiben.

Die Insel besitzt keinen eigentlichen Hafen. Ein Steinwall schützt eine der kleinen Einbuchtungen gegen die heranrollenden Wellen – nichts weiter. Hierher flüchten sich während der schönen Jahreszeit einige Lustyachten und Fischerboote, welche das benachbarte Meer ausbeuten.

Miß Campbell und ihre Begleiter, welche die übrigen Touristen ihrem Programm, die Insel binnen zwei Stunden zu sehen, ruhig überließen, beschäftigten sich damit, zunächst ein geeignetes Unterkommen zu finden.

[115] Die Bequemlichkeit und Pracht der vornehmen Badeorte des Vereinigten Königreiches durfte man hier freilich nicht erwarten.

Jona mißt nämlich nur drei Meilen in der Länge, bei einer Meile Breite und zählt kaum fünfhundert Einwohner. Der Herzog von Argyle, dem es gehört, bezieht davon eine Rente von nur wenigen Hundert Pfund Sterling. Hier giebt es weder eine eigentliche Stadt, noch einen Flecken, ja nicht einmal ein wirkliches Dorf; man trifft nur wenige verstreut liegende Häuser, die meisten einfache Hütten, welche wohl malerisch zu nennen sind, aber sich oft in sehr baufälligem Zustande befinden, meist keine Fenster haben, sondern einzig und allein durch die Thür Licht empfangen, verfallene Nester ohne Rauchfang, dafür mit einer Oeffnung im Dache, mit Mauern von Lehm und Stroh, umgeben von Hecken aus Rosen und Haidekraut, welche mit langen Varec-Stengeln verbunden sind.

Wer würde glauben, daß Jona zu Anfang der skandinavischen Geschichte die Wiege der Religion der Druiden gewesen ist? Wer könnte ahnen, daß später, im sechsten Jahrhundert, der heilige Columban – ein Irländer, dessen Namen jenes auch trägt – daselbst zum Unterrichte in der neuen Religion Christi das erste Kloster Schottlands gründete, welches Mönche aus Cluny bis zur Zeit der Reformation bewohnten? Wo hatte man jetzt die ausgedehnten Baulichkeiten zu suchen, welche gleichsam das Seminar der Bischöfe und Aebte des Vereinigten Königreichs darstellten? Wo könnte man inmitten dieser Trümmer, die an Ueberlieferungen aus der Vergangenheit, an Manuscripten, betreffend die romanische Geschichte, so reiche Bibliothek wiederfinden, aus deren Quelle die Gelehrten jener Zeit mit so großem Gewinn schöpften? – Gegenwärtig ist von Allem nichts übrig als Ruinen, hier, von wo die Civilisation, welche den Norden Europas so tiefgreifend umgestalten sollte, ihren Ausgang nahm. Aus dem ehemaligen Sainte-Columba ist das heutige Jona geworden, mit wenigen Hunderten ungebildeter Bauern, welche dem sandigen Boden der Insel nur mühsam die armselige Gerstenernte abnöthigen und etwas an Kartoffeln und Korn gewinnen, nebst noch wenigeren Fischern, die ihr Leben durch den Fischfang in den reichen Gewässern der Hebriden fristen.

»Miß Campbell, sagte Aristobulos Ursiclos wegwerfend beim ersten Rundblick, glauben Sie, daß sich das mit Oban messen kann?

– O, es übertrifft dasselbe, antwortete Miß Campbell, obgleich sie ohne Zweifel dabei dachte, daß die Insel jetzt wenigstens einen Bewohner zu viel beherberge.

[116] In Ermangelung eines Casino oder Hôtels entdeckten die Brüder Melvill wenigstens eine halbwegs annehmbare Schänke, in der die Touristen absteigen, welche sich nicht mit der beschränkten Zeit begnügen, die der Dampfer ihnen zum Besuch der druidischen und christlichen Ruinen Jonas gönnt. Sie konnten sich also noch am nämlichen Tage in dem »Panzer Duncan's« einquartieren, während Olivier Sinclair und Aristobulos Ursiclos, jeder wohl oder übel in einer benachbarten Fischerhütte Unterkommen fanden.

Die Gemüthsstimmung der Miß Campbell war jedoch eine solche, daß sie sich in ihrem kleinen Zimmerchen vor dem nach Westen hinausschauenden Fenster ebenso wohl befand, wie auf der Terrasse des Hauptthurmes auf der Villa Helenenburg, und jedenfalls besser als im Salon des Caledonian-Hôtels Hier bot sich ihrem Blicke eine unbegrenzte Fernsicht, hier unterbrach kein Eiland die Kreislinie des Horizonts, und mit Aufgebot einiger Phantasie hätte sie hier, in dreitausend Meilen Entfernung, an der entgegengesetzten Seite des Atlantischen Meeres die amerikanische Küste sehen können. In der That, hier hatte die Sonne eine prächtige Bühne, um die Vorstellung eines glänzenden Untergangs zu geben.

Das gemeinsame Leben ordnete sich also leicht und einfach. Die Mahlzeiten wurden in dem unteren Saale der Schänke in Gesellschaft eingenommen. Nach alter Gewohnheit setzten sich hier Beß und Patridge mit an den Tisch ihrer Herrschaft. Aristobulos Ursiclos zeigte sich hierüber vielleicht ein wenig überrascht, Olivier Sinclair dagegen fand nichts weiter dabei. Er empfand schon eine gewisse Zuneigung zu diesen zwei Dienern, welche sie ihm reichlich vergalten.

Nun führte also die Familie das alte schottische Leben in all' seiner Einfachheit. Nach den Spaziergängen auf der Insel und den sie belehrenden Unterhaltungen über alte Zeiten, in welche Aristobulos Ursiclos immer zur Unzeit seine modernen Bemerkungen einflechten mußte, kam man zum Mittagsessen, und Abends acht Uhr zum Abendbrot zusammen. Den Sonnenuntergang beobachtete Miß Campbell aber bei jeder Witterung, selbst bei ganz bedecktem Himmel. Wer weiß, in der untersten Wolkenzone konnte ja doch eine Lichtung, ein Spalt, eine Oeffnung entstehen, um den letzten Sonnenstrahl hindurch blitzen zu lassen.

Und welche Mahlzeiten gab es da! Die echten Vollblut-Caledonier Walter Scott's. die Gäste bei einem Mittagsmahle Fergus Mac Gregors, bei einem Abendessen Oldbuck's, des Antiquars, hätten an den nach altschottischer Weise hergestellten Gerichten gewiß nichts auszusetzen gehabt. Frau Beß und Patridge fühlten sich. um ein Jahrhundert zurückversetzt, ganz überglücklich, als hätten sie [117] zur Zeit ihrer Voreltern gelebt. Bruder Sam und Bruder Sib ließen sich mit offenbarem Vergnügen die culinarischen Leistungen gefallen, welche sie an die früher in der Familie Melvill üblichen errinnerten.

Hier die Ausrufe, welche man in dem unteren, zum Speisesaal umgewandelten Raume hörte:

»Ein wenig von den Hafermehl-»Cakes«, die weit schmackhafter sind, als die weichlichen Kuchen von Glasgow.

– Und etwas von jenem »Sowens« (Hafermus), das die Bewohner der Hochlande noch immer so sehr lieben.

– Mehr von Haggis, den unser großer Dichter Burns für werth gehalten hat, als den ersten, den besten, den nationalsten aller schottischen Puddings zu besingen.

– Noch etwas »Cockylecky«! Wenn der Hahn auch etwas hart ist, so ist der Lauch, der dazu servirt wird, desto vorzüglicher!

– Und zum dritten Male einen Teller »Hotchpotch«, eine vollendetere Suppe, als je eine in der Küche der Helenenburg bereitet wurde!«

O, man speiste vortrefflich im »Panzer Duncans« wenigstens so lange aller zwei Tage frischer Proviant zu haben war durch Vermittlung der Dampfer, welche den Dienst zwischen den kleinen Hebriden versahen. Und man trank daselbst auch gut.

Es hätte sie nur einer sehen sollen, die Brüder Melvill, wenn sie sich, das Glas in der Hand, ein Gütchen thaten oder sich aus Humpen gegenseitige Gesundheit zutranken, aus großen Gefäßen, welche nicht weniger als vier englische Pinten faßten, und in denen der »Usquebaugh«, das nationale Bier par excellence, schäumte, oder der bessere, speciell für Gäste eingebraute »Hummok«! Und dann der aus Gerste gewonnene Whisky, dessen Gährung sich noch im Magen des Trinkenden fortzusetzen scheint. Hätte es aber an starkem Biere gemangelt, so würden sie sich auch mit dem aus Weizen destillirten »Mum« begnügt haben, selbst mit dem sogenannten »Zweipencer«, dem ja immer noch durch ein kleines Gläschen »Gin« nachzuhelfen war. In der That, es kam ihnen gar nicht in den Sinn, den Sherry und Portwein aus den Kellern von Helensbourgh oder Glasgow haben zu wollen.

Wenn der an allen Comfort der Neuzeit gewöhnte Aristobulos Ursiclos nicht unterlassen konnte, sich zuweilen über Gebühr zu beklagen, so schenkte dem Niemand besondere Beachtung.

[118] Wenn ihm die Zeit auf diesem kleinen Fleckchen Erde lang wurde, so enteilte sie den Anderen desto schneller, und Miß Campbell zürnte gar nicht mehr über die Dünste, welche allabendlich den Horizont verschleierten.

Gewiß ist Jona nicht groß; braucht denn aber der, welcher in freier Luft zu lustwandeln liebt, dazu so ausgedehnten Raum? Kann nicht ein kleines Garteneckchen denselben Reiz ausüben, wie der größte königliche Park? – Es wurden also viele Spaziergänge unternommen. Olivier Sinclair bereicherte sein Skizzenbuch mit der und jener hübschen Ansicht. Miß Campbell sah ihm zu, wenn er zeichnete, und dabei verstrich ganz unbemerkt die Zeit.

Der 26., 27., 28. und 29. August vergingen ohne eine Minute Langweile. Dieses Wildlingsleben paßte vollständig zu der wilden Insel, an deren kahlen Felsen das Meer ohne Unterlaß brandete.

Ganz glücklich, jener neugierigen, plauderhaften, alles ausspürenden Menge der Badeorte entflohen zu sein, ging Miß Campbell hier ganz so aus, wie sie es im Park der Helenenburg gethan hätte, mit dem »Roquelay«, der sie gleich einer Mantille umhüllte, als Kopfschmuck nur einen einzigen »Snod«, jenes durch das Haar geflochtene Band, das den jungen Schottinnen so vorzüglich steht. Olivier Sinclair konnte sich nicht enthalten, den Liebreiz ihrer Persönlichkeit, die Anmuth, welche auf ihn – und er war sich hierüber übrigens gar nicht im Unklaren – so anziehend wirkte, rückhaltslos zu bewundern. Oefters lustwandelten Beide plaudernd, ausschauend und träumend bis zur Strandlinie der Insel und durchsuchten nach Muscheln den Tang, der von der letzten Fluth an's Land gespült worden war. Vor ihnen flatterten in zahlreichen Völkern schottische Tauchergänse auf, jene »Tamnie-nories«, deren Einsamkeit sie gestört hatten, oder »Pictarnies«, die sich auf dem Anstand auf kleine, von den Brandungswellen an's Ufer geworfene Fischchen befanden, oder endlich sogenannte »Tölpel von Bassan« mit tiefschwarzem Gefieder, nur weiß an den Flügelspitzen, und gelblich am Kopfe und Halse, welche speciell die Familie der Palmipeden in der Ornithologie der Hebriden repräsentiren.

Wie gerne verbrachte dann, wenn der Abend gekommen und die Sonne wie gewöhnlich in ihr Nebelbett zur Ruhe gegangen war, Miß Campbell und die übrige Gesellschaft noch vereint die ersten Stunden der Nacht auf einsamem stillen Strande. Am Himmel stiegen die flimmernden Sterne empor, und mit ihnen erwachten alle Erinnerungen an die Lieder Ossian's. Inmitten tiefen Schweigens lauschten Olivier Sinclair und Miß Campbell, wie die beiden Brüder

[119] abwechselnd Verse des alten Barden, des unglücklichen Sohnes Fingal's, recitirten.

»O Stern, der Nacht vertraulicher Genosse, dess' Haupt sich strahlend aus den Wolken hebt, der majestätischen Schrittes auf dem Azur des strahlenden Firmaments vorübergleitet – was blickst du nach der Ebene herab?


Er schlug mit einem Hammer auf den Kreuzhügel los. (S. 123.)

»Des Sturmes laute Stimme schweigt, am Felsen nur murmeln leis' die Wellen, Libellen mit durchsichtigen Flügeln schwirren allein noch in der heiligen Ruhe der Nacht.


Es war Aristobulos Ursiclos, der die Dimensionen der Kathedrale maß. (S. 125.)

»Du Strahlenstern, was blickst du nach der Eb'ne? Doch seh' ich schon, wie du dich freundlich lächelnd zum fernen Rand des Horizonts herabneigst – Leb' wohl, leb' wohl, du schweigend Himmelslicht!«

Dann schwiegen auch Bruder Sam und Bruder Sib, und Alle kehrten nach ihren kleinen Stübchen in der [120] Schänke und in den Fischerhütten zurück.

So wenig die Brüder Melvill indeß Hellseher waren, mußten sie doch nothwendig die Bemerkung machen, daß Aristobulos Ursiclos in den Augen der Miß Campbell gerade so viel verlor, wie Olivier Sinclair gewann. Die beiden [121] jungen Männer mieden sich so viel wie möglich. Die beiden Onkels versuchten deshalb, selbst mit einiger Mühe, diese kleine Welt unter einen Hut zu bringen und gelegentliche Annäherungen herbeizuführen, sogar auf die Gefahr hin, ihre Nichte darüber schmollen zu sehen. Sie wären ja so glücklich gewesen, wenn Ursiclos und Sinclair einander näher getreten wären, statt sich zu fliehen, statt gegenseitig eine etwas verächtliche Zurückhaltung zu beobachten. Bildeten sie sich etwa ein, daß alle Menschen Brüder sein könnten, und gar Brüder, so wie sie selbst?

Endlich manövrirten sie so geschickt, daß man am 30. August übereinkam, in Gesellschaft die im Nordwesten wie im Süden des Hügels des Abbés gelegenen Ruinen der früheren Kirche, des Klosters und des zugehörigen Friedhofes zu besuchen. Diese Promenade, welche den Touristen gewöhnlich nur zwei Stunden raubt, war von den neuen Bewohnern Jonas noch unterlassen worden. Das fühlten sie jetzt als einen Mangel an Höflichkeit gegen die legendenhaften Schatten der Einsiedler-Mönche, welche ehemals ihre Hütten an der Küste hatten, als einen Mangel an Rücksicht gegen die großen Todten aus königlichem Stamme, welche aus der Zeit zwischen Fergus II. und Macbeth hier der Auferstehung entgegenschlummerten.

15. Capitel

Fünfzehntes Capitel.
Die Ruinen von Jona.

An genanntem Tage brachen also Miß Campbell, die Brüder Melvill und die beiden jungen Männer gleich nach dem Frühstück auf. Es war schönes Herbstwetter, der Himmel zwar bedeckt, aber häufig brach ein glänzender Lichtschein durch einen Riß der nur wenig dichten Wolken, wobei die Ruinen, welche diesen Theil der Insel krönen, die am Ufer malerisch zerstreuten Felsen, ebenso wie die einzeln über das wellige Terrain Jonas hervorragenden Häuschen und das von den Liebkosungen einer leichten Brise gestreifte Meer ihr etwas trübseliges Aussehen verjüngten und unter dem Glanze der Sonnenstrahlen aufheiterten.

[122] Heute war kein eigentlicher Besuchstag. Am Vortage hatte der fällige Dampfer wohl fünfzig Gäste an der Insel gelandet, und ebenso viele brachte er wahrscheinlich morgen; heute aber gehörte sozusagen die Insel Jona ihren neuen Bewohnern. Die Ruinen mußten also ganz verlassen sein, wenn die kleine Gesellschaft dahin gelangte.

Auf dem Wege ging es recht heiter zu. Die gute Laune Bruder Sams und Bruder Sibs steckte die Andern an. Sie plauderten, gingen hier- und dorthin und streiften zwischen niedrigen Mauern aus verwittertem Gestein über die schmalen, kieselbedeckten Fußpfade hin.

Alles gestaltete sich also ganz nach Wunsch, bis man zuerst vor dem kleinen Kreuzhügel Mac-Lean's Halt machte. Dieser schöne, vierzehn Fuß hohe Monolith aus rothem Granit, der die sogenannte Main Street beherrscht, ist der einzige Ueberrest von dreihundertsechzig Kreuzmonumenten, welche bis zur Zeit der Reformation, gegen Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, die Insel bedeckten.

Olivier Sinclair wollte erklärlicher Weise eine Skizze dieses Monuments zeichnen, welches, an sich eine schöne Arbeit, gerade inmitten dieser kahlen, nur mit saftgrünem Grase tapezirten Ebene eine besonders schöne Wirkung hervorbrachte.

Miß Campbell, die Brüder Melvill und der junge Maler gruppirten sich also etwa fünfzig Schritte von dem Kreuzhügel entfernt, um einen bequemen Ueberblick über dasselbe zu haben. Olivier Sinclair saß auf einem kleinen Mauervorsprunge und begann mit flüchtigen Linien den Vordergrund des Terrains zu zeichnen, auf dem sich das Kreuz Mac-Leans erhob.

Nach wenigen Augenblicken glaubten Alle eine menschliche Gestalt die ersten Stufen des Kreuzhügels erklettern zu sehen.

»Sieh da, rief Olivier Sinclair, was hat denn jener Eindringling dort vor? Wäre er wenigstens in Mönchskutte aufgetaucht, so würde er nicht störend erschienen sein, und ich hätte ihn am Fuße des alten Kreuzes als passende Staffage angebracht.

– Es ist gewiß nur ein Neugieriger, der Ihnen die Arbeit immerhin erschweren wird, meinte Miß Campbell.

– 's wird doch nicht Aristobulos Ursiclos sein, der uns überholt hat? sagte Bruder Sam.

– Ja wirklich, der ist es!« erklärte Bruder Sib.

In der That ritt dort Aristobulos Ursiclos auf einem schmäleren Absatze des Kreuzhügels, auf den er mit einem Hammer losschlug.

[123] Aergerlich über diese Pietätlosigkeit des Mineralogen eilte Miß Campbell auf ihn zu.

»Was beginnen Sie denn hier, mein Herr? fragte sie.

– Wie Sie sehen, Miß Campbell, antwortete Aristobulos Ursiclos, bemühe ich mich, ein Stück dieses Granits abzusprengen.

– Wozu aber diese Manie? Ich glaubte, die Zeit der Bilderstürmer sei vorüber.

– Ich bin kein Bilderstürmer, wohl aber Geolog und als solcher begierig, die Natur dieser Gesteinsart festzustellen.«

Ein heftiger Hammerschlag vollendete die Denkmalsschändung – ein Stein des Fundaments kollerte polternd zur Erde.

Aristobulos Ursiclos hob ihn auf und näherte ihn, die optische Leistungsfähigkeit seiner Brille durch eine dicke Naturforscherlupe verdoppelnd, seinen stechenden Angen.

»Ja, ja, ganz wie ich dachte, sagte er befriedigt. Sie sehen hier einen rothen Granit von sehr dichtem, widerstandsfähigem Korn, der auf der Nonneninsel gebrochen sein muß, ganz ähnlich der Art, welcher die Baumeister des zwölften Jahrhunderts sich bei Errichtung der Kathedrale von Jona bedient haben.«

Aristobulos Ursiclos ließ sich natürlich eine so herrliche Gelegenheit nicht entgehen, einen archäologischen Vortrag vom Stapel zu lassen, den die inzwischen hinzugekommenen Brüder Melvill anhören zu müssen glaubten.

Miß Campbell war, ohne viele Umstände zu machen, zu Olivier Sinclair zurückgekehrt, und nach Vollendung der Skizze fanden sich Alle im Vorhofe der Kathedrale wieder zusammen.

Dieses Denkmal der Vorzeit stellt ein ziemlich verwickeltes, eigentlich aus zwei Kirchen bestehendes Bauwerk dar, dessen festungsartig dicke Mauern und massive felsenfeste Pfeiler seit dreizehn Jahrhunderten den Angriffen der Witterung getrotzt haben.

Kurze Zeit durchwanderten die Besucher die erste Kirche, welche sich durch die Gestalt ihrer Wölbungen und die Bogenform ihrer Arcaden als romanische kennzeichnet; darauf die zweite, ein gothisches Bauwerk aus dem 12. Jahrhundert, welches das Schiff und die Transepte der ersteren bildet. So schritten sie durch die Ruinen hin, gleichsam aus einer Epoche in die andere, über die großen Steinplatten weg, durch deren Fugen da und dort der Erdboden sichtbar war.

[124] Hier waren es gewaltige Deckelplatten über Grabhöhlen, da in den Winkeln noch aufrecht stehende Leichensteine mit erhaben ausgearbeiteten Figuren, welche den Vorübergehenden um ein Almosen anzusprechen schienen.

Alles zusammen athmete in seiner Massigkeit, seinem Ernst und Schweigen den Hauch der Poesie vergangener Zeiten.

Miß Campbell, Olivier Sinclair und die Brüder Melvill gelangten, ohne darauf zu achten, daß ihr gelehrter Begleiter zurückgeblieben war, unter die hochragende Wölbung des viereckigen Thurmes – eine Wölbung, welche dereinst zum Hauptportal der ersten Kirche gehört und sich später am Durchschnittspunkte beider Bauwerke erhoben hatte.

Einige Augenblicke später ließen sich gleichmäßige Tritte auf dem hohl widerhallenden Fußboden vernehmen. Man hätte glauben können, daß eine von Geisterhauch belebte Steinfigur, gleich dem Commandanten im Salon Don Juan's, schwerfällig dahinschritte.

Es war Aristobulos Ursiclos, der mit abgemessener Bewegung der Beine die Dimensionen der Kathedrale ausmaß.

»Hundertsechzig Fuß von Osten nach Westen, verkündete er, diese Zahl in sein Notizbuch eintragend, als er nach der zweiten Kirche übertrat.

– Ah, Sie sind es, Herr Ursiclos! sagte ironisch Miß Campbell. Der Mineralog hat sich zum Geometer verwandelt?

– Und siebenzig Fuß allein an der Kreuzung der Transepte, fuhr Aristobulos Ursiclos unbeirrt fort.

– Und wie viele Zoll?« fragte Olivier Sinclair.

Aristobulos Ursiclos sah Olivier Sinclair an wie Einer, der nicht weiß, ob er bös sein soll oder nicht. Zur rechten Zeit traten jedoch die Brüder Melvill dazwischen und führten Miß Campbell und die beiden jungen Männer nach dem Kloster.

Dieses Gebäude bietet freilich nur noch schwer erkennbare Ueberreste, obgleich es die Zerstörungen des Reformationszeitalters überlebte. Nach dieser Zeit diente es als Wohnung für einige fromme Canonissinnen vom heiligen Augustin, denen der Staat hier ein Asyl gewährte. Jetzt findet sich hier nichts als traurige Ruinen alter, von Stürmen und dem Zahne der Zeit zerstörter Klosterherrlichkeit, eines Bauwerks, das weder wetterfeste Gewölbe, noch romanische Pfeiler hatte, um straflos den Unbilden eines nördlichen Klimas trotzen zu können.

[125] Nachdem die Besucher in Augenschein genommen, was von dem einst so blühenden Kloster übrig war, konnten sie noch die besser erhaltene Kapelle bewundern, deren innere Größenverhältnisse Aristobulos Ursiclos nicht feststellen zu müssen glaubte. Dieser entweder minder alten oder solider als die Refectorien und Zellen des Klosters erbauten Kapelle fehlte nichts als das Dach; der hohe Chor dagegen, der noch unversehrt vorhanden ist, bildet ein von Alterthumskennern sehr geschätztes Meisterwerk der Architektur.

Im westlichen Theile der Kapelle erhebt sich das Grab Derjenigen, welche als letzte Aebtissin der Schwestergemeinschaft vorstand. Auf dessen Marmorplatte erkennt man die Gestalt der heiligen Jungfrau zwischen zwei Engeln, und darüber eine Madonna mit dem Christuskinde in den Armen.

»So wie die heilige Jungfrau mit dem Stuhle und die Sixtinische Madonna, die einzigen Muttergottesbilder Raphael's, welche die Augenlider nicht gesenkt haben, so blickt auch diese offen hinaus, und es sieht aus, als ob ihre Augen lächelten!«

Diese Bemerkung der Miß Campbell traf sozusagen den Nagel auf den Kopf, hatte aber doch kein anderes Resultat, als auf den Lippen Aristobulos Ursiclos' ein ziemlich spöttisches Zucken hervorzurufen.

»Wo haben Sie, Miß Campbell, gelernt, sagte er, daß Augen jemals lächeln könnten?«

Vielleicht hatte Miß Campbell nicht übel Lust, zu antworten, daß man bei Betrachtung der seinigen diese Beobachtung wohl niemals werde machen können, sie schwieg jedoch still.

»Es ist ein allgemein verbreiteter Fehler, fuhr Aristobulos Ursiclos fort, als docirteer hier ex cathedra, vom Lächeln der Augen zu sprechen. Die Organe des Gesichtssinnes entbehren vollständig der Ausdrucksfähigkeit, wie die Oculistik lehrt. Beweis: Bedecken Sie ein Gesicht mit einer Larve, betrachten Sie durch dieselbe die Augen, und ich gehe jede Wette ein, daß Sie unmöglich werden unterscheiden können, ob dasselbe heiter, traurig oder wüthend aussieht.

– Ah, wirklich, antwortete Bruder Sam, der sich für diese beiläufige Aufklärung zu interessiren schien.

– Ich wußte das auch nicht, setzte Bruder Sib hinzu.

– Es ist jedoch so, versicherte Aristobulos Ursiclos, und wenn ich eine Larve zur Hand hätte....«

[126] Der bewundernswerthe junge Mann hatte indeß keine Larve, und das Experiment zur Beseitigung jedes etwaigen Zweifels mußte leider unterbleiben.

Ueberdieß hatten Miß Campbell und Olivier Sinclair das Kloster schon verlassen und sich nach der Gräberstätte Jonas begeben.

Diese Oertlichkeit trägt den Namen »Reliquiarium von Oban« zur Erinnerung an jenen Genossen des heiligen Columban, dem man die Errichtung der Kapelle verdankt, deren Ruinen sich mitten in diesem Todtenfelde erheben.

Es ist eine merkwürdige Stelle, dieses von Leichensteinen bedeckte Terrain, auf, oder vielmehr in dem achtundvierzig schottische Könige, acht Vicekönige der Hebriden, vier Vicekönige von Irland, und ein französischer König ruhen, dessen Name ebenso in Vergessenheit gerathen ist, wie der eines vorhistorischen Herrschers. Umrahmt von langem Eisengeländer, bedeckt mit dicht neben einander liegenden Steinplatten, könnte man hier leicht glauben, eine Art Feld von Karnak vor sich zu haben, dessen Steine Gräber und nicht Druidenfelsen wären.

Unter ihnen, mitten in magerem Grün, zeichnet sich der Granitblock eines Königs von Schottland aus, jenes Duncan, der durch die düstere Tragödie Macbeth so weit bekannt werden sollte. Von diesen Steinen zeigen einige nur Ornamente in geometrischen Linien, andere roh bearbeitete verschiedene wilde Keltenkönige, welche mit aller Steifheit eines Cadavers vor dem Beschauer liegen.

Wie viele Erinnerungen schweben über dieser Todtenstadt Jonas! Wie lebhaft wird die Phantasie erregt, wenn man dieses Saint-Denis der Hebriden durchstreift!

Wie könnte Jemand dabei die Strophe Ossians vergessen, zu der er sich offenbar an Ort und Stelle selbst begeistern ließ?

»Fremdling, Du irrest hier auf heldenbesäetem Boden! Singe zuweilen den Preis, den Ruhm der berühmtesten Todten, daß die flüchtigen Schatten derselben freundlich sich sammeln im Kreise um Dich!«

Miß Campbell und ihre Gefährten waren in schweigende Betrachtung versunken. Sie brauchten sich nicht über einen beeidigten Führer zu ärgern, der, wenn er Touristen begleitet, den Schleier so fern zurückliegender Geschichte mit plumpen Händen zerreißt. Ihrem geistigen Auge erschienen sie alle wieder, die Nachkommen des Lords der Insel, Angus Oy, des Gefährten Robert Bruce's, des Waffenbruders dieses Helden, der so mannhaft für die Unabhängigkeit seines Landes kämpfte.

[127] »Ich würde hierher lieber bei einbrechender Dunkelheit zurückkehren, sagte Miß Campbell. Diese Stunde scheint mir geeigneter, solche Erinnerungen zu wecken. Ich sähe da den Leichnam des unglücklichen Duncan bringen und hörte die Bemerkungen der Todtengräber, wenn sie ihn zu seinen Ahnen in die geweihte Erde betten. Nicht wahr, Herr Sinclair, das wäre doch die günstigste Zeit, die Geister zu rufen, welche den Friedhof der Könige bewachen?


Miß Campbell und ihre Gefährten waren in schweigende Betrachtung versunken. (S. 127.)

Miß Campbell und ihre Gefährten waren in schweigende Betrachtung versunken. (S. 127.)


– Gewiß, Miß Campbell, und ich denke, sie würden es nicht verweigern auf den Ruf Ihrer Stimme zu erscheinen.

[128] »Wie, Miß Campbell, Sie glauben an Gespenster? rief Aristobulos Ursiclos.


Olivier hörte Hilferufe und blieb stehen. (S. 134.)

– Ich glaube daran. mein Herr, glaube als echte Schottin daran, erwiderte Miß Campbell.

– Sie wissen aber sicherlich, daß das Alles nur Sache der Einbildung ist, daß nichts Unwesenhaftes existirt!

– Wenn es mir dennoch gefällt, daran zu glauben, antwortete Miß Campbell etwas gereizt durch diesen unzeitgemäßen Widerspruch, wenn es mir Vergnügen macht, an die häuslichen Brownies zu glauben, welche das Mobiliar [129] des Hauses behüten; an Hexen, welche man erscheinen lassen kann, wenn man Runenverse declamirt; an Walküren, diese Schicksalsjungfrauen der skandinavischen Mythologie, welche mit den in der Schlacht gefallenen Kriegern durch die Lüfte davonschweben; an alle die gütigen Feen, die unser Dichter Burns in Liedern besang, welche kein echter Sohn der Hochlande je vergessen kann:

»Es tanzen heute Nacht die Feen auf Cassilis Dawnan's, sie flüchten dann scheu zurück bei bleichem Mondschein nach Galzean, um durch die Goven hurtig, inmitten Fels und Bach den Reigen zu schlingen.«

– O, Miß Campbell, nahm der halsstarrige Querkopf wieder das Wort, meinen Sie denn, daß die Dichter solchen Schöpfungen ihrer Phantasie selbst Glauben beimessen?

– Ganz gewiß, Herr Aristobulos Ursiclos, antwortete Olivier Sinclair, sonst würde ihre Poesie den falschen Klang haben, wie jedes Werk, das nicht aus tiefer Ueberzeugung entsteht.

– Sie auch, mein Herr, versetzte Aristobulos Ursiclos, ich hielt Sie für einen Maler, nicht für einen Dichter.

– Das ist ganz dasselbe, erklärte Miß Campbell, die Kunst ist immer ein und dieselbe, nur unter verschiedenen Formen.

– Nein, nein, das kann ich nicht zugeben!... Sie glauben nicht an die Götterlehre der alten Barden, deren erregtes Gehirn eingebildete Gottheiten erschuf!

– Ah, Herr Ursiclos, mischte sich da Miß Campbell fast verletzt ein, erniedrigen Sie nicht in solcher Weise diejenigen unserer Vorfahren, welche unser altes Schottland besungen haben!

– Nein, lauschen Sie ihren Worten, fuhr Bruder Sib fort, dem die schönen Citate aus seinen Lieblingsdichtern wieder auf der Zunge lagen. Ich liebe die Gesänge der Barden; ich höre gern den Erzählungen aus vergangenen Zeiten zu; sie sind für mich wie die Ruhe des Morgens, wie die Frische des Thaues, der Hügel erquickt...

»Wenn dann die Sonn' auf ihre Lehnen nur noch die langen Strahlen schickt, wenn in des Thales kühlem Grunde der blaue See so freundlich ruht!« setzte Bruder Sam hinzu.

Ohne Zweifel hätten die beiden Brüder fortgefahren, sich immer mehr an ihren Ossianischen Gesängen zu berauschen, wenn Aristobulos Ursiclos sie nicht rauh unterbrochen hätte, indem er sagte:

[130] »Meine Herren, haben Sie jemals einen einzigen dieser vermutheten Genien gesehen, von denen Sie mit solchem Enthusiasmus sprechen? Nein! Und kann man sie überhaupt sehen? Auch nicht, nicht wahr?

– Darin liegt eben Ihr Irrthum, mein Herr, und ich beklage Sie, dieselben niemals wahrgenommen zu haben, entgegnete Miß Campbell, die ihrem Widersacher nicht um die Breite eines Geisterhaares nachgegeben hätte. Man sieht sie überall in den Hochlanden Schottlands, wenn sie durch die langen öden Thalgründe schweben, sich aus dem Grunde der Schluchten erheben, über die Oberfläche der Seen gleiten, in dem friedlichen Gewässer unserer Hebriden sich tummeln, und noch scherzen inmitten der Stürme, die der nordische Winter entfesselt. Und warum könnte beispielsweise jener Grüne Strahl, den ich mit aller Ausdauer verfolge, nicht vielleicht die Schärpe einer Walküre sein, deren flatterndes Ende sie durch das Wasser am Horizonte schleift?

– O nein, rief Aristobulos Ursiclos, davon kann keine Rede sein. Ich will Ihnen besser sagen, welche Bewandtniß es mit Ihrem Grünen Strahle hat.

– Sprechen Sie es nicht aus, mein Herr, bat Miß Campbell, ich mag es nicht wissen.

– Und doch, widersprach ihr Aristobulos Ursiclos, den der kleine Streit in die Hitze gebracht hatte.

– So verbiete ich es Ihnen...

– Und ich werd' es dennoch sagen, Miß Campbell. Der letzte Strahl, den die Sonne in dem Augenblicke aussendet, wo der obere Rand ihrer Scheibe den Horizont gerade berührt, erscheint, wenn er überhaupt noch grün ist, wahrscheinlich nur deshalb in dieser Farbe, weil er dieselbe erhält, wenn er die dünne Wasserschicht durchdringt....

– Schweigen Sie, Herr Ursiclos!...

– Im Fall dieses nicht ganz natürlicher Weise dem glühenden Roth der plötzlich versunkenen Sonnenscheibe folgt, dessen Eindruck unser Auge noch bewahrt hat, weil nach der Lehre der Optik Grün dessen Complementärfarbe ist.

– Ach, mein Herr, Ihre physikalischen Anschauungen...

– Meine Anschauungen, Miß Campbell, stimmen ganz mit den Thatsachen überein, antwortete Aristobulos Ursiclos, und ich behalte mir vor, über diesen Gegenstand eine Abhandlung zu veröffentlichen.

[131] – Wir wollen aufbrechen, liebe Onkels, rief Miß Campbell wirklich ärgerlich, Herr Ursiclos würde mir mit seinen Erklärungen zuletzt meinen Grünen Strahl gründlich verderben!«

Da kam ihr Olivier Sinclair zu Hilfe.

»Mein Herr, sagte er, ich glaube gern, daß Ihre Abhandlung über den Grünen Strahl ganz bemerkenswerth ausfallen wird, aber gestatten Sie mir ein anderes, vielleicht noch interessanteres Thema vorzuschlagen.

– Und welches, mein Herr? fragte Aristobulos Ursiclos, sich in die Brust werfend.

– Es ist Ihnen jedenfalls nicht unbekannt, daß einige Gelehrte höchst wissenschaftlich die brennende Frage behandelt haben: »Ueber den Einfluß der Schwänze der Fische auf die Wellenbildung im Weltmeere«...?

– Mein Herr...

– Ich kann Ihren tiefsinnigen Studien auch noch einen anderen würdigen Gegenstand bezeichnen: »Ueber den Einfluß der Blasinstrumente auf das Entstehen der Stürme.«

16. Capitel

Sechzehntes Capitel.
Zwei Flintenschüsse.

Am folgenden und während der ersten Tage des September sah man Aristobulos Ursiclos nicht wieder. Hatte er Jona mit dem Touristen-Dampfer verlassen, nachdem er sich überzeugt, daß er an der Seite der Miß Campbell nur seine Zeit verliere?

Niemand hätte es sagen können. Jedenfalls that er wohl daran, sich nicht wieder zu zeigen. Er erweckte in dem jungen Mädchen jetzt nicht mehr das Gefühl der Gleichgiltigkeit, sondern mehr das des wirklichen Abscheus. Wie konnte er auch deren Strahl seiner poetischen Natur entkleiden, deren Träumereien zu materialisiren, die flatternde Walkürenschärpe in ein ganz gewöhnliches optisches Phänomen zu verwandeln wagen! Vielleicht hätte sie ihm Alles verziehen, nur das allein gewiß nicht.

[132] Die Brüder Melvill erhielten nicht einmal Erlaubniß, Nachforschungen anzustellen, was aus Aristobulos Ursiclos geworden war.

Wozu auch, was hätten sie ihm sagen können, was konnten sie noch hoffen? Vermochten sie trotz alledem noch an die geplante Verbindung zwischen zwei so antipathischen Wesen zu denken, welche der Abgrund trennt, der zwischen gemeiner Prosa und hochfliegender Poesie gähnt, der Eine mit seiner Manie, Alles auf trockene wissenschaftliche Formeln zurückzuführen, die Andere nur ihrem Ideal lebend, das die Ursache verachtet und sich mit den Eindrücken begnügt?

Inzwischen hatte Patridge, den Frau Beß dazu drängte, in Erfahrung gebracht, daß der »junge alte Gelehrte,« wie er ihn bezeichnete, keineswegs abgereist sei, sondern noch immer die Fischerhütte bewohne, in der er auch seine Mahlzeiten einsam verzehre.

Das Wichtigste blieb es immerhin, daß man Aristobulos Ursiclos nicht mehr zu sehen bekam. In Wahrheit streifte er, wenn er sich nicht auf sein Zimmerchen beschränkte, in dem ihn gewiß ein hohes wissenschaftliches Problem beschäftigte, mit der Flinte auf dem Rücken am flachen Strand des Ufers und machte da seiner üblen Laune durch eine wirkliche Schlächterei unter den schwarzen Taucherenten und Möven Luft, welche hier ja zu nichts da wären. Bewahrte er noch einige Hoffnung? Tröstete er sich damit, daß Miß Campbell nach Befriedigung ihrer Sehnsucht nach dem Grünen Strahl wieder mildere Saiten gegen ihn aufziehen werde? Seinem ganzen Charakter nach war das wenigstens möglich.

Da erlebte er aber eines Tages ein recht unangenehmes Abenteuer, welches für ihn ohne das edelmüthige und unerwartete Dazwischentreten seines Rivalen recht schlimm hätte auslaufen können.

Es war am Nachmittag des 2. September. Aristobulos Ursiclos hatte sich aufgemacht, die Felsen zu untersuchen, welche die äußerste Südspitze von Jona bilden. Eine dieser Granitmassen, ein sogenannter »Stack«, erregte seine Aufmerksamkeit so sehr, daß er dessen Gipfel zu erklettern beschloß. Es war das übrigens ein ziemlich unkluges Unterfangen, denn der Felsen zeigte nur sehr abhängige, wohl gar etwas schlüpfrige Oberflächen, auf denen der Fuß keinen festen Halt finden konnte.

Aristobulos Ursiclos ließ sich freilich von solchen Zufälligkeiten nicht abschrecken. Er begann also an den Wänden hinaufzuklimmen, indem er sich an einzelnen, da und dort verstreuten Pflanzen anhielt, und erreichte wirklich, wenn auch nur mit vieler Mühe, den Gipfel des Stack.

[133] Dort angelangt, überließ er sich sogleich seinen gewohnten mineralogischen Liebhabereien; aber als er wieder hinunterklettern wollte, gestaltete sich das wesentlich schwieriger. Nachdem er sorgfältig geprüft, an welcher Seite der Wand er noch am besten hinabgleiten könne, wagte er wirklich das kühne Unternehmen. Da glitt ihm auch schon der Fuß aus, er rutschte hinunter, ohne sich erhalten zu können, und wäre ohne Gnade in die heftige Brandung gestürzt, wenn ihn nicht mitten im Fallen ein abgebrochener Baumstamm aufgehalten hätte. Aristobulos befand sich hiermit in einer ebenso gefährlichen, wie lächerlichen Lage Er konnte weder aufwärts klettern, noch weiter hinunter gelangen.

So verging eine Stunde, und wer weiß was noch geschehen wäre, wenn Olivier Sinclair nicht zufällig, mit seiner Malertasche auf dem Rücken, nach dieser Stelle gekommen wäre.

Er hörte Hilferufe und blieb stehen. Unwillkürlich mußte er lachen, Aristobulos Ursiclos dreißig Fuß hoch in der Luft schweben und hin und her schwanken zu sehen, wie die geflochtenen Puppen vor den Schänken; natürlich aber zögerte er keinen Augenblick, ihn mit eigener Gefahr aus dieser peinlichen Lage zu befreien.

Das ging freilich nicht ohne Mühe. Olivier Sinclair sah sich genöthigt, selbst den Gipfel des Stack zu erklimmen, um den Gehenkten da hinauf zu lootsen und ihn nachher beim Abstieg auf der anderen Seite zu unterstützen.

»Herr Sinclair, so lauteten des gelehrten Thoren erste Worte, ich habe den Neigungswinkel, den diese Wand mit der Senkrechten macht, falsch berechnet; deshalb mußte ich ausgleiten und dann hängen bleiben...

– Herr Ursiclos, sagte Olivier Sinclair, ich schätze mich glücklich, daß der Zufall mir gestattete, Ihnen zu Hilfe zu kommen.

– So empfangen Sie wenigstens meinen Dank...

– O gar nicht nöthig, mein Herr! Sie würden gewiß das Nämliche für mich gethan haben.

– Ohne Zweifel.

– Nun also, auf Gegenseitigkeit!«

Damit trennten sich die beiden jungen Leute.

Olivier Sinclair glaubte nicht von diesem Vorfalle sprechen zu sollen. der ihm auch von zu geringer Wichtigkeit erschien. Aristobulos Ursiclos erwähnte desselben erst recht gegen Niemand; im Grunde aber hielt er gar viele Stücke auf seine heile Haut, und wußte es seinem Rivalen Dank, ihn aus der Klemme gezogen zu haben.

[134] Und der berühmte Strahl? Wir müssen gestehen, daß er sich gewaltig bitten ließ, und doch war nicht mehr viel Zeit zu verlieren. Die Herbstzeit mußte den Himmel nun bald mit ihrem Nebelschleier bedecken; dann gab es aber jedenfalls keine klaren Abende mehr, mit denen der September in so hohen Breiten überhaupt ziemlich geizt; keinen reinen Horizont mehr, dessen Linie eher von dem Zirkel eines Geometers, als von dem Pinsel eines Malers gezogen scheint. Sollte man zuletzt darauf verzichten müssen, die seltene Erscheinung zu sehen, welche die Gesellschaft von einem Orte zum andern gezogen hatte? Sollte man genöthigt werden, die Beobachtung der Erscheinung auf das nächste Jahr zu verschieben, oder sie halsstarrig noch unter andern Himmelsstrichen verfolgen?

In der That fühlten sich Miß Campbell und Olivier Sinclair recht enttäuscht, und die Brüder Melvill wurden unwillig, den Horizont der Hebriden unausgesetzt von den Nebeln des hohen Meeres verdunkelt zu sehen.

So gestaltete es sich wenigstens die ersten Tage des oft trüben Monats September.

Jeden Abend fanden sich Miß Campbell, Olivier Sinclair, Bruder Sam, Bruder Sib, Frau Beß und Patridge auf irgend einem Felsen, den die sanften Wellen der Fluth bespülten, zusammen, um aufmerksam dem Untergange der Sonne zu folgen, welche jetzt in weit glänzenderem Scheine leuchtete, als das bei vollkommener Reinheit des Himmels hätte der Fall sein können.

Ein Künstler hätte vor Freude in die Hände geklatscht, bei dieser prächtigen Verklärung des Himmelsgewölbes, wenn der Tag Abschied nahm, bei diesem entzückenden Farbenspiel, das, von Wolke zu Wolke überspringend, vom Violett des Zeniths bis zum Rothgold des Horizonts wechselte; vor dieser glitzernden Cascade der auf den Luftfelsen umherhüpfenden Feuerfunken; hier bestanden die Felsen freilich aus Wolken, und diese Wolken, welche die Sonnenscheibe überzogen, raubten mit deren letzten Strahlen auch den, welchen das Auge der Beobachter so beharrlich suchte.


Den Vogelschwarm mit den Blicken verfolgend. (S. 141.)

Nach dem Verschwinden des Gestirns erhoben sich dann Alle verstimmt, wie die Zuschauer einer Feerie, deren Schlußeffect durch den Fehler eines Maschinisten verunglückt ist, und kehrten meist auf langem Umwege nach der Herberge »Zum Panzer Duncan's« zurück.

»Also morgen, sagte dann Miß Campbell.

– Ja, morgen, antworteten die beiden Onkels. Wir haben so eine Art Vorgefühl, daß morgen...«


Gegen sechs Uhr Morgens... (S. 144.)

Dieses Vorgefühl empfanden die Brüder Melvill [135] freilich alle Abende, und unabänderlich endete es mit einem Fiasco.

Der Morgen des 5. September dagegen ließ sich überraschend schön an. Die Dünste im Osten verschwanden schon unter den ersten Sonnenstrahlen.

Das Barometer, dessen Nadel sich seit einigen Tagen nach »schön Wetter« zu bewegte, stieg noch immer und blieb auf diesem Punkte stehen. Jetzt wurde es nicht mehr so warm, daß die Luft jenes Zittern von scheinbaren Stäubchen gezeigt hätte, das man an heißen Sommertagen nicht selten bemerkt. Man [136] empfand die Trockenheit der Luft am Niveau des Meeres ebenso, wie in der verdünnten Luft auf einem Berge von einigen tausend Fuß Höhe.

Es wäre unmöglich zu sagen, mit welch' ängstlicher Spannung Alle den weiteren Verlauf des Tages beobachteten; ja, wir müssen darauf verzichten, zu schildern, mit welchem Herzklopfen sie danach auslugten, ob sich ein Wölkchen am Himmel bilden wolle, und es wäre maßlose Kühnheit, die Angst auszumalen, mit der sie dem bei ihrem täglichen Laufe beschriebenen Bogen der Sonne folgten.

[137] Glücklicher Weise wehte eine leichte, aber anhaltende Brise von der Landseite her. Bei ihrem Wege über die Bergländer im Osten und über die ausgedehnten Wiesenstrecken hinter diesen konnte sie sich nicht mit jenen feuchten Molecülen beladen, welche von großen Wasserflächen aufsteigen und die der Wind von der Seeseite des Abends herantreibt.

Aber wie unendlich lang wurde dieser Tag! Miß Campbell konnte sich gar nicht mehr an einem Platze halten. Trotz der lästigen Hitze lief sie einmal hier und einmal dorthin, während Olivier Sinclair sich nach den höher gelegenen Punkten der Insel begab, um einen erweiterten Ausblick zu haben. Die beiden Onkels leerten heute Jeder zur Hälfte eine ganze Tabaksdose, und Patridge, als wenn er auch dazu gehört hätte, spielte sozusagen den Feldhüter, der zur Ueberwachung der Himmelsgefilde ausgestellt war.

Es war verabredet worden, an diesem Tage schon um fünf Uhr zu speisen, um schon vorher auf dem Beobachtungsfelde einzutreffen. Die Sonne konnte erst um sechs Uhr neunundvierzig Minuten untergehen, und man hatte demnach Zeit, ihr ein großes Stück zu folgen.

»Ich glaube, dieses Mal haben wir ihn, rief Bruder Sam, sich die Hände reibend.

– Ich glaub' es auch!« erwiderte Bruder Sib, dieselbe Bewegung vornehmend.

Gegen drei Uhr Nachmittags, gab es jedoch Lärm. Eine Wolkenflocke, der Versuch einer Cumulusbildung, erhob sich im Osten und glitt, getrieben vom Landwinde, dem Ocean zu.

Miß Campbell hatte sie zuerst bemerkt. Sie konnte einen Ausruf der Entmuthigung nicht unterdrücken.

»O, sie ist ja allein, diese Wolke, sagte einer der Onkels, sie wird sich in nicht ferner Zeit auflösen...

– Oder sie bewegt sich schneller als die Sonne, meinte Olivier Sinclair, und verschwindet vor ihr unter dem Horizont.

– Doch ist diese Wolke nicht der Vorbote einer Nebelbank? fragte Miß Campbell.

– Das wird sich zeigen.«

In vollem Laufe begab sich Olivier Sinclair nach den Ruinen des Klosters. Dort konnte sein Blick, über die Berge von Mull hinweg, weit nach Osten schweifen.

[138] Jene Berge strebten in voller Klarheit empor; der Kamm glich einer mit Bleistift auf ganz weißem Grunde gezogenen Wellenlinie.

Am weiten freien Himmelsraume fand sich keine andere Dunstbildung, und der deutlich sichtbare Ben More trug trotz seiner Höhe von dreitausend Fuß über dem Meere keine Nebelkappe.

Nach Verlauf einer halben Stunde kehrte Olivier Sinclair mit den tröstlichsten Versicherungen wieder zurück. Die gesehene Wolke war nichts als ein verlassenes Kind im Raume; sie konnte in der ausgetrockneten Atmosphäre keine Nahrung finden und mußte unterwegs schon an Hunger zu Grunde gehen.

Inzwischen stieg die weiße Wolke weiter nach dem Zenith auf. Zum großen Mißvergnügen Aller folgte sie dem Wege der Sonne und näherte sich dieser unter dem Drucke der Brise. Im Dahingleiten änderte sie in Folge der wirbelnden Bewegung der Luft ihre Gestalt; erst dem Kopfe eines Hundes ähnlich, verwandelte sie sich später in einen Fischkopf, gleich dem eines riesigen Rochens; dann rollte sie sich zu einer im Mittelpunkt dunklen, an den Rändern glänzenden Kugel zusammen und berührte in diesem Augenblick die Sonnenscheibe.

Ein Schrei entfuhr Miß Campbell, deren beide Arme sich gen Himmel emporstreckten.

Das hinter diesem Nebelschirm verborgen strahlende Gestirn sandte nicht mehr einen einzigen seiner Lichtblitze nach der Insel Jona, und letztere, welche jetzt außerhalb der Zone der directen Irradiation lag, hüllte sich in düstere Schatten.

Bald aber wechselte der ungeheure Schatten seine Stelle, und die Sonne erschien wieder in vollem Glanze. Die Wolke senkte sich zum Horizont herab – sie sollte ihn nicht einmal erreichen, denn eine halbe Stunde später verschwand sie gänzlich, als wenn am Himmel eine Oeffnung entstanden wäre.

»Endlich ist sie zerstreut, rief das junge Mädchen, nun gebe Gott, daß ihr keine andere folgt.

– Nein, seien Sie darüber ruhig, Miß Campbell, sagte Olivier Sinclair. Wenn diese Wolke so schnell auf diese Weise verschwand, ist es ein Zeichen, daß sie in der Atmosphäre keine anderen Dünste antraf, weil der ganze Himmelsraum nach Westen zu von vollkommener Reinheit ist.«

Um sechs Uhr Abends nahmen die Beobachter auf einem nach allen Seiten offenen Terrain ihren Posten ein.

Dieser befand sich am Nordende der Insel, auf einem den Hügel der Abtei überragenden Bergkamme. Von diesem Gipfel aus konnte der Blick frei[139] ringsum schweifen; im Osten über die ganze höher liegende Landschaft der Insel Mull; im Norden erhob sich das Eiland von Staffa gleich der riesenhaften Schale einer Schildkröte, die in den Gewässern der Hebriden gestrandet wäre; darüber hinaus lösten sich Elva und Gometra von dem weit hinausschießenden Ufer der Insel ab; gegen Westen, Süd- und Nordwesten breitete sich nur das grenzenlose Meer vor ihnen aus.

Die Sonne sank in schräger Linie schnell tiefer. Der Rand des Horizonts erschien gleich einem schwarzen, mit chinesischer Tusche gezogenen Striche. Nach rückwärts dagegen glühten alle Fenster der Häuser von Jona wie im Wiederscheine einer Feuersbrunst, deren Flammen von schmelzendem Golde gewesen wären.

Miß Campbell, Olivier Sinclair, die Brüder Melvill, Frau Beß und Patridge verhielten sich, ergriffen von diesem erhabenen Schauspiel, ganz still. Sie betrachteten, halb die Augenlider schließend, die Scheibe, welche allmählich ihre Gestalt veränderte, sich parallel der Wasserlinie aufblähte und die Form einer ungeheuren Montgolfière annahm. Im Weltraum war nicht der feinste Dunst zu bemerken.

»Ich glaube, dieses Mal haben wir ihn wirklich, fing Bruder Sam wieder an.

– Ich glaub' es auch, stimmte Bruder Sib bei.

– Bitte, schweigt still, liebe Onkels!«... rief Miß Campbell.

Sie schwiegen, sie hielten den Athem an, als fürchteten sie, derselbe möchte sich zu einer leichten Wolke verdichten, die ihnen die Sonnenscheibe verhüllen könnte.

Endlich berührte der untere Rand des Gestirns den Horizont. Es verbreiterte sich, verbreiterte sich immer mehr, als wäre es im Innern mit leichtem Fluidum angefüllt.

Alle sogen mit den Augen die letzten Strahlen ein.

So gespannt wartete Arago, als er sich in der Wüstenei von Palma befand, auf das Signalfeuer, das auf dem höchsten Punkte der Insel Iviça aufleuchten und ihm Gelegenheit geben sollte, das letzte Dreieck seines Meridians zu schließen.

Endlich überragte die Wasserlinie nur noch ein schmales Segment des oberen Bogenstückes. Nach fünfzehn Secunden mußte der letzte Strahl über die Erde hinblitzen und in den Augen der Beobachter, welche sich schon vorbereiteten, ihn aufzufangen, den Eindruck eines paradiesischen Grüns hervorrufen!...

[140] Plötzlich krachten zwei Flintenschüsse zwischen den Uferfelsen unterhalb des Berges. Ein leichter Rauch stieg empor, und zwischen dessen Einzelwolken flatterte ein ganzer Schwarm von Vögeln, Seeschwalben, Möven und anderen, welche der heftige Flintenknall aufgeschreckt hatte.

Diese Wolke stieg gerade empor, schob sich wie ein Lichtschirm zwischen den Horizont und die Insel, und zog an dem versinkenden Gestirn vorüber, gerade als dieses seinen letzten Lichtschein über die Wasserfläche sandte.

Da gewahrte man auf einem Felsblock des Ufers, die rauchende Flinte in der Hand und den Vogelschwarm mit den Blicken verfolgend, Aristobulos Ursiclos!

»Ach, dieses Mal ist es genug! rief Bruder Sam.

– Nein, etwas zu viel! fügte Bruder Sib hinzu.

– Ich hätte besser gethan, ihn am Felsen hängen zu lassen, sagte Olivier Sinclair für sich – wenigstens wäre er dann noch dort!«

Die Lippen geschlossen und die Augen starr hinabgerichtet, sprach Miß Campbell nicht ein Wort.

Noch einmal, und wiederum durch die Schuld dieses Aristobulos Ursiclos, war sie um ihren Grünen Strahl gekommen!

17. Capitel

Siebzehntes Capitel.
An Bord der »Clorinda«.

Am folgenden Morgen gegen sechs Uhr verließ ein reizender Yawl von fünfundvierzig bis fünfzig Tonnen, die »Clorinda«, den kleinen Hafen von Jona, und segelte bei leichter, nordöstlicher Brise mit Steuerbordhalfen dicht am Wind auf das hohe Meer hinaus.

Die »Clorinda« entführte Miß Campbell, Olivier Sinclair, Bruder Sam, Bruder Sib, Frau Beß und Patridge.

Es versteht sich von selbst, daß der unglückselige Aristobulos Ursiclos nicht mit an Bord war.

[141] Nach dem Abenteuer des Vortages hatte man nämlich Folgendes beschlossen und unverzüglich in's Werk gesetzt:

Beim Niedersteigen vom Hügel der Abtei und der Rückkehr nach der Herberge hatte Miß Campbell in kurzem Tone gesagt:

»Meine Onkels, da Herr Aristobulos Ursiclos sich in den Kopf gesetzt zu haben scheint, noch länger auf Jona zu bleiben, so wollen wir Jona diesem Herrn Aristobulos Ursiclos überlassen. Zum ersten Male in Oban, zum zweiten Male hier hat er unsere Beobachtungen zu nichte gemacht. Wir werden nicht einen Tag länger hier bleiben, wo dieser Unselige offenbar ein Vorrecht genießt, Dummheiten zu begehen!«

Auf diese ebenso kurze wie bündige Erklärung konnten die Brüder Melvill keine Erwiderung finden. Uebrigens theilten auch sie die allgemeine Mißstimmung und verwünschten Aristobulos Ursiclos, so kräftig als ihre Natur das zuließ. Entschieden war die Situation ihres Prätendenten für immer erschüttert. Nichts konnte ihn wieder zu Miß Campbell zurückführen; sie mußten schon wohl oder übel auf die Erfüllung eines unmöglich gewordenen Projectes verzichten.

»Nun, glücklicher Weise, flüsterte Bruder Sam Bruder Sib, den er etwas auf die Seite genommen, zu, sind übereilt gegebene Versprechen keine eisernen Handschellen!«

Das bedeutete mit anderen Worten, daß man unter wesentlich veränderten Umständen unmöglich an ein, unter anderen Voraussetzungen gegebenes Wort gebunden sein kann, und unter deutlicher Geste hatte Bruder Sib auch seine Zustimmung gegeben, daß hier jenes schottische Sprichwort volle Anwendung fände.

Eben als man sich im unteren Saale des »Panzer Duncan's« verabschieden wollte, erklärte Miß Campbell:

»Wir reisen morgen ab, ich bleibe keinen Tag mehr hier!

– Ganz einverstanden, meine liebe Helena, antwortete Bruder Sam, doch wohin werden wir gehen?

– Dahin, wo wir sicher sind, diesen Herrn Ursiclos nicht wieder anzutreffen. Es ist also von Wesenheit, Niemand erfahren zu lassen, sowohl daß wir von Jona weg-, noch auch wohin wir gehen.

– Ganz recht, meinte Bruder Sib; aber, liebe Tochter, wie sollen wir abreisen und wohin uns wenden?

– O, rief Miß Campbell, wir sollten nicht mit Tagesanbruch ein Mittel finden, diese Insel zu verlassen? Das Ufer Schottlands böte uns keinen unbewohnten, [142] noch lieber unbewohnbaren Punkt, wo wir unserer Beobachtung in Frieden nachgehen könnten?«

Die beiden Brüder wenigstens hätten auf diese doppelte, übrigens in einem Tone gestellte Frage, der keine Ausflucht gestattete, nicht zu antworten vermocht. Zu ihrem Glücke war Olivier Sinclair noch bei der Hand.

»Miß Campbell, sagte er, das läßt sich Alles arrangiren, und zwar wie folgt: nicht weit von hier bietet sich eine, für unsere Beobachtung höchst geeignete Insel, eigentlich nur ein Eiland, und da wird kein Störenfried uns nahen.

– Welche meinen Sie?

– Nun Staffa, das Sie höchstens zwei Meilen im Norden von Jona wahrnehmen können.

– Ist es möglich, dort zu leben und dahin zu gelangen? fragte Miß Campbell.

– Gewiß, versicherte Olivier Sinclair, und noch dazu ganz leicht. Im Hafen von Jona hab' ich eine jener Yachten gesehen, welche immer bereit sind, in See zu gehen, eine Yacht, wie man deren während der schönen Jahreszeit ja in allen englischen Häfen findet. Der Capitän derselben wie die Mannschaft stehen dem ersten besten Touristen zur Verfügung, der ihre Dienste in Anspruch nimmt, um nach dem Canal, nach der Nordsee oder nach Irland zu gehen. Nun, wer hindert uns, diese Yacht zu heuern, auf derselben, da Staffa selbst keine Hilfsquellen bietet, für vierzehn Tage Proviant einzuschiffen und morgen mit dem ersten Tagesgrauen davonzusegeln?

– Herr Sinclair, antwortete Miß Campbell, wir werden morgen heimlich diese Insel verlassen haben, und seien Sie überzeugt, daß ich mich Ihnen zu großem Danke verpflichtet fühlen werde.

– Morgen, im Laufe des Vormittags, vorausgesetzt, daß sich nur eine leichte Morgenbrise erhebt, werden wir schon auf Staffa sein, versicherte Olivier Sinclair, und abgesehen von dem gewöhnlichen Besuche der Touristen, der zweimal in der Woche etwa eine Stunde dauert, werden wir daselbst von keiner lebenden Seele gestört sein.«

Nach gewöhnlicher Sitte erklangen sofort wieder alle Rufnamen der Frau Beß.

»Bet!

– Beth!

– Beß!

[143] – Betsey!

– Betty!«

Frau Beß erschien auf der Stelle.

»Wir reisen morgen ab, sagte Bruder Sam.

– Morgen ganz früh!« setzte Bruder Sib hinzu.

Ohne sich darüber eine weitere Frage vorzulegen, beschäftigten sich Frau Beß und Patridge gleich darauf mit den Vorbereitungen zum Aufbruch.

Inzwischen begab Olivier Sinclair sich nach dem Hafen und verhandelte daselbst mit John Olduck.

John Olduck war der Capitän der »Clorinda«, ein richtiger Seemann, bekleidet mit der traditionellen Mütze mit Goldborte, einer Art Jacke mit Metallknöpfen und mit Beinkleidern aus blauem Tuch. Nach Abschluß des Vertrags ging dieser sofort daran, mit seinen sechs Leuten alles zum Auslaufen klar zu machen. Diese sechs Matrosen waren eigentlich Fischer, versahen aber während des Sommers den Dienst auf diesen Yachten so vortrefflich, daß sie allen Seeleuten der Welt hätten als Muster gelten können.

Um sechs Uhr Morgens schifften sich die neuen Passagiere der »Clorinda« ein, ohne Jemand ein Wort über die Bestimmung der Yacht gesagt zu haben. Lebensmittel, frisches Fleisch, wie Conserven und die unentbehrlichen Getränke, waren in Eile reichlich herbeigeschafft worden. Uebrigens konnte der Koch der »Clorinda« sich noch nebenbei von dem Dampfer, welcher den regelmäßigen Dienst zwischen Oban und Staffa versieht, mit verschiedenem Anderen versorgen.

Mit Tagesanbruch hatte Miß Campbell von einem reizenden coquetten Zimmerchen Besitz genommen, das im Hintertheil der Yacht lag. Die beiden Brüder nahmen jenseits des Salons die Lagerstätten der »Main-Cabin« ein, die sich in dem breitesten Theile des Schiffes befand. Olivier Sinclair begnügte sich mit einer kleinen, hinter der nach dem Salon führenden Treppe gelegenen Cabine. Zu beiden Seiten des durch den Schaft des Großmastes durchbrochenen Speisesaals hatten Frau Beß und Patridge, der Eine rechts, die Andere links, ihre Matratzen-Lager, gleich hinter der Küche und hinter der Koje des Capitäns. Die Küche, in welcher der Koch gleich wohnte, lag also etwas weiter nach vorn; noch weiter das sogenannte Volkslogis mit den Hängematten für die sechs Matrosen. Nichts fehlte dem hübschen, von Ratsey in Cowes erbauten Yawl. Bei günstigem Wasser und guter Brise hätte derselbe bei allen Regattas des »Royal Thames Yachting Club« eine ehrenvolle Stelle behauptet.


[144]
Halb ausgestreckt lag Miß Campbell... (S. 147.)

Es gewährte Allen eine wirkliche Freude, als die »Clorinda« ihren Anker gelichtet und nun mit dem Großsegel, dem Gaffelsegel, dem Focksegel und dem Klüverjäger den Wind abfing. Sie neigte sich zierlich zur Seite, ohne daß ihr mit der Canada-Fichte gedieltes Deck nur von einem Tropfen Wasser benetzt worden wäre, so scharf durchschnitt der senkrecht construirte Vordersteven die leichten, gegen ihn anlaufenden Wellen.

Die Entfernung, welche diese zwei kleinen Hebriden, Jona und Staffa, trennt, ist nur eine sehr kurze. Bei ganz günstiger Windrichtung hätten wohl [145] zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten hingereicht, sie zu durchmessen, mindestens mit einer Yacht, welche, wie die »Clorinda«, ihre acht Seemeilen in der Stunde zurücklegen konnte. Heute hatte man aber den Wind, wenn auch nur in Form einer leichten Brise, fast genau von vorn; dabei war das Meer im Fallen, und so wurde es nöthig, die immerhin merkbare Strömung durch wiederholtes Laviren zu überwinden, ehe die »Clorinda« auf die Höhe von Staffa gelangen konnte.

Miß Campbell legte darauf keinen besonderen Werth; ihr war es genug, daß die »Clorinda« mit ihnen dahinsegelte. Eine Stunde später verschwamm Jona im Morgennebel, und mit der Insel das Bild jenes Störenfrieds, den Helena am liebsten bis auf den Namen vergessen hätte.

So sagte sie auch freimüthig zu ihren Onkels:

»Nun, hab' ich nicht Recht, Papa Sam?

– Ganz recht, meine liebe Helena.

– Und stimmt Mama nicht auch damit überein?

– Vollkommen!

– Nun also, fuhr sie fort, die Arme um beide Männer schlingend, so vereinigen wir uns Alle in der Erkenntniß, daß zwei herzliebe Onkels, welche mir einen solchen Ehemann aufhängen wollten, eine besonders glückliche Idee nicht gehabt haben!«

Beide Männer verneigten sich zustimmend.

Die überaus angenehme Seefahrt hatte nur den einen Fehler, zu kurz zu sein. Was hinderte aber, sie auszudehnen, den »Yawl« dem Grünen Strahl entgegensegeln zu lassen und diesen mitten im Atlantischen Ocean aufzusuchen? Doch nein! Laut Uebereinkunft begab man sich nach Staffa, John Olduck traf seine Maßregeln, dieses berühmteste Eiland der Kleinen Hebriden mit dem Wiederansteigen der Fluth zu erreichen.

Gegen acht Uhr wurde im Speisesaale der »Clorinda« das erste, aus Thee, Butter und Sandwichs bestehende Frühstück aufgetragen.

In rosigster Laune thaten alle Tischgenossen ihm volle Ehre an, und vergaßen dabei schon ganz die einladende Tafel der Herberge in Jona. Diese Undankbaren!

Als Miß Campbell nach dem Deck zurückkam, hatte die Yacht die Fahrtrichtung gewechselt. Sie näherte sich jetzt dem schönen, auf den Rissen von Skerryvore errichteten Leuchthurm, dessen Feuer erster Ordnung hundertfünfzig [146] Fuß über dem Meeresniveau glüht. Und doch »schnitt sie die Feder ab«, um die schottische Bezeichnung für die Schnelligkeit ihrer Fahrt zu gebrauchen.

Halb ausgestreckt lag Miß Campbell auf dem Hintertheile der Yacht auf einem jener großen Kissen aus starker Leinwand, wie man solche auf allen englischen Lustyachten antrifft. Sie ergötzte sich über die schnelle Fortbewegung, ohne das Stoßen beim Fahren auf einem Landwagen oder das Zittern und Schütteln eines Eisenbahnzugs – diese Schnelligkeit eines Schlittschuhläufers, der über einen hartgefrorenen See dahinfliegt. Man konnte kaum etwas Graziöseres sehen als diese elegante, auf den leicht schäumenden Wogen mäßig geneigt liegende »Clorinda«, wie sie sich mit den Wellen hob und senkte. Wahrlich, sie schien mehr die Luft zu durchschneiden, gleich einem ungeheuren Vogel, den seine mächtigen Flügel tragen.

Dieser im Norden und im Süden durch die Großen Hebriden gedeckte, im Osten durch eine Küste geschützte Meerestheil glich fast einem Binnensee, dessen Gewässer der Wind noch nicht hatte aufregen können.

Die Yacht segelte in schräger Richtung auf Staffa zu, auf diesen großen, seitwärts der Insel Mull vereinzelt aufragenden Felsen, der sich kaum hundert Fuß über das Hochwasser erhebt. Man hätte glauben können, daß dieser es war, welcher unaufhörlich seinen Ort wechselte, da er einmal das hohe steile Ufer im Westen, dann wieder die wild aufeinander gethürmten Steinmassen seiner Ostseite zeigte. In Folge einer erklärlichen Gesichtstäuschung schien sich die ganze Masse auf einem Zapfen zu drehen, je nach den Winkeln, welche die Fahrtrichtung der »Clorinda« mit den einzelnen Theilen des Eilandes bildete.

Trotz der Strömung und des Gegenwindes kam die Yacht doch allmählich vorwärts. Wenn sie nach Westen, über die äußerste Spitze von Mull hinaussegelte, schüttelte sie das Meer ziemlich kräftig, obwohl sie eigentlich nur lustiger auf den aus der offenen See sich hinwälzenden Wogen tanzte; bei der nächstfolgenden Wendung- oder bei dem nächsten »Schlage«, wie man die beim Laviren im Zickzack zurückgelegten Einzelstrecken nennt – kam sie wieder in stilles Wasser, das sie sanft wie eine Kinderwiege schaukelte.

Gegen elf Uhr war die »Clorinda«weit genug nördlich hinausgekommen, um nun geraden Wegs auf Staffa zuzuhalten. Die Schoten wurden also gelöst, der Klüverjäger sank herab, und der Capitän traf Vorbereitung, vor Anker zu gehen.

[147] Einen Hafen besitzt zwar Staffa nicht, es ist jedoch bei jeder Windrichtung nicht schwierig, längs der Ostseite, innerhalb der, durch frühere geologische Vorgänge launenhaft daneben verstreuten Felsen – einem wirklichen Scheerengürtel – an das Eiland zu gelangen. Bei ganz schwerem Wetter könnte hier freilich ein Schiff von einigermaßen großem Tonnengehalt kaum zu bleiben wagen.

Die »Clorinda« wand sich also zwischen diesem Gürtel von schwarzem Basalt hin; sie folgte gehorsam der geschickten Führung des Capitäns und ließ auf der einen Seite den Felsen von Bouchaillie liegen, von dem das jetzt noch immer niedrige Meer die unteren, zu Bündeln vereinigten Schäfte bloß gelegt hatte, und auf der andern Seite, zur Linken, den Weg, der längs des Ufers hinläuft. Hier ist der beste Ankerplatz des Eilandes, und hier nahmen auch die Dampfer, welche Touristen nach Staffa brachten, diese nach Vollendung ihres Spazierganges nach den Sehenswürdigkeiten der Insel wieder auf.

Die »Clorinda« lief in eine ganz kleine Bucht, fast am Eingang der Grotte von Clam Shell ein. Das Obersegel wurde herabgelassen, das Großsegel völlig gelöst, und der Anker sank rasselnd in den Grund.

Eine Minute später landeten Miß Campbell und ihre Gefährten an den ersten Basaltstufen zur Linken der berühmten Grotte. Hier befand sich eine mit Geländer versehene Holztreppe, welche vom Ufer bis zum abgerundeten Rücken der Insel hinausführt.

Alle begaben sich auf derselben nach dem oberen Plateau.

Sie waren endlich in Staffa, so abgeschieden von der bewohnten Welt, als ob ein Sturm sie auf die ödeste Insel des Stillen Oceans verschlagen hätte.

18. Capitel

Achtzehntes Capitel.
Staffa.

Wenn Staffa nichts weiter ist als ein Eiland, so hat es die Natur wenigstens zum merkwürdigsten im ganzen Archipel der Hebriden gestaltet. Dieser große Felsblock von länglichrunder Gestalt, einer Meile Länge und einer halben Meile Breite, verbirgt im Innern höchst wunderbare Grotten basaltischen Ursprungs. Hier strömen ebenso Geologen wie Touristen mit gleich [148] lebendigem Interesse zusammen. Eigentlich zufällig hatten weder Miß Campbell, noch die Brüder Melvill Staffa bisher noch nicht besucht; nur Olivier Sinclair kannte dessen Wunder. Es verstand sich also von selbst, daß ihm das Amt als Führer der Gesellschaft zufiel auf der Insel, welche Allen für wenige Tage als Aufenthaltsort dienen sollte.

Dieser Felsen verdankte seine Entstehung ausschließlich der Krystallisation einer ungeheuren Basaltmasse, die in der ersten Bildungszeit der Erdkruste hier erstarrte. Dieser Zeitpunkt aber liegt sehr weit zurück. Nach den Untersuchungen von Helmholtz – ganz übereinstimmend mit den Beobachtungen Bischofs, über die Erkaltung des Basalts, welcher nur bei einer Temperatur von 2000 Grad schmelzen konnte – hat es zu dessen vollständiger Erkaltung eines Zeitraums von mindestens dreihundertfünfzig Millionen Jahren bedurft. Damit wäre die Consolidirung unserer Erdkugel, nachdem dieselbe einen gasförmigen und dann einen feurigflüssigen Zustand langsam durchgemacht hatte, in eine fabelhaft entlegene Epoche zurückgeführt.

Wenn Aristobulos Ursiclos hier gewesen wäre, hätte er reichliche Veranlassung gefunden zu so mancher schönen Abhandlung über die Erscheinungen der geologischen Geschichte. Doch er hielt sich fern; Miß Campbell dachte kaum an ihn, und es geschah, wie Bruder Sam zu Bruder Sib gesagt:

»Lassen wir die Fliege auf dem Zucker ruhig sitzen!«

Ein schottisches Sprichwort, mit dem übrigens ziemlich durchsichtigen Sinne: »Wecken wir die Katze nicht, wenn sie schläft«, wie die Franzosen sagen.

Jetzt sahen sich Alle an und in der Nachbarschaft um.

»Zuerst, begann Olivier Sinclair, empfiehlt es sich wohl, von unserem neuen Gebiete förmlich Besitz zu nehmen.

– Ohne zu vergessen, aus welchem Grunde wir überhaupt hierher gekommen sind, bemerkte Miß Campbell lächelnd.

– Sicherlich, ohne das zu vergessen! erwiderte Olivier Sinclair. Wir wollen also einen geeigneten Beobachtungspunkt aufsuchen und nachsehen, welcher Meereshorizont die Westseite unserer Insel begrenzt.

– Ich stimme Ihnen bei, antwortete Miß Campbell, nur ist die Witterung heute etwas dunstig, und ich glaube nicht, daß das Versinken der Sonne unter günstigen Umständen stattfinden wird.

– So werden wir warten, Miß Campbell, wenn's Noth thut, warten bis zur schlechten Witterung der Tag- und Nachtgleiche.

[149] – Ja, ja, wir warten, bestätigten die Brüder Melvill... so lange bis Helena bestimmen wird, wieder abzureisen.

– Ei, uns drängt ja nichts, liebe Onkels, antwortete das junge Mädchen, das sich seit der Abfahrt von Jona ganz glücklich fühlte, nein, es drängt uns nichts, und ich finde dieses Inselchen ganz entzückend. Eine Villa, welche man mitten in dieses, ihre Oberfläche gleich einem seinen Teppich verhüllende Wiesenland hinein erbaute, würde ganz behaglich zu bewohnen sein, selbst wenn die Stürme, die uns Amerika mit so freigebigen Händen schickt, sich an Staffas Grundfelsen brechen!

– Hm! meinte Onkel Sib, hier an dieser äußersten, nach dem Ocean zu liegenden Grenze müssen sie doch furchtbar wüthen!

– Das ist auch der Fall, erklärte Olivier Sinclair. Staffa liegt allen aus der offenen See kommenden Winden preisgegeben und bietet nur am östlichen Gestade, dort wo unsere »Clorinda« vor Anker gegangen ist, einigen Schutz. Die schlechte Jahreszeit dauert übrigens in dieser Gegend des Atlantischen Meeres volle neun Monate an.

– Nun, da erklärt es sich ja gleich, meinte Onkel Sam, warum man hier keinen einzigen Baum sieht. Auf der Hochfläche muß offenbar jedes Erzeugniß der Pflanzenwelt, wenn es den Erdboden nur um wenige Fuß überragt, unbedingt zugrunde gegen.

– Schön, aber zwei bis drei Sommermonate auf diesem Eilande zuzubringen, das lohnte sich wohl nicht der Mühe? rief Miß Campbell. Ihr müßtet Staffa unbedingt erwerben, liebe Onkels, wenn Staffa überhaupt käuflich wäre.«

Bruder Sam und Bruder Sib bewegten schon die Hand nach der Tasche, als wollten sie das Kaufsobject bezahlen – diese beiden Onkels ohne Gleichen, welche selbst der tollsten Laune ihrer Nichte nachgegeben hätten.

»Wem gehört denn eigenlich Staffa? fragte Bruder Sib.

– Der Familie der Mac-Donald, antwortete Olivier Sinclair. Sie verpachten dasselbe für zwölf Pfund Sterling (120 Gulden = 200 Mark) jährlich, aber ich glaube nicht, daß es ihnen um irgend einen Preis feil wäre.

– Das ist schade!« sagte Miß Campbell, welche, schon von Natur leicht zu enthusiasmiren, sich jetzt in dazu besonders neigender Gemüthsverfassung befand.

So plaudernd, wanderten die neuen Gäste Staffas über die unebene Oberfläche der Insel, auf der da und dort kleinere grüne Erhebungen emporragten. Am heutigen Tage traf kein Schiff der Dampfergesellschaft von Oban [150] zum Besuche der Kleinen Hebriden ein; Miß Campbell und ihre Gefährten hatten also keine Störung durch lärmende Touristen zu befürchten. Sie waren allein auf dem öden, weltverlassenen Felsen. Einige Pferde von kleinem Schlage und einzelne schwarze Kühe weideten auf der mageren Grasnarbe des Plateaus, dessen dünne Humusdecke an verschiedenen Stellen von lavaähnlichen Massen durchbrochen war. Einen Schäfer zu deren Bewachung gab es nicht, und wenn die vierfüßige Inselheerde überhaupt überwacht wurde, so konnte das nur aus der Ferne, vielleicht von Jona, wenn nicht gar von der fünfzehn Meilen weiter östlich gelegenen Küste von Mull aus der Fall sein.

Eine Wohnstätte zeigte sich nirgends; nur die Reste einer Hütte, welche die zu den Zeiten der Tag- und Nachtgleiche im März und September wüthenden Stürme zerstört hatten. In der That erscheinen zwölf Pfund Sterling als recht anständiger Pacht für einige Acres Wiesen, deren Gras wie bis auf die Kettenfäden abgenützter Sammet abgenagt ist.

Die Besichtigung der Inseloberfläche war also bald beendigt, und man beschäftigte sich nun ausschließlich mit Beobachtung des Horizonts.

Es war deutlich genug zu erkennen, daß man an diesem Abende vom Untergange der Sonne nichts erwarten durfte. In Folge der Veränderlichkeit, welche die Septembertage kennzeichnet, hatte sich der am Vortage ganz reine Himmel heute wieder mit Dünsten bedeckt. Gegen sechs Uhr Abends zogen einige röthliche Wolken, wie sie nahe bevorstehenden Störungen der Atmosphäre vorherzugehen pflegen, über den Gesichtskreis im Westen. Die Brüder Melvill machten auch zu ihrem großen Leidwesen die Beobachtung, daß das Aneroïdbarometer der »Clorinda« nach »Veränderlich« zurückging, und unter diesen Stand gar noch hinausgehen zu wollen schien.

Nachdem die Sonne hinter einer, durch den Wellenschlag auf hoher See gezackten Linie versunken war, kehrten Alle an Bord zurück. Ruhig verstrich die Nacht in der kleinen, durch die Ausläufer der Clam Shell-Grotte gebildeten Ausbuchtung.

Am folgenden Morgen, dem 7. September beschloß man, das Eiland erst sorgfältiger in Augenschein zu nehmen. Nach Besichtigung des oberen Theiles galt es nun den unterirdischen Theil desselben zu untersuchen. Sollte man die Zeit nicht bestens ausnützen, da ein wirkliches – Aristobulos Ursiclos nicht zur Last zu legendes – Mißgeschick bisher jede Beobachtung des ersehnten Phänomens vereitelt hatte? Uebrigens hat Niemand Ursache, einen Besuch der Höhlen zu


Staffa. (S. 148.)

bereuen, welche dieses verlorene Eiland des Archipels der Hebriden berühmt gemacht haben.

[151]

Der heutige Tag wurde dazu verwendet, den »Keller« von Clam Shell zu untersuchen, vor dem die Yacht verankert lag. Der Koch traf auf Veranlassung Olivier Sinclair's sogar Vorbereitungen, das zweite Frühstück in demselben zu serviren. Hier konnten sich die Tischgäste fast in den unteren Raum eines Schiffes versetzt wähnen. Wirklich ähnelten die vierzig bis fünfzig Fuß langen Prismen. welche die Rippen der Wölbung bilden, ungemein dem inneren Bau eines Fahrzeuges.

[152] Diese gegen dreißig Fuß hohe, etwa fünfzehn breite und hundert Fuß tiefe Höhle bietet einen sehr leichten Zugang. Offen nur nach Osten, dadurch geschützt gegen die schlimmsten Winde, wird sie auch nicht von den fürchterlichen Wogen heimgesucht welche bei stürmischem Wetter in die anderen Höhlen der Insel gewälzt werden. Dafür erklärt man sie auch für die minder sehenswerthe Grotte Staffas.

Immerhin erregt die Anordnung ihrer Basaltbögen, welche mehr auf die Hand des Menschen als auf ein Werk der Natur hinweist, die ungetheilte Bewunderung des Beschauers.

[153] Miß Campbell war ganz entzückt von diesem Besuche. Olivier Sinclair erklärte ihr liebenswürdig die Schönheiten von Clam Shell, ohne Zweifel mit weniger wissenschaftlichem Bombast als Aristobulos Ursiclos, gewiß aber mit mehr künstlerischem Feingefühl.


Diese Grotte bietet einen sehr leichten Zugang. (S 153.)

»Ich möchte wohl ein Andenken an unseren Besuch von Clam Shell besitzen, sagte Miß Campbell.

– Nichts leichter als das!« antwortete Olivier Sinclair.

Mit wenigen sicheren Bleistiftstrichen entwarf er eine Skizze dieser Grotte, gesehen von dem Felsen aus, welcher am Ende der großen Basalttreppe emporragt. Die Vorderöffnung der Grotte, gleichsam das Bild eines riesenhaften Seesäugethieres, dessen Skelet ihre Wände darstellen, die leichte, nach dem Gipfel des Eilands hinausführende Treppe, das so ruhige und überraschend klare Wasser am Eingange, unter dem man den gewaltigen Basaltunterbau schimmern sieht, Alles entstand mit vieler Kunstfertigkeit sehr schnell auf einer Seite von Helenas Album.

Darunter setzte der Maler die Worte:


»Miß Campbell gewidmet von Olivier Sinclair.

Staffa, 7. September 1881.«


Nach eingenommenem Frühstück ließ Capitän John Olduck das größte der beiden Boote der »Clorinda« klar machen; seine Passagiere nahmen darin Platz und begaben sich, rund um die pittoreske Insel, nach der »Grotte des Schiffes«, so genannt, weil das Meer den Grund derselben im Innern ganz bedeckt, und man dieselbe trockenen Fußes überhaupt nicht besuchen kann.

Diese Grotte liegt im südwestlichen Theile des Eilandes. Bei einigermaßen starkem Seegange wäre es höchst unklug, in dieselbe einzudringen, denn der Wogenschlag darin ist gar so heftig; an jenem Tage jedoch hatte, trotz des ziemlich bedrohlichen Aussehens des Himmels, der Wind noch nicht aufgefrischt, und ein Besuch der Höhle war mit keinerlei Gefahr verknüpft.

In dem Augenblicke, wo das Boot der »Clorinda« vor der Mündung der tiefen Höhle still hielt, ging der von Touristen besetzte Dampfer von Oban an der Insel vor Anker. Glücklicher Weise brachte dieser Zeitraum von zwei Stunden, während welcher Staffa sozusagen den Fahrgästen des »Pioneer« gehört, für Miß Campbell und die Anderen keinerlei Belästigung mit sich Sie blieben in der Grotte des Schiffes unbemerkt, während die Fremdlinge ihre reglementmäßige Promenade, die sich nur nach der Fingalshöhle und der Oberfläche [154] des Eilands erstreckt, ausführten. Sie hatten also keine Gelegenheit, mit diesem etwas geräuschvoll auftretenden Häuflein in Berührung zu kommen – ein Umstand, über den sie sich aus mehrfachem Grunde beglückwünschten. Warum sollte z.B. Aristobulos Ursiclos nach dem plötzlichen Verschwinden der kleinen Gesellschaft, als deren Mitglied er sich doch betrachtete, nicht den Jona regelmäßig anlaufenden Dampfer benützt haben, um nach Oban zurückzukehren? – Ein Zusammentreffen mit ihm wünschte man aber auf jeden Fall zu vermeiden.

Doch wie dem auch sein mochte, ob der ausgestoßene Prätendent sich unter den Touristen des 7. September befand oder nicht, jedenfalls war nach der Wiederabfahrt des Schiffes Niemand hier zurückgeblieben. Als Miß Campbell, die Brüder Melvill und Olivier herauskamen aus dem langen Schlauche, aus dem ausgangslosen Tunnel, der fast künstlich in eine Basaltschichte getrieben zu sein scheint, fanden sie wieder die Ruhe vor, welche auf Staffa, diesem an der Grenze des Atlantischen Oceans verlorenen Eilande, gewöhnlich herrscht.

Man kennt eine gewisse Anzahl berühmter unterirdischer Höhlen an sehr verschiedenen Stellen der Erde, aber meist innerhalb der Gebiete vulkanischer Thätigkeit; alle unterscheiden sich durch ihren Ursprung, der entweder neptunischer oder plutonischer Art ist.

Von diesen Aushöhlungen sind nämlich die einen entstanden durch unterirdische Wässer, welche im Laufe der Jahrtausende sogar harte Granitmassen annagen, auflösen und wegführen, bis an deren Stelle oft gewaltige leere Räume getreten sind; dahin gehören die Grotten von Crozen in der Bretagne, die von Bonifacio auf Corsika, von Morghatten in Norwegen, von Saint Michel in Gibraltar, von Saratchell am Ufer der Insel Whigt, von Tourane in dem steil abfallenden Marmorgestade von Cochinchina.

Die anderen, von ganz abweichendem Ursprunge, verdanken ihre Bildung dem durch Erkaltung früher feurig-flüssiger Gesteinsmassen bedingten Zurückweichen von Granit- oder Basaltwänden, und diese bieten in ihrer Gliederung alle Spuren gewaltsamer Vorgänge, welche den Grotten neptunischen Ursprungs völlig fehlen.

Treu ihren Principien, hat die Natur bei den einen die Wirkungen der Kraft, bei den anderen die der Zeit benützt.

Zu den Aushöhlungen, deren Baumaterial einst durch das Urfeuer geologischer Epochen geschmolzen erhalten wurde, gehört die berühmte Fingalshöhle[155] – »Fingals Keller«, wie die höchst prosaische englische Bezeichnung derselben lautet.

Der näheren Untersuchung dieses Wunders der Erdkugel sollte der nächste Tag gewidmet werden.

19. Capitel

Neunzehntes Capitel.
Die Fingalshöhle.

Wenn der Capitän der »Clorinda« sich im Laufe der letzten vierundzwanzig Stunden in einem der Häfen des Vereinigten Königreichs befunden hätte, würde er Kenntniß von einem meteorologischen Bulletin gehabt haben, das für die auf der Fahrt über den Atlantischen Ocean befindlichen Schiffe nicht besonders günstig lautete.

Durch den Draht war nämlich von New-York aus ein heftiger Sturm angezeigt worden. Nachdem er den Ocean von Westen nach Nordosten durchflogen, drohte derselbe mit voller Gewalt über das Gestade Irlands und Schottlands hereinzubrausen, um sich nachher jenseits der Küsten Norwegens zu verlieren.

Doch auch ohne dieses Telegramm verrieth schon das Barometer der Yacht eine nahe bevorstehende atmosphärische Störung, mit welcher ein vorsichtiger Seemann wohl rechnen mußte.

Am Morgen des 8. September begab sich deshalb der Capitän John Olduck etwas beunruhigt nach dem Felsenstrande, der Staffa nach Westen begrenzt, um den Zustand des Himmels und des Meeres besser überblicken zu können.

Wolken von ziemlich unbestimmter Gestalt, mehr Dunstsetzen als eigentliche Wolken, jagten da schon mit großer Schnelligkeit dahin. Der Wind gewann immer mehr an Stärke und mußte bald in wirklichen Sturm umschlagen. Das schäumende Meer hatte draußen ein ganz weißes Aussehen, und donnernd brachen sich die Wogen an den Basaltpfeilern, welche als Basis der Insel emporstarren.

[156] John Olduck kam die Sache gar nicht heiter vor. Obgleich die »Clorinda« vor der Clam Shell-Grotte ziemlich geschützt lag, war das doch kein wirklich sicherer Ankerplatz, nicht einmal für ein Schiff von so geringen Dimensionen. Die Gewalt des Wassers, welche sich zwischen dem Wege auf dem Lande und den vorgelagerten Felsen ganz bemerkbar machen mußte, veranlaßte hier gewiß eine furchtbare Brandung, welche die Situation der Yacht nicht wenig gefährdete. Es galt also einen Entschluß zu fassen, und zwar eher, als die schmalen Fahrstraßen geradezu unpassirbar wurden.

Als der Capitän an Bord zurückkam, fand er daselbst seine Passagiere, denen er seine Befürchtungen kundgab und die Nothwendigkeit auseinandersetzte, so schnell als möglich von hier unter Segel zu gehen. Bei einer Verzögerung von nur wenig Stunden lief man Gefahr, das Wasser in der fünfzehn Meilen breiten Meerenge, welche Staffa von der Insel Mull trennt, in höchst aufgeregtem Zustande anzutreffen. Hinter letzterer Insel aber mußte man Zuflucht suchen, und speciell in dem kleinen Hafen von Achnagraig, wo die »Clorinda« von den Seewinden nichts zu fürchten hatte.

»Wir sollen Staffa verlassen, rief Miß Cambell, einen so vorzüglich freien Horizont verlieren?

– Ich glaube, daß es sehr gefährlich werden dürfte, vor Clam Shell liegen zu bleiben, antwortete John Olduck.

– Wenn's einmal sein muß, liebe Helena, sagte Bruder Sam.

– Ja, wenn's denn sein muß!« setzte Bruder Sib hinzu.

Da mischte sich Olivier Sinclair, der das Mißbehagen bemerkte, das diese urplötzliche Abreise Miß Campbell bereitete, ein, mit der Frage:

»Wie lange, meinen Sie, Capitän Olduck, daß dieser Sturm wohl andauern könnte?

– In dieser Jahreszeit höchstens zwei oder drei Tage, erklärte der Capitän.

– Und Sie meinen, daß es nothwendig ist, von hier fortzusegeln?

– Nothwendig und ebenso dringend.

– Was wäre also Ihre Absicht?

– Noch diesen Morgen die Anker zu lichten. Mit dem frischen Winde könnten wir noch vor dem Abend in Achnagraig landen, und würden erst, nachdem das Wetter vorübergegangen ist, nach Staffa zurückkehren.

– Warum wollen Sie nicht nach Jona zurücksegeln, wo die »Clorinda« binnen einer Stunde sein könnte? fragte Bruder Sam.

[157] – Nein... nein... nicht nach Jona! rief Miß Campbell, vor der schon der Schatten Aristobulos Ursiclos' aufstieg.

– Im Hafen von Jona wären wir kaum mehr in Sicherheit, als hier vor Staffa, wandte John Olduck dagegen ein.

– Nun wohl, Capitän, sagte Olivier Sinclair, so segeln Sie ab, segeln Sie unverzüglich nach Achnagraig und lassen Sie uns auf Staffa zurück.

– Auf Staffa, wiederholte John Olduck verwundert, wo Sie nicht einmal eine Hütte hätten, sich zu schützen?

– Kann die Grotte von Clam Shell nicht für einige Tage genügen? erwiderte Olivier Sinclair. Was soll uns da fehlen? – Nichts! Wir besitzen an Bord hinreichenden Proviant, Wäsche für unsere Schlafstätten, Kleider zum Wechseln, was man Alles schnell ausschiffen kann, und der Koch wird jedenfalls gern bei uns aushalten.

– Ja... ja... antwortete Miß Campbell, in die Hände klatschend, reisen Sie ab, Capitän. segeln Sie unverzüglich mit Ihrer Yacht nach Achnagraig und lassen Sie uns auf Staffa. Wir werden uns hier wie Ausgesetzte auf wüster Insel befinden; wir führen hier das Leben freiwilliger Schiffbrüchiger Wir erwarten dann die Rückkehr der »Clorinda« mit der Erregung, der ängstlichen Spannung jener Robinsons, welche ein Schiff in der Nähe ihrer Insel erblicken. Zu welchem Zwecke sind wir hierher gekommen? Einen Roman zu spielen, nicht wahr, Herr Sinclair, und was kann es romantischeres geben, als diese unsere Lage, liebe Onkels? Und mein ganzes Leben lang würde ich mir Vorwürfe machen, ein so erhabenes Schauspiel verfehlt zu haben, wenn ich nicht einen rasenden, über das Eiland fliegenden Wind, den Zorn eines nördlichen Meeres, die ossianhaften Kämpfe der entfesselten Elemente beobachtet hätte. Segeln Sie weg, Capitän Olduck! Wir bleiben hier, bis Sie wiederkommen!

– Indeß... stammelten die Brüder Melvill, denen dieses Wort der Besorgniß gleichzeitig entschlüpfte.

– Mir scheint, meine Onkels hätten etwas einzuwenden, schnitt ihnen Miß Campbell die Rede ab, doch ich glaube ein Mittel zu besitzen, um sie zu meiner Ansicht zu bekehren.«

Damit gab sie jedem den gewohnten Morgenkuß.

»So, das ist für Dich, Onkel Sam, und für Dich, Onkel Sib. Ich wette nun, daß Ihr nichts mehr zu sagen habt.«

Sie dachten gar nicht daran, eine Einwendung zu erheben.

[158] Weil es ihrer Nichte beliebte in Staffa bleiben zu wollen, warum sollten sie da nicht aushalten, und warum kamen sie überhaupt nicht von Anfang an auf diesen einfachen, natürlichen Gedanken, der Aller Interessen Rechnung trug?

Der Vorschlag rührte indessen von Olivier Sinclair her, und Miß Campbell glaubte ihm dafür ganz speciell danken zu müssen.

Nachdem also ihr Beschluß feststand, schifften die Matrosen die für mehrtägigen Aufenthalt nothwendigen Bedürfnisse aus. Clam Shell wurde unter dem Namen Melvill-House zur einstweiligen Wohnung umgestaltet, in der man mindestens ebenso gut untergebracht zu sein meinte, wie in der Herberge zu Jona. Der Koch ging sofort daran, eine für seine Obliegenheiten passende Stelle auszuwählen, die er nahe dem Eingang der Höhle in einer scheinbar zu solchen Zwecken geschaffenen Nische der Felswand entdeckte.

Dann verließen Miß Campbell und Olivier Sinclair, die Brüder Melvill, Frau Beß und Patridge die »Clorinda« und übernahmen das ihnen von John Olduck überlassene kleine Boot der Yacht, welches zum gelegentlichen Uebersetzen von einem Felsen zum andern von großem Vortheil sein mußte.

Eine Stunde später lichtete die »Clorinda« mit doppelt gerefften Segeln und eingezogenem Klüverjäger die Anker, und wandte sich nach der Nordseite der Insel Mull, um durch die schmale Wasserstraße zwischen der Insel und dem Festlande nach Achnagraig zu gelangen. Ihre Passagiere folgten ihr von der Höhe Staffas aus mit den Blicken, so lange sie das schmucke Schiff sehen konnten. Sich unter dem Wind neigend, gleich einer Möve, die mit den Flügeln dicht über das Wasser streicht, war dasselbe nach kaum einer halben Stunde hinter dem Eilande Geometra verschwunden.

Wenn die Witterung auch bedrohlich schien, blieb der Himmel vorläufig doch noch ziemlich klar, so daß die Sonne sehr häufig durch die Wolkenöffnungen blickte, welche der Wind im Zenith aufriß. Man konnte auf der Insel lustwandeln und rings um dieselbe dem Fuße des Basaltufers folgen. Miß Campbell's und der Brüder Melvill erstes Verlangen war denn auch, sich unter der Führung Olivier Sinclair's nach der berühmten Fingalshöhle zu begeben.

Die Lustreisenden, welche von Oban kommen, pflegen diese Höhle mittelst der Boote des Obaner Dampfers zu besuchen; man kann jedoch bis nach ihrem entlegensten Hintergrunde auch dadurch gelangen, daß man an den Felsen der rechten Seite landet, wo sich eine Art gangbarer Quai vorfindet.


[159]
Sie blieben unbemerkt.... (S. 154.)

Auf diese Weise wollte Olivier Sinclair seine Touristen führen, ohne das Canot der »Clorinda« zu benützen.

Alle verließen also Clam Shell und begaben sich nach der Straße, welche an der Ostseite der Insel verläuft. Das obere Ende der senkrecht eingelassenen Säulenschäfte, welche fast auf den Gedanken führten, daß ein Architekt sie in dieser Weise versenkt hätte, bot einen festen und trockenen Fußboden. Der nur wenige Minuten beanspruchende Weg wurde plaudernd zurückgelegt, während Alle die Schönheit der Eilande bewunderten, an denen die Brandung tobte und über


Weiter draußen, Himmel und Wasser in blendendem Glanze... (S. 164.)

die hinaus das lichtgrüne Wasser bis auf den Grand [160] der Felsen zu blicken gestattete. Man konnte sich unmöglich einen schöneren Weg nach jener Grotte denken, welche an sich würdig erscheint, von einem Helden aus Tausend und einer Nacht bewohnt zu werden.

An der südöstlichen Ecke der Insel angelangt, ließ Olivier Sinclair seine Begleiter einige natürliche Stufen emporsteigen, welche sich mit der Treppe jedes Palastes hätten messen können. An dieser Treppenecke erhoben sich die äußersten Säulen, welche längs der Wand der Höhle stehen, wie die des kleinen Tempels [161] der Vesta in Rom, nur näher neben einander, wie um die unbearbeitete Wand zu verhüllen. Auf ihre Capitäle stützt sich die gewaltige Steinmasse, welche diesen Theil des Eilandes bildet. Die schräg verlaufenden Spalten dieser Felsen, welche nach dem Muster eines inneren Bogengewölbes angeordnet scheinen, contrastiren eigenthümlich mit der lothrechten Stellung der Säulen, welche sie tragen.

Am Fuße jener Stufen hob und senkte sich das Wasser, als ob es tief athmete, schon ein wenig stärker unter der Rückwirkung der hohen Wellen des offenen Meeres. Hier spiegelte sich der ganze Grund der Steinmasse wider, deren schwärzlicher Schatten auf den Wogen schwankte.

Am oberen Treppenabsatze angekommen, wendete sich Olivier Sinclair zur Linken und zeigte Miß Campbell eine Art schmalen Quai oder vielmehr natürlichen Absatz, der sich längs der Wand bis tief in die Höhle hineinzog. Ein dünnes Geländer von Eisenstangen, die im Basalt befestigt waren, diente als Handleitung zwischen der Wand und der scharfen Kante des Quais.

»O, sagte Miß Campbell, dieses Geländer verleidet mir ein wenig den Palast Fingal's.

– Sie haben Recht, meinte Olivier Sinclair, dieses Eingreifen der Menschenhand in das Werk der Natur stört einigermaßen.

– Doch, wenn es von Nutzen ist, muß man sich desselben bedienen, bemerkte Bruder Sam.

– Ich werde es thun!« setzte Bruder Sib hinzu.

Beim Eintritt in die Fingalshöhle blieben die Besucher auf den Rath ihres Führers stehen.

Vor ihnen öffnete sich eine Art hohes und tiefes Kirchenschiff voll geheimnißvollen Halbschattens. Im Meeresniveau maß der Raum zwischen beiden Wänden etwa vierunddreißig Fuß. Rechts und links verbargen Basaltpfeiler, welche dicht nebeneinander standen, wie in gewissen Kathedralen der letzten gothischen Periode, die Masse der Grundmauern. Auf die Capitäle diesen Pfeiler stützte sich der Anlauf einer ungeheuren gerippten Wölbung, die sich unter den Schlußsteinen fünfzig Fuß über dem Wasserstand erhob.

Trotz ihrer staunenden Bewunderung bei diesem ersten Anblick mußten sich Miß Campbell und ihre Begleiter doch endlich von der Betrachtung desselben losreißen und dem nach innen führenden Absatz der Wand folgen.

Hier streben in vollkommener Ordnung, aber verschiedener Größe, Hunderte prismatischer Säulen empor, gleich Erzeugnissen einer gigantischen Krystallisation.

[162] Ihre seinen Kanten heben sich so rein von einander ab, als hätte der Meißel eines Bildhauers diese Linien ausgearbeitet. An die nach rückwärts liegenden Winkel der einen schließen sich die nach vorn sehenden der anderen genau an. Die einen derselben zeigen drei Flächen, die anderen vier, fünf bis sieben und acht solche, was bei der allgemeinen Gleichförmigkeit des Styls eine angenehme Abwechslung hervorbringt, welche für den seinen Sinn des Künstlers der Natur ein schönes Zeugniß ablegt.

Das von außen eindringende Licht spielt auf allen facettirten Winkeln. Auf das Wasser unten treffend und wie von einem Spiegel zurückgestrahlt, schimmert es von submarinen Steinen, auf den grünen, dunkelrothen oder hellgelben Wasserpflanzen, und entzündet mit tausend Blitzen die Vorsprünge des Basaltes, der in unregelmäßigen Abtheilungen die Wölbung dieses Hypogäums, das in der Welt seines Gleichen nicht findet, reizvoll abschließt.

Darunter herrschte ein tönendes Schweigen – wenn man diese Worte in Verbindung setzen darf – das eigenartige Schweigen aller tiefen Aushöhlungen der Erde, welches die Besucher auch hier nicht zu unterbrechen wagten. Nur der Wind allein strich hindurch in langgezogenen Accorden, welche eine melancholische Reihenfolge einmal anschwellender und dann halb ersterbender Septimen, wie die Saiten einer Aeolsharfe, erklingen ließen. Ist es nicht dieser wunderbare Effect, von dem der Name »An-Na-Vine«, das ist die harmonische Grotte, hergeleitet ist, wie diese Höhle in der Sprache der alten Kelten genannt wurde?

»Und welcher Name konnte wohl passender erscheinen, sagte Olivier Sinclair, da Fingal der Vater Ossian's war, dessen Genius es gelang, Poesie und Musik in einer Kunst zu verschmelzen?

– Ohne Zweifel, stimmte ihm Bruder Sib bei; doch wie Ossian selbst sang: »Wann wird mein Ohr der Barden Lied vernehmen? Wann klopft mein Herz laut bei der Schilderung der Thaten meiner Väter? Ach, in den Wäldern von Sebora weckt des Echos Stimme keine Harfe mehr!«

– Ja, setzte Bruder Sib hinzu, »Nun steht er öd' der schimmernde Palast, kein Widerhall tönt mehr vom Sange früh'rer Zeiten!«

Die ganze Tiefe der Höhle wird auf ungefähr hundertfünfzig Fuß geschätzt. Im Hintergrunde des Kirchenschiffes erscheint eine Art Orgelchor, auf dem sich eine gewisse Anzahl Säulen von geringerem Durchmesser als am Eingang, dafür aber von tadelloser Reinheit der Linien erheben.

[163] Hier konnten Olivier Sinclair, Miß Campbell und deren beide Onkels einen Augenblick verweilen.

Von diesem Punkte aus bot sich eine bezaubernde, nach dem freien Himmel offene Perspective; das vom Licht durchdrungene Wasser ließ die Anordnung des unterseeischen Grundes erkennen, der aus Querschnitten von vier- bis siebenseitigen Säulenschäften bestand, welche gleich Mosaikpflaster dicht aneinander liegen. An den seitlichen Wänden wechselte ein wunderbares Spiel von Licht und Schatten. Alles erlosch, wenn eine Wolke, wie ein Gazevorhang auf der Bühne, vor der Mündung der Grotte vorüberzog. Alles glänzte dagegen und schmückte sich mit allen sieben Farben des Regenbogens, wenn ein vom Krystall des Grundes zurückgeworfener Sonnenstrahl sich in langen leuchtenden Streifen bis zur Decke der Wölbung erhob.

Weiterhin brandete das Meer an den ersten Pfeilern des ungeheuren Eingangsbogens. Dieser Rahmen, der sich so schwarz abhob, als ob er aus Ebenholz geschnitzt wäre, ließ alle Herrlichkeiten hinter sich desto voller zur Geltung kommen. Noch weiter draußen erschienen Himmel und Wasser in blendendem Glanze, und in weiter Ferne Jona, dessen weiße Klosterruinen deutlich hervorschimmerten.

Wirklich bezaubert durch diese feenhafte Pracht, vermochte Niemand seinen Empfindungen Worte zu verleihen.

»Welcher Zauberpalast! rief endlich Miß Campbell, und welch' prosaischer Geist müßte es sein, der nicht glauben könnte, Gott habe denselben für die Sylphen und Nixen geschaffen! Für wen sollten beim Athmen des Windes die Töne dieser Aeolsharfe erklingen? Ist das nicht jene überirdische Musik, welche Waverley in seinen Träumen hörte, jene Stimme Selmas, deren Accorde unser Romandichter aufgezeichnet hat, um damit seine Helden einzuschläfern?

– Sie haben Recht, Miß Campbell, sagte Olivier Sinclair; sicherlich dachte Walter Scott, wenn er seine Bilder in der poetischen Vergangenheit der Hochlande suchte, an den Palast Fingal's.

– O, hier möcht' ich den Schatten Ossian's anrufen! fuhr das schwärmerische junge Mädchen fort. Warum sollte der unsichtbare Barde nicht nach fünfzehnhundertjährigem Schlummer auf meine Stimme erscheinen! Ich stelle mir so gern vor, daß der Unglückliche, ebenso blind wie Homer und ebenso Dichter wie dieser, wenn er die großen Waffenthaten seiner Zeit besang, sich oftmals in diesen Palast geflüchtet hat, der noch heute den Namen seines Vaters trägt.

[164] Hier haben gewiß die Echos Fingal's häufig genug die epischen und lyrischen Eingebungen seines Geistes im reinsten gaëlischen Idiom wiedergeklungen. Glauben Sie nicht, Herr Sinclair, daß der alte Ossian auf demselben Platze gesessen haben könne, auf dem wir uns befinden, und daß die Töne seiner Harfe sich hier mit Selmas Stimme vermischten?

– Wie sollte ich nicht glauben, Miß Campbell, erwiderte Olivier Sinclair, was Sie mit so ausdrucksvoller Ueberzeugung aussprechen?

– Wenn ich ihn nun riefe?« murmelte Miß Campbell.

Und mit ihrer frischen Stimme ließ sie wiederholt den Namen des alten Barden durch das Zittern des Windes erschallen.

Doch trotz des sehnlichsten Verlangens der Miß Campbell, obwohl sie ihn dreimal gerufen, antwortete ihr doch nur das Echo. Der Schatten Ossian's erschien nicht im väterlichen Palaste.

Inzwischen war die Sonne hinter dichten Nebeln versanken. Die Grotte füllte sich mit düsteren Schatten und draußen wurde das Meer immer unruhiger; seine langen Wellen begannen sich schon an den letzten Basaltsäulen zu brechen.

Die Besucher begaben sich also nach der schmalen, schon halb von Wasserschaum bedeckten Galerie zu rück; sie gingen raschen Schrittes um die vom Winde heftig getroffene Ecke der Insel, gegen welche der Sturm von der Seeseite her andonnerte; weiterhin befanden sie sich vorläufig geschützt auf dem an der anderen Seite verlaufenden Uferdamm.

Die schlechte Witterung hatte sich seit zwei Stunden noch merkbar verschlimmert; der rasende Wind stieß sich schon an der hohen Küste Schottlands und drohte zum vollen Orkan anzuwachsen.

Durch die Basaltwand des Strandes gedeckt, konnte Miß Campbell mit ihren Begleitern jedoch Clam Shell bequem erreichen.

Am folgenden Tage entfesselte sich der Wind unter erneutem Sinken der Barometersäule mit furchtbarem Ungestüm; noch dichtere blaugraue Wolken erfüllten den Himmel und jagten ziemlich niedrig über die Erde hin. Noch regnete es zwar nicht, aber auch die Sonne blieb unsichtbar; höchstens schien sie einmal in langen Zwischenräumen.

Miß Campbell schien von diesem widrigen Wetter weniger verstimmt zu werden, als man es hätte glauben sollen.

Dieses Leben auf einem vom Sturm gepeitschten Eilande entsprach ganz ihrer feurigen Natur. Gleich einer Heroine Walter Scott's gefiel sie sich darin, [165] zwischen den Felsen von Staffa, in ganz eigenartig neue Gedanken versunken und meist allein, umherzuirren, wobei denn auch Niemand sich ihr zur Begleitung aufdrängte.

Wiederholt kehrte sie auch nach der Fingalshöhle zurück, deren poetische Eigenthümlichkeit sie lebhaft anzog. Hier verträumte sie ganze Stunden, ohne je der erhaltenen Warnung zu gedenken, sich nicht unachtsam in diesen unterirdischen Palast zu begeben.

Am nächsten Tage, dem 9. September, hatte sich das Minimum der Depression nach den Küsten Schottlands verschoben. Im Mittelpunkte dieses Wirbels bewegten sich die Luftströme mit unglaublicher Schnelligkeit – das war ein wirklicher Orkan. Es wäre unmöglich gewesen, ihm auf dem Oberlande der Insel Stand zu halten.

Gegen sieben Uhr Abends, eben als das Diner sie erwartete, bemächtigte sich Olivier Sinclairs und der Brüder Melvill eine namenlose Angst.

Miß Campbell, die seit drei Stunden, ohne zu sagen wohin, weggegangen war, hatte sich noch nicht wieder blicken lassen.

Vorher warteten Alle mit steigender Ungeduld bis um sechs Uhr... Miß Campbell erschien nicht.

Mehrmals stieg Olivier Sinclair nach dem Plateau der Insel hinaus... er sah keine Seele.

Der Sturm wüthete jetzt mit einer Gewalt ohnegleichen, und das sich zu Wogenbergen aufthürmende Meer donnerte ohne Unterlaß an die nach Südwesten gelegene Küste der Insel.

»Unglückliche Miß Campbell! rief plötzlich Olivier Sinclair, wenn sie sich jetzt noch in der Fingalshöhle befindet, muß ihr Hilfe werden, sonst ist sie rettungslos verloren.«

[166]

20. Capitel

Zwanzigstes Capitel.
Für Miß Campbell.

Einige Augenblicke später war Olivier Sinclair schon längs des Uferdammes hingeeilt und hatte, da wo die Basalttreppe in die Höhe führt, den Eingang der Grotte erreicht.

Die Brüder Melvill und Patridge folgten ihm auf dem Fuße nach.

Frau Beß war in unaussprechlicher Angst in Clam Shell zurückgeblieben, bereitete aber Alles vor, um Helena bei ihrer Rückkehr zu empfangen.

Das Meer stieg jetzt schon so hoch, daß es den oberen Treppenabsatz bespülte; ja, es schäumte sogar über das Eisengeländer hinweg und machte jedes Vordringen auf der inneren Seitengalerie unmöglich.

Aus der Unmöglichkeit, zu Fuß in die Grotte einzudringen, ergab sich auch die Unmöglichkeit, aus derselben zu entkommen. Wenn Miß Campbell sich darin befand, war sie eine Gefangene. Aber wie es wissen, wie zu ihr gelangen?

»Helena! Helena!«

Konnte dieser in das Toben der Wellen hineingerufene Name wohl vernommen werden? Es klang ringsum wie unaufhörliches Donnern von Wind und Wogen, das sich in der Grotte sing. Weder die Stimme, noch der Blick wären im Stande gewesen hindurch zu dringen.


»Helena! Helena!«... (S. 170.)

»Vielleicht ist Miß Campbell überhaupt gar nicht hier, sagte Bruder Sam, der sich zur Selbstberuhigung an diese Hoffnung klammerte.

– Wo soll sie denn sein? fragte Bruder Sib.

– Ja, wo sollte sie denn sein? rief Olivier Sinclair. Hab' ich sie nicht vergebens auf dem Plateau der Insel, unter den Felsen des Ufers und überall gesucht? Würde sie nicht zu uns zurückgekehrt sein, wenn ihr das möglich wäre! – Sie ist hier – kann nur hier sein!«


Während des Zeitraumes einer Secunde... (S 172.)

Man erinnerte sich auch des wiederholt ausgesprochenen, enthusiastischen und von Unerschrockenheit zeugenden Wunsches des jungen Mädchens, in der Fingalshöhle einem Sturme beizuwohnen. Hatte sie also vergessen, daß das Meer diese unter solchen Verhältnissen oft bis zur Decke anfüllt und zu einem Gefängnisse umwandelt?

[167] Was blieb jetzt zu versuchen übrig, um zu ihr zu gelangen und sie zu retten?

Unter der Gewalt des Orkans, der diesen Theil des Eilandes mit mächtiger Geißel traf, erhoben sich die Wogen zuweilen schon bis zum Gipfel der Wölbung. Daselbst brachen sie sich mit betäubendem Krachen. Die von dem Hindernisse gestauten Wassermassen stürzten dann, wie die Katarakte eines Niagara, in schäumenden Wirbeln hernieder; der von der hohlen See draußen bewegte untere Theil der Wellen aber stürmte in dem Innenraume weiter mit [168] dem Brausen eines Bergstromes, dessen Wehr plötzlich seiner Wucht nachgab. Erst ganz im Hintergrunde der Grotte brach sich das Meer als siedender Strudel an der Felsenwand.

An welcher Stelle hätte Miß Campbell nun eine Zuflucht finden können, die nicht von den Wellen erreicht worden wäre? Das Kopfende der Grotte gerade war ihrem Anstürmen direct ausgesetzt, und beim Hinwogen ebenso wie beim Rückfließen mußte das Wasser die Gallerie in einer Weise überfluthen, daß Niemand sich darauf hätte halten können.

[169] Und doch versuchte man wieder sich gegen den Glauben zu wehren, daß das unerschrockene junge Mädchen überhaupt hier sei. Wie hätte sie in dieser Sackgasse dem Wogenschwall des wüthenden Meeres widerstehen können? Mußte nicht ihr verstümmelter Körper, vom Strudel gepackt, schon wieder nach außen geschleudert worden sein? Könnte sie nicht die Strömung bei der jetzt steigenden Fluth schon längs des Uferdammes und an den Riffen bei Clam Shell vorbeigeschwemmt haben?

»Helena! Helena!«

Immer und immer wieder riefen sie diesen Namen durch das tolle Getöse von Wind und Wellen.

Kein Ruf antwortete ihnen und konnte ihnen antworten.

»Nein, nein, sie ist nicht in dieser Höhle! wiederholten die Brüder Melvill in ihrer Verzweiflung.

– Sie ist doch darin!« versicherte Olivier Sinclair.

Wie zur Bekräftigung seiner Worte wies er da auf ein Stück Stoff, welches eben eine rückstauende Woge auf eine der Basaltstufen warf.

Olivier Sinclair stürzte darauf zu.

Es war der »Snod«, das schottische Band, welches Miß Campbell stets in den Haaren zu tragen pflegte. Konnte es nun noch einen Zweifel geben?

Und doch, wenn dieses Band ihr entrissen werden konnte, war es dann möglich, daß Miß Campbell bei demselben furchtbaren Wellenschlage nicht gleichzeitig an die Felsenwand gedrückt und schwer verletzt worden wäre?

»Ich werde bald Gewißheit haben!« rief Olivier Sinclair.

Unter Benützung eines Moments, wo das rückfließende Wasser die Gallerie halb frei ließ, ergriff er die erste lange Eisenstange des Geländers; da stürmte aber schon eine neue, riesenhafte Woge auf dieselbe Stelle ein und drückte ihn auf den Treppenabsatz nieder.

Wenn Patridge sich nicht mit eigener Lebensgefahr auf ihn geworfen und den jungen Mann zurückgehalten hätte, so wäre Olivier Sinclair unbedingt bis zur letzten Stufe hinabgeglitten und das Meer hätte ihn mit fortgerissen, ohne daß es möglich gewesen wäre, ihm Hilfe zu bringen.

Olivier Sinclair hatte sich erhoben, sein Entschluß, in die Grotte einzudringen, war keineswegs erschüttert.

»Miß Campbell ist da drinnen, – wiederholte er, da ihr Körper nicht ebenso herausgetragen worden ist, wie dieses Stückchen Band. Es ist also möglich [170] daß sie in irgend welcher Wandvertiefung Schutz gefunden hat. Ihre Kräfte aber werden sie verlassen; sie wird nicht ausdauern können, bis wieder Ebbe eintritt. Wir müssen also zu ihr zu gelangen suchen!

– Ich werde gehen! rief Patridge.

»Nein!... Ich!« antwortete Olivier Sinclair.

Er wollte ein äußerstes Mittel versuchen, zu Miß Campbell vorzudringen, und wenn dieses Mittel ihm auch nur sehr geringe Aussicht auf günstigen Erfolg versprach.

»Warten Sie hier, meine Herren, sagte er zu den Brüdern Melvill. In fünf Minuten sind wir wieder zurück. Kommen Sie, Patridge!«

Die beiden Onkels blieben unter dem Schutze des hohen Ufers, nahe dem äußersten vorspringenden Winkel der Insel, an einer Stelle, welche das Meer nicht erreichen konnte, während Olivier Sinclair und Patridge raschen Schrittes nach Clam Shell zurückeilten.

Es war jetzt um acht ein halb Uhr. Fünf Minuten später erschienen der junge Mann und der alte Diener wieder und schleppten längs des Uferrandes das kleine Boot der »Clorinda«, welches ihnen der Capitän John Olduck zurückgelassen hatte.

Wollte Olivier Sinclair sich wirklich auf dem Wasserwege in diese Höhle wagen, da der Landweg ihm verschlossen war?

Ja, er wollte es versuchen. Wohl setzte er sein Leben dabei auf's Spiel; er wußte es, aber er zögerte deshalb nicht.

Das Boot wurde, geschützt vor der Brandung, an den Fuß der Treppe, hinter eine der Basaltstufen geschafft.

»Ich gehe mit Ihnen, erklärte Patridge.

– Nein, Patridge, erwiderte Olivier Sinclair, nein! Wir dürfen dieses schwache Fahrzeug nicht unnützerweise überlasten. Wenn Miß Campbell noch am Leben ist, genügt es, wenn ich auch allein komme.

– Olivier, riefen die beiden Onkels, welche ihr Schluchzen nicht zurückzuhalten vermochten, Olivier, retten Sie unsere Tochter!«

Der junge Mann drückte ihnen die Hand, dann sprang er in das Boot, setzte sich auf die Mittelbank desselben, ergriff die Riemen und gelangte mit zwei Ruderschlägen geschickt in die Mitte des Wirbels, wo er den Rückfluß einer ungeheuren Woge erwartete, die ihn gerade vor dem Eingange der Fingalshöhle traf.

[171] Hier wurde das Boot hoch emporgeschleudert, doch gelang es dem muthigen jungen Mann, dasselbe durch gewandtes Manövriren in gerader Linie zu erhalten; hätte es sich zur Seite gewendet, so mußte es rettungslos kentern.

Jetzt warf das zürnende Meer das gebrechliche Fahrzeug fast bis zur Höhe der Wölbung; man hätte glauben können, daß diese Nußschale an der Felsenwand zerschellen müsse, als die Woge aber zurücksank, trug sie es mit unwiderstehlicher Gewalt wieder nach der Außenseite der Höhle hinaus.

Dreimal wurde das Boot so hin und her geschleudert, einmal hinein- und dann wieder hinausgeworfen, ohne noch durch die vor dem Eingange sich stauenden Wassermassen gelangen zu können. Mit voller Kaltblütigkeit hielt sich Olivier Sinclair mittelst seiner Riemen.

Endlich faßte ein noch höherer Wellenkamm das Canot; es schwankte einen Augenblick auf dem Rücken des flüssigen Ungeheuers, fast in gleicher Höhe mit dem Plateau der Insel; dann gähnte plötzlich ein tiefer Abgrund auf und Olivier Sinclair wurde in schräger Richtung, wie auf der herabstürzenden Wand eines Wasserfalles, hinuntergeschleudert.

Ein Schreckensschrei entrang sich den Zuschauern dieser Scene. Es schien, als ob das Fahrzeug unwiderstehlich an den linken Eingangspfeilern zerschmettert werden müßte.

Der unerschrockene junge Mann wendete jedoch sein Boot durch einen kräftigen Ruderschlag und verschwand, nachdem er einmal den Eingang erreicht, noch ehe das Wasser sich wieder zu riesenhaftem Schwall erhoben, mit der Schnelligkeit eines Pfeiles im Innern der Höhle.

Eine Secunde später donnerten die Wogen wieder hinein und schäumten bis zum oberen Rande des Eilandes auf.

Würde das Boot nun im Hintergrunde der Grotte zerschellen und sollte man zwei Opfer statt eines zu zählen haben? Glücklicher Weise nein. Olivier Sinclair war schnell und ohne anzustoßen unter der ungleichen Deckenwölbung hinweggeglitten.

Indem er sich platt in das Boot warf, entging er dem sonst unvermeidlichen Anstoßen an hervorstehende Säulenenden. Während des Zeitraumes einer Secunde flog er wieder gegen die anderen Seitenwände und fürchtete nur, wieder hinausgeworfen zu werden, ehe es ihm gelang, irgend einen hervorragenden Haltepunkt im Hintergrunde zu gewinnen. Da stieß das Boot, in Folge der in sich selbst verlaufenden Wellenbewegung, nur schwach an die Pfeiler jener Orgelempore, [172] die sich im Schiffe der Fingalshöhle erhebt; dennoch barst es mitten entzwei; Olivier Sinclair vermochte jedoch ein Basaltstück zu packen, sich daran mit allen Kräften festzuklammern und dann über das Wasser emporzuringen.

Nur einen Augenblick später erfaßte eine rückströmende Woge die Trümmer des Bootes, welche hinausgeschleudert wurden, und mit dem Gedanken, daß der kühne Retter seinen Untergang gefunden habe, sahen die Brüder Melvill und Patridge dieselben hinausgetragen werden.

21. Capitel

Einundzwanzigstes Capitel.
Ein voller Sturm in einer Höhle.

Olivier Sinclair war heil und gesund und für den Augenblick auch in Sicherheit. Die hier herrschende Dunkelheit verhinderte ihn zuerst, irgend etwas zu erkennen. Der matte Schein der Abenddämmerung drang nur in der Zeit zwischen zwei Wogen ein, wenn das Wasser den Eingang zur Grotte nur zur Hälfte anfüllte.

Olivier Sinclair suchte zu entdecken, wo Miß Campbell eine Zuflucht gefunden habe... vergeblich.

Er rief laut:

»Miß Campbell! Miß Campbell!«

Wie könnten wir beschreiben, was in ihm vorging, als er eine Stimme antworten hörte:

»Herr Olivier! Herr Olivier!«

Miß Campbell lebte noch.

Aber wohin hatte sie sich vor den andrängenden Wogen flüchten können?

Auf der Gallerie hinkriechend, durchsuchte Olivier Sinclair den inneren Theil der Fingalshöhle.

Da in der linken Wand hatte das Zurückweichen des Basaltes einen Schlupfwinkel gleich einer Nische gebildet. Die Felsenpfeiler traten hier mehr auseinander. Am Anfang noch ziemlich weit offen, verengerte sich die Vertiefung [173] so weit, daß nur eine Person darin Platz finden konnte. Die Sage gab diesem Loche den Namen »Fingal's Armstuhl«.

In diese Nische hatte sich die von dem steigenden Meere erschreckte Miß Campbell geflüchtet.

Einige Stunden vorher war der Zugang zur Grotte bei der Ebbe ganz unbehindert gewesen und sie hatte arglos hier ihren gewöhnlichen Besuch machen wollen. Versunken in ihre Träume, hatte sie an die Gefahr gar nicht gedacht, welche die Fluth mit sich bringen mußte, und wie groß war ihr Entsetzen, als sie wieder hinausgehen wollte und sich überzeugte, daß ihr das eindringende Wasser jeden Weg versperrte!

Miß Campbell verlor indeß nicht den Kopf; sie suchte sich Deckung, so gut es anging, und nach mehreren vergeblichen Bemühungen, noch nach Außen zu gelangen, erreichte sie wenigstens, freilich unter der Gefahr, zwanzigmal vom Wasser fortgerissen zu werden, den Armstuhl Fingal's.

Dort fand sie Olivier Sinclair eingeklemmt, aber doch außerhalb der Tragweite der Wogen.

»O, Miß Campbell, rief er, wie konnten Sie auch so unvorsichtig sein, sich bei Beginn des Sturmes in solche Gefahr zu begeben? Wir hielten sie schon für verloren.

– Und Sie sind doch gekommen, mich zu retten, Herr Olivier? antwortete Miß Campbell, mehr gerührt von dem Muthe des jungen Mannes, als erschreckt von den Gefahren, die ihr noch drohen konnten.

– Ich bin gekommen, Sie aus schlimmer Lage zu befreien, Miß Campbell, und mit Gottes Hilfe wird es mir gelingen. Sie haben doch keine Furcht?

– Ich habe keine Furcht, gewiß nicht!... Da Sie bei mir sind, fürchte ich nichts mehr... Und kann man übrigens eine andere Empfindung als die maßloser Bewunderung haben gegenüber einem so erhabenen Schauspiel?... Sehen Sie selbst.«

Miß Campbell hatte sich ganz bis in den Hintergrund der kleinen Aushöhlung zurückgedrängt. Dicht vor ihr stehend, suchte Olivier Sinclair sie bestmöglich zu schützen, wenn eine sich wüthend aufbäumende Welle sie zu erreichen drohte.

Beide schwiegen still. Mußte Olivier Sinclair denn sprechen, um sich verständlich zu machen? Und wozu hätte es der Worte bedurft, um alles das auszudrücken, was Miß Campbell empfand?

[174] Der junge Mann sah indeß mit unsäglicher Angst, nicht um seinet-, wohl aber um Miß Campbell's willen, die zunehmende Gefahr ihrer Lage. Wenn er das Heulen des Windes, das Tosen des Meeres hörte, verrieth ihm das nicht, daß der Sturm sich mit noch wachsender Wuth entfesselte? Sah er nicht, wie das Wasser unter der Mitwirkung der Fluth noch immer mehr anstieg und die Höhle noch weiter anfüllte? Wenn jetzt hier keine absolute Finsterniß herrschte, so kam das daher, daß die Wogenkämme gleichsam von außen eingesaugtes Licht mitbrachten. Breite phosphorescirende Flächen leuchteten dabei wie durch eine Art elektrischer Ausstrahlung, die sich an den Winkeln des Basaltes brach, die Kanten der Prismen erhellte und einen gewissen Dämmerschein zurückließ.

Bei dem kurzandauernden Aufleuchten dieser Lichtblitze wandte sich Olivier Sinclair gegen Miß Campbell um. Er schaute ihr mit einer Erregung in's Gesicht, welche nicht allein durch die Gefahr hervorgerufen wurde.

Miß Campbell lächelte freudig bei der Erhabenheit des Schauspiels – bei dem Sturm in dieser Höhle.

Da brandete eine unermeßliche Woge bis zur Vertiefung des Armstuhls Fingal's hinaus. Olivier Sinclair glaubte, daß er und sie davon aus ihrem Schlupfwinkel herausgerissen werden könnten.

Er umschlang das junge Mädchen mit beiden Armen gleich einer Beute, welche das Meer ihm entreißen wollte.

»Olivier! Olivier!... rief Miß Campbell voller Schrecken, den sie nicht bemeistern konnte.

– Fürchten Sie nichts, Helena, antwortete Olivier Sinclair. Ich werde Sie schützen, Helena... ich...«

Er sagte es, er wollte sie vertheidigen und schützen! Doch wie? Wie konnte er sie der Wuth der Wellen entziehen, wenn diese noch mehr zunahm, wenn das Wasser noch immer höher anstieg, wenn auch dieser letzte Zufluchtsort unhaltbar wurde? Wo würde er eine Stelle finden, die nicht von dem wüthend erregten Meere erreicht wurde? Alle diese Möglichkeiten drängten sich ihm in all' ihrer Schrecklichkeit vor Augen.

Vor allen Dingen kaltes Blut! Olivier Sinclair gelobte sich, wenigstens seiner selbst Herr zu bleiben.

Er mußte das um so mehr, da dem jungen Mädchen, wenn auch nicht die moralische, doch die physische Kraft bald genug ausgehen konnte. Erschöpft von zu langem Kampfe, mußte jeden Augenblick die nothwendige Reaction [175] in ihr eintreten. Olivier Sinclair fühlte, wie sie schon allmählich schwächer wurde. Er wollte sie beruhigen, obgleich ihm selbst jede Hoffnung mehr und mehr schwand.

»Helena... meine liebe Helena, flüsterte er, bei meiner Rückkehr nach Oban... hab' ich es gehört... daß Sie... daß ich Ihnen meine Rettung aus dem Strudel des Corryvrekan zu danken habe.

– Olivier... Sie wüßten es!... antwortete Miß Campbell mit fast erstickter Stimme.

[176] – Ja... und heute werde ich es Ihnen entgelten können... ich rette Sie aus der Fingalshöhle.«


»Olivier! Olivier!« - rief Miß Campbell. (S. 175.)

Wie konnte Olivier Sinclair von Heil und Rettung zu sprechen wagen, jetzt wo sich schon die Wassermasse am Fuße ihres Zufluchtsortes brach! Es gelang ihm nur sehr mangelhaft, das junge Mädchen vor ihrem Ungestüm zu bewahren. Zwei- oder dreimal wäre er fast mit weggezerrt worden... und wenn er noch Widerstand leistete, so geschah es mit wirklich übermenschlicher Anstrengung, weil er Miß Camp bell's Arme wie um seine Taille geknüpft fühlte [177] und begriff, daß das Meer sie mit ihm fortspülen werde. – Es mochte gegen neuneinhalb Uhr Abends sein. Der Sturm hatte zu dieser Zeit seine höchste Intensität erreicht. Das steigende Wasser stürzte sich mit der Wuth einer Sintflut in die Fingalshöhle. Sein Anprall an den Hintergrund und an die Seitenwände erzeugte ein betäubendes Krachen, und die Gewalt desselben war so groß, daß von den Wänden losgerissene Basaltstücke herabstürzten und dunkle Löcher in den phosphorescirenden Schaum schlugen.

Würden unter diesem Angriffe nicht gar die Basaltpfeiler Stein für Stein in den Abgrund versinken?

Olivier Sinclair konnte Alles befürchten. Auch er fühlte sich schon von einer unüberwindlichen Empfindungslosigkeit befallen, gegen welche er vergeblich ankämpfte. Das kam wohl mit davon her, daß es hier manchmal an Luft fehlte, und wenn diese mit den Wogen in vollen Strömen eindrang, so schien das Wasser sie doch gleich wieder aufzusaugen, wenn der Rückstrom sie mit nach außen führte.

Völlig erschöpft und kraftlos, war Miß Campbell einer Ohnmacht nahe.

»Olivier!... Olivier!«... murmelte sie und sank in seinen Armen zusammen.

Olivier Sinclair hatte sich mit dem jungen Mädchen so tief als möglich in den Hintergrund der kleinen Steinhöhle gedrängt. Er fühlte, daß sie kalt, scheinbar leblos war. Er wollte sie erwärmen, wollte ihr alle Lebenskraft einflößen, die ihm noch übrig geblieben war. Schon rollten ihm aber die Wellen bis zur halben Körperhöhe empor, und wenn er jetzt das Bewußtsein verlor, war es um Beide geschehen.


Er begann dem schmalen Steige zu folgen. (S. 179.)

Der unerschrockene junge Mann hatte jedoch die Kraft, mehrere Stunden lang so auszuhalten. Er hielt Miß Campbell, deckte sie gegen den wilden Wogenschlag, kämpfte, indem er sich nur mit den Ellenbogen an die Basaltvorsprünge stemmte, und das mitten in einer Finsterniß, welche das Verlöschen der Phosphorescenzerscheinungen ganz tief erscheinen ließ, mitten unter diesem unaufhörlichen Donner des anprallenden gurgelnden Wassers und des heulenden Sturmes. Das war jetzt nicht mehr die Stimme Selmas, die im Fingals-Palaste wiederhallte. Es war das betäubende Gebell der Hunde von Kamtschatka, welche, sagt Michelet, »in großen zu Tausenden zählenden Banden während der langen Nächte den heulenden Wogen antworten und mit der Wuth eines nördlichen Oceans wetteifern!«

[178] Endlich machte sich die eintretende Ebbe bemerkbar. Olivier Sinclair überzeugte sich, daß auch die hohle See sich mit dem fallenden Wasser ein wenig beruhigte. Jetzt war es in der Höhle so vollkommen finster, daß es draußen noch verhältnißmäßig tageshell zu sein schien. In diesem Halbschatten zeichnete sich die Oeffnung der Grotte, welche nicht mehr von dem aufwallenden Meere verschlossen wurde, in geisterhaften Umrissen ab. Bald spritzten nur noch Schaumflocken bis zum Fuße des Armstuhls Fingal's hinaus. Jetzt bildeten die Wellen nicht mehr einen Lasso, der sein Opfer umschlingt und mit sich fort reißt. In Olivier Sinclair's Herz zog allmählich die Hoffnung wieder ein.

Mittelst Abschätzung nach dem Stande des Meeres konnte man annehmen, daß Mitternacht vorüber sei. Noch zwei Stunden, dann spülten die Wellen voraussichtlich nicht mehr über die Gallerie hinweg, und diese mußte wieder gangbar werden. Olivier hatte freilich Mühe, bei der herrschenden Finsterniß überhaupt etwas zu sehen, überzeugte sich aber schließlich doch, daß der ersehnte Zeitpunkt, die Grotte zu verlassen, endlich gekommen sei.

Miß Campbell hatte auch jetzt ihre Besinnung nicht wieder erlangt. Olivier Sinclair hielt ihren gänzlich leblosen Körper in den Atmen; vorsichtig schlich er aus dem Armstuhl Fingal's hervor und begann dem schmalen Steige zu folgen, dessen Eisengeländer von den wüthenden Wellen verbogen, zum Theil sogar losgerissen war.

Wenn ein Wasserberg ihn noch zu erreichen drohte, blieb er still stehen oder wich einen Schritt zurück.

Noch zuletzt, als Olivier Sinclair dem Ausgange der Höhle ganz nahe war, stürzte noch einmal eine Wassermasse über ihn hinweg... Er fürchtete, mit Miß Campbell an die Wand gedrückt und dann in den Abgrund gerissen zu werden, der sich unter seinen Füßen öffnen mußte....

Mit dem letzten Aufgebot aller Kräfte leistete er Widerstand, und als das Wasser zurückströmte, benützte er den Augenblick, schnell aus der Grotte zu entkommen.

Nach einigen Augenblicken hatte er den scharfen Winkel des Ufers erreicht, wo ihn die Brüder Melvill, Patridge und Frau Beß, welche auch herbeigeeilt war, schon die ganze Nacht erwarteten.

Er und sie waren gerettet.

Jetzt verließ aber auch Olivier Sinclair die geistige und leibliche Energie, die er zuletzt fast künstlich aufrecht erhalten hatte, und nachdem er noch Miß [179] Campbell in die Arme der Frau Beß gelegt, sank er bewegungslos am Fuße der Felsen zusammen.

Ohne seinen Muth und seine Opferwilligkeit wäre Miß Campbell nicht lebend aus der Fingalshöhle herausgekommen.

22. Capitel

Zweiundzwanzigstes Capitel.
Der Grüne Strahl.

Unter dem Einflusse der frischen Luft schlug Miß Campbell einige Minuten später in der Clam Shell-Grotte die Augen wieder auf, als erwache sie aus einem Traum, den das Bild Olivier Sinclair's in allen seinen Phasen belebt und erfüllt hatte. Der Gefahren, denen sie in Folge ihrer Unklugheit ausgesetzt gewesen war, erinnerte sie sich kaum mehr.

Sprechen konnte sie noch nicht; beim Anblick Olivier Sinclair's aber traten ihr die Thränen der Dankbarkeit in die Augen und sie streckte ihrem Retter die Hände entgegen.

Bruder Sam und Bruder Sib preßten, keines Wortes mächtig, den jungen Mann in die Arme. Frau Beß machte ihm eine Verbeugung nach der andern, und Patridge schien nicht übel Lust zu haben, ihn an's Herz zu drücken. Dann übermannte jedoch Alle die Müdigkeit, und nachdem sie noch die durch das Meer wie durch den Himmel durchnäßten Kleider gewechselt, schliefen sie ein und der letzte Theil der Nacht verlief in ungestörtem Frieden.

Der Eindruck freilich, den die Betheiligten, wie die Zeugen jener Scene, welche sich in der Fingalshöhle abspielte, empfangen hatten, sollte ihnen niemals mehr aus dem Gedächniß entschwinden.

Während Miß Campbell am folgenden Tage noch auf dem für sie reservirten Lager im Hintergrunde der Clam Shell-Grotte ruhte, gingen die Brüder Melvill Arm in Arm auf dem benachbarten Theile des Uferdammes hin und her. Sie sprachen zwar nicht, hatten aber eigentlich auch gar nicht das Bedürfniß, [180] ihre ganz gleichen Gedanken in Worte zu übersetzen. Beide bewegten in genau demselben Augenblicke den Kopf von oben nach unten, wenn sie etwas bestätigen, und von rechts nach links, wenn sie etwas verneinen wollten. Und was konnten sie zu bestätigen haben, außer der Thatsache, daß Olivier Sinclair sein Leben daran gewagt hatte, das unvorsichtige, junge Mädchen zu retten? Und was verneinten sie? Daß ihre früheren Pläne jetzt noch erfüllbar seien. Bei dieser stummen Unterhaltung sagten sie sich auch mancherlei, was Bruder Sam und Bruder Sib in der nächsten Zeit würden eintreffen sehen. In ihren Augen war Olivier nicht mehr Olivier. Er war jetzt kein Geringerer als Arnim, der hervorragendste Held der gaëlischen Heldensage.

Olivier Sinclair war jetzt eine Beute sehr natürlicher Ueberreizung. Ein gewisses Zartgefühl drängte ihn, sich von den Andern fern zu halten. Er fühlte sich beklommen gegenüber den Brüdern Melvill, als ob er durch seine Gegenwart andeutete, daß er auf Belohnung für seine Opferwilligkeit warte.

So verließ er schon frühzeitig die Clam Shell-Grotte und lustwandelte allein auf dem Plateau der Insel.

Seine Gedanken eilten dabei freilich ganz von selbst zu Miß Campbell. An die Gefahren, denen er Trotz geboten und die er mit ihr getheilt hatte, dachte er gewiß nicht mehr; in seiner Erinnerung schwebten aus dieser fürchterlichen Nacht nur noch die glücklichen Stunden, die er an der Seite Helenas verbracht, als er sie in jener dunklen Nische mit den Armen umschlungen, um sie vor dem Anprall der Wogen zu schützen. Er sah noch bei dem phosphorescirenden Scheine die Gestalt des schönen jungen Mädchens, die mehr aus Erschöpfung als aus Furcht erbleicht war, wie sie sich gleich einem Genius des Sturmes angesichts des wüthenden Meeres erhob. Er hörte sie noch mit zitternder Stimme sagen: »Wie, Sie wüßten es...?« als er sagte: »Ich weiß, was Sie für mich gethan haben, als ich nahe daran war, im Strudel des Corryvrekan umzukommen!«

Er glaubte sich wieder im Grunde jener kleinen Aushöhlung, jener Nische, welche eher für die Aufstellung eines Steinbildes geschaffen schien, in der zwei junge liebende Wesen so lange schreckliche Stunden gelitten und Eines an der Seite des Andern gekämpft hatten. Da waren sie nicht mehr Olivier Sinclair und Miß Campbell; sie hatten sich Olivier und Helena genannt, als wollten sie in dem Augenblicke, wo der Tod sie bedrohte, ein neues Leben mit einander beginnen.

[181] So durchwirbelten Gedanken aller Art das Gehirn des jungen Mannes, als er auf dem Plateau von Staffa umherging. Wie groß auch sein Verlangen war, an Miß Campbell's Seite zurückzukehren, immer hielt ihn eine unbezwingliche Kraft gegen seinen Willen zurück, weil er in ihrer Gegenwart vielleicht gesprochen hätte und doch schweigen wollte.

Inzwischen hatte sich, wie das nach plötzlichen gewaltsamen Störungen der Atmosphäre nicht selten vorkommt, die Witterung ganz überraschend schön gestaltet und lächelte der Himmel in wunderbarer Klarheit. Sehr häufig hinterlassen ja hier die heftigsten Südweststürme keine Spuren, verleihen vielmehr der Luft eine Durchsichtigkeit ohne Gleichen. Die Sonne hatte schon ihren höchsten Stand überschritten, ohne daß sich der Horizont auch nur mit dem geringsten Dunst verschleierte.

Olivier Sinclair wandelte mit siedend heißem Kopfe unter den intensiven Lichtstrahlen, welche das Plateau der Insel widerspiegelte, dahin. Er badete gleichsam in den warmen Effluvien, athmete die wohlthuende Seebrise und stärkte sich in der blendenden Atmosphäre.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke – ein Gedanke, den er vor den anderen, die ihn jetzt bestürmten, fast ganz vergessen hätte – als er den herrlichen reinen Horizont erblickte.

»Ah, der Grüne Strahl! rief er. Wenn der Himmel jemals unsere Beobachtung begünstigt, so ist es heute der Fall! Keine Wolke, kein Dunstflöckchen! Es ist auch sehr unwahrscheinlich, daß die Eine oder das Andere erscheinen könne, da der gestrige gewaltige Sturm sie weit nach Osten hin vertrieben haben muß. Und Miß Campbell denkt gewiß nicht daran, daß der heutige Tag ihr einen glänzenden Sonnenuntergang bescheeren dürfte. Ich muß... ja... ich muß sie benachrichtigen!«

Glücklich, einen so natürlichen Grund, sich zu Helena zu begeben, gefunden zu haben, kehrte Olivier Sinclair nach der Clam Shell-Grotte zurück.

Wenige Augenblicke später stand er Miß Campbell und den beiden Onkels gegenüber, welche jene liebevoll betrachteten, während Frau Beß deren Hand hielt.

»Miß Campbell, sagte er, es geht Ihnen besser?... Ich seh' es... sind Sie wieder bei Kräften?

– Ja, Herr Olivier, antwortete Miß Campbell, beim Erblicken des jungen Mannes leise erzitternd.

[182] – Ich glaube, es würde Ihnen gut thun, fuhr Olivier Sinclair fort, wenn Sie sich nach dem Plateau begeben und die durch den Sturm gereinigte Luft genießen wollten. Die Sonne ist herrlich und wird Sie wieder erwärmen.

– Herr Sinclair hat Recht, sagte Bruder Sam.

– Ja, völlig Recht, setzte Bruder Sib hinzu.

– Und wenn ich Ihnen Alles verrathen darf, wenn meine Ahnung mich nicht trügt, nahm Olivier Sinclair das Wort, glaube ich, daß Sie binnen wenigen Stunden den theuersten Ihrer Wünsche werden in Erfüllung gehen sehen.

– Den theuersten meiner Wünsche? murmelte Miß Campbell, als wenn sie nur mit sich selbst gesprochen hätte.

– Ja... der Himmel ist von wunderbarer Reinheit und allem Anscheine nach zu erwarten, daß die Sonne bei ganz wolkenlosem Horizonte untergehen werde.

– Wär's möglich! rief Bruder Sam.

– Wär's möglich! wiederholte Bruder Sib.

– Ich habe alle Ursache zu glauben, setzte Olivier Sinclair hinzu, daß Sie am heutigen Abend den Grünen Strahl werden beobachten können.

– Den Grünen Strahl!«... antwortete Miß Campbell.

Es schien, als ob sie in ihrem etwas verwirrten Gedächtnisse erst nachsuchen müsse, was es mit diesem Strahle für eine Bewandtniß habe.

»Ah, ganz recht!... sagte sie nach kurzer Pause. Wir sind ja eigentlich hergekommen, um den Grünen Strahl zu sehen!

– Nun denn, vorwärts! sagte Bruder Sam, entzückt über die sich bietende Gelegenheit, das junge Mädchen ihrem Stumpfsinne zu entreißen, der sie zu erstarren drohte, begeben wir uns nach der andern Seite der Insel!

– Und wir speisen erst nach der Rückkehr,« setzte Bruder Sib heiter hinzu.

Er war jetzt um fünf Uhr Nachmittags.

Unter Führung Olivier Sinclair's verließ die ganze Familie, Frau Beß und Patridge inbegriffen, die Clam Shell-Grotte, stieg die Holztreppe hinauf und gelangte damit nach dem Rande des oberen Plateaus.

Da hätte man die Freude der beiden Onkels sehen müssen, als sie den wundervollen Horizont überblickten, an dem die Sonne langsam herabsank. Vielleicht übertrieben sie heute – aber niemals, nein niemals zeigten sie so viel Enthusiasmus für die erwartete Erscheinung. Es hatte das Ansehen, als wenn um ihrer selbst, nicht um Miß Campbell's willen alle diese Ortsveränderungen [183] mit den unausbleiblichen Mißhelligkeiten unternommen worden wären, von der Abreise aus Helensburgh auf dem Wege über Oban und Jona bis nach Staffa.

In der That versprach aber auch der heutige Sonnenuntergang ein so herrlicher zu werden, daß der unempfindlichste, der nüchternste und prosaischste aller Kaufleute der City von London oder aller Großhändler der Canongate das Meerespanorama, wie es sich hier vor Aller Augen ausbreitete, hätte bewundern müssen.


Die ganze Familie stieg die Holztreppe hinauf. (S. 183.)

Miß Campbell fühlte sich bald wie neugeboren in dieser, mit den Salzausdünstungen, welche der leichte Wind mit sich führte, geschwängerten Atmosphäre.


[184]
- weder Olivier noch Helena hatten den Grünen Strahl gesehen. (S. 188.)

Weit öffneten sich ihre schönen Augen, wenn sie auf die ersten Wasserflächen des Atlantischen Oceans hinausblickte. Auf ihre durch Erschöpfung erbleichten Wangen kehrte die rosige Färbung ihres schottischen Teints zurück. Wie schön war sie doch! Welch' ein anziehender Reiz schmückte ihre Gestalt! Olivier Sinclair ging etwas hinter ihr und betrachtete sie schweigend, und er, der sie sonst ohne beklemmendes Gefühl auf ihren langen Spaziergängen begleitete, wagte in seiner jetzigen Gemüthsstimmung mit peinigender Angst im Herzen kaum sie anzusehen.

[185] Die beiden Brüder Melvill erschienen buchstäblich so strahlend wie die Sonne selbst. Sie sprachen auf dieselbe mit einer Art Begeisterung, luden sie ein, hinter dem klaren dunstlosen Horizont unterzugehen, und baten sie, ihnen am Ende dieses herrlichen Tages ihren letzten Strahl zuzusenden.

Gleichzeitig erinnerten sie sich wieder der schönen Ossianischen Dichtungen und tauschten einige Verse aus.

»Du, die Du hinrollst über unsere Häupter, so rund wie einstmals unsrer Ahnen Schild, sag' uns, woher entsprießen Deine Strahlen, wo kommt es her, Dein ewig schönes Licht?

»Du schwebst dahin in majestät'scher Schöne! Die Sterne fliehen aus dem Firmament, der bleiche kalte Mond versteckt sich ängstlich im Westen, Du nur, Sonne, bleibst zurück!

»Wer könnte Dich auf Deinem Lauf begleiten? Der Mond verliert sich scheu am Himmel, Du, nur Du bist stets die Gleiche, immer lächelnd durchfliegst Du glanzvoll Deine weite Bahn.

»Und wenn der Donner rollt, die blauen Blitze auftauchen aus der Wolken Kampfgetöse, trittst Du her vor in immer gleicher Schönheit, und unverwandelt lachst Du ob des Sturms!«

In eigenthümlich gehobener Stimmung wanderten Alle so jenem Ende Staffas zu, das nach dem freien Meere hinausliegt. Dort setzten sie sich auf die äußersten Felsblöcke, vor sich einen Horizont, dessen von der Berührungsstelle zwischen Himmel und Wasser gezogene Grenzlinie nichts trüben zu können schien.

Diesmal konnte auch der unselige Aristobulos Ursiclos das Segelwerk eines Fahrzeuges oder einen aufgejagten Schwarm von Seevögeln zwischen das Eiland von Staffa und die Stelle des Sonnenunterganges nicht einschieben.

Der Wind legte sich gegen Abend gänzlich, die letzten Wellen erstarben in der sich sanft wiegenden Brandung am Fuße der Felsen. Weiter draußen lag das Meer glatt wie ein Spiegel und zeigte jene fast ölartige Oberfläche, auf der man die geringste darüberhuschende Streifenbildung leicht hätte wahrnehmen können.

Alle Umstände vereinigten sich also, die Beobachtung des Phänomens zu begünstigen.

Eine halbe Stunde später streckte aber Patridge plötzlich die Hand gegen Süden hin aus und rief:

[186] »Ein Segel!«

Ein Segel! Sollte das heute wieder vor der Sonnenscheibe gerade in dem Augenblicke vorüberziehen, wo diese unter dem Wasser verschwand? Das wäre doch eine boshafte Tücke des Schicksals gewesen!

Das betreffende Fahrzeug kam aus der engen Straße, welche die Insel Jona von der gegenüberliegenden Spitze von Mull trennt. Es glitt mehr durch die Wirkung der steigenden Fluth, als durch die der Seebrise hin, deren letzter Hauch kaum hingereicht haben würde, seine Segel zu schwellen.

»O, das ist die »Clorinda«, rief Olivier Sinclair, und da diese unzweifelhaft auf den Osten von Staffa zuhält, wird sie hinter uns vorbeikommen und unsere Beobachtung nicht zu stören im Stande sein.«

In der That war es die »Clorinda«, welche nach Umsegelung der Südseite von Mull jetzt wieder in der Bucht von Clam Shell vor Anker gehen wollte.

Alle Blicke richteten sich wieder nach dem westlichen Horizonte.

Die Sonne sank jetzt schon mit jener Schnelligkeit, welche sie bei Annäherung an das Meer zu beleben scheint. Auf der Wasserfläche zitterte ein weiter Silberstreifen, der von der glänzenden Scheibe ausging, deren Ausstrahlung das Auge noch nicht ertragen konnte. Bald ging jene aus der Altgoldfarbe, die sie im Niedersinken annahm, in glühendes Rothgold über. Schloß man die Lider fest über den Augen, so sah man vor denselben rothe verschobene Vierecke und gelbliche Kreuze flimmern, welche sich wie die flüchtigen Bilder des Kaleidoskops durchkreuzten. Ganz leichte, seine Wellenstreifen verzierten noch diese Art Kometenschweif, den die Wiederspiegelung auf die Oberfläche des Wassers zeichnete. Es glich einem Flockengewirbel von Silberflittern, deren Glanz mit der Annäherung an das Ufer abnahm.

Im ganzen Umkreise des Horizontes war von einer Wolke, von einer, wenn auch noch so zarten Dunstmasse nicht die Spur zu bemerken. Nichts trübte die Reinheit dieser Kreislinie, die man mit einem Zirkel nicht hätte seiner auf einen weißen Bogen Papier zeichnen können.

Alle betrachteten regungslos, und doch erregter als man glauben möchte, die leuchtende Kugel, die auf ihrem schrägen Wege nach dem Horizonte noch hinunterstieg und, wie gefesselt über einem Abgrunde, einen Augenblick still zu stehen schien. Dann machte sich allmählich – eine Folge der Strahlenbrechung – eine Formveränderung der Kugel bemerkbar; sie verbreiterte sich auf Unkosten [187] ihres lothrechten Durchmessers und erinnerte an die Form einer etrurischen Vase mit ausgebauchten Seiten, deren Fuß in's Wasser tauchte.

Daß die Erscheinung heute zu Stande kommen mußte, unterlag gar keinem Zweifel. Nichts trübte den wunderbar schönen Niedergang des strahlenden Gestirns! »Nichts konnte seine letzten Strahlen aufhalten«.

Bald verschwand die Sonne zur Hälfte unter der Linie des Horizonts. Einzelne Lichtbündel, gleich abgeschossenen goldenen Pfeilen, trafen die ersten Felsen von Staffa.

Weiter rückwärts färbten sich das steile Ufer von Mull und der Gipfel des Ben More mit glühendem Purpur.

Endlich überragte nur noch ein ganz schmaler Kreisabschnitt des oberen Bogens die Wasserlinie.

»Der Grüne Strahl! Der Grüne Strahl!« riefen wie aus einem Munde die Brüder Melvill, Frau Beß und Patridge, deren Augen eine Viertelsecunde lang den unvergleichlich schönen Eindruck der Farbe flüssigen Nephrits empfangen hatten.

Nur Olivier und Helena hatten nichts wahrgenommen von der Erscheinung, welche sich endlich, nach so vielen fruchtlosen Beobachtungen zeigte.

In dem Augenblicke, wo die Sonne ihren letzten Strahl auf das hier sichtbare Erdenrund entsendete, kreuzten sich die Blicke der jungen Leute, und Beide vergaßen sich, gewiß versanken in die nämliche Betrachtung.

Helena hatte ja den dunklen Strahl gesehen, der aus den Augen des jungen Mannes blitzte; Olivier den blauen, der jenem aus den Augen des jungen Mädchens entgegenkam.

Die Sonne war nun völlig verschwunden – weder Olivier noch Helena hatten den Grünen Strahl gesehen!

[188]

23. Capitel

Dreiundzwanzigstes Capitel.
Schluß.

Am folgenden Tage, dem 12. September, lichtete die »Clorinda« bei ziemlich ruhigem Meere und günstiger Brise die Anker und segelte vom Archipel der Hebriden nach Südwesten. Bald verschwanden Staffa, Jona und die Spitze von Mull hinter der hochsteigenden Küste der großen Insel.

Nach glücklicher Ueberfahrt landeten die Passagiere der Yacht in dem kleinen Hafen von Oban, dann kehrten sie mittelst Eisenbahn von Oban nach Dalmaly und, von hier nach Glasgow fahrend, durch den reizvollsten Theil des schottischen Hochlandes nach der Cottage bei Helensburgh zurück.

Achtzehn Tage später fand in der St. Georgskirche zu Glasgow eine feierliche Ceremonie statt, doch wir brauchen wohl kaum zu bemerken, daß dieselbe nicht die Trauung Aristobulos Ursiclos' mit Miß Campbell betraf. Aber obgleich jetzt Olivier Sinclair die Rolle des glücklichen Bräutigams einnahm, erschienen Bruder Sam und Bruder Sib darum nicht minder befriedigt als ihre Nichte.

Es ist überflüssig, dabei zu verweilen, daß die unter so außerordentlichen Umständen geschlossene Verbindung alle Bedingungen dauernden Glückes er füllte. Das Landhaus von Helensburgh, das Hôtel in der West-George-Street in Glasgow, ja die ganze Welt hätte kaum hingereicht, das Glück zu umfassen, welches in der Fingalshöhle zur Blüthe gekommen war.

Den letzten, auf dem Plateau von Staffa verbrachten Abend wagte Olivier Sinclair, obwohl er das so beharrlich gesuchte Phänomen nicht selbst beobachtete, doch in dauernder Weise zu fixiren. So stellte er eines Tages einen »Sonnenuntergang« voll eigenartiger Wirkung aus, an welchem Jedermann besonders einen merkwürdig intensiven grünen Strahl bewunderte, der mit flüssigem Smaragd gemalt zu sein schien.

Dieses Bild erweckte neben der Anerkennung auch lebhafte Verhandlungen. Die Einen behaupteten, es zeige einen prachtvoll wiedergegebenen Effect, während die Andern meinten. daß die Natur selbst einen solchen Effect niemals hervorbringe.

[189] Die beiden Onkels, welche diesen Strahl aus Erfahrung kannten und dem jungen Maler natürlich Recht gaben, geriethen darüber nicht wenig in Entrüstung.

»Ja, es ist sogar viel angenehmer, erklärte Bruder Sam, den Grünen Strahl gemalt...

– Als in der Natur zu sehen, fuhr Bruder Sib fort, denn man zieht sich durch Betrachtung aller einzelnen, beim Sonnenuntergang auftretenden Farben nur die abscheulichsten Augenschmerzen zu.«

Und sie hatten damit Recht, die wackeren Brüder Melvill.

Zwei Monate später lustwandelten die jungen Ehegatten und ihre Onkels vor dem Parke des Landhauses am Ufer des Clyde, als sie ganz unerwartet Aristobulos Ursiclos begegneten.

Der junge Gelehrte, der mit Interesse die inzwischen begonnenen Arbeiten am Flusse verfolgte, begab sich eben nach dem Helensburgher Bahnhofe, als er die frühere Gesellschaft aus Oban wahrnahm.

Es wäre zu viel behauptet, wenn man gesagt hätte, daß Aristobulos Ursiclos durch den Verlust Miß Campbell's besonders schmerzlich berührt worden wäre. Ebenso wenig setzte es ihn in Verlegenheit, jetzt der Mistreß Sinclair gegenüber zu stehen.

Man begrüßte sich gegenseitig und Aristobulos Ursiclos beglückwünschte die jungen Ehegatten in höflichster Weise.

Die Brüder Melvill konnten, angesichts dieses friedlichen Ausgangs, nicht verhehlen, wie glücklich sie jene Verbindung mache.

»So glücklich, äußerte Bruder Sam, daß ich mich zuweilen, wenn ich allein bin, beim Lächeln...

– Und ich mich beim Weinen ertappe, sagte Bruder Sib.

– Nun, meine Herren, bemerkte Aristobulos Ursiclos, das liefert zum ersten Male ein Beispiel mangelhafter Uebereinstimmung zwischen Ihnen; der Eine weint, der Andre lacht...

– O, Herr Ursiclos, meinte Olivier Sinclair, im Grunde kommt das doch auf Eins hinaus.

– Vollständig, versicherte die junge Frau und reichte ihren beiden Onkels die Hände.

– Wie, auf Eines hinaus? rief Aristobulos Ursiclos in dem ihm so wohl anstehenden Tone der Ueberlegenheit, nein – keineswegs! Was ist das [190] Lächeln? Eine freiwillige und eigenthümliche Action der Gesichtsmuskeln, der die Athmungsvorgänge nahezu ganz fremd sind, während die Thränen...

– Nun, die Thränen?... fragte Mistreß Sinclair gespannt.

– Nichts sind als eine zur Schlüpfrigerhaltung des Augapfels dienende Flüssigkeit, eine Mischung von Chlornatrium, phosphorsaurem Kalk und chlorsaurem Natron!

– Vom chemischen Standpunkte betrachtet, haben Sie Recht, mein Herr erwiderte Olivier Sinclair, aber auch nur von diesem.

– Ich verstehe einen derartigen Unterschied nicht« antwortete Aristobulos Ursiclos empfindlich.

Mit der Steifheit eines Geometers grüßend, nahm er gemessenen Schrittes den Weg zum Bahnhof wieder auf.

»Nun seh' Einer den Herrn Ursiclos, rief Mistreß Sinclair, der sich Angelegenheiten des Herzens ebenso zu erklären unterfängt, wie er den Grünen Strahl erklärt hat.

– Im Grunde, meine theure Helena, antwortete Olivier Sinclair, haben wir diesen Strahl, nach dem wir so beharrlich suchten, nicht einmal zu sehen bekommen.

– Dafür haben wir etwas Besseres gesehen, flüsterte die junge Frau. Wir sahen das Glück selbst – welches die Sage mit der Beobachtung dieser seltenen Erscheinung in Verbindung bringt... Und da wir das gefunden haben, lieber Olivier, so wollen wir uns damit begnügen und die Aufsuchung und Beobachtung des Grünen Strahles Denen überlassen, die ihn noch nicht kennen, aber danach verlangen, ihn kennen zu lernen!«

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TextGrid Repository (2012). Verne, Jules. Romane. Der grüne Strahl. Der grüne Strahl. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8750-A