36. Die erneute Menschheit

2. November 1794.


Stille herrsch', Andacht, und der Seel' Erhebung,
Rings umher! Fern sei, was befleckt von Sünd' ist,
Was dem Staub anhaftet, zu klein der Menschheit
Höherem Aufschwung!
Dem die Weltkreis' all in den Sonnenhimmeln
Staub sind; dem Weltjahre wie Augenblicke;
Dem, gesamt aufstrebend, der Geister Tiefsinn
Nur ein Gedank' ist;
Dessen Macht kein Maß der Erschaffnen ausmißt;
Dessen fernhin dämmerndes Licht Begeist'rung
Kaum erreicht, hochfliegend: den Geist der Geister!
Betet ihn an! Gott!
Nicht der Lipp' Anbetung ist wert der Gottheit,
Nicht Gepräng' abbüßendes Tempeldienstes,
Nicht Gelübd', noch Faste; nur That geklärter
Menschlichkeit ehrt ihn!
[217]
Dich allein, Abglanz von der Gottheit Urlicht,
Menschlichkeit! Dich sah der entzückte Denker,
Bebt' in Wollust, rang, wie zur Braut der Jüngling,
Ach! und umschloß dich!
Flog mit dir aufwärts, und vernahm in Demut
Näher Gott! – Allvater, erbarm' dich unser!
Fleht' er auf: Allvater, unendlich groß, un-
endlicher Güte!
Flehn auch wir: Allvater, erbarm' dich ihrer,
(Als sie thun's unkundig!) die: Gott der Heerschar!
Uns nur Gott! aufrufen, der Rache Zorn dir
Löschend in Sühnblut!
Gott, sie nahn lobsingend, vom Blut der Brüder
Wild, die fromm dir dienten den Dienst der Heimat,
Anders nur dich, Großer, den Engeln selbst Viel-
namiger! nennend!
Höchstes Gut allstets, und des Guten Geber!
Ihm, der Raubwild jagt in der Eichelwaldung;
Ihm, der Feind' abwehrt mit Geschoß und Harnisch,
Froh des Gemeinwohls:
Oder ihm, des Seel', in das All sich schwingend,
Mit der Grundursachen Gewicht und Maße,
Harmonie wahrnimmt, aus Verblühn Erschaffung,
Leben aus Tode!
Ob wie tot auch starre der Geist der Menschheit,
Durch der Willkür Zwang und gebotnen Wahnsinn;
Doch erringt siegreich auch der Geist der Menschheit
Neue Belebung.
[218]
Zwar er schlief Jahrhunderte, dumpf in Fesseln,
Todesschlaf, seit himmelempor die Freiheit
Vor den Zwingherrn floh und des Götzenpriesters
Laurendem Bannstrahl.
Luther kam: auf schauert' im Schlaf der Geist ihm,
Blickt' umher, schloß wieder das Aug' in Ohnmacht,
Und vernahm leis ahndend den Laut aus Trümmern
Attischer Weisheit.
Bald, wie Glut fortglimmt in der Asch', am Windhauch
Fünkchen hellt, rot wird, und in Feuerflammen
Licht und Wärm' ausgießt: so erhub der Menschheit
Schlummernder Geist sich,
Lebensfroh! Hin sank die verjährte Fessel,
Sank der Bannaltar, und die Burg des Zwingherrn;
Rege Kraft, Schönheit, und des Volks Gemeinsinn,
Blühten mit Heil auf!

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TextGrid Repository (2012). Voß, Johann Heinrich. Gedichte. Oden und Elegien. 36. Die erneute Menschheit. 36. Die erneute Menschheit. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8854-9