Wilhelm Waiblinger
Phaethon

[Vorwort]

[5] Wilhelm Waiblinger, der mit fünfundzwanzig Jahren dahingegangene, an der Pyramide des Cestius schlafende schwäbische Romantiker, ist ein Vergessener. Kaum erwähnen ihn die Literaturgeschichten, diese literarischen Friedhöfe, in denen so wenig Unterschied zwischen wirklich erstorbener und weiterlebender Dichtung gemacht zu werden pflegt. Was Waiblinger geschrieben, ist keineswegs alles tote Literatur. Aber kein deutscher Verleger unsrer so drucklustigen Tage wagt es, seine unveröffentlichten Briefe und Tagebücher zu retten, geschweige denn eine würdige Gesamtausgabe seiner Werke zu bringen.

Das vorliegende Jugendwerk des Dichters, 1823 in wenigen hundert, heute bis auf zwei oder drei verschollenen Stücken gedruckt, fehlt in den 1839, neun Jahre nach Waiblingers Tode, von H.v. Canitz veranstalteten »Gesammelten Werken«.

Vielleicht ist es dem Herausgeber vergönnt, dem »Phaethon« eine vollständige Ausgabe [5] der zum Teil noch ungedruckten Gedichte Waiblingers, die selbst neben denen Hölderlins ihren seltsamen Silberglanz nicht verlieren, folgen zu lassen.


Dresden, am Silvesterabend 1919,


Dr. Arthur Schurig [6] [8]

Motto

[Das Motto des Titelblattes:]

Καλλον μαρτυρουσιν ἱ παλαιοι μανιαν σωφροσυνης την ἐκ ϑεου της παῤ ἰνϑρωπων γιγνομενης.

Πλατων


[Von uraltersher gilt göttlicher Wahnsinn für edler denn menschliche Verständigkeit.

Platon, Phädros, 244 D.] [8]

[Widmung]

Friedrich von Matthisson

zugeeignet

[9][11]

Erster Teil

Phaethon an Theodor

Dein Bruder ist jetzt abgereist. Mir ward der Abschied schwer von dem Guten, der wie mein Schatten mir durchs sonnige Italien folgte. Ewigunvergeßlich wie meiner Kindheit Tage ist mir der Abend, wo wir zum erstenmal die Alpenfirnen wie Trümmer einer Urwelt glänzen sahn, und gleich gebändigten Titanen die Nebelwolken unten lagen im Tale, und oben die milchweißen Stirnen vom Purpur der Abendsonne glühten wie bescheidene Mädchenwangen, und die Riesenlawinen donnernd von jähen fürchterlichen Höhn herab sich wälzten, wir uns im Arme lagen und bei Tells und Arnolds Vaterland uns ewige Freundschaft schwuren!

Und als wir gingen auf den sieben Hügeln und wandelten zwischen den schaurigen Gestalten der hohen Vorwelt und sahn, wie um die alten düstern Mauern sich der jugendliche Efeu rankte; als wir saßen an den Ufern der blonden Tiber und ihrem Wellenschlage lauschten, und es aus den Wassern erklang zu uns, den Spätgebornen, wie eine ernste mahnende Stimme, als wir wandelten durch die langen Hallen, wo schweigend [13] unsre alten Götter standen, und wir uns anblickten und uns in die Arme sanken, ach, da wo jeder graue moosbewachsne Trümmer, wo jedes Säulenstück, wo jeder Grashalm an den finstern Mauerrissen, wo alles, alles zu uns sprach: da fühlten wir schwellen unsern Busen. Die Ahnung floh, und es ward klar vor uns. Unser Auge schwamm in Licht und Fülle, und wie eine göttliche Erscheinung sahn wir niederquellen den Geist der Schönheit. Wir fühlten unsern Beruf und den Drang in unserem Innern und knieten nieder und riefen: Dir, heilige Kunst, dir weihn wir unser Leben!

Ach, und nun bin ich längst wieder ferne von dem Lande und bin so ganz allein! Niemanden hab ich, den ich an meinen Busen schließen könnte, warm und innig, wie ich's möchte, keine Seele! Theodor, das ist viel!

Und weißt Du, was es ist, das mich allein noch tröstet? Es ist der Geist der Natur, die in ihrer ruhigen Fülle vor mir liegt wie meine alte glücklichere Welt!

Ich sollte sehen, wie sich alles draußen regt und tausend lebensvolle Keime schwellen, und Eins sich liebend an das Andre drängt, und sollte dennoch klagen?

Ach, die Kinder! Die schweben durch ihr Leben wie goldne Wölkchen durch das Morgenrot. So heiter ist noch ihr Blick und so unbewölkt wie der blaue Himmel, und ihre Seele rein wie die Luft. Ein Kind zu sein, das ist ein Glück! Wissen die Kinder etwas vom Himmel? Und doch ist der Himmel nur in ihnen.

Ein Kind ist sich selbst genug in seiner Fülle. Warum bin ich denn das nicht?

Phaethon an Theodor [1]
[14] Phaethon an Theodor

Ich habe nun eine neue Wohnung gemietet. Ein kleines Häuschen bewohn' ich ganz allein. Hat Dir eine so angenehme Lage draußen vor dem Dorf am Abhang eines kleinen Rebenhügels! Man hat eine weite Aussicht durch die engen Fensterscheiben. Zu einer Seite liegt das freundliche Dorf und drüber hin auf dem grünen Wiesengrund ein paar andre; dann zur andern Seite liegt das Waldgebirge, und unter ihm auf jäher Felswand glänzt im Abendlicht die Burg.

All den vielen Kram hab ich weggeschafft, und es steht jetzt nur noch mein Amor und mein Klavier in dem größern Zimmer, worin ich arbeite. Daneben ist ein anderes, worin ich schlafe.

Meinen Homeroskopf hab ich ans Fenster gestellt zur Morgenseite. Der erste Strahl der alten heiligen Sonne verklärt das Angesicht des grauen Sängers. Mir ist's oft, als ob er lebte, wenn ich erwache und der Alte glühet!

Und solltest sehen, wie schön! Draußen um die Wände krümmen sich Traubenranken, und die schönen [15] großen Blätter breiten sich geschlängelt bis ans Fenster! So nah hab ich die Natur!

Mir ist auch wohl dabei wie dem Säugling am vollen Mutterbusen.

Innen sieht's freilich nicht so schön aus! Da liegen die paar Bücher, die ich noch habe, zerstreut umher wie die Gedanken in meinem Kopfe. Du lächelst und sagst vielleicht: War ja von jeher alles untereinander! Du hast Recht. Es ist mir auch nichts so zuwider als übertriebene Regelmäßigkeit.

Phaethon an Theodor [2]
[16] Phaethon an Theodor

Mit meinem Amor bin ich bald zu Ende. Er lächelt mich an wie eine bessere Zeit. Ich gehe nicht bälder zur Gräfin hinüber, bis ich ihn fertig habe.

Es wird mir schwer werden zu scheiden von ihm. Meine Arbeit ist mir über den Kopf gewachsen. Mit jedem Meißelschlag ist sie weniger mein. Sie ist mein Schöpfer, nicht ich der ihre.

Mir wird's oft wunderbar. Ich weiß nicht, woher ich sie habe, diese quellenden trunkenen Augen, diese sanftgeblasenen Formen an der weichlich üppigen Gestalt. Als hätt' es mir ein Gott eingegeben.

Des Abends wandl' ich den Hügel hinan. Wie ein Riese steht droben eine alte lange Eiche und streckt wie starke Arme die breiten Äste auseinander. Mir ist's als ob mich zarte liebe Geister umwehten, wann der Abendwind durch die Blätter säuselt. Da hab ich meine schönsten Stunden. Ich lese meinen Homer oder auch einen Chor aus den alten Tragikern. Ach, und wenns dann still wird umher und immer stiller, und durch die dunkle Eiche der letzte Strahl der warmen [17] heiligen Sonne meine glühenden Wangen küßt wie der Mund eines Mädchens, wenn die grauen Wölkchen im goldnen Meer der Abendröte schwimmen wie zarte verfließende Bilder der Vergangenheit, und das linde Wehn der kühlen Lüfte so zärtlich liebend in meinen Locken spielt, und wenn dann allmählich im blassen Duft auch die fernen Berge zusammenschwimmen mit dem Himmel wie eine Seele mit der andern, und der Nebelflor auch über dem Tale wallet, und die Abendglocken so voll wie mein schwellend Herz aus der Ferne klingen, ach, da wein' ich wie ein Kind und drücke den lieben Homer an meine Brust und benetz' ihn mit meinen Tränen, und die Natur, die ewige, die liebende, lächelt mich an wie eine Mutter. Dann füllt sich mein Inneres an mit einer unendlichen Wonne, und ich fühle jeden Pulsschlag der lebendigen Natur und wandle dann wieder so hinunter.

Phaethon an Theodor [3]
[18] Phaethon an Theodor

Welches ist das Land, Theodor, wo der Segen der Götter in Fülle herabträufelte und die Natur sich entfaltete in den reichsten vollsten Gestalten, wo die Menschen schön waren wie ihre Götter und heiter und fröhlich wie ihr Himmel, wo Weisheit und Schönheit sich wie Schwestern mit blühenden Armen umschlangen, und der Geist sich regte so klar, so hell? Es gab nur ein Griechenland.

Sieh, ich möchte mich an eine Brust werfen und meinen Schmerz ausweinen in blutigen Tränen. Denn ach, es gibt kein Griechenland mehr! Verloren, ewig verloren wie die Tage der Unschuld!

Warum bin ich nicht zwei Jahrtausende früher geboren? Glaubst Du nicht, um ein einziges Jahr gäb' ich dann all die vielen Jahre dahin, die ich verlebt habe?

Wie sich die Welt abspiegelt in diesen ewigjungen Geistern, rein und heiter wie die Gewässer, die ihres Landes lachende Ufer umrauschen!

Was ist heiliger als die Natur, und wo war sie gefeierter als in Griechenland?

[19] Da kannte man nicht jene lächerliche Verachtung des Lebensgenusses, mit dem sich bei uns die Männer brüsten, die rauh sind wie der Boden, der sie trägt, und finster wie die Eichenwälder, um die sie hausen.

Selbst der trotzige Aias nimmt noch Abschied vom lieben Licht der Sonne und von den Quellen und Flüssen und Bergen, eh er das Schwert sich in den Busen stößt. Er findet die Erde noch schön und will doch zu den Schatten.

Hat den ersten Deutschen in Hyrkaniens Waldgeklüften nicht ein Bär gesäugt? Merkt man's doch den Römern an, daß ihr Stifter nicht die Milch aus einer Menschenbrust gesogen!

Was kann auch werden bei uns? Unser Land ist ein Gewächstum aller Nationen. Gab's nicht in Griechenland auch viele Völker? Es gab Athener und Böotier und Korinther und Spartaner; aber wenn sie zu Elis sich versammelten, war alles ein Volk, alles eine Seele!

Mir wird's oft bange unter diesen Menschen, wo eine solche Kluft den einen von dem andern trennt.

Und was sind das für Begriffe von Schicklichkeit! Theodor, ich möchte mich zu Tod ärgern, wenn ich sehe, wie's Menschen gibt, die lieber die Welt durch ein umflortes Glas ansehn und andre verdammen wollen, die der lieben Sonne ins Angesicht schauen. Solche niedre Seelen, die nie aus dem Gleichgewichte kamen, weil jeder Schwung für sie zu kühn war, die sich leicht beherrschen können, weil sie nicht viel zu beherrschen haben, die jedes warme schmerzliche Gefühl [20] verbannen, weil sie's an ihrer kalten Arbeit stört, die wollen ein leidend Gemüt, das ringend auf dem sturmbewegten Meere treibt, vom Hafen aus verlachen? Ach, das ist leicht!

Und wo offenbart sich tiefer das Gemüt, als wenn es leidet? Und muß es nicht leiden?

Phaethon an Theodor [4]
[21] Phaethon an Theodor

Unser Himmel ist nicht für die Kunst. Uns glänzt die Freiheit wie der Dioskuren Liebe nur als ein matter Stern am Himmel. Wo sind die Hirten der Völker?

Die unbeschränkteste Freiheit führte dem göttlichen Aristophanes wie ein launiger Genius den kühnen Griffel.

Die Griechen kannten nicht, was wir Gelehrsamkeit nennen. Der junge frische Geist ward nicht durch Formen ausgetrocknet. Das heitere Gemüt erschwoll am Busen der alliebenden Natur. Darum lernten sie auch früher denken.

So wuchsen sie auf, schön und voll wie die Rosen, ein erhabenes Geschlecht, würdig, abzustammen von den Göttern.

Und ist nicht alles bei ihnen der Abglanz ihrer Schöne? Ihre Werke sind schön wie sie selbst.

Die Religion spiegelte ihre Schönheit wie ein silberklarer Quell zurück. In ihr beschauten sie ihr göttlich Bild. Aus ihr schöpften sie diese Fülle herrlicher[22] Gestalten und füllten ihren Himmel an mit Göttern, schön wie sie.

Die Religion ist's ja, die der Kunst das Auge trocknet, wenn sie weinet über die ersehnte Urschönheit in ihrem höchsten Glanze.

Die Religion reicht der Kunst mit dem warmen aber keuschen Kuß ihrer Lippen die Weihe, der Menschheit das Göttliche darzustellen im schönen Bilde. Sie sind die innigsten Freundinnen und drücken sich ewig an den Busen.

Das ist's, wenn Sokrates, der Gottbegeisterte, den Künstler nur für weise hält, und der tiefe Pindaros den Sängergeist nur Weisheit nennt!

Die Natur, die ewige, die wandellose, war der Gott der Griechen, und Gott ist's, der aus allem, was sie schufen, spricht.

Wir Griechen, sagte der ernste Thukydides, streben nach der Schönheit, ohne viel Anstrengung, und nach der Weisheit, ohne daß wir weichlich werden. Das sagt Thukydides, und klarer hat das Wesen des menschlichsten und göttlichsten der Völker niemand ausgesprochen!

Die Griechen sind Kinder, höchstens Jünglinge.

O herrlich göttlich Land, wo Weisheit, Stärke, Schönheit wie drei Götter wohnten, wo aus dem zarten weichen Knaben der schöne Jüngling wie ein junger Gott emporwuchs, und aus dem Jüngling des Mannes hoher Bau wie aus der vollen Knospe der Stamm sich entwickelt; der Mann mit seinen starken Gliedern, mit der hohen Brust, in der die göttlichen[23] Entwürfe reiften, wo das Geschlecht, das ewigkräftige, gewandt sich auf der heiligen Rennbahn trieb, den schönen Ölzweig sich um seine Schläfe wand und ewigrege wie des Springquells Säule sich jene volle Heldenkraft erwarb, mit der es den Barbaren niederkämpfte!

Phaethon an Theodor [5]
[24] Phaethon an Theodor

Ich wandelte gestern durchs Gebirge. Es ist ein hohes männliches Gefühl, zu schreiten durch diese alten Rieseneichen. Es scheint, als ob die Natur diese gewaltigen Stämme zum Beispiel für den Menschen schuf. Strecken sie sich nicht in die Lüfte wie Titanen, und wandelt der Mensch nicht wie ein Zwerg unter diesen kühnen ragenden Gewächsen? Aber ach, auch die Eichen stehn nicht fest. Ich stand an einem tiefen Geklüft. Durch übereinander geworfnes starrendes Gestein und hohes Waldgebüsch schob tosend in dem Abgrund sich ein Gießbach fort, rasch, unaufhaltsam wie das Leben des Menschen; und aus den Wurzeln vom Sturm gerissene Eichenstämme lagen in wilder Zerstörung über die Schlucht hin. Eine dunkle Masse schattender Tannen hob sich in düstern Gruppen an dem Abgrund, und eine gewaltige Felswand ragte drüber hinaus wie die finstre Stirn eines alten Gottes. Da dacht' ich mir den Titanen Prometheus an die graue ungeheure Felsenwand geschmiedet, und grausend ging ich meinen Weg vorüber. Und wie ich nun auf einem [25] einsam steilen Bergpfad eine Stelle fand, wo fürchterlich jäh der Fels hinabschoß, und schlankstämmige Eichen über mir sich wölbten, und ich durch das wildverschlungene Gezweig ins tiefe Tal hinabsah wie in einen Kessel; und drüben die waldbewachsenen dunkeln Bergesrücken, das Rauschen der nahen Wasserleitung und das einsame Flüstern des Windes in den geschüttelten Ästen, und aus dem tiefen Forst den schallenden Hammer der Steinbrecher, durch die Finsternis hin das verwitterte Ruingestein der zerfallenen Beste! Theodor, mir fuhr ein Schauer durch die Brust, wie ich so klein mich sah unter diesen riesigen Gestalten!

Ach, und das Traurigste folgt noch! Die Sonne brannte glühendrot durch die vergoldeten Eichenwipfel, und ich wandelte wie im Schwindel meinen Pfad dahin.

Da hört' ich eine Stimme. Mir fuhr's durch Mark und Bein, und wie ich schnell mich umsah, erhob sich ein alter Mann von einem Trümmer und wankte langsam wie ein schüchterner Geist auf mich zu. Seine Locken waren weiß wie der frische Schnee und seine Stimme wie eines Abgeschiedenen. Da faßte mich ein noch tieferes Graun. Der Alte bettelte. Theodor, er war achtzig Jahre alt! Ich stand vor ihm wie ein Gerichteter. Was suchst du noch auf der Welt, dacht' ich und warf ihm schaudernd etwas in den Hut. Ich rannte weiter. O Lieber, das hat mich furchtbar gestimmt! Wenn's nur einst hinüberginge von der Fülle ins Nichts wie eine lohe Feuersäule! Aber so! Nur stufenweise! Weiter und immer weiter! [26] Theodor, wie mir der Mann seinen Segen mit Freudentränen nachwinselte und rief, bis ich ihn nimmer hören konnte! Der Alte dem Jungen! Gott! Wie war mir's? O, was ist all unser Leben?

Phaethon an Theodor [6]
[27] Phaethon an Theodor

Ich hab einen Menschen kennen gelernt, der mir sehr gefällt. Schon lange her ist's, daß ich ihn täglich vorbeigehen seh' an meinem Hause. Er grüßte mich immer freundlich. Er hat ein wahrhaft griechisches Profil, ein paar runde lebendige Augen, einen sanften, fast schmerzlichen Mund und einen schönen edlen Gang. Heut rief ich ihn, wie er wieder vorbeikam. Er wäre auch lange schon gern mit mir bekannt gewesen und faßte doch nie den Mut, mich anzureden. Mein Amor macht' ihm gar viel Freude. Er erzählte mir allerlei von der Gräfin Cäcilie und von ihrer Tochter. Das müssen herrliche Menschen sein. Man kennt sie aber nicht viel in der Gegend. Letzthin sah ich ihr Haus auf meiner Wanderung durchs Gebirge.

Es ist ein wunderbar Gefühl, das mich überwallt, wenn ich diesen schönen Jüngling ansehe. Ich hange mit einer schwärmerischen Neigung an diesem seltsamen Menschen.

Phaethon an Theodor [7]
[28] Phaethon an Theodor

Ich begreife, Theodor, wie die Griechen schöne Knaben und Jünglinge lieben konnten.

Denk' an die süße Trunkenheit, womit das Vollgefühl der unendlichen Lebensglut ewigkeimender Natur im Morgenglanz ihrer jugendlichen Schönheit ein zartempfindendes Gemüt überschüttet! Und gibt's in unserm rauhen Norden Geister, die so vom Gefühl der heiligen Naturschöne überwältigt werden? Wie allmächtig war diese Empfindung unter dem sonnigen Himmel jenes glücklichsten der Völker, dessen Einheit mit dem Naturgeist, dessen zartempfänglichen Sinn für jede Berührung der stummlebendigen Welt jene Orgien, jene Orakel, jener geheimnisvolle Demeter-Dienst und jene tausend Mysterien bezeugen, von denen uns kaum noch eine matte Ahnung in düstern und unheimlichen Phänomenen zurückblieb. Diese schöpferische Herrlichkeit und Blütenfülle der beseelten Natur war es, was die Griechen aus der Schönheit männlicher Jugend mit unwiderstehlicher Gewalt ansprach. Es war eine wunderbare anbetende Liebe.

[29] Und ist die männliche Jugendschönheit im Glanze der Tatkraft und der Freiheit nicht mehr als die Pflanzennatur des Weibes, die größtenteils doch nur das Bedürfnis mit ihren Reizen überkleidet?

Sieh den Dionysos an, den jugendlichen Gott der schaffenden Natur! Wie eine Jungfrau senkt er schmachtend die üppigvollen Augen nieder; die zarten Glieder schwellen wie die Trauben, die seine reichen Locken kränzen, und rein und blühend ist die Schönheit über all sein Wesen wie ein einziger linder Hauch gegossen.

Das Leben der griechischen Jünglinge war wie ein ewiger Kuß. Begreifst Du, wie man einen Kuß von Chamoleos um zwei Talente bezahlte?

Mich dünkt, der Hippolytos des Euripides kläre darüber auch die dünnsten Köpfe auf. In diesem heiligen Gemüt spiegelt sich der Äther ab, der reine wolkenlose. Er ist schön wie der Mond und keusch wie seine Göttin. Ihr ist sein Busen nur geheiligt, und der Mädchen liebeschmachtendes Auge übersehend zieht er mit Genossen und Hunden jagend durch die Wälder. Er ist eine männliche Artemis.

Ist ja der Mann der Sohn der Sonne, aber das Weib die Tochter des Mondes.

Theodor, so etwas versteht man nicht mehr. Denn die Welt altert.

Phaethon an Theodor [8]
[30] Phaethon an Theodor

Nicht wahr, nur in Griechenland war's möglich, daß eine Phryne vor den Augen aller Griechen ins Bad stieg und wie die süße Göttin der Wollust und der Liebe aus den Wellen tauchte? Wo feiert ein Volk noch Wettspiele in der Schönheit?

Die jungfräulichen Leiber, die auf den Höhn des Eryx sich dem Dienst der Aphrodite weihten, hießen heilig.

Und was gilt körperliche Stärke noch bei uns? Welcher Geist war göttlicher als der Geist des Platon? Und Platon rang in den heiligen Spielen des wellenumrauschten Isthmos.

Aus der Gymnastik entsprang die erhabene Todesverachtung eines Harmodios und Aristogeiton, und Freiheit und Freundschaft erhoben sich aus ihr wie Blüten aus dem gesunden kräftigen Stamme. Wie ein Schleier umhüllte der gewandte schöne Körper den ewigjungen Geist. Weisheit und Tapferkeit waren wie Blumen, die aus einem Stengel blühen. Wir fühlen nur halb des Lebens Kraft und Schöne; denn seine andere Hälfte, der Körper, ist für uns verloren. Wir staunen die [31] Werke des Altertums an wie unglaubliche Riesenschöpfungen, aber die Quelle, woraus der Geist der Alten floß, bemerken wir nicht.

Der Geist des göttlichen Pindaros ruht wie eine unermeßliche Eiche über den griechischen Kämpfern, in deren Schatten sie den Schweiß sich trocknen von der freien Heldenstirn. In seinen feuertrunknen Gesängen liegt das Geheimnis griechischer Erziehung. Kein Grieche spricht den Geist seines Volkes mehr aus in seiner Kraft und Fülle wie er. Alle Strahlen griechischer Vollkommenheiten sind in ihm gesammelt und wie zu einer großen Sonne geworden.

Meine seligsten Stunden bracht' ich im Antikensaale zu. Schon als ein kleiner Knabe, wo mich die Zukunft wie ein zarter Geist umsäuselte, wo ich mit kindlichheiterm Sinn nur nach dem Nächsten griff, ach, wo mich all das, was ich jetzt erkannt, wie eine dunkle Ahnung noch umspielte, vergaß ich lächelnd Gegenwart und Zukunft und kniete staunend in dem heiligen Raume. Da hing an den weißen Gestalten der hohen Vorwelt mein trunknes Auge selig und begeistert. Der alte große Göttervater, deß majestätischhohe Stirne die Wellen des wildaufwallenden Gelocks umfließen, in all seiner Herrschergröße aus dem tiefen Auge blickend und doch so liebendväterlich, so würdigmild wie der Geist, der ernste alldurchblickende! Und wie das Gemüt ihm gegenüber der Liebe schmachtend süße Göttin in ihrer üppigbescheidnen Schöne, mit ihrem holdlächelnden Auge, mit ihrem vollen gewölbten Nacken, mit ihren weichen schwellenden Gliedern, wie ins Morgenrot [32] getaucht! Hier wie die aufquellende Kraft, des erhabenen Vaters ähnlichster Sohn, der jugendlichstarke Apollon, in stammender Anmut seines Zornes, und neben ihm seine Schwester, die schöne keusche Jägerin, leichtschwebend wie ein schlankes Reh, den Boden kaum mit ihrem Fuß betretend! Hier die kolossale Gestalt der höheren Athene, das tiefe Bild der ernsten Mäßigung, mit jungfräulichem Ernst die großen Augen auf die Erde kehrend, und neben ihr wie Ungestüm bei Weisheit der junge trotzig wilde Gott des Krieges, mit kühnem Selbstgefühl die hochgewölbte Brust geschwellt! – Theodor, ach da schwanden mir die Sinne, dem knieenden Knaben, und alles graute mir vor meinem Blick, und große heilige Tränen schwammen mir im Auge, und schauernd fühlt' ich ihn wehen durch die stillen Gestalten, den Geist der Fülle, Mäßigung und Schöne.

Phaethon an Theodor [9]
[33] Phaethon an Theodor

Des Morgens bin ich gern im Freien. Da schließt sich mein Busen wieder auf wie die Blumenglocken auf der Wiese. Mein ganzes Wesen ist so frisch wie das taubesprengte Gras. Ich lieg' oft stundenlang unter meiner Eiche auf dem Hügel und hör' all das geschäftig rege Treiben umher mit einer wunderbaren Wonne. Ach, und Du weißt nicht, was sich da für Gedanken regen, wenn ich hinüberseh' auf die vielen stillen Dörfer. Ich mein', ich müsse dort etwas suchen, und weiß doch nicht was. Dann ergreift mich ein nie gefühltes Sehnen. Hinüberdrängt's mich, hinüber! Und ich strecke meine Arme aus, als wollt' ich eine Braut umfangen, und weine hinüber in die blauen dämmernden Fernen. Ach, sie lächeln mich so lieblich unschuldig an wie die Wangen eines Kindes.

Oft überrascht mich mein Johannes – so heißt jener schöne Jüngling, von dem ich Dir geschrieben – und setzt sich zu mir und trauert mit mir. Ich sah's ein paarmal schon, daß sein Auge blinkte wie der Tau auf der Blume, und er sich zur Seite wandte und [34] die Tränen sich abwischte. Er muß auch einen Kummer auf seinem Herzen haben.

Ach, wozu führt mich noch all das unbegreifliche, unaussprechliche Sehnen?

Ein Etwas blickt mich oft an wie die bescheidenen Stahlen der Morgensonne und umweht mich wie der buhlende Wind. Da ist's mir, als ahnt' ich etwas Großes, Heiliges, das da kommen wird. Theodor, denke Dir, was Du willst!

Phaethon an Theodor [10]
[35] Phaethon an Theodor

Oft wenn ich erwache bei Nacht, da seh' ich meinen Amor vom Mondlicht wie von einem zarten innigen Leben glühend, und es ist mir dann, als ob das stumme Bild mehr als toter Marmor wäre.

Warum will die Jugend immer nur das Große? In ungeheuren Schöpfungen will sie sich offenbaren; und was ist mehr, die Riesengestalten Ägyptens oder die stille gemäßigte natürliche Schöne der Griechen?

Die Kunst der Griechen ist wie das wellenlose spiegelklare Meer. Sie ist immer heiter. Der schöne Himmel Griechenlands ist überall abgespiegelt. Aus allem lächelt das Leben, wie bei uns aus allem der Tod. Denn was ist es anders, das uns anhaucht in dunkeln Schauern aus den unendlich verzierten und verschnörkelten Strebepfeilern, Gewölben und Bögen, den hohen bemalten Fensterscheiben, den unzähligen Nischen und Spitzgebäudchen, den Kruzifixen, Blumen und Heiligenbildern des gotischen Domes als der Tod? Ich will es nicht tadeln; aber ist das heitere Spiel des Lebens und der Schönheit nicht mehr als der schaurige, [36] ewig aus den gespensterartigen Formen hervortretende Geist des Grabes?

In allen Werken der Alten ist Ruhe, die Schwester der Größe. Das Kolosseum wie die Siegesgesänge des Pindaros sind riesengroß; aber ein ruhig stiller Geist spricht aus dem Bau der Steine wie der Strophen.

Maß in Fülle, und Fülle in Maß, das ist das Wesen der Griechen wie überhaupt das Wesen der Kunst.

Auf der Stirne des Zeus sträuben sich die Locken wie die Mähne eines Löwen und strudeln über die Schläfe hinunter; aber die Miene des Weltgebieters ist mild. Und schüttelt er nur die Locken, so zittert Himmel und Erde.

Ich kann Dirs nicht verbergen: auch mich ergreift noch das Gigantische, das Maß Überschreitende. Der verlassene, auf der Heide mit den empörten Elementen kämpfende Lear wär' ein Vorwurf für mich. Aber laß nur die Wogen sich bäumen! Dann besänftigt sich das Meer schon wieder.

Das ist eben das Größte, daß bei den Griechen alle Werke ein Geist beseelt.

Stelle Dich vor den Laokoon und erkenn' in ihm den tiefen Geist der Ruhe des Sophokles. Er hat den Knoten der Begebenheiten wie der Schlangen geschlungen.

Wie der gewaltige Pheidias nur das Riesenmäßige liebte, so geht auch Äschylos über das Gewöhnliche hinaus, und sein hoher mächtiger Geist regt sich wie im alten Reiche die Urgötter. Die Gestalten des Sophokles haben die Rundung des vatikanischen Apoll;[37] aber sie sind noch keusch wie die Tochter Latonas. Im Euripides schweifen sie ins Weichliche, Üppige hinüber wie in den rundlich schwellenden Formen des Dionysos. Wenn der Blick an den übermäßigen Formen des Pheidias und Äschylos aufgehalten wurde, so gleitet er ruhig und selig über die liebliche Fülle des Sophokles und des Antinoos hin.

Es ist alles Einheit und Harmonie bei den Griechen.

Phaethon an Theodor [11]
[38] Phaethon an Theodor

Ach Theodor, warum bin ich so allein?

Sieh, ich weiß oft nicht, wo's noch hinaus will mit mir, wenn ichs denke. Da klopft, da glüht mein Herz, und mein Klavier ist dann mein einziger, mein schmerzlich süßer Trost. O, es ist etwas Großes, Göttliches, sein Inneres so ganz wiederklingen zu hören, wie's kaum von einer harmonischen Seele klingt.

Diese Fülle in meinem Busen und all das Sehnen! O Theodor, mein Herz blutet!

Wäre nur erst die Kunst meine Braut und die Welt die Rosenlaube, worin ich sie umarme! Aber ach, ich fühle mich noch so gering, und viele, die mich kennen, verstehen mich nicht.

Nach Taten dürst' ich wie nach dem stärkenden Labequell der erhitzte Wanderer.

Und was soll ich auch tun? Das Land, wo ich am liebsten wandeln möchte, steht da wie eine verlassene Welt.

[39] Kein Ahorn umschattet mehr am Ilyssos die heiligen Bilder der Nymphen und des Acheloos, und keinen schönen Jüngling bezaubert Sokrates, der göttliche, mehr an den grünen Ufern durch seine erhabenen Lehren. Artemis, die Keusche, spielt nimmer mit den Nymphen am lorbeerumwehten Eurotas. Wo sind die Tauben in Dodonas uralten Eichenwäldern und ihre wunderbaren Säulen? Die Götter flohen, und halbzerbrochne Säulenschäfte, verwitterte Marmorblöcke unterm Schatten der Platanen deuten allein noch schaurig auf die alten Tempel.

O, hinanrennen hätt' ich mögen das Olympische Stadion und siegen, Theodor, daß der Ölzweig meine Stirne kränzte wie ein Abendwölkchen die goldnen Bergesscheitel.

Warum erinnert mich auch alles daran, daß ich allein bin auf der Welt?

Vor einigen Tagen kam Johannes zu mir. Seine Miene war ungewöhnlich heiter; seine Gebärden hastig und munter. Mir fiel es auf. Es war ein schöner Morgen, und wir gingen ins Freie. Johannes ward immer reger und fast wild. Wir setzten uns endlich auf einem Hügel nieder. Lange waren wir still, und jeder erwartete, daß der Andere zuerst sprechen werde. Johannes, was ist Dir? sagt' ich leise. Er schwieg. Da ward ich noch stiller. Ich fühlte mich beleidigt. Der Unmut schwebte wie ein finstres Gewölke über meine Seele. Theodor, Du weißt ja, wie ich bin! Ich kenne kein Maß, und weil mein Herz so unbegrenzt liebt, so fordr' ich es auch von andern. Ich stand auf und sah den Hügel hinunter.

[40] Da fühlt' ich ihn an meinem Hals und seinen Arm wütend um mich geschlungen. Ich sah ihn an. Die ganze Fülle seiner Seele schwamm in hellen Tropfen durch sein Auge. Phaethon! schluchzt' er, ich lieb' ein Mädchen, und sie liebt mich wieder! Ich sah ihm durch alle Winkel seiner Seele und preßt' ihn an meine Brust und rief: Vergib mir, guter biederer Johannes, vergib mir!

Wir setzten uns. Er erzählte mir, wie sie einander lieben und wie so ganz eins sie seien und zusammenschlügen gleich zwei glühenden Flammen. In seinen Augen, voll von Tränen und vom sonnigen Lächeln der Liebe, glänzt' ihm wie ein Regenbogen die trunkene Begeisterung. Ich müsse sie sehen, rief er immer nur, wie schön, wie liebenswürdig sie sei.

Und wie ich heut etwas spät nach Hause kam und durchs Dorf wandelte, und alles schon still war, und ich an die große Linde kam, da tritt er mir entgegen und hat sein Mädchen an der Hand. Das ist sie, Phaethon! lispelt' er leise wie der Abendwind, der durch die Blätter der Linde säuselte. Die schöne kleine Blondine blickte verschämt zur Erde und wollte seine Hand fahren lassen; aber er hielt sie fest, und sie blickt' ihn jetzt so wunderbar an. O Theodor, ich habe noch nie die Liebe so in einem Auge gesehen! Ich gab dem Mädchen die Hand. Sie nahm sie schüchtern, und ich sah, wie sie die Hand des Geliebten ängstlicher und stärker drückte. Wir blieben noch fast eine Stunde unter der Linde sitzen. Lieber, o was ist all unser Treiben gegen eine solche Begeisterung! Du hättest[41] sie sehen sollen, wie sie da saßen, die Liebenden, Arm in Arm, und eins dem andern in das nasse Auge blickte! Theodor, ich habe die halbe Nacht durchweint.

Phaethon an Theodor [12]
[42] Phaethon an Theodor

Ich mußte einen Menschen kennen lernen, der auf sein Wissen sich gewaltig viel zu gut tut. O, wie sich die Menschen nur einbilden können, sie wüßten etwas. Das ist der Fluch unsrer Zeit, daß sie ewig nur belehren will mit geschichtlichem Wissen! Es ist sündhaft, so elend sein Leben zu verschleudern. Wo die Vernunft, der überirdische Funken, sonst frei aus ihrer Tiefe wie aus Apolls Priesterin Orakel sprach, da soll der tote Buchstabe ersetzen ihr Licht und ihre Kraft? Sie erkühnen sich auszumessen den Umfang der Sonne und vergessen drüber, wie die Heilige alliebend uns wie eine Mutter an ihrem Busen voll Wärme hält. Die Armen! Weil sie an der Flamme sich die Hand verbrennen, so fassen sie die Asche mit den Händen!

Und gleichen solche Menschen nicht dem Knaben, der Licht will, am Herd, auf dem das heilge Feuer brennt, vorübergeht, und die Lampe ins kalte Wasser taucht, worin gleich einem Traum das Feuerbild des Mondes schwebt?

[43] Was die Hand erschafft, wird nur durch sie bewegt. Ohne ihre Kraft ist es tot. Solche Menschen lieben das tote Werk mehr als die lebendige schaffende Hand.

Wenn's nur etwas zu scheiden, zu zerschneiden, abzuteilen gibt! Selbst das Unermeßliche messen sie. Wo etwas Ganzes, wo eine Fülle waltet, da kommen sie mit Fächern, Teilen, Geschlechtern, Arten und Gattungen. Ihr Toren! Warum zerspaltet Ihr den Körper? Wißt Ihr denn nicht, daß der Geist, das unsichtbare gestaltlose Wesen, Euch unter den Händen entwischt? Was wollt Ihr machen mit dem seelenlosen Körper, wenn Ihr ihn getrennt? Ihr hebt ihn auf als eine Mumie; denn das Tote liebt Ihr ja!

Das ist, wie sie's heißen, ein systematischer Weg. Aber wer faßt den Grundsatz aller Philosophie, den Einzigen und Ewigen, in Worte? Im Leben sucht ihn und nicht in Buchstaben, Zeichen und Zahlen! O, dieses verfluchte Wissen! Unselige Gesichte, Fratzen und Blendwerke läßt es dem Getäuschten wie Bankos Königsstamm vorüberschweben.

Die Wissenschaft ist gar nichts anders als ein toter Körper. Bringst Du den Geist, bringst Du Dich selbst nicht hinein, so hast Du ewig nur ein totes Maschinenwerk.

Was soll auch das ewige Lesen und Schreiben? O könnt' ich nur wirken, Theodor, und handeln auf eine schickliche Weise! Und glaubst Du mir nicht, eine sehende Begeisterung, eine glückliche Ahnung ist am Ende doch das Höchste?

[44] Jene ewige rege Spannkraft des ungeschwächten Geistes, die sich der Grieche aus seinen Gymnasien erwarb und aus der innigen Gemeinschaft mit der Natur, jene Harmonie des Körpers und des Geistes ist's, was uns soweit zurücksetzt gegen die Alten.

Freund, mit Einem alle meine Brüder zu umarmen, – und Brüder sind wir alle! – die Menschen sind, alle zu schließen an diese glühende Brust, undeins zu sein mit allen in einem Kuß, das ist mein göttlichster, mein menschlichster Gedanke!

O, die Harten, die auf dem Markte wandeln mit der Laterne und sagen, sie suchten Menschen und fänden keine! Sie sind keine Menschen; denn sie fühlen nicht menschlich. Das ist der törichte Übermut eines eingebildeten Narren, sich selbst allein für einen Menschen zu halten unter so vielen. Und das war möglich in Griechenland?

Der brave Mann, der seine Felder baut mit demselben starken Arm, mit dem er Weib und Kinder treu ernährt, sein angebetet Vaterland verteidigt, er ist als Mensch so viel wert als der bleiche Sohn des Wissens, und mag der Tor in seinem Wahn den frischen Sohn des Lebens auch verachten.

Phaethon an Theodor [13]
[45] Phaethon an Theodor

Es gibt eine gewisse Saite in meinem Innern. Wer sie zu stimmen weiß, hat mich gewonnen. Wer sie aber anrührt mit täppischen Händen, der läßt einen ewigen Mißklang zurück. Katon hat sie getroffen, der Verwalter der Gräfin. Gestern Nachmittag stand ich vor meinem Amor und glättete mit der feinsten Feile noch manche Härte. Der Geist meines Bildes schwebte mir in seiner Vollendung vor Augen. Da klopft' es an die Tür, und wie ich sie öffnete, stand ein Mann vor mir, groß, mit breiten Schultern, einer vollen Brust. Zwischen einem starken Bart lächelten ein Paar zarte Lippen hervor; aber das Auge sprühte dumpfe Funken unter den starken Brauen. Es war der Verwalter Cäciliens. Ich bot dem schönen stolzen Mann einen Stuhl.

Katon stand vor meinem Bild. Ich hatte meinen Arm gelehnt ans Fenster. Lange sah er stumm die Figur an. Ich wagte kein Wort zu sprechen.

Es wuchsen die Flammen in seinem Auge, und eine düstre Ahnung schwebte wie eine Wolke um seinen Mund.

[46] Ihr Bild gefällt mir! sprach Katon endlich. Ich errötete.

Wie bildeten Sie diese jugendlichen Formen? Haben Sie bei uns solche Natur gefunden? erwidert' er.

Nirgends! seufzt' ich, und ein unwillkürliches Ach! entfloh meinen Lippen. Er faßte mich fester ins Auge.

Nur unter Griechenlands gemäßigtem Himmel wandelten solche Naturen. Diese reiche Fülle gedeiht im Norden nicht, sagte Katon.

Griechenland! schluchzt' ich und sucht' umsonst eine Träne zu verbergen.

Junger Mann, versetzte Katon, lieben Sie die Griechen so sehr? Es war ein schönes Volk. Sie wußten zu leben. Auch ich stand unter den göttlichen Propyläen und war zu Misitra und sah des alten Sparta finstre Trümmer.

Diese Worte klangen mir wie Donner, und mein unmächtiger Schmerz ward zur zuckenden Begeisterung. Mein Auge muß es ihm gesagt haben, wie mir war. Katon ergriff meine Hand und drückte sie und sagte: Ihr Wesen gefällt mir! Der Geist des göttlichen Volkes weht in Ihrem Bilde. Ich war von Sinnen.

Katon setzte sich. Wir sprachen über die Griechen. Er lächelte über mein leidenschaftliches Wesen. Ich sah ihn an wie einen, der aus dem Grabe steigt, den Sterblichen die hohe Vorwelt zu verkünden.

O Theodor, diese Ruhe, diese antike Größe, die aus diesem Manne sprach! Wie so ganz verschieden von meinem wilden unstäten Charakter!

[47] Er sagte, die Gräfin könne nicht länger mehr warten, das Bild zu sehen. Sie werde in einigen Tagen mit ihrer Tochter ins Dorf fahren.

Er lud mich dringend ein, hinüber zu kommen ins Schloß. Es ist wahr. Warum hab ich's auch bisher immer unterlassen?

Die Gestalt dieses Mannes verläßt mich heut den ganzen Tag nicht. Ich möchte mich oft erzürnen, daß ich so allem Einfluß bloßgestellt bin.

Phaethon an Theodor [14]
[48] Phaethon an Theodor

Theodor, wir sind unsterblich! O, das ist ein großer Gedanke!

Mag auch der Himmel sich in Wolken hüllen, in ihrem Schoß des Blitzes Flammen kochen und niedersenden die Donner, seine Brüder, daß die Erd' erzittert, mag er die schwarzen hochgewachsenen Stämme mit Riesenkraft aus ihren Wurzeln reißen, mag auch sein Feuer den Leib, der sterblich ist, verzehren: er kann mich doch nicht töten!

Ich bin ein Funken der Flamme, die sich Gott nennt. Ich bin aus ihr entsprossen und kehr' einst wieder zurück zu ihr.

Darum ist mir auch das Winseln und Ächzen und Kriechen vor Gott so zuwider, das manchem Menschen für Frömmigkeit gilt. Warum sollt' ich mich auch meiner Schwächen und Menschlichkeiten schämen? Und tu ich eine Sünde, wenn ich menschlich bin? Ich kann nicht mit ewigem Zagen und Zittern, mit ewiger Furcht und Reue, daß ich ein Sünder sei, vor Gott treten. Mein Gott ist kein Gott der Zerknirschten. Er ist ein Gott der Lebendigen.

[49] Die Religion soll beseligen, nicht schrecken; uns zu Gott führen und nicht von ihm hinweg; in den Himmel und nicht auf die Erde. Sie ist das namenlose Gefühl der Entzückung, wenn wir in einer Stunde des Lichts die Gottheit küssen. Die Religion ist wie eine keusche sonnenweiße Jungfrau, die sehnend ihre Arme zum Himmel hebt. In ihrem Auge schauert die Träne einer ungestillten Sehnsucht. Um ihre Lippen spielt die Unschuld wie der West um eine nieberührte Rose. Ihr ganzes Wesen aber ist ein Geheimnis, und wehe dem Frechen, der's auszusprechen wagt!

Die wahre Religion und die höchste Poesie liegt in der Astronomie.

Ich bin nie entstanden und nie werd' ich untergehen. Wie kann etwas entstehn auf der Welt? Gott hat sie nicht aus nichts geschaffen. Alles, was ist, ist vom Anfang. 1

Das ist Knabensinn, zu glauben, die Erde gehe sobald wieder unter, da sie erst die wenigen Jahrtausende gewesen. Unsere Welt bleibt noch mehr als Millionen Jahre in ihrer Gestalt. Es wäre sonst zu kleinlich für den Riesenschöpfer.

Es gab eine Zeit, wo mir die Erde zu groß war für den Gedanken. Jetzt ist sie mir zu klein.

Oft wenn ich hinausblicke bei Nacht und brennen seh' am Bogen des dunkeln Himmels all die flammenden Welten und sehe, wie die eine wieder verlöscht und die [50] andere funkelnd hervortritt, wenn ich schaue jenes bleiche Meer von Körpern, das aus der Fülle der schaffenden Gottheit strömt wie aus den Brüsten einer Mutter, und erkenne den großen erhabenen Geist der Ordnung und Weisheit, der diese gewaltigen Riesenschöpfungen zusammenhält, wenn ich mir die Erde denke, wie auch sie, von jenen Sternen aus ein schwachglimmendes Pünktchen, im Ozean der Unendlichkeit schwimmt, und ich mir vorstelle, wie ich selbst gegen diese kleine Erde nur bin, was sie gegen die ungemessene Schar der sichtbaren Welten, ach, da möcht' ich mich zernichten, weil ich nur so ein kleiner Teil bin vom unendlichen All.

Und doch schwingt sich mein beflügelter Geist empor und schwärmt durch die Räume der Unendlichkeit wie Bienen durch die Blumen.

Und doch bin ich unsterblich und werd' einst mit allen meinen Brüdern, diesen unendlich kleinen Teilen der Weltseele, zusammenfließen in Eins mit ihr.

Es gab ja Menschen, die eine Welt aus sich gebaren, Urbilder der Menschheit, zusammenfließend mit Gott. Die neuere Zeit kennt nur drei solche Geister: Raffael, Shakespeare und Mozart.

O, denke Dir den Prometheus in der größten aller Tragödien an der himmelragenden Stirne des Kaukasus hängen wie eine kleine Welt im Raume der Unendlichkeit. Und wenn auch diese ewige Urkraft gefesselt ist an die starre Notwendigkeit, es lebt in ihr eine Fülle, die allen andringenden Gewalten ihren Busen voll Unsterblichkeit entgegenstemmt, mit der Titanenkraft des Willens selbst dem Ewigen trotzt und, wann zuletzt [51] die allverzehrende Flammenlocke herabgeschleudert wird, wann sich die Erde losreißt, aus der Wurzeln Fugen von der Windsbraut Hauch gerüttelt, da kann sie untersinken samt dem Felsen unterm wirbelnden Zusammenströmen aller Elemente, aber sterben kann sie nicht.

Fußnoten

1 Κοσμον τον αὐτων ἁπαντων οὑτε τες ϑεος οὐτε ἀνϑρωπων ἐπυιησε, ἀλλ᾽ἠ ἀει ἐδε και ἐται.

Aristoteles.

Phaethon an Theodor [15]
[53] Phaethon an Theodor

Sieh, das ist doch nicht recht, Theodor, daß ich so absterbe für jede unschuldige Freude und immer weniger Kind werde!

Es ist ein Fest heut im Dorf. Alles freut sich. Alleseine Seele! Die muntern Leute tanzen um die Linde. Überall klingen Flöten und Schallmeien. Ich saß wieder unter meiner Eiche. Der offene Platz um die Linde lag frei vor mir. Auch mein Johannes war unter der Masse. Nur ein paarmal sah ich ihn, wie er, seinen Arm um das schlanke Mädchen geschlungen, den fröhlichen Reigen tanzte. Alles, alles ein Jubel! Theodor, und ich nahm keinen Teil daran! Was sollt' ich auch unter ihnen tun? Mich liebt ja niemand! Es hätt' ihnen ihre Freude nur gestört, hätten sie den trauernden Jüngling gesehen. Und laß mich's Dir nur gestehn: ich sah ihre Freude mit Neid, wollte mich zwingen, traurig zu sein, und wäre doch so gerne fröhlich gewesen.

Ach, glücklicher Johannes! seufzt' ich, hättest Du ein Königreich zu Deinem liebenden Mädchen und ließest [53] mir die Wahl, was ich möchte: ich nähme das liebe zarte Geschöpf.

Und ich ward wieder still. Ja, ja, rief ich dann wieder aus, ich will mir's nur recht oft vorsagen: ich bin ungeliebt, ungeliebt!

Ich war wie aufgelöst, konnte mich nimmer halten. Ich Armer weinte laut.

O Theodor, aus der Welt hätt' ich mögen gehen!

Phaethon an Theodor [16]
[54] Phaethon an Theodor

In ein paar Tagen bin ich fertig mit meinem Werke. Ich habe die Idee, nun die Polyxena zu bilden.

Der ganze Geist der Griechen weht durch diese Dichtung. Der Peleione liebt die schöne zarte Phrygerin. Am Brauttag muß er niedersteigen in des Hades Reich. Priams Veste fällt, und ihre schwarzen Trümmer starren wie schaurige Geister aus der Asche. Da steigt der Äakide wieder aus dem Grab, vom Gold der Rüstung seine Felsenbrust umschimmert, und zürnend will der große Geist zum Opfer die Geliebte. Die heldenmütige Schöne kniet, enthüllt dem Mordstahl ihren reinen Busen und sinkt für Hellas Wohl wie die Abendsonn' ins goldene Gebirg in voller Jugendanmut in ihr Grab.

Welch liebes Herz, welch rührende Gemütskraft liegt in dieser stillen Ergebung!

Sie müßte knien mit einem Fuß. Ein leicht Gewand umhüllte sie in sanften Falten. Der obere Teil nur wär' entblößt. Eine Hand zeigte auf den nackten jugendlichen Busen, die andre müßte sich bedeutsam senken. Vom rundgewölbten Nacken aus erhübe sich [55] der zarte Hals, und das kleine von langem Gelock umflossene Haupt richtete sich vorwärts mit einer rührenden Bewegung.

Am meisten macht mir Sorge, ob ich irgend ein Modell bekomme.

Phaethon an Theodor [17]
[56] Phaethon an Theodor

Ach, das fühl' ich wohl: ich gedeihe nicht unter diesem Himmel. Hinüber möcht' ich, wo der schöne Lorbeer wie eine heilige Priesterbinde die besonnten Hügel deckt, hinüber, wo der Mandelbaum die Silberblüten wie Flocken Schnees zum blauen Äther sendet, wo sich die Tränenweide traurig an den Ufern in spiegelklare Wasser senkt wie das nasse Aug' in die Tiefen der Vergangenheit, hinüber, wo die volle Frucht der Trauben so schwellend an der Sonne Liebesfülle glüht, wo die Natur in ihrem stillen Geist aus tausend Blumen, tausend Quellen hold wie der Säugling aus der Wiege lächelt, hinüber, wo die Menschen um die warme Erde sich wie Pflanzen schlingen, wo die Natur gleich schön ist, wenn sie durch die sanften Gründe den Bach wie holde Silberstreifen zieht, wie wenn sie aus den hohen Riesenfelsen, wo nur des Adlers kühner Fittich rauscht, die dunkeln Schauer ihres Geistes weht, wie wenn sie hohe schneeumhüllte Gipfel der alten Berge mit dem Rot der Abendsonne wie eines Greisen Haupt mit Rosen überwebt, O hinüber, hinüber! All mein Sehnen, all mein Schmerz würde enden.

Phaethon an Theodor [18]
[57] Phaethon an Theodor

Mein Amor ist fertig. Wie ich die Feile aus der Hand gelegt, ach, Theodor, es war ein wunderbar Gefühl! O jene schlaflosen Nächte, wo mir der ewig wiederkehrende Gedanke die Wonne eines süßen Schlummers raubte! Sie sind belohnt, belohnt durch den einzigen Augenblick, wo das Werk, wie durch sich selbst erschaffen, vor meinen Augen stand.

Phaethon an Theodor [19]
[58] Phaethon an Theodor

Alles, alles, Theodor, alles ist anders! Meine ganze Seele ist voll von Einem.

Gestern wollt' ich Dir schreiben. Ich konnte nicht.

Was war all mein Wesen bisher? Ein elend unbedeutend Stümperwerk! Wem zulieb hab ich gearbeitet? Hab ich eine Empfindung gehabt, eine, so lang ich lebe, gegen die, die jetzt wie der Äther, der ewige unveränderliche, mich umweht? Alles, alles war nichts!

War mir das Leben bisher mehr als der Diamant, der leuchtet, aber nicht erwärmt? Ach ganz, ganz hat meine Ahnung sich enthüllt! So mußt' es kommen.

Ich träumte wohl schon von solcher Seligkeit, aber das Erwachen war mein größter Schmerz. Und das ist wirklich, wahrhaft!

Sahst Du die Natur, wenn vom heiligen Himmel die düstern Regenwolken wie finstre Träume flohn, und durch das hellzerrissene Gewölke die Sonne wieder brach, die alte ewigschöne, und von den Blättern die Tropfen träufelten wie milde Tränen, und alles, alles [59] übergössen war vom Leben einer Schöne? So denke Dir mein Wesen!

O Gott, Gott! Noch sind meine Augen wie geblendet von all dem, was ich gesehn, was mich umgeben.

Und kann ich's Dir sagen? Ach, kann ich denn dem Augenlosen beschreiben das Bild der Morgensonne, wenn sie sich erhebt über die umschleierten Berge wie eine Braut? Soll ich nicht schweigen wie sie?

Ich will sprechen, Theodor. Ich will sprechen!

Gestern Mittag saß ich vor meinem Bild und sah es an wie die Mutter ihr Kind. Ich hatt' es umkränzt mit frischen Rosen, die mir Johannes gebracht. Ein stiller Geist umwehte mich. Ich schaukelte meine Seele in süßen Träumen auf und ab und dachte mich zurück in die schönen Zeiten der Griechen. Da hört' ich einen Wagen in der Nähe. Ich sprang ans Fenster. Er kam und hielt vor meinem Hüttchen. Ich wußt' es, wer es war. Ich sprang hinaus zur Türe. Meine Seele war umnebelt von einer niegefühlten Ahnung wie die grauen Berge, wann die letzten Schatten der Nacht um ihre Stirne schweben.

Ich stand am Wagen. Ach Theodor, soll ich da nicht eine Lücke lassen? Nur mein Auge könnt' es Dir sagen, wenn Du bei mir wärest.

Eine Frau schwang sich heraus von schlankem hohem Wuchs wie eine Juno. Ein langer weißer Schleier floß wie zarte Luft von ihrem Haupt herunter. Ihr erster Anblick forderte Verehrung. Ihr folgte eine weiße Gestalt. Die Zarte zitterte, und Katon hob sie schüchtern herab.

[60] Gott! Mich überlief's!

Theodor, ich kann's nicht schildern. Erlaß mir alle Worte! Ich kann's nicht schildern. Die höchste Schönheit läßt sich nicht beschreiben; die höchste Schönheit fühlt man nur.

Wer nie noch die Natur gesehen im Morgenglanz ihrer himmlischen Schöne und nun zumal in ihrer höchsten Fülle sie vor sich sieht, die seelenvolle, die alliebende, und trunken in den Äther schaut, den unergründbar tiefen: so, so war mir's, wie ich sie sah vor mir stehn.

Wie der selige Geist aus dem dunkeln Grabe zum Himmel sich hebt, so quoll ihr schwarzes Auge schauernd aus den Wimpern.

Vergleich' ich sie mit der zarten aufschwellenden Rose, die keine Berührung leidet, die ihre glühenden Blätter öffnet wie weiche Mädchenwangen? Ihr ganzes Wesen war wie ein einziger Kuß der Liebe.

Ich stand da, besinnungslos, wie der finsterliebliche Mann die Bebende herabließ; und wie ferne verklingende Akkorde tönten endlich seine Worte: Gräfin Cäcilie und Atalanta, ihre Tochter!

Theodor, diese Schönheit! Dieses holde keusche Lächeln einer unschuldsvollen Wange! Dieses große schwarze Ätherauge in dem reinen blendendweißen Angesicht! Diese weiche Zartheit in der schlanken Gestalt! Es ist alles, alles umsonst. Ich kann's nicht schildern.

Ich weiß nicht, was ich sprach. Mein Blick war starr zur Erde geheftet. Katon schüttelte meine Hand. Ach, und warum mußt' er das tun? Meine Verwirrung[61] ward nur größer. Die Frauen traten in das Hüttchen. Katon folgte mit mir.

Noch hatte sie nichts gesprochen; aber ihre ganze Seele schwamm im Auge wie das Bild des reinen Himmels im klaren Wasser. Sie standen vor dem Bilde. Mein Blick hing feuertrunken an ihr, wie sie da stand vor dem schönen aufquellenden Jüngling, der seine Augen niedersenkte wie überrascht von solcher Schönheit.

Katon saß am Fenster und schien sich zu freuen. Die schöne Cäcilie schwieg lange. Dann sprach sie. Ach, in einem einzigen seelenvollen Blick war all meine Mühe belohnt.

Atalanta schwieg immer noch. Sie hatte ihren Arm gelehnt auf die Schultern Cäciliens, und ihre Locken, dunkel wie ihr Auge, flossen über den weißen Hals. Ihr Köpfchen lag am Busen der höheren Mutter, und ihr Auge ruhte fest auf dem jungen Gotte.

Und einmal blickt' ich sie an, und Fieberhitze brannte durch mein glühendes Auge. Da trifft sie mich. Ich fühlte die ganze unendliche Schönheit ihrer Seele, und eine flammende Röte goß sich über ihre schüchternen Wangen. Lieber, mir wankten die Knie!

Mein Blick fiel auf Katon. Sein Auge irrte unruhig umher und ruhte zuletzt auf dem Mädchen, und ich sah, wie er mich anblickte. Was sollte das bedeuten?

Ich übergeh' alles Folgende. Und wie sollt' ich das Entzücken schildern, das mich überwallte, wie ihre Lippen sich bewegten und sie sprach, und jedes Wort wie ein Lichtstrahl durch die Nacht in meine Seele fiel?

[62] Nur das noch! Wie sie aufstand und vor meinen Homer hintrat, und ich das junge blühende Gesicht neben den saftgrünen Traubenblättern am offenen Fenster sah und neben dem ernsten heiligen Alten, und ihre vollen weichen Mädchenwangen wie zwei Küsse glühten an den bärtigen Wangen des Sängers, und ich fühlte, wie's ihr war in diesem Augenblick, ach, da hätt' ich ihr mögen zu Füßen sinken und meine Seele strömen in die ihre.

Und wie sie endlich mich fragte: Warum krönen Sie ihn nicht auch, den lieben Guten? und ich die Rosen nahm vom Haupte des Eros und sie flocht um die weißen Locken des ruhigen Homeros, wie ich sie dann anblickte und fragte: Ist's recht so? und sie lächelte und dem Alten den Kranz noch tiefer in die Stirne drückt' und wieder schwieg, da, da verstand ich sie ganz, und ihr Blick war wie warme glühende Maiensonne.

Und höre nur! Griechische Worte klangen von ihren Lippen! Die Sprache Homers, herausgewogt aus lächelnden Mädchenwangen!

Katon war in sich gekehrt und ergriff endlich meine Hand und fragte: Wollen wir nicht ins Freie? Mir fiel der Hügel ein an meiner Hütte. Wir stiegen hinauf. Auf dem grünen Rasen droben setzten wir uns unter meiner Eiche. Ich erzählte, wie ich diesen Baum lieb habe, wie er so alt ist und doch noch jeden Frühling wie ein Jüngling blüht, und was ich da genieße und empfinde, wie ich so oft daliege, wenn die Sonne untertaucht, und mein strebender Geist ihr [63] dann folgt und wie in einem Bad im Abendrot sich kühlt.

Cäcilie stand auf und mit ihr Atalanta. Das Mädchen schlang die Arme um die schöne Mutter wie junge Blumenranken um eine schlanke Säule, und liebend sahn sie einander ins Auge und dann wieder hinüber in die Ferne, unendlich wie ihre Liebe.

Sie setzten sich nieder. Katon ward immer stiller. Ein schwärmerisches Feuer glüht' in seinem Auge. O Theodor, wie wir da saßen im Schatten der ehrwürdigen Eiche, die Tochter wie ein liebend Kind an ihre Mutter geschmiegt, und der finstere bärtige Katon, das umlockte Haupt auf seine Arme stützend, und ich zu seiner Seite, vergehend im Anschaun dieser wunderbaren Wesen!

Da sagte Katon: Schön ist's hier auf diesem Hügel, liebe Kinder. Doch ach, es ist noch nicht das Schönste. Er schwieg. Dann seufzt' er: Griechenland!

Ich sah ihm starr ins Auge. Er fuhr fort:

Ja, Griechenland, wo Myrte, Lorbeer und Zypresse wie Schwestern nebeneinander grünen, wo der schönen Flora Kinder um warme volle Hügel sich wie um den Busen eines Mädchens schlingen, wo an den Blumenufern, die die Lilie sanft umblüht, der heitere Fischer ins Gewässer blickt, wo zwischen grauen Säulenkapitälen und altem moosbewachsnem Gestein wie ein trauernder Geist die Wehmut wohnt und die stille Betrachtung, wo um hohe Felsenadern sich der Efeu rankt und die kahlen Gipfel wie ein Eichenblatt der bunte Schmetterling umflattert, wo tausend lodernde[64] Kaskaden wie blaue Bänder über Felsen sprudeln. O Kinder, noch ist mir's, als ob ich stünde auf Akrokorinth, und das ganze schöne Land läge vor meinem Auge wie ein entschleiertes Geheimnis, des hohen Argos Gebirge, Achaia, Sikyon, die Häupter des Riesen Taygetos, im milchweißen Schimmer der Sonne glänzend, der Titane Parthenios, die dunkeln Küsten des waldigen Lakoniens, das kampfberühmte Salamis, Megara und das priesterliche Eleusis, die gewaltigen Scheitel des wilden Kithäron, in dessen Schluchten einst der Labdakide weinte, Athens berühmter Peiräeus, der Epidauros und Kalaurea!

O Theodor, alle meine Nerven waren angespannt, und ich sank weinend in den Schoß des Glücklichen, und alles schwand vor meinen Sinnen, was um mich war. Da legt' er seine Hände auf mein Haupt und sagte: Junger lebhafter Schwärmer, auch Du mußt einst nach Griechenland wandeln! Ich fühlte ganz, ganz diese Sehnsucht in seinem Busen, und wie von Berg zu Berg erklang's von seiner Seele zu der meinen.

Da blickt' ich wieder auf. Das schöne Mädchen hatte die zarten Arme auf der Mutter Schoß gestützt, und das Haupt ruhte auf den kleinen Händen, und ich sah sie glühen vom Purpur der Abendsonne wie eine Aurora und mich anlächeln. Theodor, da war mir's, als wäre sie's, was ich geahnt, gewünscht; als hätt' ich nach ihr so oft geweint und mich vergeblich nächtelang gesehnt. Da war aller Mißklang weg aus meiner Seele, und in meinem tiefsten Innern klang's: Nur sie, nur sie!

[65] O, auch sie mußt' es fühlen, wie mir's war in dieser Stunde. Denn sie blickte holderrötend nieder, so oft mein fieberschauernd Auge sie traf.

Die Sonne war hinunter, und Atalanta fragte: Gehn wir nicht nach Hause? Cäcilie lächelte und stand auf. Sie schwebten den Hügel hinunter. Wir Männer folgten.

Nun sprach man erst vom Amor. Cäcilie will ihn haben sobald als möglich, und auch Atalanta blickte mich lieblich bittend an. Morgen läßt sie ihn abholen, und ich gehe mit hinüber.

Erst wie die Gräfin Abschied nahm, faßt' ich sie fester ins Gesicht und sah ihr glühend schwärmerisches Auge. Wie liebt sie ihr zartes Kind, diese lebhaft ahnungsvolle Seele! Sie gingen auf den Wagen zu. Mein Busen klopfte. Ich glaubte, Atalanta kehre sich nimmer um; aber ich durfte sie noch einmal sehen, und mein Auge flog wie ein Pfeil zu ihr hinüber. Ach, wie mir war, als Katon ihr die Hand gab und die Liebliche in den Wagen schwang! Die andern folgten, und der Wagen rollte fort. Ich kehrte schwindelnd zu meiner Hütte.

Phaethon an Theodor [20]
[66] Phaethon an Theodor

O Theodor, ich mußte sie sehen, wenn ich nicht zu Grunde gehen sollte.

Es schlief in meinem Innern wie im Stein die Flamme, wie der unsichtbare Keim in der Erde, der warmen allnährenden Mutter.

Heut hab ich einen wunderbaren Tag. Meinen Johannes sah ich nicht seit einigen Tagen. Ich rannte durch die Felder und wußte nichts von all dem, was mich umgab. Dann formt' ich wieder am Ton zu meiner Polyxena. Dann küßt' ich die Rosen an der Stirne Homers, die sie berührt mit ihren Fingern, und lesen mocht ich gar nicht. Ach, und morgen, morgen!

Phaethon an Theodor [21]
[67] Phaethon an Theodor

Der Schlaf floh mein Auge. Ich durchwachte die halbe Nacht. Ihre zarte Seele schwebte über mir, lächelte mich an, bebte durch mein ganzes Wesen wie mit einem Kusse. Erst gegen Morgen sank ein leichter Schlummer auf mich herab wie ein zartes Taugewölk. Als ich meine Augen öffnete, war's lichter Tag. Ich hatte mich in seligen Träumen gewiegt.

Schon gestern Abend ward mein Amor hinübergetragen. Ich machte mich nun auch auf den Weg. In einer halben Stunde kam ich an einen waldigen Abhang. Der allein verdeckt das Schloß der Gräfin. Ich säh' es sonst von meinen Fenstern aus. Dort lebt sie, dort, die Zarte, Sinnige. Dieser Gedanke bebte zuckend durch mein Tiefinnerstes. Lange saß ich auf einem abgebrochenen Felsenstück und schaute stumm hinüber, und Gott weiß, was ich mir dachte.

Ich stand vor dem Schloß und wußte nicht, wie ich hinkam. Mir war's, als stünd' ich mitten in der Welt der Griechen. Zwei Gebäude traten mir ins Auge. Zwischen dem Hellgrün schlanker Akazien und [68] wilden hohen Rosengebüschen ragte wie eine Ruine ein altscheinendes Häuschen empor mit roten Steinen, und ringsum trugen graue Säulen des Daches niedre Wölbung. Alte moosumwachsne Marmorblöcke, zerbrochne Architrave lagen unter dem jungen frischen Baumgezweig, und am Eingang vornen stand zu jeder Seite die Statue eines griechischen Weisen. Ihm gegenüber war ein Haus von heitrem schönem Geist; von allen Seiten war es frei, und eine edle rührende Einfalt schien jeden Stein an den andern gefügt zu haben.

Ich fühlte die ganze Bedeutung des wunderbaren Gegensatzes. Das Alter ruhte freundlich neben der Jugend, und die Vergangenheit lag hold der Gegenwart am Busen. Ich ging an der Statue vorbei mit einem geheimen ehrfurchtsvollen Schauer und öffnete eine Tür. Katon stand vor mir.

Grüß Dich Gott! rief er. Wie gefällt es Dir bei uns? Ich wußt' ihm nichts zu antworten und deutete nur mit einem schmerzlich wehmütigen Blick auf die Arabesken, die oben an dem grauen dunkeln Getäfer in seltsamen Gestalten hingen. Da schlangen sich geflügelte Liebesgötter um die Blumen wie Brüder. Hier lag ein schöner Knabe und las die schwellenden Früchte auf, die ein noch schönerer aus einem Füllhorn goß. Da schlang einer ein Band um die Mähne eines Löwen. Und dort schüttelt' ein anderer mit schalkhaftem Lächeln einen Köcher. Wo bin ich, seufzt' ich leise. Katon antwortete: Lieber, Du bist bei uns!

Ach, wie mir's war in dieser Umgebung! Das Licht brach nur in matten Strahlen durch das Akazienlaub[69] am Fenster und warf einen ungewissen halbdunkeln Schein auf die antiken Bilder und die griechischen Inschriften an den dunkeln Wänden. Da schien jeder Hauch mir heilig zu sein, und die Brust schwoll ahnend in Betrachtung all der Fülle von Einfalt und stiller Größe.

Bald ergriff mich Katon an der Hand, führte mich schweigend wieder hinaus und ging mit mir auf das schöne freundliche Gebäude zu. Da wohnt Cäcilie, sagt' er, und Atalanta! Mir war's, als sollt' ich in das Heiligtum der Ordnung und der Schönheit treten. Den Eingang zierten ein Paar schlanke Säulen. Ein verwelkter Kranz lag an der Vase der einen. Mit jedem Tritte ward ich feierlicher gestimmt.

Da standen wir vor einer weißen Türe. Katon öffnete sie, und – mir raubte das Entzücken alle Sinne – Atalanten sah mein Auge.

Geist und Gemüt wie entzückte liebende sich umarmende Kinder wirbelten hinan, küßten sich, verloren sich wie blaue fromme himmeltrunkene Augen in unermeßlichen Fernen.

Sie saß am Fenster. Ihr Köpfchen lag auf den nackten Armen. Ihre Locken flossen wie Wellen über den Nacken. Ein weißes Gewand umschwebte wie eine dünne Wolke die schönen jungen Glieder. Zu ihren Füßen stand ein Korb mit frischen Blumen und Früchten. Sie sah sich um und erblickte mich. Theodor, dieses Engelsauge, das lieblich überrascht auf den jungen Busen sich senkte, und die sanften Worte, die wie Lautenklänge sich schmeichelnd in meine Sinne drängten, und das schüchterne Erröten der Jungfrau auf den [70] vollen Jugendwangen! Und ich sah das und hielt's aus?

Die Mutter will ich rufen, sagte sie verschämt und eilte schnell und leicht wie Artemis durch eine Türe.

Cäcilie kam und brachte die Tochter wieder mit. Katon bot mir einen Sitz.

Saß ich nicht wie unter den Uranionen? Durch die hohen Bogenfenster lag das weite Tal vor uns mit seinen Dörfern und den hellen Gründen und den niedern Hügeln, und der trunkne Blick drang wie über die Schranken der Gegenwart über die fernen Berge hinüber. Ach, und wenn ich so hinausstarrte und dann wieder zurücksah auf die schönen Wesen, die mich umgaben wie unsterbliche Götter, und ich Atalanten ins Auge blickte, und sie lächelnd den Korb mit Früchten mir reichte, und ich einige nahm davon, frisch und jugendlich wie ihre Wangen, und sie zum Munde führte, da fühlt' ich, wie ich ewig, ewig sie im Busen trage müsse.

Katon schlug vor, in den Garten zu gehen. Atalanta band die langen Locken auf dem Nacken zusammen mit einer blaßroten Schleife und nahm die Mutter an der Hand und sagte: Ja, Mutter, wir wollen gehen! Es ist schön im Garten jetzt!

Wir gingen an Katons wunderbarem Säulenhause vorüber. Ich mußte rückwärts blicken, und das jugendliche Schlößchen mit den großen Bogenfenstern gegenüber von dem alten, so ehrwürdig aus den Trümmern sich erhebenden Gebäude kam mir vor wie die schüchterne blühende Tochter vor dem grauen alten Vater.

[71] Plötzlich stand ich wie in einer Welt voll Wunder. Eine kleine Wiese mit weißen Lilien hatten wir noch vorbei zu wandeln. Dann umfing uns ein wildes Rosengebüsch; aus dessen Mitte ragten wie graue Geister drei schlanke Säulen, die eine niedrer als die andre, und auf dem grünen Boden lagen Architrave mit ihren Stäben und Platten, von grünem Efeu umschlungen. Katons Mausoleum – so nannt' er mir sein Haus – lag tief versteckt von hohen Maulbeerbäumen.

Jetzt ergriff der wunderbare Mann mich an der Hand. Wir gingen auf eine grüne Anhöhe zu. Ein kleines Wäldchen von Orangen wölbte sich vor uns. Atalanta flog hinauf. Die schönen braunen Locken flatterten in den Lüften. Ein Meer von Wohlgerüchen strömt' auf uns. Da erblickt' ich einen kleinen Tempel auf der Höhe. Mein Aug' erkannte zwei Gestalten droben. Da klopfte, da schlug mein Busen! Atalanta war's, die Liebliche, und die andre war mein Amor.

Katon! stammelt' ich und weiter nichts. Er lächelte mich an. Drei Marmortreppen führten zu der Statue. Das niedre Tempeldach war nur getragen von sechs Säulen, und am Portale stand geschrieben: Der Liebe!

Mit Staunen blieb ich stehn vor meinem Bild. Ein Kranz von frischen grünen Akazien, Veilchen und Rosen wand sich um seine Schläfe. Er sah gegen Morgen.

Wir saßen auf dem Rasen. Drunten lag ein spiegelklarer See, von dunkeln Trauerweiden, Tannen und von kleinen weißen Bildern umgeben. An seinen Ufern schaukelten die Winde einen angebundnen Kahn [72] in den Silberwellen. Drüber hinein lag das Waldgebirg und die Burg.

Und lange schwiegen alle. Atalanta sah auf die Blumen zu ihren Füßen. Ihr weißer Hals war zart gebogen wie ein schlanker Zweig. Die Weste spielten mit ihren losgewundenen Locken.

Da blickte Cäcilie die gekrönte Statue an und dann mich mit ihrem lichten Feuerauge und sagte: Warum krönen wir immer die Götter und nicht auch die Menschen? Ich fühlt' es, was sie wollte. Meine glühende Röte verriet mich. Doch schnell wie ein junger Baumsproß war ich aufrecht und nahm den Kranz vom Haupt des Gottes und drückt' ihn zitternd Atalanten in die Locken.

Ach, wie sie sich sträubte, die Bescheidene! Und wie, feuriger glühend als die Rosen auf ihrem Haupte, ein Hochrot ihr im schönen Antlitz brannte, und das große keusche Auge unter den grünen Zweigen dunkelschauernd sich bewegte und das meinige traf, und sichtbar das blaue Band erbebte vom Drang, der ihren zarten Busen schwellte, und meine zitternde Hand zum erstenmal ihr Haupt berührte – Lieber! – und von der Berührung alle meine Nerven in einem Wirbel bebten! Ach, warum bin ich ihr da nicht in den Schoß gesunken? Warum hab ich da nicht meine flammenden Lippen auf die ihrigen gedrückt und ausgeweint mein unendlich Gefühl an ihrem Busen?

Katons und Cäciliens Auge ruhte mit Wonne auf dem schönen Mädchen, und wie sie sich auch weigerte, sie mußte den Kranz auf dem Haupte dulden.

[73] Ach, Theodor, es war ein goldner Tag! Auch Katon speiste diesmal im Schlosse. Der Sonderling ißt sonst allein in seinem Mausoleum. Und sie! Welch eine Seele! Welch eine Fülle! Welch eine Unendlichkeit ihrer Gemütskraft! O, es wandeln noch Abbilder der höchsten Schönheit auf der Erde. Ich Armer glaubte, der alte Weise hab' übers Morgenrot hinausgeblickt.

Am Abend gingen wir allein im Garten auf und ab, ich und Atalanta. Es war schön, unendlich schön! Die Natur lächelt' uns an wie eine Mutter ihre lieben Kinder. Aus jedem Blättchen, jeder Blume, jedem Quell, aus jedem Grashalm sprach's: Die Welt ist schön! Mein ganzes Wesen war erfrischt wie die Wiese nach einem warmen Regen. Sie ging neben mir, die Schöne, Heilige, und öffnete keine Lippe, als wollte sie kein leises Säuseln in den Blumen überhören. Ihr Angesicht war wie ein sichtbar gewordener, gestalteter, Herz und Geist durchschauernder Klang. Ihr Busen schwoll der Natur entgegen wie eine Schwester der andern, und auf ihren Wangen wehte die Vorwonne eines großen heiligen Kusses. O dieser Augenblick! Keine Äonen wiegen ihn auf!

Alles, alles sprach zu unsern Herzen. Wie ein Säuseln des alliebenden Vaters klang jeder verwehende Windhauch. Ich hatte keinen Sinn mehr für alles. Ich dachte nur, was sie fühlte.

O Natur! sprach sie endlich, du Mutter mit deinen Blumen und Kindern! Allheilige! Welch ein Bewegen und Schwellen! Welch ein Säuseln und [74] Rauschen! Welch ein Wogen und Wiegen um und um! Liebe aus Allem! Liebe aus allen Kindern für sie, die Mutter! Liebe im Wasser! Liebe im Licht, wenn sie wallend sich küssen! Liebe aller Blumen und Kräuter, alles Lebendigen! Und Eins doch Alles! Er, der wandellose, alles durchquillende Geist! Alles in ihm! Und er in Allem! Gott!

Ich weinte, hatte keine Worte, sah ihr ins Auge.

Ein klares Gewässer sprang aus moosbewachsnem Tuffgestein und sprudelte wie eine dünne Säule übers wankende Gesträuch und wallte dann durch Ranunkel dahin. Die Kiesel, die er mit sanftem Quillen überhüpfte, blickten durch die Wasser wie Atalantas Seele durch ihr klares Auge.

Setzen wir uns nicht da nieder? sprach ich unwillkürlich und erschrak, wie mir's einfiel, ich habe die heilige Stille unterbrochen. Sie lispelte: Ja! und senkte nieder sich aufs Gras und stützte ihr niedlich Füßchen auf einen Stein, der aus den Wassern sich erhob.

Wie oft saß ich als Knabe so an den Ufern eines Baches! sprach ich und schaute zu, wie eine Welle nur die andre schiebt, wie alle, alle fort und immer fort sich drängen und endlich gar verschwinden und nie, nie mehr zurückkehren. O, da stampft' ich den Boden in meiner kindischen Wut und weinte bittre Tränen, wenn ich rief, sie sollen stehen bleiben, und die Wellen mir nicht gehorchten. Es ist schrecklich, daß die Stunden unsers Glückes eilen wie diese Wassertropfen!

Atalanta blickte mich an. Mir schien's, als taut' ihr eine Trän' im Auge. Sie brach eine Rose und [75] warf sie hinunter in den Bach. Schwimme hinunter! rief sie. Du Blume, Bild der Jugend!

Da warf auch ich eine Rose hinein und rief: So schwimmt miteinander hinunter, ihr Blumen, Bilder der Jugend! O, es ist süß, unendlich süß, wenn Eines mit dem Andern fühlt, und das Leiden an zwei Herzen schlägt wie an zwei Ufer die Welle!

Atalanta ward rot und blickte zur Seite. Ist Phaethon nicht glücklich? seufzte sie endlich und blickte mich dabei an mit einem solchen Auge voll Schmerz und Liebe, daß ich glaubt', ich säh' in einen offenen Himmel.

Er ist es nicht, Atalanta! rief ich und blickt' in den Bach. Phaethon ist nicht glücklich!

Sollt' es möglich sein? sagte sie. Die Welt ist so schön!

Ach, aber allein darin zu sein?

Allein, Phaethon? fragte sie und sah mich mit großen Augen an. Allein? Ist's nicht Undank? Wie lebt's und webt's in diesem Augenblick um uns! Das klare rege Wasser, die lieben Blumen, die wachsen und vergehn wie wir und lieben wie wir. Die Blätter auf den Bäumen, sie leben, und die Keime schwellen daraus und entfalten uns die lieblichen Früchte. Die Vögel in den Lüften, auf den Zweigen, die Fische im Wasser, selbst die Mücken, die uns umsummen, und die Grillen, die neben uns singen, und die Winde, die uns schmeichelnd die brennenden Lippen kühlen! Und aus all dem jene ewige Liebe, jenes ewige Leben und Glühen, jenes Werden und Sein, jene Fülle von Licht, wie ausgesprochen [76] sein Name, der Name des Höchsten, Unerschaffenen, der Geist des Lebens und der Liebe! Phaethon, wir sollten allein sein?

O Theodor, ich fühlt' es, wie sie recht habe, wie mich hingerissen mein namenloser Schmerz; ergriff ihre Hand, benetzte sie mit meinen Tränen und rief: Vergib mir, Atalanta! Mich hat mein Sehnen übermannt. Ich glaubte mich ungeliebt!

Das ist kein Mensch! sagte sie und zog ihre Hand sanft aus der meinen und stand auf. Ich folgt' ihr stumm.

Seitdem ist sie mir noch heiliger. Meine Worte meß' ich ab vor ihr wie vor einem göttlichen Wesen, zu dem man betet.

Was will noch werden aus all dem?

Phaethon an Theodor [22]
[77] Phaethon an Theodor

Alles, was ich tue, Theodor, das bezieh' ich nur auf sie, und ohne sie kann ich nichts denken.

Sonst hab ich Wald und Tal und Berg und Wiese durchwandert und mir weiter nichts dabei gedacht. Jetzt rauscht's in jedem Blättchen: Atalanta! In jeder Quelle: Sie!

Ich rase nicht, mein Lieber! Nicht wild und krampfhaft ist mein Gefühl. Ach, es umspielt mich leise, zärtlich liebend, und kühlt mir wie eine frische Quelle meinen brennenden Busen.

Ich weiß es, ich fühl' es: die Theorien der weisen Diotima im Symposion des göttlichen Platon sind das beseligendste Geheimnis.

Zwischen drei Welten schaukl' ich mich herum. Mit allen Bildern, zarten wie herben, schwebt mir die Vergangenheit am innern Gesicht vorüber. In der Gegenwart treib' ich mich so fort, und ahnungsvoll dämmern mir der Zukunft Bilder wie ferner Berge Nebelgestalten im magischen Spiele des Mondlichts.

[78] Mein letzter Gedanke, meine letzte Empfindung, die durch meine Seele schwebt, eh Geist und Körper wie ein Wiegenlied der Schlummer einlullt, knüpft sich an die Erscheinung lieblich bedeutsamer Träume, und diese wieder an die erste Regung, die beim Erwachen wie der Morgenstrahl durchs Fenster durch die Seele zittert.

Phaethon an Theodor [23]
[79] Phaethon an Theodor

Fast jeden Abend bin ich drüben. Ich bin schon halb zu Haus im Garten und im Schlößchen; nur in Katons Mausoleum nicht. Wenn ich einmal nicht hinübergehe des Abends, dann sitz' ich stundenlang in meinem Zimmer, lege mein Gesicht auf meinen Arm und höre meinem Pulse zu, und jeder seiner Schläge wallt für sie. Oder ich geh' auch auf den Hügel und setze mich an die Stelle, wo sie einst saß, und sehe die Sonne hinunter wandeln und strecke meine Arme aus nach ihr, als wollt' ich sie umfassen.

Und des Nachts träum' ich von ihr. Da halten wir uns in Armen wie unschuldige Kinder und sitzen auf einer Wiese unter schattigen Bäumen. Wir pflücken uns Blumen, und ich steck' ihr eine Rose an den Busen und drück' ihr dann einen Kuß auf den keuschen lieblichen Mund, und wir lächeln uns dann wieder an und liegen einander wieder an der Brust. Ach, und wenn ich dann erwach' und glaube, ich habe sie in meinen Armen: und es war nur ein Traum!

Phaethon an Theodor [24]
[80] Phaethon an Theodor

Du mahnst mich an, auch zu arbeiten. Lieber, das tu' ich. Ich gehe ja erst des Abends hinüber, und das nicht einmal jeden Tag.

Meine Polyxena ist längst skizziert. Ich habe sie schon vor einigen Tagen angefangen, in Ton zu arbeiten. Da sie kniet, wird ihre Höhe nicht beträchtlich.

Mit einer Hand hebt sie das Gewand unterm Busen. Der Faltenwurf und überhaupt die Stellung macht mir Mühe. Am meisten aber noch macht mich das Haupt verlegen. Die Skizze schon hat Ähnlichkeit mit Atalanta.

Ach, Theodor, ich kann mir sie nicht anders denken! Atalanta wird erröten, und sollt' ich's nicht noch mehr?

Phaethon an Theodor [25]
[81] Phaethon an Theodor

O, im Freien ist mir so schmerzlich wohl. Und ist's nicht natürlich? Du reine heilige Luft, du umsäuselst mich ja, ewige, endlose! In deinen Armen ruhet die Erde wie der Säugling im Schoß der Mutter! Du küssest die jähen Riesenstirnen einer Felswand wie das bescheidene Blümchen, das um eine Quelle wankt. Du bist's, die tausendjährige Eichenstämme mit starkem Arm an ihrer Krone faßt und aus der Wurzel die gewaltigen wirbelt; du bist es, die in kindisch-heiterm Spiel um eines Mädchens Locken wie um eine volle Rose weht! Mutter, alliebende, du kühlst mir wie das Flüstern einer fernen Ahnung oft die heiße Stirne und legst dich schmeichelnd an meinen glühenden Busen. Nach dir dürsten alle Wesen, du Allernährende! Ach, und sie hast du liebend schon umfangen, als sie, ein harmlos lächelnd Kind, an ihrer Mutter Brüsten lag und in der Wiege mit farbigen Blumen spielte. Und jetzt noch küssest du die vollen Wangen der Jungfrau, und sie errötet nicht, denn deine Lippen sind keusch. Du Reine, du bist ja die erste, die den Menschen [82] mit freundlichen Armen umfaßt, wenn er eintritt in die Welt, und du bist's, die den letzten verklingenden Seufzer von seinen Lippen nimmt, Göttliche, Anbetungswürdige!

Phaethon an Theodor [26]
[83] Phaethon an Theodor

Was sind das für wunderbare Menschen! Unbegreiflicher werden sie mir jeden Tag. Ich komme mir so klein vor unter diesen dreien. Und doch ist Katon der Rätselhafteste. Er schweigt schon lange von seinem Griechenland und nannte nicht einmal den Namen. O, es ist eine Wonne, zu stehen vor dieser erhabenen Gestalt! Diese dunkeln verglühenden Augen und der verbissene Schmerz darin, diese ernsten Falten in der gewölbten umlockten Stirne, dieser finstere Bart, aus dem die schönen Lippen lächeln wie der Mond durch ein krauses Wölkchen, dieser stolze Hals auf den breiten Mannesschultern! Und sein seltsam unerklärbares Betragen gegen Atalanta! Ich sah's schon, wie er vor ihr stand, und die Schöne, Liebliche an ihm hinaufblickte. Da glühte sein Auge und drehte sich schmerzlich in den großen umbuschten Bögen. Dann legt' er seine Hand auf die Stirn und kehrte sich um.

Schon etlichemal wollt' ich spät abends noch zu ihm und fand ihn nicht. Cäcilie schüttelte geheimnisvoll das Haupt, wie ich sie fragte, wo ich ihn finden[84] könne. Ich weiß nicht, was das ist. Aber gewiß ist's: diese Männerbrust trägt einen fürchterlichen Schmerz.

Und warum hab' ich ihn nicht schon gebeten, mir alles, was er trage, zu gestehen? Ach, Theodor, ein einziger Blick des Hohen weist mich zurück.

Phaethon an Theodor [27]
[85] Phaethon an Theodor

O wenn ich ihr so nahe wäre, so nahe, daß ich ihr um den Hals fallen könnte!

Ach, was ist's mit all unsern Wünschen? Wir wünschen nur, daß uns das bißchen, das wir haben, auch entleide. Und warum bin ich denn nicht zufrieden, so um sie zu sein, wie ich bin? Ist denn das nicht genug? Was fordert dieses Herz noch?

Wie geläutert ist mein ganzes Wesen in ihrer Nähe. Und wenn ich sie einmal von ungefähr berühre, da zuckt es wie ein Blitz durchs Innre, und ich fahre zusammen und blicke sie an, als wollt' ich um Vergebung flehen.

Ich mag gehn, wohin ich will, sie wandelt mir zur Seite wie mein Genius. Lieber, ich könnt' ihr nimmer vors Auge treten, hätt' ich etwas Schändliches begangen. Ihre Augen können aus mir machen, was sie wollen.

O Theodor, wie viele meiner Brüder gehn verloren durch schwelgerischen Sinnengenuß! Die Wollust weht durch ihre Seele wie der Hauch versengender[86] Winde und verzehrt die edle Kraft. Brüder, der Inbegriff Kunst, füllt er nicht Euer Innerstes an mit seiner Heiligkeit Fülle? Und Euer Auge, das befleckte, glaubt Ihr, es werd' anschauen dürfen die Schönheit, wenn sie herabsteigt vom Himmel in ihrer Klarheit in den Stunden der Ahnung, und die Fülle des Gesichts wie ein Lichtmeer den heilig-bebenden umwallt? In Eurem Busen schlägt die Stimme Gottes, wie sie schlägt im Busen eines Künstlers? Ihr wollt mit unheiligen Händen den Schleier lüften vom Bilde der Isis und schaun die Urbilder, wie sie weben in Gott in wandelloser Schöne? Ihr Unreinen wolltet Priester sein der heiligen Kunst, die eine Verkündigerin ist der göttlichen Vollkommenheit? Nicht der geübte Meißel macht den Künstler. Der Drang von innen, der erklingt wie eine Stimme von Gott, die heilig schaffende Kraft im vollen Busen, die brünstige Liebe des Ewigen und die geheimnisvolle Anschauung der Gottheit in ihrer Reinheit und Größe! Wißt Ihr nichts von dem, so ist Eure Kunst nur ein Handwerk. Umsonst ist's dann, wenn ein Abbild Euch erscheint der unendlichen vollendeten Schönheit. Entheiligt ist Euer Auge; erloschen seine Kraft, und Ihr könnt das Göttliche nimmer erkennen im Menschlichen.

Und ich kann das, Theodor! Ich sag' es Dir in heißen Tränen: Ich kann das! Mein Busen ist keusch! Das Göttliche flieht mich nicht.

Atalanta, Du Schöne, Du reines unschuldiges keusches Kind, welch ein namenloses Etwas quillt mir aus Deinem Anschaun!

[87] Kraft mit Kraft, Auge mit Auge, Liebe mit Liebe, Geist mit Geist, hinüberschwimmend, verloren in lauter Tiefe, in lauter Seele, lauter Himmel, zuckend und zitternd in Einem wie Kuß und Kuß, in einander lodernd wie Feuer und Feuer ... Bruder!

Phaethon an Theodor [28]
[88] Phaethon an Theodor

Ich habe die Sakontala mit ihr gelesen. Theodor, zu sehen, wie die Tochter Kauschikas und der himmlischen Nymphe Menaka gleich einem jungen Blatte, das noch keine Hand berührte, gleich einem Diamanten, der ungefeilt in seinem Urlicht schimmert, die Liebliche, unter ihren Blumen wandelt, den zarten Schwestern ihrer Jugend, und unter den Gespielen, mit ihr zu Lieb und Blumenpflege verbunden, wann der blasse Mond noch über den weißen duftigen Bergen schwebt, die Morgenwolken wie junge Mädchenlippen im Osten dämmern, die Blumen der Nacht sich schließen und der Pfau ins Tal herunterflattert von den dunkeln felsenhohen Gesträuchen; wie der Nachkomme Purus, der feurige Duschmanka, das Mädchen mit dem Gazellenauge schaut und glüht in Lieb' und Verlangen, und auch sie, die Zarte, dem schönen Drang des Herzens folgt; zu sehen, wie die holde Kranke, den balsamischen Ustra auf dem Busen und das Band von den Fasern der Wasserlilienstengel an den Armen, den Schwestern schüchtern ihr Gefühl gesteht, und die Liebenden zusammenfließen in einer Umarmung, und die Hand des Mädchens [89] wieder blüht wie ein junger Kamalatasprosse; wie die Schwangere nun da steht mit ihrer Morgengabe, und um sie die glückwünschende Schar der heiligen Frauen mit Körben geweihten Kornes, und sie unter Kannas Segen zum Palast des Bräutigams wandelt; ach, wie nun so plötzlich der Baum ihrer Hoffnung bricht, weil sie den Ring verlor im Teich, und der Fluch Durwasas waltet über dem Königshaus, und ihr Herr sich nimmer erinnert der jugendlichen Geliebten; wie's ihm nun klar wird zumal, seine Seele sich füllt mit Verzweiflung, und auf die Mauerhöhe, wo kaum blauhalsige Tauben flattern, der Führer tritt von Indras Wagen, und der König über regenschwere Wolken fährt, und helle Tropfen umher der Umkreis stiebt der Räder; wie auf dem Gebirge der Knabe den Löwen schleppt, seine Mähne zerzausend, und Duschmanka den unbändigen Knaben liebt; ach, und wie die trauernde Sakontala naht und wieder findet, die Junge, den Sohn ihres Herrn, der sie noch liebt, und das verbundene Paar sich umarmt vor dem Throne Kasyapas und Aditis! Tausendmal stockte mir die Stimme, wie ich's las. Ich blickte Atalanten an, drückt' ihre Hand ...

Ihr Auge voll Geist und Seele weinte wie die liebende Sakontala, die zarte Blume des Ostens.

O, so ganz ein Gluthauch der Liebe, dieses Lied! Eine Anmut, ein Lächeln und Weinen wie in einem Auge, so selig und traurig, so voll von Gottheit, so ganz ein Kuß ist dieses Lied!

Zart ist die Seele des Mädchens und tief wie die Seele ihrer Blumen! Ach, und es scheint, als ob [90] sie ihre Keime nur zur farbigen Blüt' entfalte, um zu duften und zu – sterben unter den Schauern der Winde.

Du holde weiche Seele, Du Busenkind Deiner Natur, Du stirbst ja nur, um zu leben, und aus dem Tode quillt Dir ein edler Dasein wie aus der Blüte die Fülle reifer Früchte!

Phaethon an Theodor [29]
[91] Phaethon an Theodor

Bruder, ich bin glücklich, überschwänglich glücklich! Rettung, Rettung! ruft der Gott in meinem Innern.

O, die Worte fließen mir zusammen, die ich schreibe, vor meinen nassen Augen. Was ist all mein Leiden gegen dieses Glück?

Ich ging heut Abend hinüber. Es war, als triebe mich eine Ahnung dessen, was mir begegnen werde. Meine Seele war voll Licht, und das letzte schmerzliche Gefühl entschwebte wie die Wolke über die sonnige Wiese.

Katon lag auf einem alten grauen Stein vor seinem Mausoleum und spielte mit einem frischgebrochnen Zweig in seinen Händen. Lange bemerkt' er mich nicht. Da bückt' ich mich über ihn hinein und sagte: Guten Abend!

Bist Du's? rief er heiter und zog mich auf den Marmor.

Und wie wir so eine Zeitlang gegeneinander saßen, da faßt' er mich ins Gesicht und sagte: Phaethon, ziehe zu uns herüber!

[92] Katon! stammelt' ich betroffen.

Du hast noch Platz im Hause der Gräfin! fuhr er fort. Wir richten Dir ein Zimmer ein, dem Dorfe gegenüber, und Du vollendest hier Deine Polyxena.

Ich konnte nichts hervorbringen. Schweigend drückt' ich ihm die Hand.

Cäcilie wünscht, versetzt' er, daß Du für sie Deine Polyxena bildest und Atalanta ...

Ich bebte.

Und Atalantas Züge seh' ich ja doch in Deiner Phrygerin. Du möchtest wohl, daß sie Dir stehe?

Katon! Katon! rief ich schluchzend und lag ihm weinend an der Brust.

Er aber sah mich an mit ernster Miene und sprach: Nicht diese Leidenschaft, wilder Jüngling! Dein inneres Treiben ist mir nicht verborgen. Auch ich war einst jung; aber ich ward gebrochen in meiner Jugend wie der Zweig in meinen Händen. Möchtest Du glücklicher sein!

Und hier seufzt' er, als ob die Brust ihm hätte zerspringen wollen. Auch er, dacht' ich, auch er, der starke feste Mann? Freund, sahst Du schon Felsen zittern, die, in die Erde tief gewurzelt, das kühne Riesenhaupt zum Himmel strecken?

Und willst Du? fragt' er endlich. O Gott, ich will! Ich will! war das Einzige, was ich sagen konnte. So wollen wir zu Cäcilie gehen! sagt' er freundlich. Wir gingen. Mein Herz klopfte. Ich wagte kein Wort zu sprechen. Katon rief: Er will! Er zieht zu uns!

[93] O Himmel! Und wie nun die Mutter mich bat, gleich in den nächsten Tagen zu kommen, und Katon sagte: Atalanta, Du mußt ihm die Züge leihen zu seiner Polyxena! und die Holde verschämt zur Erde blickte und schwieg!

Mein Glück ist vollendet. Ich habe mein Ziel gefunden und wandle unter Gestalten, wie kaum ein kühner Traum sie mir gezeigt. Gott! Gott! Den ganzen Abend jauchz' ich.

Dein Freund ist glücklich, wie die Götter es sind! Wie geflügelt ist meine Seele! Und ich glaube, der Sonnengott sei mein Vater, und ich tauche selig meine Finger in sein Morgenrot.

Phaethon an Theodor [30]
[94] Phaethon an Theodor

Ich hab' alles schon zusammengeräumt. Johannes half mir. Es tut mir weh, zu scheiden von diesem Menschen. Aber es ist umsonst. Kann der Glückliche länger verweilen bei den Armen, die um ihn weinen, wenn er hinüber schon blickt in das Leben, wo man glücklich ist, ganz glücklich! Ach, er drückt den Zurückbleibenden die Hand und küßt ihre Lippen und scheidet.

Ich komme nicht zur Besinnung diese Tage. Katon war gestern hier und drang darauf, daß ich morgen schon hinüberkomme. Es geschieht.

Phaethon an Theodor [31]
[95] Phaethon an Theodor

Ich hab Abschied genommen von der lieben Hütte, die mich geborgen, und nicht einmal die Trauben darf ich genießen, die um mein Fenster blühten! Hinüber! Hinüber! O Gott, dieses hinüber!

Mein ganzer Haushalt ist fortgebracht. Ich blieb bis zum Abend im Dorf und schied mit Tränen. Meinen Johannes bat ich, recht oft mich zu besuchen.

Und nun bin ich unter den wunderbaren Dreien. Meine Werkstatt ist geräumig. Der Eingang ist gerade Katons Mausoleum gegenüber. Das Licht kommt von oben, und das ist ja dem Künstler nötig.

All das ist so schnell erfolgt aufeinander, daß ich's kaum zu erfassen vermag mit einem Gedanken.

Phaethon an Theodor [32]
[96] Phaethon an Theodor

Theodor, ach tausend kleine Wonnen knüpfen sich wie Blumen zu einem Kranze zusammen zu einer großen allbeseligenden Wonne! Und kann ich sagen, meine Brust ist reif, zu tragen diese Fülle wie der Baum die Früchte? Mein Leben ist ein göttlicher Genuß.

Laßt mich nur schwelgen! Ich kann, ich mag kein Maß halten. Ganz, ganz will ich glücklich sein, bis auf den Grund hinunterstrudeln den schäumenden Becher, und wenn ich dann taumle und mich verliere, und mein Dasein mir zum Traume wird, ach, dann, dann wird mir einmal wohl werden. Aber das begreift Ihr nicht!

Phaethon an Theodor [33]
[97] Phaethon an Theodor

Ich lebe wie unter den alten Griechen. Denke Dir, schildre Dir mein Entzücken! Atalanta ist mir zum ersten Male gestanden.

Ich wartete lang auf sie. Der Busen schlug mir heftig, und meine Hand zitterte. Vor dem Bilde war ein roter Teppich ausgebreitet. Jetzt ging die Tür auf, Cäcilie trat mit Atalanta herein. Da ist sie! sagte die Mutter und ließ die Hand der Tochter fallen. Die Holde ward rot.

Durch ihre braunen Locken flochten sich ein paar glühende Rosen; ein blendendweiß Gewand umhüllte die schlanke Gestalt und umschwebte mit dünnem Flor den jugendlichen Busen wie Wölkchen den rundlich vollen Mond.

O Lieber, wie sie da stand und auf den Boden blickt' und dann wieder auf zum Himmel, die Schöne, Göttliche! Wie sie endlich niederkniete auf den Teppich, und das Gewand in langen reichen Falten über das gebogene Knie hinunterwallte! Wie sie die schöne zitternde Hand auf den Busen legte und mich anschaute [98] so lieblich schmerzlich, als wollte sie sagen: Warum forderst Du das von mir? O wandle von Stern zu Stern, und Du findest doch nichts, das erhabener wäre!

Ich verlor mich besinnungslos in die Schöne des knieenden Mädchens, und wie sie dann die Augen aufhob und sah meine Verwirrung und daß ich sie nur anblickte, ohne zu arbeiten, da flog ein glühend Rosenlicht über ihre Wangen, und ihr Auge sah so wunderbar trunken empor, als fühlte sie selbst, wie schön sie sei.

Eine unendlich süße Begeisterung schwebte zuletzt wie befruchtender Tau in meine Seele, und ich arbeitete trunken, wie in einem Schwindel, fort und fort.

Und hundertmal fragt' ich: Ist Atalanta müde? Dann antwortete sie lächelnd: Nein!

Großer Peleione, wenn deine Phrygerin so schön wie Atalanta war, begreif' ich, wie Du wieder aus dem Grabe steigen mochtest.

Und wie ich sie endlich wieder fragte, lispelten ihre Lippen: Ein wenig! Und ich flog auf sie zu und hob sie zitternd vom Teppich auf.

Phaethon an Theodor [34]
[99] Phaethon an Theodor

Jeden Abend geh' ich zu Bette mit dem Vorsatz, ihr morgen um den Hals zu fallen. Und wenn ich dann am folgenden Tag vor ihr stehe, und wir allein sind, und mich's mit unwiderstehlichem Drang an ihre Brust zieht, da verschüchtert mich ein einziger Blick aus dem schwarzen Auge, und ein unbekanntes Etwas hält mich zurück.

Und kann ich denn keine Blume blühen sehen in ihrer Unschuld an der warmen Erde? Muß ich sie denn brechen? Anbeten sollst du das Heilige! Berühren darfst du es nicht!

Und heilig ist die Jungfrau, die reine, die keusche, weich und zart wie ungeküßte Blumen, nach Leib und Seele, o Gott, das schöne Bild Deines keuschen Geistes, Deiner klaren milchweißen Sonnen: ein Licht, eine Seele, eine lächelnde Unschuld, geweiht und umwallt von zarter Scham wie von einem unerklärbaren Geiste!

Wandelte nicht nächtlich der liebe Mond über meinem Haupt und küßt mir liebend meine Lippen mit seinem bescheidenen Lichte, und ist mir's je eingefallen, zu langen nach ihm?

So denk' ich im Augenblick; aber nachher reut mich's doch wieder.

Phaethon an Theodor [35]
[100] Phaethon an Theodor

Oft an heiterm Vormittage drängt mich's, mein Zimmer zu verlassen, und ich wandle dann hinaus ins Freie. Ach welch ein Gefühl, zu irren durch die stillen Wiesen und Gründe, wenn alles so still ist umher, und nur selten ein Mensch geschäftig seinen Weg vorüberwandelt! Da leg' ich mich dann am Fuß eines kleinen Abhangs nieder mit einem Buche. Theodor, wenn ich dann aufschau' und hinüberblick' über die schweigenden Dörfer, und die liebe Sonne bald ins Gewölke sich hüllt, bald in all ihrem Lichte wieder heraustritt, und zu meinen Füßen eine Quelle mit tiefbescheidenem Rieseln durch die Gräser sprudelt; wenn's dann immer stiller wird und feierlicher, nur hie und da ein reifer Apfel vom beladnen Aste tönend auf den Boden fällt, oder ferne Stimmen erklingen und wechselnd sich antworten; wenn dann mein ganzer Busen sich füllt, und ich fühle das geheime glühende Leben; wenn Hügel und Berge, Quellen und Wiesen, Bäume, Blumen und Gräser bis ins Tiefste wie von einem Geiste der Fülle und Ruhe beseelt sind; wenn dann die Erinnerungen aus den Tagen [101] meiner Kindheit wie blasse Wolkenbilder in heiligem Schweigen heranschweben, mich linder und süßer umwallen, und alle jene Wünsche meines Innern sich erneuern, jene Träume von Glück und seliger Zufriedenheit; wenn die Welt wieder vor mir steht, wie ich sie damals mir geschaffen, und meine Brust anschwillt, und es klingt wie eine Ahnung: Du wirst noch glücklich werden! – Bruder, wenn dann mein Buch mir aus der Hand fällt, und mein Auge verschwimmt in den grundlosen Äther: Heilige, heilige Natur! Mutter! Allbeseelte! Deine ewige Wärme fühl' ich, Deine Ruhe, und ich komme mir vor, wenn ich unter den Gräsern und Blumen sitze, als sei auch ich Dein Kind und Dein – liebstes Kind!

Phaethon an Theodor [36]
[102] Phaethon an Theodor

Ich schwimme wie ein Stern im Äther in einem ungemessenen Meer von Wonne. Wir sind Eins. Ich und Atalanta sind Eins.

Ich stieg heut Abend mit Atalanta den kleinen Hügel hinan zum Tempel des Eros. Ich war voll von Platons Ideen. Wie ein Lichtquell von oben bebte das Geheimnis seiner Schönheit durch meine Seele. Seine Worte waren mir wie Gesichte geworden. Ich empfand anbetend die Fülle ihrer Göttlichkeit, aber nur ahnen konnt' ich sie und empfinden. Unter den Orangen setzten wir uns nieder. Die vollen goldnen Früchte blickten wie Häupter junger Liebesgötter aus dem dunkeln Laub, und balsamische Düfte quollen wie Weihrauch aus tausend Blumen und Kräutern.

Da saß sie nun neben mir, die Liebliche, wie die junge Göttin der Liebe unter ihren Blumen, und die blühenden schlangen sich liebend um ihr Gewand und küßten ihre Füße. Ihr Angesicht war wie ein einziges Lied voll Wehmut und Empfindung. O, meine Brust schwoll von Ahnung der göttlichen Schönheit.

[103] Ja, Atalanta, rief ich endlich begeistert aus, die Liebe, diese wunderbare Tochter der Armut und der Fülle, ist die Vermittlerin zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Mensch. Sie schwillt im Busen des Betenden, und der Gott, dem das Opfer brennt, steigt liebend zu den Menschen herunter.

Und wer kann's enträtseln, sagte Atalanta, das Wesen der Liebe?

O, ich fühl' es, fühl' es ganz, Atalanta: die Liebe ist Liebe der Schönheit und der Weisheit. Die Liebe ist irdisch und himmlisch in Einem. Die Harmonie der Schöpfung beseelt der Geist der Venus Urania, und die hohe mutterlose Tochter des Himmels schwebt wie eine ewige Morgenröte über der himmlischen Welt. Aus ihrem Auge träufelt wie eine große Träne die Liebe zu Gott und zum Guten und die göttliche Begeisterung, wenn der Mensch wie Berg und Luft in der Ferne zusammenschwimmt alliebend in den Stunden der Erleuchtung mit Gott; ihr Haupt umschweben wie ein Flammenkranz die leuchtenden Sterne, denn sie leitet mit ihrer Weisheit die unermeßliche Zahl der wandelnden Welten in ihrer Bahn; in ihren Armen hält sie wie Blumen und schwellende Früchte das Füllhorn der Sittlichkeit und der höheren Schönheit; um ihre Lippen schwebt wie ein Kuß das unerklärbare Verlangen aller Wesen nach jenem überschwänglichen Genuß ihres Daseins, und aus ihrem keuschen Busen quillt wie zarte Muttermilch die unendliche Fülle von Harmonie, die mit ihrer schaffenden Urkraft aus dem gestaltlosen Chaos durch Liebe die Elemente [104] zog und die Weltkörper regelnd nach ihrer Triebkraft aneinander stellte.

Phaethons Auge glüht! lispelte Atalanta und glühte noch stärker. Meine Seele irrt wie ein goldnes Wölkchen durch den Äther in diesen endlosen Fernen der Gedanken.

Die Liebe, Atalanta, schwellt befruchtend die Seele an und erfüllt sie mit dem Keime, dem ewig wachsenden und göttlichen, woraus die Weisheit und die Tugend gleich Rosen sich entwickeln. Da wandeln sie dann umher, und immer voller und größer wird der unsterbliche Keim; und ein unnennbar tiefes Leben strömt wie Saft im Baume durch ihr Wesen. Und stärker, immer und stärker treibt's, und vollendet ist die Frucht des Göttlichen in ihrem Schoße. Mit namenlosem Drang fühlt nun der Mensch den Busen sich erfüllt und eilt und schaut nach dem Schönen, die heilige reife Frucht darein zu legen. Die Schönheit sieht er, Atalanta. Da sprudelt der Drang wie ein Springquell aus seinem Busen auf die Lippen, und sein Mund träufelt von den Worten der Begeisterung wie vom Honig des Hymettos. In seinem Auge glüht das Feuer der glühendsten Sehnsucht, und seine Arme streckt er besinnungslos aus, das gefundene Schöne zu schließen an seine Brust voll Liebe.

Ich verstehe, Phaethon, sagte Atalanta, und wenn er nun zusammengeflossen mit ihm, innig und ewig wie Quelle mit Quelle, da entwickelt sich die unsterbliche Frucht, und ein Sehnen, ein Verlangen, eine Liebe glüht mit ewig treibender Kraft durch seine Brust.

[105] Atalanta, rief ich mit rasendem Entzücken, und wenn er dann sich aufschwingt von der Betrachtung der einzelnen Schönheit des Geliebten zur allgemeinen, wenn er allmählich die Schönheit der Seele versteht wie die Schönheit des Körpers, und diese ihm wird wie eine bald erlöschende Flamme, und jene wie die große ewige Sonne, und er aufsteigt von der Stufe der sinnlichen Schönheit zur Stufe der allumfassenden des Geistigen, wenn der Himmelstrunkene dann der höchsten Stufe sich nähert, und urplötzlich der Schleier des göttlichsten der Geheimnisse verschwindet wie die Wolke vor dem blendend wallenden Licht der heiligen Sonne, und der Selige anschaut die ewige, weder Anfang und Wachsen, noch Abnehmen und Vergehen kennende, in allen Teilen vollkommene, von aller Hülle befreite, reine und lautere, sich gleichbleibende Urschönheit, und alle bloßen Abbilder wie matte bläuliche Funken vor seinem Geiste zusammenschweben mit dem Urlicht, und er unsterblich sich sieht und der Gottheit befreundet ...

Atalanta! Geliebte! Engel! Du bist's, die mich hinanhebt auf den Sprossen der geheimnisvollen Leiter der Schönheit! Du bist's! rief ich wie wahnsinnig und umfaßte die Weinende mit meinen Armen. Ihr weicher Busen schlug an den meinen. Ihr Mund bebte auf dem meinen. Ihre Arme lagen um meinen Nacken geschlungen, und Kuß auf Kuß strudelten unsere Seelen zusammen.

Phaethon! Phaethon! rief sie schluchzend. Ich hatte keine Besinnung mehr. Mein Haupt lag auf ihrer Brust und erdrückte die langen Locken. Phaethon! [106] rief sie wieder und wand sich los aus meinen Armen, blickte mich noch einmal an mit einem Auge voll überschwänglicher Liebe und flog den Hügel hinunter.

Gott! Gott! Noch tauml' ich von all der Wonne; noch fühl' ich ihre weichen Lippen und das Feuer ihres Auges und die Wärme ihres Busens.

Theodor, was hab ich getan? Ich kann nicht denken mehr in diesem Augenblick. Meine Kraft ist zu schwach für diese Fülle. Laß mich, laß mich! Die Mitternacht ist längst vorbei. Auch Katons trübe Lampe ist erloschen. Ich will mich aufs Bett werfen.

Phaethon an Theodor [37]
[107] Phaethon an Theodor

Freund, was hab' ich gesehn? Was werd' ich noch erfahren? Was ist der Mensch? Die fernsten Rätsel strebt er zu entwirren, und er sebst in seinem Rätsel ist das tiefste Rätsel.

Ich schlummert' ein paar Stunden. Bald wacht' ich wieder auf. Der Tag dämmert' über den schwarzen Bergen in blaßgelben Streifen. Ich öffnete meine Tür und trat hinaus. Alles war noch still in der Natur. Kein Blatt regte sich; kein Vogel schlug.

Auch sie, auch Atalanta schlummert noch, so dacht' ich, und vielleicht, vielleicht träumt sie von mir.

Ich stand vor Katons Mausoleum, das heller mit seinen roten Steinen aus dem dunkeln Laube blickte. Lange blieb ich stehn, und wunderbare Gedanken erweckten sich in meiner Seele.

Da bemerkt' ich, daß das dichte Rosenlaub auseinandergeschoben war und eine kleine Öffnung sich zeigte durch das geteilte Gezweig. Ich weiß nicht, wie's mir einfiel, durchzuschlüpfen, und – wunderbar! – ich stand an einer Treppe, die sich in die Tiefe hinuntersenkte.

[108] Ich stieg auf ihr hinab. Da stand ich plötzlich vor einer Sphinx, aus dunkelm Basalt gehauen. Ein tiefer Schauer überlief mich, und eine innre Stimme rief mir zu: Fürchte, fürchte das Geheimnis, Jünger!

Und wieder blieb ich stehn und bedachte mich, ob ich die Treppe wollte hinabsteigen.

Da gewahrt' ich eine Tür. Ein junger Genius war auf ihr gebildet, der mit der einen Hand eine Fackel senkte und mit der andern eine Tafel hielt, worauf die Worte standen mit der Schrift des Griechen: Vaterland und Liebe. Und wie ich leis an die Türe stieß, da ging sie auf mit einem dumpfen Dröhnen.

Ein wundersamer Geruch von Weihrauch wallte mir entgegen. Es ward Grabesnacht vor meinen Augen.

Lange blieb ich wieder stehen, bis ich an einer Wand den schwachen blassen Schein einer Lampe bemerkte. Ich trat einige Schritte vorwärts. Das Licht ward heller und beweglich. Der Geruch verstärkte sich.

Plötzlich stand ich vor einer Maueröffnung, durch die der Lichtstrahl brach. Ich blickte durch und – traute meinen Augen nicht.

Denn eine Geistererscheinung glaubt' ich zu erblicken. Ich sah in ein zirkelrundes Gewölbe. Die alten dünnen Säulen, die schlank hervortraten aus den schwarzen Wänden, verbanden welke Rosenkränze. An ihren Füßen lagen Schilde, Helme, alte zerbrochne Vasen und Reliefe; an einer der Säulen hing die Maske eines Jupiterkopfes.

Mitten im Gewölbe stand ein schwarzer Sarkophag mit wunderbaren Zeichen. Auf ihm schlug aus einem[109] alten blumenumwundenen Gefäß hellodernd eine blaue Flamme. Zu beiden Seiten glänzten weiße Bilder in zwei Nischen. Oben brannten schwache Lichter auf drei langen mit Flor behangenen Kandelabern, und an seinem Fuße saß ein Mann mit langem Bart in einem weißen Gewand, das Haupt auf die Arme gestützt und das Angesicht verdeckend mit der Hand.

Lange starrt' ich ihn an; aber er war unbeweglich wie der Sarkophag.

Ist es sein Geist? dacht' ich schaudernd. Ist er's selbst? Denn ich hielt ihn für Katon.

Gott! Was soll dies fürchterliche Spiel? Was plagt den großen Mann? Ist's das Bewußtsein einer Schuld? So dacht' ich und glaubt' es nicht.

Da rauscht' es in der Nähe. Es war wie der dumpfe ferne Glockenklang einer Uhr. Es schlug viermal.

Mir graute!

Die Gestalt bewegte sich. Die Hand senkte sich langsam vom Haupt, und ich sah das ernste männliche Angesicht des unerklärbaren Freundes.

Es war die höchste Zeit. Ich flog von der Maueröffnung weg, rannte durch die Tür und drängte mich wieder durch das Rosengezweig.

Es war lichter Tag geworden.

Mein ganzes Innere war angefüllt mit dem Geheimnis. Ich arbeitete an meinem Bilde. Nach ein paar Stunden trat Katon mit Atalanta herein. Ich weiß nicht, welches von beiden mich mehr verwirrte. Katon war wie sonst. Das zarte Mädchen brachte [110] mir frische Blumen. Ich dankt' ihr mit dem glühendsten Blicke der Liebe. Sie lächelte mich an wie der junge Tag im Osten.

Wir gingen ins Freie. Den ganzen Tag begleitete mich das Bild des geheimnisvollen Gewölbes.

Phaethon an Theodor [38]
[111] Phaethon an Theodor

Meine Homerosbüste ruht nun bei den drei Säulen im Garten auf einem hohen marmornen Gestelle mit drei Stufen. Wenn Atalanta auf der dritten steht, kann sie das Haupt umfassen mit den Händen.

Ich spreche nun auch neugriechisch. Atalanta lehrt es mich! Und wie sie das Altgriechische ausspricht!

Mit welcher Lust ich arbeite an meiner Polyxena! Sie ist's ganz, meine Atalanta. Die großen runden Augen; die vollen lächelnden Lippen; das Kindliche, Schüchterne um den kleinen Mund; das längliche Oval. Und doch, es ist noch Etwas in ihrem Angesicht, das ich nicht in mein Bild bringen kann! Unaussprechliche Unschuld? Seele? Liebe? Leben? Geist?

Phaethon an Theodor [39]
[112] Phaethon an Theodor

Krankheit sei die Liebe? Laßt mir, laßt mir diese Krankheit! Wie aus einem Heilquell schöpf' ich Gesundheit aus ihr und ewige himmlische Gesundheit.

Nichts Schöneres gibt es auf der Erde, nichts Schöneres im Himmel als diese Gesundheit. Sie kräftigt die Seele und füllt sie an mit Wärme. Sie bereitet die Geister vor, die Urschönheit zu schauen in ihrer reinen Göttlichkeit, in ihrer ewigen unveränderlichen Fülle. Sie deckt endlich auf den Riesenschleier des größten der Geheimnisse.

Gott selbst erfreut sich ihrer. Durch sie ist er Gott. Ewige nieverblühende Jugend ist ihre Tochter. In ihrem frischen Wasser zu baden, ist die Wonne der Unsterblichen.

Sie ist voll und üppig wie die Rose. Aus ihrem Kelche saugen die Menschen wie Bienen ewiges Gedeihn. Ihre Farbe ist weiß wie Milch, denn sie ist voll Unschuld. Ihre Stimme ist wie der Klang einer Glocke; denn alles staunt ob ihrer Fülle. Aber auch sanft ist sie oft wie verhallende Harmonikalaute, und in der Ferne der Erinnerung klingt sie wie leises Wellengemurmel.

[113] Ein Kuß ist das größte Geheimnis dieser Liebe. Die Liebe zur ganzen Menschheit ist eins mit ihr.

Weissagend ist diese Liebe, lauter Wahrheit; nur der Begeisterte fühlt ihre Kraft, ihren Segen. Alles bringt sie dem Menschen; denn die Gesandte, die Priesterin Gottes ist sie. Ohne sie ist nichts Edles auf Erden, nichts Gutes und Großes. Ohne sie ist kein Leben. Ihr warmes Licht aber, das klare keusche, fällt nur in zarte Seelen, durchdringt sie ganz, macht sie unendlich durchsichtig, läutert und reinigt sie überschwänglich.

Voll Glauben ist sie; sie läßt uns erkennen Gott in unserm Innern und zeigt uns, wie alles, was ist, durch ihn, durch sie ist, und erfüllt von ihm allein Natur, Schöpfung und unsern eignen Busen.

Uneigennützig ist sie. Siehe, wie sie lächelt, die Unsterbliche, aus dem Auge der Mutter, wenn sie den Säugling an den Brüsten tränkt! Geben und Nehmen, das wird ihr zu Einem.

Ich lernte lieben, lieben aus ihrem Auge, ihrem Kusse, lieben aus ihrer Seele, ihrem Geiste.

Ihn lernt' ich erkennen, fassen, lieben, den alten ewigen Geist, den wandellosen, der alles Dasein schafft und gibt, den Vater des Maßes, das Maß selbst, den Urheber alles Lichts, das Licht selbst, die Urkraft und das Urleben, der die Weisheit erfand, ihn, den Alleinigen, Unerschaffenen, ihn, die Liebe, die Wahrheit.

O, richtet nicht!

Ich weiß ja wohl, es ist nichts leichter als urteilen und verdammen. Tausendmal wird gerichtet, bis einmal der Richter versteht, was er zu richten [114] wagt. Er braucht, um vieles zu erkennen, eine Kraft, ein angeborenes Etwas, das man nicht lernen, nicht erwerben kann.

Menschen, die keine Leidenschaften haben, weil sie ohne Herz, ohne Kraft sind, predigen der Jugend, mit ihren Wünschen, ihren Trieben der Vernunft nicht zu entlaufen!

Ich sagt' es Dir schon hundertmal: solch eine Ruhe will nichts heißen. Der sich mit seiner Kühnheit brüstet und keinen Feind noch sah, der ist kein Held. Aber der ist ein Mann, der sich bewegt durchs wildeste Gedränge.

Wunden! Wunden! Laß sie bluten! Eine Brust ist stark. Du bist doch ein Mann. So zu bluten, das ist groß!

Mich laßt nur irren! O, ich bin glücklicher als Ihr auf Eurer rechten Bahn. Nicht bedauern dürft Ihr mich, weil ich irre, Ihr Klüglinge, Ihr Selbstgefällige! Beneiden müßt Ihr mich! Ach, solch ein Irren ist mehr als all Euer Fortschlendern!

Phaethon an Theodor [40]
[115] Phaethon an Theodor

Du kannst Dir mein Wesen nicht vorstellen. Und all das sollte nur ein Traum sein? Der arme Mensch, wenn er einmal glücklich ist, da soll er träumen? Und wär's auch ein Traum, warum wollt Ihr mich erwecken? Ein solcher Traum ist mehr als Euer Wachen. Ich gestehe ja, mein Geist ist berauscht. Aber ich sage Dir, Eure Nüchternheit ist der schimpflichste Zustand des Menschen!

Phaethon an Theodor [41]
[116] Phaethon an Theodor

Natur und Kunst sind wie zwei Schwestern, die sinnig schweigend mit ihren Armen sich umschlingen. Sie halten einen ewigfrischen Kranz mit vollen Blumen in den Händen. Der bedeutet die Liebe.

Phaethon an Theodor [42]
[117] Phaethon an Theodor

Heut war eine schöne Mondnacht. Ich wandelte mit Atalanta durch den Garten. Ich hatte meinen Arm um sie geschlungen und sah mit Entzücken, wie unsere langen Schatten auf der Erde sich vermählten. Von ungefähr standen wir am See; der Kahn schaukelte sich vor uns am dunkeln Ufer.

Besteigen wir den Kahn nicht, Atalanta? sagt' ich. Sie lächelte. Ja! Ich sprang hinein, löste die Seile und gab ihr die Hand. Die Schüchterne hüpfte in den Kahn.

Ich nahm das Ruder zur Hand und plätscherte damit in den Wellen. Ein kühler Abendwind trieb uns bald aus den Uferschatten.

Theodor, was war das für eine Stunde! Wie Träume umschwebten zartgehauchte silberne Wölkchen den Vollmond, der in seiner lieblichen Fülle wie das Angesicht eines keuschen Mädchens herabquoll auf die zitternden Gewässer. Die Tannen am Ufer drüben schienen sich mit ihren Riesenschatten in der kühlen Flut zu baden. Wie ein dünngewobener Schleier [118] von Duft umwallte die Gegend umher ein blaues Licht, und die Berge schwebten wie die verklungenen Wünsche unserer Kindheit aus ihren Fernen herüber. Der Garten mit seinen dichten Ufergebüschen ward wie eine dunkle Wolke; nur die drei Säulen ragten in schwachem Licht aus dem Dunkel wie geheimnisvolle Trümmer einer entschwundenen Urzeit.

Die Geliebte lag an meiner Brust und hatte zärtlich ihren Arm um meine Schultern geschlungen. Ihr blasses Antlitz blickt' aus den Locken wie der weiße Mond aus dem dunkeln Äther. Wir schwiegen. Nur manchmal drückt' ich die Liebende wärmer an meine Brust und küßte die milchweißen Wangen.

Kein Laut aus der Ferne; nur das melodische Plätschern des Wassers beim Schlage des Ruders. Da begann ich endlich:

Atalanta, fühlst Du den stillen Geist, der über der ruhenden Gegend schwebt?

Sie drückte meine Hand und blickte mich an mit dem Auge voll namenloser Liebe und lispelte seufzend: Ich fühle! Und dann schwiegen wir wieder, und manchmal nur bebten unsere Lippen: O Gott! Unsere Seelen wurden wie das klare reine Gewässer, unser Leben wie ein einziger Hauch der Liebe.

Ja, Atalanta, sprach ich wieder, wie die Mondnacht ist unser Leben, wenn es am schönsten ist. Ist nicht die Gegend wie ein Traum? Wir schweben umher. Der Wind kühlt unsere heißen Wangen und lindert das brennende Sehnen unserer Brust. Die Pfade sind eben und glatt wie die Wasser. Ferne [119] liegt die Wirklichkeit wie das Ufer mit ihren finstern Gestalten. Und wenn sie nicht so ferne lägen, ach, da wär' unser Leben auch nicht so schön.

Kannst Du, sagte Atalanta, kannst Du ein Ende denken dieser Wonne? Bricht endlich nicht die Morgenröte von Osten her und beleuchtet jene Gestalten, die so schön sind aus der Ferne?

Unendlich, ewig, Atalanta, ist die Liebe wie Deine Seele. Tod wäre das Ende der Liebe, und die Seele stirbt nicht. Die Liebe ist ewig jung und wandelt ewig unter Blumen.

Ach, aber die Blumen welken, Phaethon! seufzte Atalanta mit einem unaussprechlichen Schmerz im Auge.

Ewige Jugend, Du zarter Engel! Die Liebe kennt kein Alter wie der warme Sonnenstrahl, der auch um graue Mauertrümmer quillt. Und einst, wie die jungen Geister sich lösen aus der alten ehrwürdigen Hülle und frei sind und dahin schweben können durch den Äther und zum erstenmal als Geister sich küssen – Atalanta, ein Kuß der Geister! – und wenn sie nichts mehr hindert, ineinander zu fließen, und eine Umarmung wird die Ewigkeit ...

Atalanta blickte in das Wasser und dann hinauf zum Mond, als wollte sie ihn bitten, den lieben, sanften, sie hinaufzunehmen zu seinem reinen Licht. Dann sagte sie: Phaethon, ach, hier ist's schön, doch dort ... Die ewige Vollendung glänzte in ihrem feuchten Auge; ihre Brust hob sich unter dem Gewande. Mir war, als weinte sie nun die letzte Träne, als sei dieser sehnende Blick der letzte, den sie dem [120] Sterblichen zuwerfe, und sie schwebe aus meinen Armen, ein göttlich Wesen, in der schönen Mondnacht zum Himmel, dem ewigen Ziel ihrer heißen brünstigen Sehnsucht. Mein Mund verstummte. Ich schloß sie heftiger an die Brust; ihr Auge wandte sich auf mich, und unsere Lippen waren glühend aneinandergeschlossen.

Da hörten wir aus der Ferne eine Flöte. Wie zarte liebende Geister klangen die schwebenden empfindungsreichen Töne zu uns herüber. Unsere Seelen selbst waren wie zusammenschwimmende Akkorde, voll unendlicher Harmonie, voll schwellender Empfindung. Sie lösten sich auf in ein stilles aber überschwänglich seliges Anschaun unseres Innern und verschwammen endlich hinüber wie die blauen Bilder der Berge. Nur: Dein! Dein! seufzten unsere Lippen. Hier und dort!

Am Ufer stand eine lange schwarze Gestalt, unbeweglich wie die Tannen um sie her. Es war Katon. Unser Nachen fuhr ans Land. Katon trat uns entgegen und hob Atalanten aus dem Nachen. Die tiefsinnigen Züge des schönen Mannes glühten wunderbar im Mondlicht. Er drückte dem Mädchen die Hand mit Feuer, und wir wandelten langsam wieder dem Schlosse zu.

Phaethon an Theodor [43]
[121] Phaethon an Theodor

Noch ist Stärke, Schönheit, Tugend nicht gewichen von der Erde. O, ich fühl' es, fühl' es wie mein Ich, was würdig ist des Menschen. Rein ist der Mensch von seinem Ursprung an; denn von der Gottheit stammt er. In seinem Busen quillt der ewig treibende Keim des Guten wie eine klare, den Himmel abspiegelnde Quelle. Unglücklich ist er, wenn sie getrübt wird; aber verloren ist er, wenn sie versiegt. Das Größte, was Gott erschaffen auf der Erde, ist der Mann. Er ist's, der Starke, der Mut hat und Kraft und unveränderlichen Willen. Ruhig steht er da in seiner erhabenen Würde wie eine hundertjährige Eiche, deren Riesenwipfel vergeblich Wind und Stürme schütteln. Die Sonne spiegelt in seinen Zweigen schmeichelnd, und niedere Kreaturen der Erde kriechen um seine mächtigen Wurzeln. Und ist er auch geschmiedet, der Mann, an eine Felsenstirn, und kann er seine Arme nicht bewegen.: in seinem Busen lebt die angestammte unerschütterliche Kraft, selbst dem Unendlichen zu trotzen. Aber rein ist der Mann; denn er ist das Abbild [122] Gottes. So denke Dir meinen Katon! Seine Brust gleicht dem Diamanten, der unzerbrechlich fest doch in sich faßt das warme Licht der Sonne.

Um ihn schlingen wie zarte weiche Blumen um die Eiche das Weib sich und das Mädchen. Die sanften würden verwelken, wenn sie der kräftige edle Stamm nicht am Busen hielte. Denn weich ist das Mädchen, deren Mund der Hauch der Jugend wie ein glühend Morgenrot beseelt, wie die Mutter, wenn sie ihr lächelnd Kind am warmen milcherfüllten Busen säugt. Aber die echte Jungfrau ist noch Kind, und die echte Mutter ist noch Jungfrau.

Ein tiefes Geheimnis ist die keusche Jungfrau. Ihre Jungfrauschaft hört auf, wenn sie kein Geheimnis mehr ist. Sie ist das vollkommenste rührendste Sinnbild der Entwicklung und der Fruchtbarkeit, das Sinnbild der Natur. Darum ist ihre Nähe heilig, und das Unheilige flieht vor ihrer Gegenwart wie vor dem Tempel der Gottheit.

Des Mannes Tugend gleicht dem Riesenfelsen, der weit die Schatten auf die Täler wirft. Des Weibes Tugend ist ein sanfter ewigfließender Bach, der stillbescheiden sich durch die Blumen windet und liebend an den Ufern die zarten küßt und tränkt. So denke Dir Cäcilie und Atalanta!

Cäciliens Haus ist den Grazien geweiht, aber nicht den niedern, die das bloße Bedürfnis verschönern und heben, sondern jenen allwaltenden weisen und keuschen Förderinnen alles Schönen und Guten, von denen der weise Pindaros singt:


[123]
Ihr an Kephissos Gewässern wohnend,
dort am Sitze der schönen Rosse weilend,
Huldinnen, Königinnen holden Gesangs im
lieblichen Orchomenos, der alten
Minyer Wächterinnen,
Höret den Fleheruf! Denn von Euch
kommt ja das Liebliche,
kommt ja in Fülle das Süße der Welt,
blühst Du an Weisheit und Schönheit oder an Adel.
Denn die Götter
ordnen ohne die heiligen
Huldinnen nie ein Gelag,
keinen Reigen; sondern allwaltend im Himmel
haben sie bei Pytho Apoll,
dem der Bogen von
Gold schimmert, sich aufgestellt den Thron,
ewig verehrend des olympischen
Vaters Herrschergröße. 1

Diese, Theodor, die heitern Kinder des Weisen, lächeln aus allem. Sie sind nichts anders als das Maß.

Fußnoten

1 Pindar, Olympische Siegesgesänge XIV.

Phaethon an Theodor [44]
[125] Phaethon an Theodor

Atalanta wußte nichts, wie ich sie fragte, von Katons unterirdischem Gewölbe. Sie wußt' auch nicht, aus welchem Land er stamme. Nur: ferne, sagte die Mutter, ferne sei er hergekommen. Auch ihren eignen Vater kennt sie nicht. Sie hab ihn schon verloren als zartes Kind.

Das Neugriechische war die Sprache ihrer Kindheit. Sie stammelte griechisch. Die Sprache unsers Vaterlandes lernte sie erst später.

Wie Katon heute vor mir stand und wir allein waren, faßt' ich mir Mut und sagte: Katon, verdien' ich diese Kälte?

Er aber sagte etwas dumpf: Was ist Dir, Phaethon?

O, verdien' ich dieses Schweigen? erwidert' ich heftiger, und eine Träne rollte mir aus dem Auge.

Es verschwebten an seiner Stirne die Runzeln, und er sagte, halb finster halb wehmütig, mit einem unerklärbaren Blick: Auch ich trag' etwas auf der Brust; aber frage mich nicht! Er ward ernster. Ich darf nicht weiter davon sprechen.

[125] Er warf mir einen Blick zu, der mir auf ewig die Zunge lähmte. Dann sagt' er noch einmal: Frage nie mehr! und ging fort.

Und auch Cäcilie kann ich nicht enträtseln. Sie ist geheimnisvoll wie die stille Nachtviole. Nur Atalanta ist wie eine offne Rose, der man bis in des Kelches Tiefe schaut.

Ich trat gestern Abend die Treppen herauf. Es war schon dunkel. Atalanta flog durch eine Tür. Ich kannte ihren Tritt. Schnell folgt' ich ihr. Ich erreichte sie, sank ihr wild um den Hals und rief wie rasend: Ewig, ewig Dein!

Phaethon, rief sie ängstlich, nicht dies Ungestüm! und wand sich los aus meinen Armen. Ich wollte sie halten, blickte hinter mich, da stand – Cäcilie vor mir. Atalanta flog mit einem Schrei zur Tür hinaus. Mir bebten die Knie. Ich sank ihr zu Füßen: Cäcilie! rief ich mit wankender Stimme. Kann Cäcilie vergeben? Lange blieb sie stumm. Ich hatte ihre Hand ergriffen; weinte meine Tränen auf sie. Und wie ich hinaufblickt' und ihr Auge traf und das Wohlwollen herabquellen fühlt' auf mich wie linden Tau, und sie ihre Hand aus der meinigen zog, mir noch einen liebevollen Blick zuwarf und dann verschwand ... O Gott, ich blieb in heiligem Entzücken auf den Knien, als ob sie noch vor mir stünde, und strömte meine Seele aus in einem brünstigen Gebete.

Phaethon an Theodor [45]
[126] Phaethon an Theodor

Ich lebe wie zu den Zeiten Homers. Die Wirklichkeit berührt mich kaum wie die Flut den Fuß des Gebirges, dessen wolkenumwobene Scheitel weiter reichen, als das Auge trägt.

Ich saß vor dem Bilde Homers auf der untersten Stufe. Atalanta saß neben mir. Sie spielte mit den Efeublättern, die um ein altes Architrav sich schlangen.

Die Sonne war nah am Untergehn. Durch die wilden Rosengebüsche blickte der blaue See mit seinen grünen Ufern. Da zog ich den Homer heraus. Atalanta sah mich an und lispelte, die Hand mir drückend: Lesen wir? Ich sagte: Ja. Wie feiern wir schöner den Abend? Und welche Rhapsodie schlag ich auf, Atalanta? Da hast Du das Buch! Nausikaa! klang's von ihren Lippen.

Sie las. Theodor, wie die griechischen Worte wogten von den zarten Lippen, die Worte des Mäoniden! Jeder Laut war wie aus tiefster innigster Seele.

[127] Das Saftgrün der Blätter und die Glut der Rosen und der Abendsonne; die grauen alten Säulen; die Trümmer um uns her; und drüber hinein das Himmelblau; und das Mädchen, vom quillenden Strahl der Sonne geküßt, mit ihrem Engelauge, mit ihren Rosen in den dunkeln Locken, mit ihrem Homer in den Händen!

Da rief ich endlich aus:

Atalanta, denke Dir den Sänger, wie er stand auf dem grauen Felsen von Chios, wann die warme Morgensonne seine weißen Locken umwallte wie das Haupt eines Heiligen, und um ihn her saßen im Kreise die Schüler auf den steinernen Bänken! Wie der alte Lehrer hinüberblickte über die lachenden Fluren des Eilands von der jähen Klippe, und sein Auge von den grünenden Buchten und dem frischen Gestade hinüberdrang wie ein Lichtstrahl in die grenzenlose Weite des Meeres und endlich verschwamm in der Flamme des aufsteigenden Sonnengottes! Wie nun seine Brust sich hob, und eine Träne bebte im Auge des Alten, Ehrlichen; wie er da lehrte, und seine Lippen überquollen von der Fülle seines Herzens wie von Strahlen der ewige Lichtquell der Sonne, er, der Sohn des Himmels, auf dem Felsen, und um ihn der endlose im Morgenrot wallende Äther, rein wie seine Dichterseele!

Atalanta war mir an die Brust gesunken. Ich blickte hinab auf das jugendliche Haupt und fühlte mein ganzes Wesen überwallen, wie ich sie so nah mir sah, diese unaussprechliche Schönheit. Ihr dunkles [128] Auge voll ewigen Friedens weinte verklärt zum blauen Himmel hinauf, und ich drückte, von der Seligkeit der Götter durchschauert, einen heißen Kuß auf ihre keuschen unentweihten Wangen.

Ja, Atalanta, rief ich endlich, mich erholend aus der betäubenden Wonne, blick' ihn an mit Deinem Auge voll Liebe! Er ist's! Seine Seele ist unergründlich wie das Meer, aber durchsichtig wie der unermeßliche Äther. An seinen Busen voll warmem Jugendfeuer drückt er die Natur wie eine Braut, und seine Gesänge sind die ewig jugendlichen Kinder seiner Liebe. Wie holde Blumen in einem Kranze schlangen Weisheit, Schönheit, Mäßigung und Ruhe sich in ihm zusammen. Sein Lied ist wie das spiegelhelle unbewegte Meer, wenn es die Farbe des Himmels trägt. Er ist ein gewaltiges Gebirge, das, tiefgewurzelt in die gute mütterliche Erde, das weiße Haupt in Ätherfernen streckt.

Es rauscht' im Gebüsch, und Katon trat herein. Er lächelt' und setzte sich auf einen Säulenstumpf. Die Sonne war hinunter. Es ward schon dunkel um uns. Katon sagte: Griechenlands Sänger sind die größten. Wie Kinder spielten unter Blumen in dem schönen Lande die Söhne des Himmels. Aber größer sind Griechenlands Helden. Wo ist eine Brust wie die freiheitstrunkene Seele des Leonidas? Wo ist die ernste Tatkraft eines Epameinondas? Wo sind unsre Timoleone? Ich verstand nicht, was er wollte damit sagen. Wir gingen ins Schloß.

Aber der Geist Homers wich nicht von meiner Seele. Ich kehrte spät zurück zu den drei Säulen. Einsam [129] saß ich an ihrem Fuß unter dem Bilde Homers. Seine Helden stiegen in meinem Geist empor aus den Trümmern um mich her und schwebten an mir vorüber in langen dunkeln Gestalten. Kein Mond war am Himmel. Eine Nachtigall schlug in der Nähe in vollen schwellenden Akkorden. Ich schlummert' ein.

Höre meinen Traum!

Ich trat in ein elysisch schönes Land. Durch fette Wiesengründe wälzten sich Bäche. An ihren Ufern stiegen im Schatten des Lorbeers und der Myrte Säulentempel in die Lüfte. Unendlich klar war das Blau des Himmels. Der linde warme Hauch eines ewigen Mai war über Wiesen, Wälder, Hügel und Himmel gegossen.

Da hört' ich ein unterirdisch Dröhnen, als ob die Erde wollte Riesen hervorstrudeln aus ihrer Tiefe. Die Bäume wankten und die Felsen bebten. War es so, als aus dem gestaltlosen Chaos mit Brausen und Donnern die Elemente sich schieden, aus dem kochenden Wirbel der Urkräfte; wie das gestaltete Eisen aus der Flamme, die Welten sich lösten, und die alten Riesengötter im Kampfe lagen mit den neuen; wie der gewaltig genialische Geist in seiner schrankenlosen Erhabenheit, in seiner überschwellenden Größe, in seiner unermeßlichen Pracht, wenn die Kunst ihn zwingen will in geründete Formen, in vollendete harmonische Bildung, ins Ebenmaß?

Ein Mann stieg aus der Erde. Sein Auge sprühte Begeisterung wie Funken die Sonne. Die wilden langen Locken umwallten in regellosem Wirbel [130] die hohe gefaltete Stirne und den unbeugsam männlichen Nacken. Er ergriff die alten Eichen und wuchtete die Ungeheuer mit Stamm und Kron' und Wurzel aus der Erde, daß sie lautdröhnend mit entsetzlichem Gekrache wie vom Himmel geschleuderte Giganten niederstürzten. Dann riß er Felsen aus dem Boden und warf wie leichte Steine sie empor und türmte einen auf des andern Gipfel. Dann schwang er sich hinauf und stand auf dem himmelragenden Geklipp, daß seine Haare, von den Winden gewirbelt, wie Schlangen in den Lüften flogen.

Darauf stieg er nieder, und eine Flamme zündet' er an auf einem Altar am Fuß des Felsgeklüftes und betete an die wechsellose Riesenmacht des allgebietenden Geschicks und die Grundkräfte der lebendigen Natur, die alten Urgötter, und flehte, Gerechtigkeit walten zu lassen auf Erden und Heil und Fülle zu verleihen dem heißgeliebten göttlichen Vaterland. Es war Äschylos.

Nicht weit von ihm quoll nieder eine Flamme, daß Tempel umher und Myrten und Blumen vom Lichte glänzten. Es war die ewigheilige Flamme der Religion. Aus ihr trat wie geläutert hervor ein Mann in himmelblauem Gewande. In seinem Antlitz küßten sich wie Bräutigam und Braut der Ernst und die Sanftmut, die Würde und das Gefühl, die Hoheit und die Liebe, die Kraft und die Anmut, und wie Lilien blühte darin der Geist der Reinheit und die Ahnung der Gottheit in ihrer höchsten Fülle. Sein ganzes Wesen war Harmonie und Ruhe. Er war ein Greis, aber [131] jugendliche Schöne schwebte noch in den edeln würdig milden Zügen. Er trat vor einen Altar und kniete nieder und betet' an die alten Gesetze, die ewigen äthergeborenen, in denen der Gottheit nie alterndes Wesen wohnt, und blickte mit einem Antlitz voll anbetender Liebe, voll frommen seligen Vertrauens empor zu dem Geiste der Welt. Es war Sophokles.

Nahe bei ihm war ein Myrtengebüsch. Ein Duft von Salben, Blumen, Räuchereien strömte mir entgegen. Zugleich vernahm ich den Klang einer Flöte und ein laut frohlockend Rufen, ein bakchantisch Getümmel. Es teilte sich der Myrtenbusch. Ein Mann lag auf einem grünen Rasen in den Armen einer Flötenspielerin. Ein Kranz von Efeu und Violen und festlich schmucke Binden waren ihm ums Haupt gewunden. Üppige Weinreben, das Bild der Freude, wuchsen empor aus der Erde, und wie volle Kinderwangen lächelten schwellende Trauben aus dem dunkeln Laub. In seinem Feuerauge blinkte die süße Begeisterung des Dionysos; um seinen Mund schwebte ein spöttisch froher Zug; aber aus seiner Stirne sprach ein strenger tiefer Ernst, eine unaussprechliche Weisheit, eine unglaubliche Stärke, eine unbeugsame Kühnheit. Sein ganzes Wesen war ein Rätsel. Denn während er ohne Zucht und Scheu, mit wilder Lust, mit kecker Derbheit, alles, was um ihn war, Götter und Menschen, zu höhnen schien, strahlte doch aus ihm die Anmut und jede Gabe der Huldinnen in unerschöpflicher Fülle. Sie schienen von ihm abhängig; nicht er von ihnen. Man mußt' ihn anstaunen und doch lieben, den Wilden, Zügellosen. Mit der einen Hand [132] schwang er bald mit lautem Jubel einen vollen Weinbecher, bald eine klingende Handpauke und bald die Maske der Thalia, während er mit der andern den Hals des Mädchens umschlang und mit dem Verlangen der Liebe ihren blendend weißen Busen küßte. Dann sprangen beide auf mit wildem Gelächter und opferten den Charitinnen und der Aphrodite. Es war Aristophanes.

Die Flamme des Äschylos schlug gewaltsam auf vom Felsenaltar in lodernder dunkelroter Säule; die Flamme des Sophokles schwebte in milchweißer Klarheit empor wie ein ausgehauchtes Sehnen unserer Brust; die Flamme des Aristophanes flatterte knatternd in die Lüfte und duftete von süßer Geruchsfülle.

Und plötzlich sah ich über den dreien einen Wagen schweben auf einer Wolke. Amaranten, die Blumen der Unsterblichkeit, hingen in schwellenden Kränzen um ihn. Unendliche Fülle des erhabenen Gesichts! Anbetend sank ich nieder. Ein wunderbarer Mann stand auf dem Wagen wie ein Lichtgeist, dessen Körper zart gewebt war wie Äther, und um und um eine Hülle trug von unzähligen Flügeln. Um sein Haupt bewegten sich dreimal drei Sterne; aber der reinste klarste, der Stern der Weisheit und der Schönheit, brannte wie eine Sonne über seiner Stirne. Zwei Rosse lenkte der beflügelte Mann an seinem Wagen. Weiß war das eine wie frischer Schnee im Glanz der Sonne, mit schwarzen Augen. Sein schlanker Hals war gebogen wie der eines Schwanen, zart und voll züchtiger Scham, und strebte nach oben. Aber neben ihm flog ein schwarzes [133] Roß von häßlicher Mißgestalt, mit kurzem steifem Hals. Seine Nase schwoll von Wut und Ungestüm. Sein blutig Auge wälzte sich wild im Kreise. Unaufhörlich blickte der Beflügelte nach oben. Sein Auge war trunken wie das Auge des Seligen, der die Schönheit schaut in ihrem reinsten Lichtglanz; und immer heftiger regten sich die Federkeime um seinen Körper und schwollen und strebten hinan. Wie von heiliger Scheu war das eine Roß durchdrungen; das schwarze aber schüttelte die wogende Mähne mit wildem Schnauben und bäumte sich wiehernd empor und keucht' an dem zurückgezogenen Zügel. Da riß der ergrimmte Führer am Gebiß, daß Blutstropfen träufelten vom Munde des Rosses und lautdröhnend mit entsetzlichem Geschnaube das Ungebändigte zu Boden stürzte. Da schossen gewaltig die Flügel aus dem unendlich verherrlichten Körper des Wagenlenkers. Sein Auge ward wie Morgenrot. Er ward verklärt zu lauter Seele, lauter Geist. Platon war der Wagenlenker.

Es ward stille. Da hört' ich die fernen Töne klingender Saiten. Und immer näher kam der wunderbare Klang von oben. Ein milchweißes Wölkchen bemerkt' ich niederschweben aus der blauen Luft, und heller immer ward's und größer und blieb am Ende stehn über dem Haupte des göttlichen Wagenlenkers. Jetzt verklangen die Laute. Es teilte sich die Wolke, und ein Greis trat hervor in blendendweißem Lichtgewand, mit langsamfeierlichen Tritt, eine Harfe in der Hand. Um ihn wälzte sich in undurchdringlichen Strömen das reinste Licht. Ein hellgrüner Kranz wand [134] sich mit frischem Laub um seine grauen Locken. Ruhe taute sein ernstes Auge und vollendete Harmonie, und in reicher unermeßlicher Fülle quollen die Strahlen wie melodische Quellen herab aus seiner Wolke unter die Betenden unter ihm. Die Flammen ihrer Altäre wurden gewaltiger vom Lichtregen, und der aufwallende Rauch sammelte sich zu einer dichten Wolke unter den Füßen des Greises. Wer war es an ders als Homer?

Und auf einmal ward's noch klarer um uns, so daß die Tempel umher der Götter erglänzten und die Bäume im Hellgrün. Der Greis verschwamm fast in das wogende lautere Licht. Da hört' ich eine Stimme. Sie kam von ihm: Schauet empor, Ihr Reinen, daß Ihr die Schönheit, nach der Ihr verlanget auf Erden, schauet in ihrer wahren Göttlichkeit, ohne Farbe und ohne Gestalt, ohne Anfang und ohn' Ende, die Schönheit in Gott, in der ich wohne! Sie schauten empor. Auch ich wollte mein Auge hinanheben.

Da erwacht' ich.

Ich fühlt' einen Kuß auf meinen Lippen. Atalanta kniete neben mir in ihrer Schönheit, zart wie die junge Erdbeerblüte. Frische Morgenrosen flochten sich durch ihre dunkeln Locken, und auch mir hatte sie einen Kranz gewunden. Atalanta! rief ich. Ich hab ihn gesehn, unsern Homeros! Im Traum hab ich ihn gesehn, und nahe war ich, die höchste Schönheit zu schaun mit den größten Geistern. Ach, und war das Licht um den Sänger reiner und weißer als Dein Angesicht, Göttliche, unendlich Geliebte? War die Erscheinung beseligender als Dein Auge voll Frieden und Liebe?

[135] Phaethon! rief sie schauernd in Entzücken. Ich preßte sie heftig an meinen Busen.

Dann erzählt' ich ihr meinen Traum. Wir blieben lange noch stehen vor dem Bilde Homers, Arm in Arm wie zwei Kinder. Die Sonne war längst aufgestiegen. Wir wandelten ins Schloß hinüber.

Phaethon an Theodor [46]
[136] Phaethon an Theodor

Auch ich war einst von Wissensdrang geplagt. Aber ach, mein ewig Weinen und Sehnen ward da nicht gestillt, und was das innigste geliebteste Heiligtum meines Herzens war, das fühlt' ich ungeregt. O Theodor, bei allem Suchen und Streben hab' ich nichts wahr gefunden als den Schmerz.

Einen wahren beseligenden Genuß verschafft mir noch die Welt der Dichter. Hier darf ich ja nicht fragen: Wozu? Woher? Warum? Das befriedigte Streben, das gestillte Sehnen meines Geistes ist die Antwort.

Von den Alten les' ich Homer und von den Neuen Shakespeare und Calderon. Wenn andere Dichter eines Volkes sind, so ist Shakespeare Dichter des Erdballs. Du lächeltest oft schon über meine grenzenlose Anbetung dieses erdgeborenen himmelstürmenden Riesen; aber lächle nur! Er ist doch nach Homer der erste aller Dichter.

Und ist wirklich seine Welt mir fast zu real – ich schweb' im Äther – so lieb' ich im Calderon das [137] Zerflossene, das Unbegrenzte, das Blumige. Calderons Welt ist wie ein unendlicher Garten, wo auf lachend jungen Gründen unter glühend südlichem Himmel die üppigste Fülle von farbigen Blumen sich wiegt und aus tausend Kelchen und Glocken das lächelnde Kinderhaupt geflügelter Liebesgötter blickt. Seine Gestalten schieben sich in reizender Unordnung wie Arabesken durcheinander, und alles ist mit den holdesten Blumengewinden wie von göttlicher Hand durcheinander geschlungen.

Phaethon an Theodor [47]
[138] Phaethon an Theodor

Lieber, wenn ich an meinem Klavier sitze, und Atalanta sitzt neben mir, wenn die Töne bald schmelzend und tiefschmerzlich wie mein Inneres klingen und in sanften verschwebenden Akkorden, in linden unendlich empfindungsreichen Akzenten eine namenlose Sehnsucht hauchen wie das Auge der Geliebten, und unsere Herzen erbeben und zerschmelzen und weinend ein unerklärbares Verlangen fühlen; bald wie aus der Tiefe wie ein unterirdisches Donnern zittern, als verkündigten sie das Aufsteigen der schauervollen Geisterwelt, und immer weiter anwachsen und schwellen, und unsere Seelen wie in einem Sturm unaufhaltsam fortgewirbelt werden, und alles um uns und über uns zittert und wankt: da ergreif' ich oft ihre Hand. Ihr Auge wird wie die durchsichtige aber unergründbare Luft, wie das endlose unermeßliche Meer, und ich finde keinen Grund und kein Ende und glaube zu vergehen im Anschaun dieser überschwänglichen Schöne.

Ich ahne jene Sagen der Vorwelt, geheimnisvoll wie die Vorwelt selbst, wo die Macht der Töne sogar das Leblose mit Leben und Wärme füllte, jenen göttlichen Musenruf des diskäischen Schwanes:


[139] Strophe I

Goldne Leier, Dir, Apoll, und
Euch mit dem dunkeln Gelock,
Musen, gleichrechtmäßiges Gut,
der aufhorcht der harrende Fuß zu des Festes Anfang,
Deinem Zeichen lauscht der Sängerchor,
wann Du die Gesänge, die reigenführenden,
tief vom Schlag erzitternd, zum Vorspiel erklingst.
Auch des Blitzstrahls ewig glühenden Flammenkeil
löschest Du aus. Auf des Zeus Szepter schläft der
Adler, der Fittiche hurtig
schwebend Gefieder in Ruh
niedersenkend.
Antistrophe I

Er ist der Vögel Fürst. Du gossest
Nachtgrau des Schlummergewölks
ihm ums runde gebogene Haupt,
sanft das Augenlid ihm zu schließen. Tief im Schlafe
schwillt von Deinem Wollustklange sein
weichwallender Rücken. Und Ares selbst, wild in
Tatkraft, läßt ja ferne des mordenden Speers
scharfen Stahl und labt des Herzens Drang in des
Schlafes Genuß. Es besänftigt ja Götter-
herzen selber der Zauber, bei Phoibos
Lied und der Musen, die tief-
busigen Schwestern.

Epode

Aber so viele nicht Zeus liebt,
die erschrecken, hören sie
[140]
klingende Musengesänge,
auf dem Land wie auf dem unendlichen Meer.
Auch der hunderthauptige Typhos,
der, den Himmlischen verhaßt,
im Bette des Tartaros liegt, den einst des Ki-
liker weitbuchtige Höhle geschützt. Nun aber drückt
ihm das meerumwogte Gestade von Kyma,
Sikela auch, dem Ungeheuer, die
zottige Brust. Auch hält ihn fest die
himmelanwirbelnde Säule,
die beschneite Ätna, des schnei-
denden Gestöbers ewige Amme.
Strophe II

Ihres Abgrunds Klüfte spein un-
nahbaren Flammenlichts
lauteren Quell empor. Bei Tag
strudelt auf grauqualmende Ströme von Rauch die Flut;
aber durchs Nachtdunkel wirft blut-
rotwirbelnde Flamm' in die tiefe Meeresflur
dumpf hintosende Trümmer von Felsen hinab.
Jenes Gräueltier strömt des Hephaistos all-
furchtbare Wirbel herauf, Wunderzeichen,
so zum Erstaunen im Anschaun
wie zum Erstaunen der Wand-
rer zu hören.

Zweiter Teil

Phaethon an Theodor

O Theodor, meine Wonne ist aus! Verklungen wie Harfenlaute ist meine Seligkeit. Ich bin aus dem Himmel gestoßen, und auf der Erde soll ich mich nun finden?

Ach, jetzt fühl' ich: mein Glück war einst kein Traum, denn auch mein Unglück ist keiner.

Mein Leben ist wie ein reißend wilder Strom, der unterm Wirbeldrang des Sturmes brausend die Wogen an die Felsenufer schlägt und schäumend sie zu überspringen droht.

Ich bin wie das Reh, das, verwundet vom gierigen Jäger, durch Wald und Felsgeklüft sich drängt und immer und immer schwächer sich fühlt und atemlos zuletzt sich verblutet.

Ich bin angegriffen im Tiefinnersten. Das Heiligste, was ich hatte, das Geliebteste, ist mir entheiligt und geraubt.

Jetzt erst seh' ich ein, wie grenzenlos ich liebe. O ich Armer!

War das Dein Schmerz, Katon, den auf der Brust Du trugst? Und nun ist er weg? So ist es denn also gewiß: kein Mensch trägt ewig einen Schmerz.

Du Guter, Treuer, wenn Du mich liebst, so weine mit mir! Ich schlage krampfhaft meine Hände auf die Brust und wende wie verzweifelt meine Augen [145] umher. Aber das ist kein Trost für mein verwundet Gemüt! Weine! Weine! Mit Tränen will ich auswaschen die blutende Wunde. Ich bin ja unglücklich.

Höre! Schon einige Tage ist's, als wäre zwischen mich und Atalanta ein neidischer Dämon getreten. Es lag schwer auf mir. Ich konnte nicht ruhen des Nachts.

Da wandelt' ich gestern Abend durch den Garten, von meinem Schmerz gequält. Der Himmel war umhüllt von nächtlichen Regenwolken, finster wie meine Seele.

Ich dachte bei mir selbst: Welche Verwegenheit macht Dich so unglücklich? Ein Abbild der höchsten Schönheit hast Du erkannt in ihr, und Du denkst an irdischen Besitz?

Da erinnert' ich mich an alle jene Stunden, wo ihr Herz sich mir geöffnet, wo sie mein war, ganz sich mir gab, in mich verschwamm, mich küßte.

Und dies heiße Herz in meinem Busen, dieses Verlangen und doch dies Versagen, diese Sehnsucht und doch diese Treue, o alles, alles webte zusammen. Ein unendlich tiefes Selbstvertrauen stärkte meine Seele.

Jetzt hört' ich ferne den Klang einer Laute; und leise verhallende Stimmen klangen durch die Wellen der Lüfte.

Auf die drei Säulen ging ich zu. Stille schob ich die Rosengebüsche voneinander und – Atalanta saß auf einem Trümmer, die Laute in der Hand; ihr gegenüber Katon, die Arme stützend auf das Knie.

Der Säulen eine barg mich ihrem Auge. Es herrschte eine fürchterliche Stille. Da liefen ihre Finger wieder durch die Saiten.

Sie sang:


[146]
Wo weilst Du, Vater?
Badet mein weinend Auge
voll Sehnsucht sich im Purpurlicht
der glühenden Abendröte,
so denk ich Dein! Ach, schwimmst Du
drüben in den warmen Wellen?
Schau ich himmelan,
wann im nächtlichen Äther
die goldnen Sterne schweben
wie im dunkeln Laube
die schwellenden Zitronen,
so wein' ich hinauf und rufe:
Bist Du dort, Vater,
Vater, den noch nie mein Auge sah?
O schau auf Deine Tochter,
die um Dich weint!
Schau nieder auf die Liebende!
Nahst Du?
Ist das leise warme Wehen,
das die Wangen mir küßt,
ist es Dein Geist,
ist es Vaterkuß?
Kommst Du zu lösen dies Herz,
zu stillen dies Sehnen,
das mich drängt hinüber,
hinüber zu Dir?
[147]
Und ich verlasse die Blumen,
meiner Jugend Gespielen,
um zu pflücken in Unschuld
die Blumen der Wahrheit
und seliger trunkener Liebe,
wo sie blühn um den Quell,
der aus der Gottheit Fülle quillt
wie Milch aus der Brust der Mutter?
Oder sind es Tränen Deines Auges,
die Tautropfen auf den Blättern,
die Du geweint,
weil Dein Kind Du nicht bei Dir hast?
Trockne sie, liebender Vater!
Ach, trockne sie!
Dein Kind wird zu Dir kommen,
weil rein es ist wie das Licht,
in dessen Fülle Du wohnst.
Dein Kind wird Dich sehen!

[148] Sie schwiegen. Katon zitterte. Zittern sah ich ihn noch nie. Er hob die Arme zum Himmel und rief: O Vaterland und Liebe! Dann schlang er brünstig seine Arme um Atalanta und preßte das bebende Mädchen an seine Brust und küßte ihre Lippen. Ich kann nicht mehr! war das einzige, was er noch ausrief. Nun stand er auf und sagte mit einer Stimme, die nie noch so klang aus seinem Munde: Atalanta, komm!

Sie gab ihm die Hand, und beide verschwanden im Dunkel.

Katon! Katon! Das hätt' ich nicht gedacht!

War dies das fürchterliche Geheimnis, das Du ausgebrütet im Gewölbe beim magisch geisterhaften Schein der Kandelaber? Finsterer Sohn der rätselhaften Nacht, du ewiges Geheimnis! Ich wähnte, Du denkst am alten schwarzen Sarkophag an die abgeschiedenen Brüder und nicht an eine unverblühte Jugend. Ich wähnte, in Deiner Brust wehen die Schauer des Todes, und sie glühet für zarte Mädchenwangen. Der Sarkophag sei bestimmt für die Verstorbenen und nicht für die Lebendigen. Für mich! O Theodor, mir graust!

[149]

Lange stand ich unbeweglich an der Säule. Dann sank ich auf die Trümmer, wo die Beiden sich umarmt, und kühlte meine brennenden Lippen an dem kalten Stein und benetzt' ihn mit meinen Tränen. Dann rannt' ich davon.

Ich hätte sollen schlafen? Theodor, schlafen?

Ich lief durch die finstern Wiesen. Mein Inneres war nächtlich wie Nebelhaiden Ossians, wann durch die Wolken weht der Geist des schaudrigen Loda, und der Nachtsohn daher fährt auf Orkanen, den grauenvollen Wolkenschild schüttelnd.

Auf einem Berge legt' ich mich nieder. Die Winde rauschten durch die Eichen und schüttelten die Äste wie Nachtgedanken meine arme Brust. Allein saß ich auf dem Berge. Ich fühlte nimmer die Mutterliebe der allbeseelten Natur, nicht mehr das heilige lebendige Glühen um mich her. Es standen die Eichen vor mir wie erstarrte Riesen, und das finstre Tal am Fuß des Berges wie schaurigöde Reste einer zertrümmerten Welt voll Licht und Leben. Tot, tot war es um mich wie in meinem Innern.

O, da fand ich's: Wer den Frieden nicht im Busen trägt, der findet ihn nirgends.

Ach, ein einziger Stern am Himmel hätte mich noch glücklich gemacht. Ich hatte ja Licht gesehen.

Ich lief wieder hinab dem Schlosse zu. Keine Seele begegnete mir unterwegs. Alles, alles schwieg und ruhte, Menschen und Tiere, Bäume, Blumen und Gräser. Ich allein ruhte nicht. Am Ufer des Sees [150] setzt' ich mich nieder. Seine Wellen klangen durch die Stille. Das einzige Bewegliche in der entschlummerten Welt! Aber ach, mir schien's, als klängen die Wellen nur, die Minuten des Todes zu zählen.

Gegen Morgen ging ich nach Hause.

Phaethon an Theodor [1]
[151] Phaethon an Theodor

Die Sonne stieg blutrot am Osten empor und erhellte die Welt, die so fürchterlich mir war in dieser Nacht. Die schwarzen Berge glühen in Morgenrot, aber durch meine Seele ist noch kein Licht gebrochen.

Mein Busen brennt wie die glutrote Feuerlilie.

Wo sollt' ich Trost finden? O dieser Schmerz! Er ist eine Wollust, dieser Schmerz! Eure stoische Apathie ist der Greuel höchster! Bruder, wenige waren glücklich wie ich. Warum sollt' ich nicht auch unglücklicher sein als andre? Aber warum mußt' ich glücklich sein, eh' ich unglücklich wurde?

Was hilft mir nun all mein Wissen? Meinst Du, es lindre diese kämpfende Brust?

Die Sonne lächelt wieder freundlich draußen; aber ich mag nicht in die Natur. Glaubst Du, ich wolle allein durch Wies' und Aue streifen wie eine gewitterschwangere Wolke durch die heitere Luft und allein mich unglücklich fühlen unter den Kindern der Natur?

[152] Ich hatte überlegt. Mir ist das Leben wie ein Schlaf ohne sie. Der Schlaf ist des Todes Bruder. Schlafen und Gestorbensein unterscheidet sich ja nur durchs bloße Träumen; und ob ich vollends entschlummere und nicht mehr träume, gilt mir gleich.

Lebe wohl!

Phaethon an Theodor [2]
[153] Phaethon an Theodor

Deinen Brief hab ich erhalten. Aber ich konnte Dir nicht antworten. Lieber Bruder, diesmal konnt' ich Dir nicht antworten. Es war weit mit mir. Höre!

Die Welt war mir verhaßt an jenem Morgen. Zertrümmert war mein Alles; gelöst die ganze Spannkraft meines Geistes. Ich dachte nicht an sie; nur Katon stand vor meiner Seele. Um Mittag klopft' es an meiner Türe. Sie war geschlossen. Ich öffnete; blieb stehen wie erstarrt. Atalanta stand vor mir.

Ihr Auge war ruhig und voll Frieden. Sie ahnte ja nicht, wie mir war. O Gott, warum war das so?

In meinem Innern regte sich's wie in der Erde, wenn sie die tiefgeheimen Kräfte allzerstörend zum furchtbaren Ausbruch rüstet, und wild in gärenden Wirbeln die empörten Elemente gegeneinander toben.

Lange saß sie mir gegenüber. Endlich sagte sie ängstlich: Phaethon! Deine Augen sind verstört und glühen matt wie halberloschne Flammen. War Dein Schlummer nicht sanft diese Nacht?

[154] Schlummer? murmelt' ich finster. Werd' ich schlummern, wenn meine Welt mir in Trümmer sinkt? Ich konnte fast nimmer! Seufzte: Ach, sie sank so bald!

Was ist Dir, Phaethon? rief Atalanta weinend.

Nicht wohl! war meine Antwort. Ich stand auf und wandelte mit raschen großen Schritten in meinem Zimmer auf und ab. Mein Inneres ward düsterer und immer düsterer.

Ich blieb stehen vor ihr; sah sie starr und bewegungslos an. Sie spielte mit Blumen in ihrem Schoß und fragte mich endlich mit einem unaussprechlich traurigen Blicke: Phaethon, was ist Dir? Du bist schrecklich.

Umsonst. Es ward nur immer nächtlicher in mir. Wer hält den Strom in seinem Laufe, wenn er von himmelhohen Felsenklippen die Flut lautdonnernd in die Tiefe stürzt?

Ich schritt wieder durchs Zimmer. Ein weinend Ach! vernahm ich noch von ihren Lippen. Dann sah ich nichts mehr, hörte ich nichts mehr.

Auf einem Tische lag ein Messer. Ich ergriff's und dreht' es in den Händen. Phaethon, was hast Du? rief sie erschrocken. Ich sprach kein Wort, sondern stieß das Messer gegen meine Brust.

Das Blut floß. Mir ward schwindlig. Ich mußte mich niedersetzen.

Gott! rief Atalanta mit einem entsetzlichen Schrei und rannte durch die Türe.

Die Besinnung schwand mir. Wie ich erwachte, lag ich auf dem Bette. Der Arzt stand neben mir und verband mich.

[155] Das Fieber rüttelte mich fürchterlich. Cäcilie war um mich geschäftig. Sie weinte.

Ich war allein mit Atalanta. Ich sah sie an mit brechendem Auge; ergriff ihre Hand; stammelte: Atalanta! Einen Kuß! O Phaethon! rief sie weinend mit einem namenlosen Ausdruck und sank über mich her. Ihr Mund glühte flammend auf dem meinen. Ihre Haare lösten sich auf und wallten über mich hinunter. Ich küßte die Tränen von ihrem Auge.

Jedes Wort war Schmerz. Gestern Abend! Katon! Das war das Einzige, was ich konnte lispeln.

Sie verstand mich. Ich bin nicht schuldig! rief sie, heftiger weinend, immer noch matt an meiner Brust liegend.

Wo ist Katon? sagt' ich. Sie wußte, was ich wollte, riß sich los und flog durch die Türe.

Einen Augenblick war ich allein. Ich schauderte vor dem Grabe.

Atalanta kam wieder und sagte: Katon will nicht kommen.

Weiß er's?

Er weiß es! schluchzte sie.

Das grämte mich. Fürchterliche Bilder umgaukelten mich den Abend. Das Wundfieber verließ mich die ganze Nacht nicht. Gegen Morgen entschlummert' ich. Wie ich erwachte, standen Katon und Atalanta vor meinem Bette.

Wir sahen uns lange starr an. Dann sagt' er dumpf: Du bist ein schlechter Freund! Ein Blick von Atalanta milderte seinen Ernst. Er ging fort und ließ uns allein.

[156] Aber zürn' ihm nicht!

Theodor, Du wirst staunen! Katon hat den Schleier abgeworfen, und seine Seele steht in ihrer ganzen Größe vor mir da.

Gegen Abend trat Cäcilie mit Atalanta in mein Zimmer. Katon folgte. Er war wie ein anderer Mensch; wie verjüngt. Sein Bart war geschoren; seine Miene geheimnisvollfreundlich. Er trat zwischen mich und Atalanta und sagte: Ich hab Euch entzweit. Ich will Euch wieder einen. Atalanta! (O, dies sprach er mit einem unbeschreiblichen Schmerze.) Atalanta, ich bin Dein Vater! Cäcilie ist nicht Deine Mutter!

Die Welt verschwamm vor meinen Augen. Erwarte nicht, daß ich die Szene Dir beschreibe! In solchen Augenblicken handelt der Mensch, ohne es zu wissen. Cäcilie verhüllt' ihr Angesicht. Atalanta lag vor Katon und stammelte weinend: Vater!

O, wie der schöne hohe Mann, vom Abendlicht der Sonne verklärt, da stand, und zu seinen Füßen die Jungfrau, meine Geliebte! Wie er die Arme nach ihr ausstreckte und sie ans Herz drückte! Wie sie nun sich losriß und vor Cäcilie kniete und rief: O Mutter, Mutter! und es wieder stille ward, und sie endlich wieder schluchzte: Warum mußt' ich den Vater bekommen, da ich die Mutter verloren?

Es ward wieder ruhig. Vater und Tochter blickten sich an wie freundliche Sterne. Auch Katon weinte.

Ich ergriff seine Hand; sah ihn an mit tränendem Auge. Er lächelt' und erwiderte: Ein andermal!

[157] Dann faßt' er Atalantas Hand und sagte: Noch etwas, meine Tochter! Du bist eine Griechin!

Griechin! rief ich außer mir. Ihr Auge war, als wollt' es zerfließen in Wasser. So sanft, so schmerzlichmild, so ganz Gefühl und Seele! O, und nur ich verstand sie!

Katon war unbeweglich stehen geblieben. Dann setzt' er noch hinzu: Doch fragt mich nicht mehr, bis ich selbst Euch das Geheimnis löse! und ging dann fort.

Die halbe Nacht wiegt' ich mich in der Betrachtung der wunderbaren Entschleierung; aber noch konnt' ich das unterirdische Gewölbe nicht enträtseln, und weiter fragen dürfen wir ihn ja nicht.

Man verband mich täglich. Die Wunde war nicht gefährlich. Ich ward ruhiger.

Oft las mir meine Griechin vor. Sie saß dann neben meinem Bette.

Wenn ich sie so ansah, wie sie da saß in ihrer unbegreiflichen Schönheit, und die großen seelenvollen Augen auf dem Buche glühten und dann mich wieder unendlich liebend ansahen; wenn die holden Lippen so melodisch die Worte sprachen, und sie mir erschien, dem Kranken, Verletzten, wie die ewige Jugend, wie die unverwelkliche Gesundheit; wie ich endlich ihre Hand ergriff, und sie schwieg, ihr Haupt über mich herein senkte und einen glühendheißen Kuß auf meine Wange drückte ... Da fühlt' ich, daß wieder Gesundheit schwellte durch mein Innerstes wie der Lebenssaft durch die getränkte Blume. Mein kalter Busen erwärmte sich an dem ihrigen und sog Leben und [158] Fülle aus ihrem Munde wie die Biene Honig aus der Rose.

Jeden Abend kamen Cäcilie und Katon zu mir. Aber er schwieg immer. Nur einmal sagt' er beim Hinweggehn: Bald wird sich's lösen!

Meine Wunde hörte auf mich zu schmerzen. Der Schlaf erquickte mich wieder, und ich fühlte mich an einem warmen Nachmittag gestärkt genug, an Atalantas Arm durch den Garten zu wandeln. Ich grüßte jede Blume, jede Quelle, jeden Berg. Ich fühlte mich wieder ganz als den Liebling der Mutter Natur.

O, so müßt' es dem sein, der aus dem Reich der Toten wieder ans Licht der allerwärmenden Sonne träte!

Phaethon an Theodor [3]
[159] Phaethon an Theodor

Nun, lieber Theodor, ist alles anders. Katon hat sich uns entdeckt. Atalanta ist mein. Aber nur Dir darf ich das Geheimnis anvertrauen.

Gestern Abend trat Katon zu uns herein und hatte die geliebte Tochter an der Hand. Er gab mir seine andere. Ich folgte schweigend. Ich ahnte, was er wollte. Er ging mit uns auf sein Mausoleum zu. Wir schlüpften durch die Rosenhecken und standen vor der Sphinx. Er schloß die Tür auf. Atalanta bebte und schmiegte sich furchtsam an den Vater. Nacht umgab uns. Wir stiegen eine enge Wendeltreppe hinab und gelangten auf den ebenen Boden. Lichter brannten wieder auf den drei Kandelabern. Der schwarze Sarkophag war mit weißen Rosen umkränzt. Mir schlug das Herz; doch wagt' ich nicht es zu gestehen, daß ich schon einmal hier war.

Mein Schicksal will ich Euch enthüllen, Kinder! sagte Katon freundlichernst und setzte sich oben an das Haupt des Sarkophages. Zu beiden Seiten saßen wir auf schwarzen blumenüberhangenen Stühlen. Hört, sprach er endlich, aber unterbrecht mich nie!

[160] Darauf begann er:

Ich bin ein Nachkomme der alten Spartaner und ward geboren in einem der Täler des Taygetos. Mein Vater war ein wilder Maniate. Die Freiheit liebt' er wie die andern rauhen Männer in den Schluchten des Gebirges und verteidigte sie kühn im Kampfe mit dem Pascha.

Von Jugend auf ward ich gewöhnt, die Waffen zu führen. Schon als Knabe kniet' ich mit den großen Hunden an den lohen Feuern, wenn sie brannten durch die schwarze Nacht, den Muselmann von unserm Dorf zu schrecken. Meine Mutter war mir früh gestorben, und bald fiel auch mein Vater im Gefecht. So war ich allein auf der Welt.

Ich kam nach Misitra. Hier ward mein Geist genährt mit den Riesenbildern des alten Sparta. Die Vorwelt stieg wie ein Schatten aus den Gräbern. Ich ward mit ihr befreundet und fühlte meinen Busen anschwellen von großen erhabenen Entwürfen.

Mein Mausoleum ist ein Bild des Hauses, worin ich wohnte. Es hob sich dunkel aus Platanen und Orangen wie ein alter schauriger Geist aus der jungen blumenvollen Erde. Doch mir war es immer zu eng im Hause. Hinaus trieb's mich mit ungestümer Kraft, wo ich die große Natur in ihrer Fülle sah und die mütterliche Erde, und weinend dankt' ich oft meinem Gotte, daß er mich werden ließ in Griechenland.

Die Spiele meiner Kindheit waren die Spiele der alten griechischen Jugend. Um die Zeit, als der erste Flaum noch um mein Kinn blühte, war ich [161] immer Sieger im Wettlauf und beneidete die Älteren, die schon den Diskos werfen oder den Gegner im Ringen zu Boden werfen konnten. Auf meinen wilden Sinn wirkte bei den Tänzen wenig die Hymne, wenn die Leier erklang am Fest und die baskische Trommel; aber da glühte meine Brust, wenn im pyrrichischen Tanz die Männer wie starke Löwen mit den Waffen einander entgegenschritten.

Oft saß ich bei Nacht, wann der Mond am Himmel schwebte, allein unter den Trümmern der persischen Säule oder am dunkeln Gemäuer des alten Tempels der Venus Armata oder auf den steinernen Sitzen des Dromos und dachte an die Zeit, wo die Väter noch wandelten in diesen Räumen und der ernste eiserne Sinn sich bildete, der mich in düstern Schauern anwehte aus den finstern nächtlichen Gestalten.

Die Gegenwart verschwand vorm Heldenglanze der Vergangenheit. Ich wiegte mich in Träumen wie die Biene in Blumenkelchen und war gesund an Geist und Körper.

Da sprach aus meinem Innern eine Stimme. Sie hieß mich mein Vaterland durchwandeln. Allein mußt' ich gehen. Meine Geliebten waren ja tot. Ich nahm Abschied von meinen angebeteten Trümmern, von den Lorbeerufern des Basilipotamo und wandelte von Misitra. Damals war ich siebzehn Jahre alt.

Ich kannte den Menschen noch nicht. Ich liebte bloß den Griechen und haßte den Türken.

Meinen Weg wandt' ich auf Arkadien zu. Bald umfingen mich die Täler des schönen Hirtenlandes. [162] Ich streifte tagelang durch die rauhen waldbewachsenen Gebirge, wo ungeheure Felsenklüfte wechseln mit wild emporstarrendem Geklipp, und um die kahlen Riesenstirnen nur einsam Moos und Farnkraut sich rankt. Dann stieg ich wieder hinab in die grünen lachenden Tale.

Da setzt' ich mich dann auf ein altes Säulenstück am Abend, wenn zarte volle Wölkchen sich im glühendreinen Gold des Himmels badeten, und sah, wie die Bienen um duftende Blumen, um Lorbeer und Myrte schwebten, und die raschen mutigen Rosse an den lachenden Ufern des klaren Flusses sprangen. Dann flog mein trunkener Blick hinweg über die fetten Gründe mit ihren Platanen und Maulbeerbäumen und irrte um dunkelgrüne Hügel, wo die weißen Schafe hüpften und ihren Quendel und Thymian suchten. Und weiter hinaus schweifte mein Auge, wo auf den breiten Höhen Tannen, Fichten und Therebinthen ihre unermeßlichen Wälder bildeten, und überhundertjährige Eichenstämme die Felsen ihre grauen Häupter türmten, und blieb endlich stehn auf dem hohen Pholoë, der über den grünen Tälern mit seinem ehrwürdigen, in den schneegewobenen Schleier gehüllten Haupte dastand wie auf der jungen beblümten Wiese der Priester des Sonnengottes.

Dann dacht' ich an die schönen Zeiten, wo der fromme dankbare Mensch alles, was um ihn war, Wälder und Fluren, Quellen und Flüsse, Täler und Berge mit dem Geist einer Gottheit belebte, wo die Nymphen, die heitern Töchter der Natur, durch [163] Blumen und Fluren irrten, in jedem Baume eine Dryas webte, über dem klaren spiegelnden Wasser der volle Busen einer Göttin schwoll, und der muntere Pan Gebirg und Wald mit seinem Flötenklang erfüllte. Da schwebte das ganze Gewimmel der alten Götter an mir vorüber, und ich sah sie um mich wirken und lächeln als die Kräfte der heiligen wirkenden Natur.

Ich wandelte durch die Ebene Mantineias und suchte das Grab des Epameinondas. Nie vergeß' ich diesen Morgen. Die Sonne war eben aufgestiegen und schien in ihrem wandellosen Licht herab auf die Erde. Das ewige Spiel der Zerstörung und Umwandlung! Ich wand mich durch das Rosmaringesträuch, das um die Gräber meiner Väter sich wob wie der Blumenkranz um das Haupt eines abgeschiedenen Greisen, und irrte trauernd durch die Ruinen und las die Inschriften auf dem alten Gestein. Dann setzt' ich mich nieder. Frisch blinkte der Tau auf den Blättern im Glanze der Sonne, die durch Lorbeer und Oliven ihre zitternden Strahlen auf mich warf und mit warmem Kusse mir um die Wangen spielte. Über den Rebenhügeln lag vor mir der Mänale mit seinen Fichten, der Artemisios und der waldige Parthenios standen zur Seite, und in weiter Ferne dämmerten wie ein Traum, im rötlichen Morgenduft verschwimmend, die weißen schneeumwobenen Riesenstirnen des Taygetos. Da kniet' ich nieder auf die geweihte Erde und betete die Sonne an und schwur in Tränen bei den Geistern meiner Ahnen, würdig [164] zu werden ihrer erhabenen Heldengröße und zu sterben, wenn die Zeit kommt, für mein unterdrücktes Vaterland.

Nun ging ich durch die Haide von Tegea, wo traurig um die ungeheuren Trümmer der gelbe Grashalm wankt, und bald lag das verarmte Korinth vor mir, dem hohen, von zwei Meeren bespülten Geranion die Füße küssend.

Umsonst suchte mein Auge die Tempel der Freude, wo einst die schöne Jugend der Macht der Aphrodite ihre Opfer brachte, und die Hetären, mild wie ihr sanfter Himmel, im Arm der Wollust in tausend schwelgenden Genüssen die Triebe freier Männer wiegten. Einst war's der Sitz der Schönheit, Kunst und Freude. Der Reichtum warf seine Fülle wie Apfelblüten über diese jugendliche Stadt. Jetzt hatte die Armut die gefallenen Brüder gebleicht wie zu Schatten und Gespenstern. Alles, was die Menschen gebaut und geordnet, ist verschwunden. Wie ein Fremdling klimmt der späte Nachkomme um die Trümmer seiner Väter; und doch lächelt der Himmel noch so rein wie vordem, und das Meer rauscht ewig in seinen Ufern, und die Berge schauen ewig jung über die verwandelte Erde.

Von Korinth schifft' ich nach Athen. Dort saß ich tagelang auf der Höhe der Akropolis und sah durch die grauen Säulen und die jungen Lorbeere hinüber zum bienenreichen Hymettos. Ich wandelt' an den verlassenen Ufern des Ilyssos und des getrockneten Kephissos – und durfte mir nicht sagen: Auch du bist ein Grieche!

[165] Nun kam ich durch das alte Böotien, durchwandelte die Wälder und Haiden des dürren Ätoliens, weinte über die Raubhorden der Schluchten von Manina und goß meine Tränen in den alten weißen Acheloos. Wie eine Furie trieb mich der Geist des alten Hellas durch die Länder. Eine wilde Unruhe jagte mich über die Berge, und mein Volk stand in seiner ganzen Niedrigkeit vor meiner Seele. Ich schifft' ab von Öniadä, stieg zu Dyma ans Land und wandelt' ins schöne Elis. Kinder, da ward vollendet das Bild! Wildverwobenes Gesträuch, Säulenstümpfe, Mauerstücke, zerbrochne Basreliefs, Schilder, Trophäen bedeckten das Tal von Olympia. Der Alpheios wälzte sich wie eine blaue Schlange mit kühner Windung durch die Ebene, wo nur der Tod und die Zerstörung wehten, die Wölfe des Pholoe und des Erymanthos in der Wildnis hausen, und nur hie und da ein einsamer Mann in der schweigenden Gegend gräbt, dem Boden seine Schätze abzugewinnen.

Mein Leben war ein Schmerz geworden. Ich versank in Schwermut wie der Mond in Wolken, und die Freiheit war mir zu einem fernen verschwebenden Luftbild geworden.

Die Donner, die wilden Vorboten des Winters, erschollen am Himmel, und ich war wieder in Arkadien.

Die Blumen der Tale waren gestorben wie meine seligen Träume. Ich suchte sie vergebens. Der Schnee umhüllte die Erde wie die Silberlocken das Haupt eines Greises, und die hochstämmigen breitästigen Eichen standen da wie die Geister ihrer Frühlingsblüten. Das [166] Pentedaktylon glänzte mit seinen Schneehäuptern wie eine milchweiße Wolke im blauen Äther.

Da half ich nun den armen Brüdern die unbändigen Wölfe verscheuchen von den Dörfern, wenn sie herunterkamen in heulenden Scharen von den Waldgeklüften des Lykeios, und des Abends saß ich am Herde, wärmte mich an der Flamme und horchte träumend den Märchen von Sylphen zu, die der Aberglaube von Mund zu Mund geleitet.

Der Frühling kehrte wieder. Das Veilchen blickte wie der bescheidene Wunsch unsers Innern aus dem Schnee. Die Fluren wurden frei, und die Störche kamen wieder von Libyens Gestaden und bauten ihre Nester auf alte Mauern, auf hohe Säulenkapitäle. Es grünten und blühten Platanen, Feigen und Maulbeerbäume. In meine Seele kehrte kein Frühling.

Da wandelt' ich wieder am königlichen Eurotas und sah die Schwäne ziehen in seinem blauen Gewässer im Schatten des Lorbeers. Die Burg von Sparta lag vor meinem Auge. Von den weißen Höhen des Taygetos rollten donnernd die Schneelawinen in die Täler.

Ein alter Mann mit langem Barte saß am Ufer unter einer jähen Felswand. Er schien in tiefe Gedanken versunken.

Ich wünscht' ihm einen guten Abend. Er schaute auf. Ich sah aus langen grauen Locken ein altes ehrwürdiges Gesicht mit hoher freier Stirne, mit feurigem Auge, voll edler Würde blicken. Ein tiefer Gram schwebte wie der Schatten einer Wolke um seinen Mund.

[167] Er schaute mich lange unbeweglich an und schien sich zu erfreuen an meinem Wesen. Dann fragt' er mich: Wer bist Du?

Ich antwortete mit kühnem Stolz: Ein Grieche!

Der Alte stutzte. Woher kommst Du?

Von den Ruinen meiner Väter!

Was suchst Du hier?

Einen Spartaner!

Wo bist du geboren?

Zu Sparta!

Das Antlitz des Greises verklärte sich wie die grauen Bergesscheitel, wann die Wolken über sie hinwegwandeln und die Sonne sie heiter beleuchtet.

Dann sagt' er: Und wenn Du einen Spartaner findest, Jüngling mit dem Feuerauge?

O, dann will ich an die Brust ihn pressen und den Bruderkuß ihm auf die Lippen drücken und mit ihm beweinen mein Vaterland!

Das Antlitz des Alten trübte sich. Er sagte: Beweinen nur?

Nein! rief ich mit Leidenschaft. Leben und kämpfen für mein Vaterland, daß es emporsteigt aus den Trümmern wie die Morgensonne und noch einmal wie sie die Riesenbahn durchwandelt! Aber ach, ich werde keinen finden. Die Spartaner liegen im Grabe.

Jüngling, Du hast einen gefunden, rief der Greis mit Entzücken und sprang empor und schloß mich in die Arme.

Ehrwürdiger Vater, erwidert' ich, aus seinen Armen mich befreiend, Deine Haare sind grau. Bald wirst [168] Du ins Grab steigen wie Deine Väter. Es braucht Jugend und Kraft, die Ketten zu lösen von unsern Brüdern.

Fahre Du fort, wo ich begonnen, rief er aus, und pflege Du, was ich gepflanzt! Du wirst Dich um mich schlingen wie der junge Efeu um den alten Eichenstamm, und wir wollen Arm in Arm dahinschweben über die Lande wie Engel des Weltgerichts, daß die Völker sich emporheben wie frische Akazien über den Gräbern und die Heldenbrust schwellen fühlen vom Donnerworte: Freiheit!

Ich staunte ob der Begeisterung des Alten. Ich glaubte, es sei ein Geist, der wieder heraufgestiegen, die Nachwelt zu erwecken, zu befeuern.

Sein Auge blickte sinnend hinüber auf die Inseln und ihre Rosen und Myrten im Gewässer des Eurotas und wandelte dann über das Pentedaktylon und den waldigen Tornika.

Ich wußte nicht, was er wollte mit diesem Blick, als er sagte: Ist ja doch das Land noch schön wie vor drei Jahrtausenden, als an den lorbeerbeschatteten Ufern man die Blumen pflückte zum Brautkranz für die schöne Helena und auf dem Taygetos die Opferflammen brannten dem gefeierten Gotte!

Dann ward er wieder ein wenig still und sagte endlich: Folge mir in meine Wohnung! Ich folgte schweigend.

Unterwegs erzählt' ich mein früheres Leben. Der Alte ward immer heiterer, fiel mir wieder in die Arme und rief: Du mußt bei mir bleiben!

[169] Wir wandelten so unsern Weg. Unvermerkt stand ich unter hohen Felswänden, die ein finstrer Geist in regellosem Wurf gestaltet zu haben schien. Aus verwobenem Myrtengesträuch sprudelt' ein frischer Quell und wandelte mit melodischem Murmeln durch die Felsen.

Im Schatten hoher Zypressen und Lorbeerbäume stand ein freundlich Häuschen, auf dem der beruhigte Blick sich erholte von den wilden Gestalten der Felsklippen.

Es ist mein Haus! sagte der Alte. Es ist auch das Deine.

Wir traten hinein. Ein gewölbtes Zimmer umgab mich. Ich mußte mich niedersetzen. Der Alte saß mir gegenüber.

Wir sprachen noch eine Zeitlang, als er rief: Theone!

Bald ging die Tür auf, und ein Mädchen trat herein, weiß wie die Schwäne des Eurotas, mit langen braunen Locken und einem Auge voll Unschuld und Frieden. Lächelnd und unbefangen grüßte sie mich und den Alten. Ihr Anblick machte einen wunderbaren Eindruck auf mein Herz. Ich fühlte etwas quillen in meinem Innern, das ich noch nie gefühlt.

Bring' uns das Abendbrot, Theone! rief freundlich der Greis, und das Mädchen flog wieder durch die Türe.

Es ist meine Tochter, sagt' er zu mir, wie sie draußen war.

Bald war sie wieder da und stellte einen Korb voll frischer Früchte und einen großen steinernen Krug voll Wein auf den Tisch. Dann entfernte sie sich wie der.

[170] Wir sprachen noch einige Stunden. Dann wies mir der Greis ein Zimmer an, drückte mir herzlich die Hand und schied. Ich setzte mich ans Fenster. Der Mond blickt' in seinem blassen Licht zwischen zwei Felsen, die ihre Riesenschatten weit über die Fläche warfen. Unerklärbare Schauer zogen durch meine Brust. Der wunderbare Greis mit seinem Feuer und das Gefühl meiner Bestimmung lag feierlich vor meiner Seele wie die schlummernde Natur. Das Bild des zarten Mädchens umschwebte mich wie eine stille lindernde Ahnung und spielte mir heiter wie das Mondlicht um die gekühlten Wangen. So schlummert' ich ein.

Kaum war die Sonne aufgegangen, da stand Hilarion – so hieß der Alte – an meinem Lager und sagte: Wir wollen nach Sparta wandeln!

Wir gingen. Unterwegs sagte Hilarion: Aus dem Kampfspiel holten unsre Väter ihre Stärke. Aus ihm entsprang jene Vollkraft, jene erhabene Gesinnung, jene Größe und Fülle des Lebens, jene Harmonie des Geistes und Körpers. Da galt kein Stand, kein Rang; die angeborene Stärke siegte. Da waren sie Menschen im vollen Sinne, Kinder der allbeseelten Natur, frei wie der Vogel in den Lüften und lebenskräftig wie die frischbetaute Blume. Da entstand jener Gemeingeist, der alle beseelte. Das ist der Fehler unserer Zeit, daß der Einzelne sich trennt vom Einzelnen und darum nie ein Ganzes waltet. Würde jeder sich selbst vergessen und alle zusammenwirken zu einem Zwecke, da würde ein Volk entstehen, [171] groß wie das untergegangene und stark genug, den Erbfeind zu vernichten. Darum sollen sich unsere Jünglinge üben in jenen Spielen, die Geist und Körper stärken; und das wird der Keim sein, aus dem der ewigkräftige Heldensinn entsproßt, jenes Zusammenweben aller für Eines.

Unterdessen waren wir nach Misitra gelangt. Laßt uns vorher zu meiner Tochter gehen! sagte Hilarion, indem er auf ein Haus deutete, das nahe vor uns stand. Sie lebt hier bei einem Verwandten. Es ist die Ältere.

Hier lernt' ich Cäcilien kennen, die Du für Deine Mutter hieltest, Atalanta!

Darauf gingen wir zu vielen wackern Männern und sprachen über unsern Plan.

In wenigen Tagen waren unsere Wiesen voll von Knaben, Jünglingen und Männern. Jetzt ist es Deine Sache, sprach Hilarion, zu ihnen zu reden!

Die Brust schwoll mir von Begeisterung. Auf einem Rasen redet' ich zu den Spartanern.

Meine Worte waren wie der Gießbach, der von Felsenhöhen in die Täler strudelt, die Eichen aus den Wurzeln reißt und alles faßt und wogend mit sich fortreißt. Die Ungestümen rissen Zweige von den Lorbeerbäumen und warfen sie mit lautem Ruf über mich. Hilarion drückte mir schweigend die Hand.

Von nun an kamen sie täglich zusammen zum Ringen, Laufen und Werfen. Und wenn ich schweißbedeckt am Abend nach Hause kam, trat mir Theone entgegen und gab mir mein Abendbrot. Da ruhte [172] die wilde Kampfeslust und der tobende Sinn. Aus ihrem milden Auge quoll ein sanfter Friede und wehte kühlend und besänftigend durch meine Seele.

Ich fühlte mir ein neues Leben entstehen. Meine Seele war gestillt, erweitert, angefüllt, war frisch wie das Tal, wann die Morgensonne überm Hügel schwebt.

Oft drückten wir uns die Hände, wenn wir allein waren und küßten uns die Lippen; und wenn der Vater kam, wand sie sich errötend von meiner Brust.

Der Vater lächelte.

Oft auch saßen wir am Ufer des Eurotas, wo über uns sich Lorbeer und Platanen wölbten und die Trauerweiden in die klare Flut sich tauchten.

Die Schwäne spielten um Myrten- und Rosengesträuch zu unsern Füßen, und der Seidenbaum würzte die Luft mit balsamischem Geruche.

Veilchen waren durch Theonens dunkle Locken geflochten, die herabwallten über den jugendlichen Busen. Sie war zart und mild wie das freundliche Schneeglöckchen.

Ewige Gesundheit sog ich aus ihrem keuschen Munde. Ich sah in ihr das Bild der ewigen Jugend. Das Leben fühlt' ich in seiner höchsten Fülle, im Vollgenuß meiner Kraft und Stärke.

Unser Gefühl war rein wie das weiße Licht der Sonne. Die ganze Schöne des griechischen Himmels hatte sich abgedrückt in Theonens Körper und Seele.

Und wenn dann der Mond hervortrat und die beschneiten Gipfel des Taygetos im blassen dämmernden Lichte glänzten wie zartgehauchte Wolkenbilder, da [173] schwiegen wir und lauschten der Nachtigall, die ihre Lieder in den Akazien aus der melodischen Kehle wogte, und wandelten Hand in Hand wieder unsern Felsen zu.

Einstmals nahm Hilarion mich an der Hand und führte mich zu Theone. Dann ging er schweigend mit uns aus dem Hause. Die Sonne stand am Mittagshimmel. Der Alte blickte die junge Tochter an und dann mich und sagte: Liebe Kinder, Ihr liebt Euch! Das Mädchen errötete; mein Auge glühte. Ich warf mich zu des Vaters Füßen; auch das Mädchen sank auf ihre Knie. Hilarion legte unsre Hände ineinander, gab uns seinen Segen und ging ins Haus. Dann sahen wir einander an auf den Knien, und unsere Lippen küßten sich zum ewigen Bunde.

Zu Sparta wurden wir getraut. Meine Brüder kamen zusammen auf der Wiese und feierten unser Fest. Die männliche Jugend strebte im Wettkampf nach den Preisen, die wir ausgesetzt; und nach dem Mahle begannen Tänze und Spiele, wo sich die frohen, von Wein und Gespräch trunkenen Jünglinge mit den blumengeschmückten Mädchen bis zum Morgen unterhielten. Theone sank mir weinend an die Brust. Sie war mein, ganz mein.

Selig verlebten wir den Sommer. Auch den Winter hindurch dauerten unsre Spiele. Ich war im Ringen und im Laufen der Erste. Die Greise sorgten für die Ordnung und bestimmten die Preise. Hilarion ward wieder jung.

So kehrte der Frühling wieder, und meine Theone fühlte sich Mutter. Von nun an ward sie mir heilig,[174] das Kind und Abbild der erzeugenden Natur. Da gebar sie, und Du, liebe Atalanta, betratest die Welt.

Überschwänglich war Deines Vaters Wonne. Die Worte starben ihm auf den Lippen. Er drückte mit stummem Entzücken die geschwächte blasse Mutter und dann Dich an seine Brust. Mein häuslich Glück war nun vollendet.

Da ward auf einmal Hilarion geheimnisvoll. Ich drängte mich an sein Herz und er sagte mir, vom Norden segle eine Macht herbei, den Muselmann auf seinem Boden anzugreifen. Ich staunte; ich ward entzückt. Gott! rief ich begeistert. Der Tag ist gekommen, auf den wir gewartet!

Ich stürzte auf die Wiese, verkündet' es den Brüdern. Alles eilte voneinander.

In einigen Tagen war Misitra unter den Waffen. Die Nachricht erscholl durch die Täler des Taygetos. Die Völker standen auf.

Vor meinen Sinnen war nichts als das Geschnaube, das morddrohende Gerassel anrennender Kriegsrosse; das Feld und Stadt durchhallende dröhnende Waffengetös der geharnischten Brüder; das einherwogende Gebrüll vom Atem des Ares geschwellter Männer; der furchtbar vom Widerhall zurückgetriebne Donner der Geschütze; die stöhnenden Seufzer und Gebete hülfeflehender, das Bild der Panagia umfassender Jungfrauen; himmelanwirbelndes Staubgewölke; die Flamme des allzerstörenden männerzermalmenden Schlachtgewühls; Mordende und Gemordete; Weinende; den furchtbaren Gesang des Hades und der Erinnyen Singende.

[175] Ich feuerte meine Genossen an. Sie rasten in Kampflust. Der Bey von Misitra ward gemordet.

Kinder, ich nahe nun dem unglücklichsten Teile meines Lebens. Laßt mich kurz sein in meiner Erzählung! O, sie schmerzt mich!

Achaia, Arkadien und Argos hatten die Fesseln abgeworfen. Orlow war mit sechs Schiffen erschienen. Wir Mainotten wollten nach dem Isthmos ziehen.

Noch wußte meine Theone nichts.

Den Tag vor dem Abzug trat ich vor sie hin. Die junge schöne Mutter saß auf einem Stuhl und säugte ihr Kind am weißen Busen und blickte so schmerzlichsüß auf das Kleine herab, als wenn sein Trinken sie verletzte. Dann drückte sie mir die Hand und lächelte.

Ich fiel ihr um den Hals. Theone, rief ich, wir müssen scheiden! Das Vaterland ruft. Bald werd' ich wieder in Deine Arme eilen und frei die Freie an den Busen drücken.

Sie war heftig erschrocken. Ihr Auge war überfüllt mit Tränen. Sie lag halb ohnmächtig an meiner Brust. Der Alte tröstete sie. Aber ihr schönes Auge blieb naß noch den ganzen Abend.

O, Katon! rief sie einmal, wie zerfließend, matt an meinen Lippen bebend. Ich verstand sie; weinte mit ihr.

Mein innerer Kampf war fürchterlich.

Aber der Geist der Freiheit stieg vor meinem trunkenen Auge wie ein Riese aus der Erde. Ich hatte überwunden, preßte die Geliebte noch einmal an meine [176] Brust, drückte den letzten Kuß auf ihre nassen Wangen und eilte durch die Felsen.

Hilarion konnte nicht folgen. Die Nacht hindurch versammelten wir uns. Mit Anbruch des Tages nahm ich Abschied von Hilarion und eilte mit meinen Scharen gegen den Isthmos.

Überall hatten die Griechen sich erhoben und ergriffen wütend die Waffen.

Am Isthmos standen wir den Türken gegenüber.

Ich lag auf meinen Knien, wie die Sonne emporstieg, und flehte zum allbarmherzigen Gott, Richter zu sein des entscheidungsvollen Kampfes.

Wir stürzten in die Schlacht und wurden geschlagen.

Ich weinte blutige Tränen; aber noch verzweifelt' ich nicht. Der Seraskier war bis nach Messenien gedrungen. Ich eilte durch den Peloponnes. Neue Scharen kampflustiger Mainotten strömten zusammen.

Wir kämpften wie Rasende.

Umsonst. Die geschlagenen Brüder flohen auseinander und verloren sich in den Gebirgen des Pentedaktylon.

Da stand ich allein wieder auf der Erde, allein in meinem Vaterlande wie einst, als ich den Peloponnes durchwandelte!

Überall hört' ich vom Rauben und Morden der zügellosen Griechen. Ich eilt' auf ein Schiff; landete am Vorgebirge Tänaros. Mit Grauen sah ich die schwarzen schaurigen Felsen, auf deren jähen Gipfeln wie Adlernester die Dörfer der Kakovouniotten schweben. Die Ungeheuer, sagten die Schiffer, haben fürchterlich gehaust. Die Albanier haben in Misitra gewütet.

[177] Mich faßte Schrecken. Ich eilte der Heimat zu; er reichte die Ufer des Basilipotamo, und der Alte saß auf derselben Stelle unter dem Lorbeer an der Felswand, wie ich ihn einst getroffen. Ich flog auf ihn zu. Er starrte mich an. Sein Angesicht war blaß; das Feuer seiner Augen erloschen.

Er fragte dumpf: Jüngling, was suchst Du hier?

Trost! rief ich. Trost am Busen meines Weibes!

Er stand auf und führte mich zu den Felsen. Kein Wort kam über seine Lippen. Eine schreckliche Ahnung fuhr mir eiskalt durch die Seele.

Ein Grabhügel war vor der Hütte. Rosen, Akazien und Myrten schlangen sich um ihn.

Wo ist Theone? fragt' ich zitternd.

Der Alte sah mich an und sagte dumpf: Ihr Leib liegt unter diesem Hügel; ihre Seele ist bei Gott.

Ich stürzte besinnungslos über den Hügel. Der Alte hob mich auf und sprach finster: Du kommst vom Grabe Deines Vaterlandes und verzweifelst am Grabe Deines Weibes?

Ich verstand ihn; aber umsonst. Vaterland und Weib war mir Eines geworden.

Wo ist mein Kind? rief ich jetzt von neuem schaudernd. Es lebt, erwiderte Hilarion. Cäcilie trat aus dem Hause; brachte mir mein Kind.

Ach, erlaßt mir, zu erzählen, wie meine Theone starb! Albanier mordeten sie. Ich darf, ich kann nichts weiter sagen.

Den andern Morgen fand ich den Alten nicht im Bett. Ich eilt' ans Fenster. Er saß auf Theonens [178] Grabhügel. Ich stürzt' auf ihn zu. Er hatte nur noch wenige Kräfte; sein Leben war wie die balderlöschende Lampe.

Ich sank zu seinen Füßen. Er sprach: Mein Leben ist zu Ende. Meiner Träume schönster war, frei zu sehen mein Vaterland. Aber wo nicht Einigkeit herrscht, wo sich nicht alle opfern für Eines, da wird nichts Großes werden. Die Acht verfolgt Dich, mein Sohn. Flieh' aus Griechenland. Lebe garnicht darin, wenn Du nicht frei darin leben kannst! Wandre nach Deutschland!

Cäcilie eilt' aus dem Haus. Er ergriff ihre Hand. Auch sie sank weinend zu seinen Füßen. Katon, sprach der Greis, sei Du meiner Tochter Schutz! Nimm sie mit Dir nach Deutschland! In einem Gewölb unter dem Hause findet Ihr Reichtümer genug, bis ans Ende des Lebens zu gelangen. Gebt Euch die Hand!

Dann brach er noch Rosen und Akazien von dem Grab und sagte, zum blauen Himmel hinaufblickend, mit einer Träne: Das Leben ist schön in Griechenland. Dank Dir, Gott, daß ich in ihm ward; in ihm sterbe! Dann blickt' er uns noch einmal liebend an und verschied.

Wir begruben ihn den andern Tag. Ich öffnete das Grab und den Sarg meiner Theone. Ich sah noch einmal ihren schönen Körper. Dann schloß ich ihn auf ewig. Des Nachts brachten wir unsere Schätze samt dem Sarg auf einen Wagen. Zu Kalamata schifften wir uns ein.

Mit heißen Tränen sah ich die schönen Ufer im Meere verschwimmen, tröstete Cäcilien und hatte für mich keinen Trost.

[179] Unsere Reise war glücklich. Wir wählten uns diesen Platz und bauten unsere Häuser.

O Kinder, ich konnte nicht leben ohne Begeisterung und hatte doch nichts mehr, das mich begeisterte.

Mein Schmerz war unermeßlich.

Cäciliens zarte Seele versteht ihn. Eine wundersame Freundschaft schließt unsere Herzen zusammen, seit wir unser Griechenland verließen. In diesem Gewölbe betrauert' ich mein Vaterland und meine Theone. Ihre Hülle ruht im Sarkophag.

Du wuchsest auf, liebe Atalanta, und wußtest nicht, daß ich Dein Vater bin und Griechenland Deine Heimat. Ich wollte Dir den Schmerz ersparen und lieber eine Mutter Dir geben als einen Vater. Du solltest, durftest es nicht wissen. Frage mich nicht!

Ich wollte Dir ein Abbild schaffen des schönen Landes in unserm Garten.

Nun weißt Du ja, Du Liebe: Du bist meine Tochter, bist eine Griechin!

Katon schwieg. Wir sahn uns an und sanken ihm zu Füßen. Er neigte sein Haupt zu uns herab; hob uns sanft auf, ergriff unsere Hände und legte sie auf den Sarkophag. Dann blickte sein Auge gerührt hinan, und er sagte: Ihr liebt Euch, Kinder. Nehmt meinen Segen!

Wir sanken einander in die Arme, weinten vor Entzücken.

Spät stiegen wir wieder aus dem Gewölbe.

Phaethon an Theodor [4]
[180] Phaethon an Theodor

Gestern waren wir auf der Burg. Atalanta und ich gingen voraus. Katon und Cäcilie folgten. Es war ein heiterer Herbsttag.

Wir wandelten den Waldpfad hinauf und hatten bald den schlanken Berg erstiegen. Wir irrten durchs verwitterte Burggemäuer, durchs zerbröckelte moosbewachsene Ruinengestein, das innig wie Geist und Gemüt mit jungem traurig einsamem Buschwerk sich verwob.

Durch halbzerfallene Mauerbögen und Fensteröffnungen blickten der blaue Himmel und die versilberten Fernen, und der Blick suchte oft vergebens die äußersten Berge von der gleichfarbigen Luft zu trennen.

Das weiße rosenbekränzte Mädchen lag an meiner Brust. Ich sah mit stummer Wonne auf sie herab und war entzückt, wie eine solche Schönheit, eine solche Jugend mir am Herzen ruhte.

Katon kam mit Cäcilien.

Wir setzten uns nieder unter einem schlanken, von Efeuranken umschlungenen Turm.

Katon war ungewöhnlich heiter und sagte endlich: Liebe Kinder, wir wollen über Unsterblichkeit sprechen. Auf dieser Höhe, wo wir nichts mehr über uns sehen als den blauen Himmel, in dem die ungeheuren Welten [181] des Schöpfers schwimmen, fühlen wir uns freier und voller, und es ist, als ob der luftiggewobene Schleier um unsere Seele sich hinanhöbe in weiten fließenden Falten.

Atalanta soll bestimmen, wer sprechen soll!

Sie saß zu meiner Seite und blickte mich liebevoll an. Katon rief: Ja, Phaethon soll uns von der Unsterblichkeit sprechen!

Nun denn, wenn Ihr so wollt, so erfüll' ich Euern Wunsch! erwidert' ich. Aber Ihr müßt mir vergeben, wenn ich meinen Worten zuweilen einen höhern Schwung leihe, wenn ich in Bildern spreche. Denn ich glaube, so will es der Gegenstand.

Das steht zu Dir! versetzte Katon.

Ich hielt ungefähr folgende Rede:

Die Seele, meine Lieben, ist unsterblich. Jede Kraft, die durch sich selbst wirkt und ohne eine fremde regelnde Kraft sich selbst bewegt, ist unsterblich. Denn sie bewegt sich ewig und wird nie von sich selbst verlassen. Dagegen jeder Körper sterblich ist, der nur durch eine fremde Kraft, von außen, Bewegung und eine Art von Leben erhält, weil jene fremde Kraft ja aufhören kann, auf den Körper zu wirken.

So lehrt uns der göttliche Platon.

Vernichtung ist Auflösung eines zusammengesetzten Körpers in so viele Teile, daß die Sinne sie nicht mehr bemerken können. Die völlige Vernichtung aber eines Körpers ist nicht denkbar. Die Teile bleiben, wenn sie auch nicht mehr bemerkbar sind, ewig im Raume. Die Seele aber ist eine reine einfache geistige Kraft, die [182] durch sich selbst Bewegung und Leben erhält. Sie hat keine Teile; ist ein unzertrennbares Ganzes. Wie könnte sie also aufgelöst, zernichtet werden? Wer trennt die reine lodernde Flamme und zerlegt sie in Teile?

Weil die Seele eine zusammengesetzte, durch sich selbst bewegte Kraft ist, so hat sie auch keinen Anfang, wie sie kein Ende hat. Laßt mich sie begleiten auf ihrem Stufengange!

In der ganzen Natur ist eine mit unmerklichen Sprossen aufsteigende Leiter zu bemerken. Nichts bleibt einen Augenblick in derselben Gestalt, auf derselben Stelle. Zwar scheint die Flut, die sich vom jähen Felsgeklipp ins Tal stürzt, eine einzige bewegungslose Wassersäule, aber es sind nur neue Tropfen, die andern schnell die Stelle räumen. Die Flamme scheint ein unveränderlicher Feuerstrom, aber es sind nur einzelne Funken, die entsprühen, wenn die andern verlöschen. Diese Stufenleiter geht durchs Reich der Pflanzen, Steine, durch alle Körper.

Auch im Tier ist eine einfache treibende Kraft, die selbständig einen Körper bewegt und wärmt. Durch ein Dreifaches wird der Mensch zum Menschen. Er ist Pflanze, Leben, Seele oder Geist. Das Tier hat wohl das Leben aber nicht den Geist. Unsterblich ist der Geist; aber auch das Leben ist es. Darum kann auch das Tier nicht sterblich sein. Und wär' es nicht ebenso ungerecht von der Gottheit, das Tier im Verhältnis zu uns in ewiger Niedrigkeit zu halten, als es ungerecht wäre, unser Sehnen nach Gottähnlichkeit nicht zu stillen? Das Leben bildet sich allmählich zum Geist [183] herauf; das Tier zum Menschen, der Mensch zur Einigung mit Gott, dem Geiste, der alle Geister in sich aufnimmt.

Die Seele entsteht durchaus nicht erst, wenn der Körper entsteht. Im Mutterschoß kann zwar wieder etwas Körperliches, Organisches entstehen, aber nichts Geistiges, Einfaches sich bilden. Denn wie könnte das Geistige aus dem Körperlichen entspringen? Und überhaupt kann ja das Geistige nicht entstehen, weil es die Bewegung nicht von außen erhält.

Die Seele stammt von Gott. Aus einem uns unbekannten Grunde, vielleicht zur Strafe, bekam sie die Hülle des Körpers. Darum sehnt sie sich ewig wieder nach der Gottheit. Ihr höchstes Streben ist, zusammenzuschwimmen mit ihr.

Gott selbst aber ist so wenig zu beschreiben als die Schönheit. Jeder Begriff von ihm ist ein Unding. Er ist das in sich Wahre, Schöne und Gute, alles Daseins Schöpfer, alles Lebens, aller Liebe Vater, der Geist der Geister, der Alleinige selbst, das Hen auto des Platon!

Das ganze Weben und Wirken der Seele auf dieser Welt bezieht sich auf jene ewige Sehnsucht. Je lebhafter diese ist, desto mehr befreit sich die Seele von der Herrschaft des Körpers; desto besser ist sie; desto näher der Gottheit. Ohne diese Sehnsucht wäre das Weltall ein Traum.

Der Körper schließt den Geist in seine Hülle wie der Blumentopf die wachsende keimende Wurzel. Immer reicher, saftiger und voller wird der Keim und drängt sich am Ende siegend aus dem Topfe.

[184] Der Körper ist wie ein Spiegel, durch den die Seele alles beschauen und erkennen kann, aber nicht unmittelbar, nicht rein und ganz. Einst wird sie, wenn sie frei ist, die Dinge schauen, wie sie sind, ohne Hülle, nicht nur an der Oberfläche, durch und durch.

Auch in der Bildung des Körpers offenbart sich der schaffende göttliche Verstand. Er ist das schönste vollendetste Werk des Schöpfers; denn die Seele ist ja kein Werk, sondern entflossen aus Gott, ewig, einfach.

Auch die Auflösung des Körpers geschieht nicht plötzlich, sondern nur allmählich. Wenn er endlich stirbt, so lösen die edelsten geistigen Säfte sich von ihm ab und bilden einen für uns unbegreiflichen feinern und zartgewebten Lichtkörper. Denn nicht mehr das rauhe Element der Erde bildet die Hülle, sondern das zartere des Lichts.

Aber nicht auf einmal kann die befreite Seele nun der Gottheit nahe kommen. Der Abstand ist zu groß. Darum schwebt sie auf eine andere Welt, wo sie vollkommnerer Wirksamkeit sich erfreut. Da aber alle Seelen, die in unserer Welt waren, einen gleichorganisierten Körper hatten, so muß auch bei allen dieselbe Körperauflösung, dieselbe Bildung einer neuen Hülle stattfinden. Aus eben diesem Grunde kommen sie auch in die gleiche Welt. Denn die Abstufungen von Vervollkommnung unter uns sind zu gering gegen das Riesenmäßige des Unendlichen 1. So wandeln wir von einer Welt zur andern wie Bienen von Blume [185] zu Blume. Denn unser Sein auf dieser Erde ist so wenig ein Leben als ein Atom eine Welt.

Wir werden immer reiner und vollkommner, je näher wir der Gottheit kommen, aus der wir entstanden sind.

Alles, was ist im Weltall, ist schön und gut, von den Millionen im Äther schwimmenden Welten bis zum Blumenblättchen, das auf einer Spiegelwelle schwimmt; von der Riesensonne, die ihre Lichtwogen durch den unermeßlichen Raum auf unsere wandelnde Erde sendet, bis zum einsamleuchtenden Weben des Glühkäfers auf der dämmernden Nebelhaide. Er ist ja gebildet vom Geiste des Schönen und Guten. Das ganz zu fühlen, das allein zu fühlen, das ist das Streben, mit dem wir wandeln von Sonne zu Sonne, von einer Milchstraße zur andern, uns vollendend und annähernd dem Höchsten, in ewiger ununterbrochner Stufenleiter. Unser Dasein entfaltet sich immer größer und freier; unsere Kräfte schwellen gewaltig an und wirken mit immer größerer Stärke, schaffen und weben mit immer reicherer Fülle. Noch brauchen wir einen Körper, daß unser Geist nicht erblinde vom allreinen Licht, von der heiligen alldurchdringlichen Schöne Gottes. Immer reiner aber wird der ewige, zur Reife schwellende Geist; immer mehr Festigkeit erhält er durch die in immer größern Erscheinungen geoffenbarte Gottheit; immer riesenmäßiger werden die Flügel, je mehr sie getränkt werden von der zarten wallenden Morgenschöne des unendlichen Vaters. Unsere Körper werden immer feiner, ätherischer, farbloser, reiner, bis [186] wir endlich gar keine Hülle mehr brauchen, Geist und Geist mit der Gottheit zusammenfließen und in ihr, im Anschaun unserer Vollkommenheit, in alle Ewigkeit fortleben.

Ich schwieg.

Schön! rief Katon. Du hast Dich gezeigt, wie ich's erwartete. Schwärmerisch!

Aber beseligend! lispelte Atalanta und drückte mir die Hand mit einem Blicke, der mir ihre tiefe schöne Seele in ihrer unendlichen Durchsichtigkeit zeigte.

Cäcilie weinte und sagte endlich, zum blauen Himmel blickend, mit tränenvollem Auge: Ich werde Euch wiedersehen, Vater und Schwester! Katon sah sie schmerzlich an.

Wir standen auf. Atalanta hüpfte an meiner Hand den waldigen Bergpfad hinunter. Wir waren wie Kinder.

Fußnoten

1 νους πας ὁμοιος εστι και ὁμειξων και ὁ ἐλασσων.

Anaxagoras

Phaethon an Theodor [5]
[188] Phaethon an Theodor

Sieh, wenn sie vor mir steht, und so ein unerklärbar liebes Wesen um Auge und Lippen lächelt, wenn sie mich ansieht, so ganz voll Unschuld, Liebe, voll grenzenloser Hingebung, das keusche Mädchen, – Bruder! – und ich mir denke, wie ein frischer schöner Knabe lächelt in ihren Armen, ihr Ebenbild, nur kühner gewaltiger wilder als die ewig sanfte lächelnde junge Mutter, und der Kleine die Ärmchen nach mir ausstreckt und sie selbst, die Liebliche, mit ihrer Mutterliebe blickt auf den wilden Knaben an ihrem Busen und dann auf mich, wenn ich dann nimmer kann und der Guten, Zarten die Lippen küsse, der Mutter, der Keuschen, die mein ist, auf ewig mein: denke Dir, was Du willst: da stehen mir die Sinne still!

Phaethon an Theodor [6]
[188] Phaethon an Theodor

Die plastische Vollkommenheit der Formen ist nur dann Schönheit, wenn eine Idee sie beseelt.

Wie der Geist den Körper, so muß eine Seele die Form beleben.

Die Schönheit muß rein und klar das Geistige gleichsam verkörpert zeigen wie Wasser den Himmel.

Die wahre Schönheit kann nicht sein ohne diese Einigung des Geistigen und Sinnlichen. Das Geistige muß auf der Form beruhen wie befruchtender Tau auf der Blume.

Die Schönheit der Form ohne den beseelenden Hauch des Geistes kann zwar dem Auge, das nicht eingeweiht ist, die wahre Schönheit zu erkennen, als eine wahre erscheinen; aber sie ist es nicht.

Wenn sich aber beides eint wie mit einem weichen Kuß der Liebe, dann entzückt es sowohl die Sinne wie den Geist. Er öffnet sich dann in seiner Fülle wie die aufgehende Morgenrose.

Die höchste Eigenschaft dieser Schönheit ist Reinheit. Sie ist wie eine weiße gestaltete Lichtflamme.[189] Auch ist sie mäßig bei aller Fülle. Ihr Auge ist die unergründbare Tiefe der Seele, das innigste wärmste Leben des Gemüts, das Empfindung aus sich sendet wie Lichtstrahlen die Sonne. Der Mund ist das Geheimnis der Einung durch den Kuß, und die Strahlen, die durch das Auge flossen, quillen aus ihm in dem Augenblick, wo die Sehnsucht gestillt wird. Aus dieser Einung aber wird ein drittes erzeugt, und der schwellende Busen ist die Fülle der Fruchtbarkeit.

Das helle Sonnenlicht drang durch die Fenster. Atalanta stand vor mir. Ich folgte der Natur in der Bildung ihrer Schönheit und ahmte sie nach in ihren fließenden Formen, in ihren Wellenlinien, in ihren zartgehauchten Rundungen, in ihren wallenden Wölbungen. Wie der Schleier vom seligsten tiefsten Geheimnis war die letzte Hülle gefallen, und ihr Busen quoll wie zarte Milch aus dem dunkeln Gewande. Ihn deckte halb die Hand, und das Auge ruhte jungfräulich verschämt auf ihm.

Mein Auge zitterte wie das Auge des Jüngers, wenn der Schleier sich lüftet vom Allergeheimsten und er mit heiliger Scheu sich angereiht sieht an die Eingeweihten.

Phaethon an Theodor [7]
[190] Phaethon an Theodor

Heute kommt ein Brief. Ich erbrech' ihn. Er ist von meinem Fürsten. Er ruft mich zurück. Ich soll die Büste seiner Gemahlin ausarbeiten. Ich soll ... O, ich muß, muß fort!

Am Anfang konnt' ich's nicht überdenken. Es war wie ein betäubender Schlag, wo die Besinnung schwindet und die Seele sich bewußtlos in ein dumpfes Starren verliert.

Dann wacht' ich auf, stürzte zu Atalanta, fiel ihr weinend um den Hals.

Sie erschrak. Ich gab ihr den Brief. Ihr großes Auge füllte sich mit Tränen. Schmerzlichliebend sah sie mich an, ergriff meine Hand, stammelte: Phaethon!

Ich sah's, wie sie sich halten, wie sie mir ihren Schmerz verbergen wollte. Durch ihr Auge sprach's in zärtlichen wunderbaren Schauern. O, die Meine, die Gute!

Bruder! Sie sank mir mit lautem Weinen an mein Herz.

Wir konnten nichts sprechen. Ein dunkel gewobener Schleier dehnte sich um unser klares Bewußtsein.

[191] Katon und Cäcilie traten herein. Sie lasen den Brief. Cäcilie drückte Atalanten an die Brust, tröstete sie; aber das Mädchen weint' immer heftiger.

Katon sah mich traurig an, drückte dann meine Hand und sagte: Lieber Freund, wir haben uns lieb. Du wirst wiederkehren. Sie bleibt ja die Deine.

Phaethon an Theodor [8]
[192] Phaethon an Theodor

Noch bin ich wie von Sinnen. Es kam zu unerwartet. Ich saß die halbe Nacht hindurch bei den drei Säulen. Fürchterliche Ahnungen stiegen aus den Schatten.

Sie zu verlassen, Gott, das ist zuviel für mich! Wenn ich des Morgens aufstehe, lächeln mir ihre Wangen zum Kusse wie die frische Morgenröte; eh ich des Abends zu Bette gehe, drück' ich sie noch einmal an meine Brust und blicke mit ihr zu den Sternen und danke dem Schöpfer für unser Glück, für unsere Wonne. O, ich war wieder zum Kind geworden, zum liebenden geliebten Kinde, das sein göttliches Dasein kaum fühlte vor seiner Trunkenheit, seiner lautern innigen Begeisterung!

Und das alles nun vorüber! Ich werde unter fremden Menschen wandeln, die mich nicht lieben, die ich nicht lieben kann. Kein Blick aus ihrem Auge stärkt mich mehr. Kein Händedruck, kein Kuß.

O Theodor, nicht beten, nicht weinen mehr mit ihr!

Bruder, die Blätter fallen schon vom Baume. Der Wanderer tritt über sie. Auch mein Herbst ist [193] da, aber ich ernte keine Früchte; ich sehe nur dem Winter ins bleiche verglommene Auge.

Ich will nicht weiterschreiben. Du fassest doch nicht, wie mir ist.

Phaethon an Theodor [9]
[194] Phaethon an Theodor

Übermorgen ist meine Abreise bestimmt. Mir ist fürchterlich bange darauf.

Atalanta ist wie ein andres Wesen. Ihr Angesicht ist blaß wie der Mond. Sie weint fast immer und spricht wenig. Aber in ihrem Auge schwimmt der ganze Schmerz der Seele. Sie scheint ihn mit Gewalt zu unterdrücken. Nur manchmal bricht er hervor in heißen Tränen, wenn ich zu wild bin und die Bebende ans Herz presse. Katon ist wenig um mich.

Alles zu verlassen! Das alte Mausoleum, das Schlößchen, die drei Säulen, den Tempel des Eros, den heitern See, meine Polyxena, Katon, Cäcilie und sie, sie! Ach, Theodor, das kann ich nicht denken! Auch sie, mein Leben, meinen Himmel!

Menschen, die mich nicht kennen, nicht lieben, nicht verstehen! O, da steh' ich stille!

Das Wörtchen Tod war für mich Unsinn! Aber nun? O!

Reiße mich los von Gott wie von ihr, dann bin ich – tot!

Phaethon an Theodor [10]
[195] Phaethon an Theodor

Die Sonne ging auf. Heut ist der Abschiedstag. Morgen vor Tagesanbruch reit' ich vom Schlosse weg. O Theodor, bete für mich!


Den Abend saßen wir noch beisammen und sprachen von all den Freuden, die wir genossen in der Zeit. Näher und immer näher kam die Stunde des Abschieds. Ich ergriff Atalantas Hand und zog sie mit mir hinaus ins Freie.

Der Himmel war mit Sternen übersät. Mein Inneres war übervoll von der Empfindung der Stunde. Mein Auge irrte wild umher auf den Gestalten der Nacht. Zwischen den drei Säulen blinkte der Abendstern in mattem schwankendem Licht. Alles schwieg; nur der leise Windhauch spielte mit den Blättern des Rosengebüsches und erklang wie die Erinnerung geschwundener Abende vor meinen trunkenen Sinnen. Atalanta ging mir zur Seite.

[196] Auch wir schwiegen lange. Nur manchmal bebten unsere Lippen: Gedenke mein! Und dann zerflossen die Worte wieder in die Tränen unsers Schmerzes.

Da begann ich endlich: O blicke hinauf, Geliebte! Hinauf zum gestirnten Himmel! Da wandelt der Schöpfer unter den Sternen wie der Gärtner unter sei nen Blumen. Er ist die ewige Liebe. Gott ist die ewige Liebe. Atalanta, denke diesen erhabenen Gedanken! Er ist das ewige unerklärbare Wesen, das jene schweren Riesenwelten durch die Unendlichkeit gestreut hat wie leichten zarten Samen, das sie aus dem Elemente rief, werden ließ und gestaltete. Wenn die Morgensonne mit ihrem Hochrot über den glühenden Hügeln schwebt und durch die Eichenwipfel quillend unsere Häupter bescheint, wenn das alles stille wird, ein hohes feierliches Gefühl unsern Busen schwellt, und wir zu vernehmen glauben, ein dunkles Etwas wehe mit seinem beseligenden Geiste daher über Wiesen und Gründe, Wälder und Berge, und alles glühe, lebe und öffne sich bei seinem allbelebenden Hauche. Er ist's! Der Gott der Liebe ist's! Wir wandeln auf seiner Erde, die Abbilder seiner Schönheit und Fülle, und liebend drückt er uns täglich an seinen Busen. Er küßt uns, der unsichtbare himmlische Vater, mit dem Strahle des Mondes und der Sonne die Wangen wie seinen geliebten Kindern. Er spricht aus jeder Blume zu unserm Herzen im Geiste seiner Mäßigung und Größe.

Ja, sagte Atalanta, wir wollen nicht mehr weinen! Er ist ja unser Vater; wir sind seine Kinder. Wer ist es, Phaethon, der unsere Herzen füllte mit diesem[197] überschwänglichen Gefühl, mit dieser heilig geläuterten Flamme? Ist es nicht Gott, der sich regt in uns, wenn unsere Seelen beben vom Hauche der trunkenen Ahnung und streben nach einem unerklärbar seligen Etwas und dann ineinander schwimmen wie quillende Lichter? Ist es nicht Gott?

Gott! stammelt' ich weinend und durchschauert von ihrer Heiligkeit.

Wenn zwei Herzen sich einen, Phaethon, fuhr sie fort, dann steigen sie auf wie Weihrauchsäulen zu Gott. Wir sind nur in Gott; wir lieben nur in Gott. Wir sind eins mit ihm, wenn unser Auge sich trifft und unser Verlangen sich stillt. Dann ahnen wir ihn nicht mehr; wir sehn ihn in seinem innigsten glühendsten Weben. Er ist's, wenn unsere Lippen im Kuß aneinanderbeben. Er ist der Kuß selbst. Er ist die Träne, die in unserm Auge zittert, wenn wir fühlen, wie wir uns lieben.

Wir müssen uns trennen, Geliebter! Aber wir lieben uns ja in Gott. Wir finden uns auch wieder in ihm. Darum ist unsere Trennung nur scheinbar. Wir sind ewig ineinander, ewig Eines; wir sind eins in Gott! Wenn Du des Nachts durch die schweigenden Fluren wandelst und den Mond am Himmel blinken siehst, und die heilige Stille Dich umwaltet, dann denk': Auch ihr Auge blickt ja empor voll Tränen; auch um ihre Lippen spielt sein bescheidenes Licht wie um die Deinigen! Dann wirst Du mich finden im Lichte des Mondes. Wir werden eins sein in ihm. Unser Sehnen wird sich kühlen und stillen in ihm, und Du wirst Deine Liebe erkennen im Geiste der Natur, die um Dich liegt, [198] zu der ich gehöre wie Du; und Du wirst dann stille werden und die Tränen trocknen und glauben, ich läg' an Deinem Busen.

O Atalanta, Geliebte! rief ich halb wahnsinnig und stürzte mich ihr zu Füßen. Vergib mir, Heilige, den Schmerz meiner Seele!

Da sank auch sie auf ihre Knie und betete mit gefalteten Händen: Du Gott, unser liebender Vater, wir fühlen Deine Nähe!

Dann blickte sie mich an – die ganze Fülle des Himmels quoll aus ihrem Auge – und sprach: Mein Herz ist rein und keusch, o Gott, wie das Blau Deines Himmels, wie die Blumen auf Deiner Erde! Jüngling, bleibe auch Du rein; dann finden wir uns wieder in Gott!

Sie konnte nicht mehr; sank an meine Brust. Wir lagen stumm aneinander in einem glühenden Kusse; tranken unsterbliche Wonne aus unsern Lippen. Unsere Seelen stiegen aus der Hülle wie der reine körperlose Duft aus der Blume. Wir sahen nichts mehr, hörten nichts mehr; die Sinne schwanden uns. Unsere Entzückung war zu groß.

Wir erwachten aus der Betäubung; hoben uns auf. Wir wandelten zurück. Mein Auge wandte sich nicht vom Himmel. Ich träumte, wir wandelten so, Arm in Arm, von Stern zu Stern durch die weite unermeßliche Schöpfung Gottes.

Nun standen wir vor dem Hause. Da fühlte ich ganz, ganz den Schmerz der Trennung. Sie schwieg. Aber ich wußte doch, wie es in ihrem Herzen schwoll.

[199] Wie wir uns trennten, Theodor, ich weiß es nicht! Nur das weiß ich, daß wir uns noch einmal am Busen lagen. O Lieber, wie sie weinte! Wie sie weinte!

Kaum war ich wieder auf meinem Zimmer, da traten Katon und Cäcilie herein. Der Vater meiner Atalanta drückte mich warm aber gefaßt an seine Brust, zog mich ans Fenster und sagte voll wunderbarer Innigkeit: Freund, schone sie! Solch ein überschwängliches Gefühl wie das ihre zu Dir begreift in seiner Unaussprechlichkeit nicht ein Mensch auf Erden. Es ist nicht Liebe, was sie fühlt, wenn sie mit Geist, Seele, Gemüt in Dich verschwimmt. Nenne es, wie Du willst! Du findest keinen Namen. Ein Hinaufschauern zu Gott mit Dir ist all ihr Wesen. Daß ob dem Geiste nur der junge schöne Körper nicht leide! O, schone sie!

Ich verstand ihn. Sie war vor mir in ihrer ganzen Heiligkeit, in ihrer ganzen unendlich durchsichtigen Seele. Alles, alles Seele! Die Worte schwanden mir. Meine Tränen sprachen!

Nun sitz' ich allein beim Schein der Lampe an meinem Tische. Meine Seele ist zu voll. O, schone sie!

Lebe wohl, Theodor! Mir ahnet, als ob ich Dir nie mehr schriebe von hier.

[200] Phaethon an Theodor!

Von einem Dorf aus schreib' ich Dir, mein Lieber, das zwei Tagereisen entfernt ist von Cäciliens Schlosse.

O ihr Träume, ihr seligen Träume von ewiger Wonne, die ihr mich umquollet wie der Kuß des Mondlichts, warum seid ihr entflohn wie wesenlose Dunstgebilde? Ach, warum so bald entflohn?

Man weckte mich. Ich kleidete mich an. O Gott, mit welcher Empfindung! Dann blickt' ich noch einmal die dunkeln Häuser an, wo die Geliebte schlummerte.

Es war so schaurig still umher. Jedes verwehende Ach! wäre hörbar gewesen.

Lebe wohl, Geliebte, lebe wohl! rief ich noch einmal in heißen Tränen, schwang mich aufs Pferd und flog zum Hoftor hinaus.

Nach und nach ward der Osten von dämmerndem Blaßgelb umsäumt. Die Nacht war nicht mehr so grausig still. Ein Vogel sang hie und da sein Morgenlied auf einem Zweige.

Mit jedem Schritte ward's mir schwerer ums Herz. Eine namenlose Gewalt zog mich zurück. [201] Vielleicht, dacht' ich, schlägt sie nun die Augen auf und – weint!

Die Morgenglocken vom Dorfe klangen herüber mit ihren wohlbekannten Tönen durch die Stille.

Da ging die Sonne auf und schwebte wie ein glutroter Flammenball in ihrer ganzen unermeßlichen Größe hinter grauem am Horizont gelagertem Dufte. Der trübe dünngewobene Schleier des hüllenden Morgennebels verbarg die ferne Landschaft dem Blick.

Ich war auf einem Hügel, wo auf dem einsam verlassenen Boden alte breitästige Eichen und einzelnstehende Tannen dunkelschattend in großartigen Gruppen dem Aug' entgegentraten.

Die dichten, mit Gezweig vermählten Bäume breiteten einen ernsten hellgrauen Schatten umher, und die Sonne goß durch die Äste zitternd mit mondähnlicher Beleuchtung einen ungewissen Lichtton über die saftgrünen Wiesengründe.

Durch die Eichenblätter flüsterte der wallende Windhauch wie Küsse der Liebe.

Ich stieg ab, blieb lange sitzen auf einem Stein und weinte wie ein Kind. Wohin ich komme, wußte ich nicht, aber woher, ach, das fühlte ich nur zu lebhaft!

Bruder, ich kann Dir dieses Gefühl nicht schildern. Die Welt war mir anders; ich hatte mich selbst verloren.

Der Morgennebel verschwand nach und nach, und die Sonne versilberte den verklärten Himmel mit milchweißen Feuerstrahlen. Es war, als ob der Herr durch das Silbermeer in edler stiller Majestät nach geöffneten Himmelstoren sich enthüllte und mitteilte,[202] und um ihn selige Geister und Engel schwebten wie ausfließende Lichtstrahlen seiner grenzenlosen Herrlichkeit. Mein Schmerz aber blieb in meiner Brust.

O, wenn ich in die Zukunft blicke, da klingt's mir wie eine Ahnung. Das werd' ich nicht überleben! Mein heißes Herz wird sich verbluten.

Phaethon an Theodor [11]
[203] Phaethon an Theodor

Schon seit einigen Tagen bin ich in der Stadt. Die Fürstin ist mir gestern gesessen. Es ist eine Frau von vieler Bildung aber wenig Innigkeit und warmem Gefühl.

Man zieht mich in vielfache Zerstreuungen. Aber es ist doch umsonst. Die Welle schlägt an den starren kalten Felsen, aber sie wogt ihn nicht dahin; ihr Andrang macht nur ein grausig Getöse.

Viele Menschen sind um mich, aber wenige, denen ich mich nähern mag. Da ist niemand, der mich verstünde, meinem Herzen in seinem Erguß entgegenkäme, von dem es wieder zurückklänge in mein Inneres.

Und doch hätt' ich so nötig, mir Trost zu saugen von eines Freundes Lippen! O, ich hätt' es so nötig!

Es erkrankt so nach und nach mein Herz und schwindet dahin in seiner eigenen Fülle.

Phaethon an Theodor [12]
[204] Phaethon an Theodor

Es ist schrecklich, wie wenig die Menschen teilnehmen aneinander! Glückliche und Unglückliche, Lachende und Weinende. Nirgends ein Blick aus reinem uneigennützigem Herzen. Keine Tugend geliebt um ihrer selbst willen. Alles nur Eitelkeit und Selbstliebe. Jeder geht nur seinen eignen Weg, und nach dem Schmerz des Bruders fragt er wenig.

Und jene allwirkende Verbindung von Verstand und Gemüt, wie ist sie so selten! Das Herz, das warme jugendliche, muß sich um den Geist schlingen wie Rosen um die ernste Stirn eines Greisen, wie zarte junge Akazienblätter um graue unerschütterliche Mauern.

Der Verstand ohne Herzenswärme macht unerträgliche Pedanten; das Herz ohne den ernsten Blick des Verstandes wird zur Schwachheit.

Mich halten sie für einen Schwärmer und Sonderling. Der eine lächelt; der andere spöttelt; und wieder einer rümpft bedächtlich die Nase.

Und ich möchte doch alle umfassen, alle lieben!

[205] Ich stand gestern so vor einem Menschen, der redlich und brav vom Morgen zum Abend arbeitet und sich erstaunlich viel zu machen weiß aus dem bißchen Gelehrsamkeit, das er mit Mühe zusammenscharrt. Ich wußte von ihm, er habe noch nie geliebt, und – lächle nur! – ich sah den Menschen an mit einer seltsamen Bewegung. Ich wunderte mich, daß der Arme nur stehen könne ohne Liebe; und er glaubte gar, er sei vergnügt.

Das lerne ich einsehn: es kann keine Allgemeinheit mehr geben in unserer Zeit; jeder Versuch ist vergebens. Darum ist es das Klügste, den Schmerz in die Brust zu pressen und zu wirken für sich und andere so viel als möglich.

Lieber, es gibt Dinge, die das innigste Heiligtum unserer Seele sind und Wert und Gehalt verlieren, wenn man sie ausspricht. Drum laß mich schweigen! Nur das!

Länger kann's doch nicht mehr so dauern. Ich glaube, unsere Zeit ringt mit einer schweren großen Geburt. Es werden unsere Umstände sich umgestalten und neue Bahnen einer angemessenern Wirksamkeit eröffnen den Vielen, die jetzt nicht wissen, wo ein noch aus.

Phaethon an Theodor [13]
[206] Phaethon an Theodor

Sieh, das Sehnen, das unaussprechliche Sehnen in meiner Brust kannst Du nicht begreifen! Auf dem Gipfel eines hohen Berges lieg' ich halbe Tage lang. Unter mir die Erde mit ihren Wäldern, Wegen, Bergen und Dörfern, so rein, so keusch, die ewig junge liebende! Der blaue Himmel über mir. Die fernen Berge so wunderzart in blassen Duft gehaucht. Die Vergangenheit wie ein weinender Engel, mit ihrem lieben Munde mir die Wangen küssend. All ihre Bilder und Farben! Die Zukunft im Spiegel meiner Ahnung wie ein Regenbogen in den sonnenhellen Tränen meiner Wehmut glänzend ...

Da lieg' ich, nur so ein kleines Männchen, und doch meine Wünsche, meinen wundgeweinten Blick von den ragenden Höhen hinüberstreckend in die ungeheuern Fernen, wo sie lebt, die Liebe, Gute! Ahnend, durchschauert von Schmerz und Wonne, mich fühlend als das wunderbare Kind der Natur, so ganz zerfließend in Eins, in ein Sehnen nach ihr ...

O Theodor, Theodor, ich gehe zu Grunde!

Phaethon an Theodor [14]
[207] Phaethon an Theodor

Ich bin so empfindlich, so verletzbar! Das macht mich unglücklich unter den Menschen. Wohin ich mich bewege, stoß' ich an, und das schmerzt und wird nach und nach zu einer großen, vielleicht unheilbaren Wunde.

Ich weiß nicht, ist's meine Schuld oder der Menschen? Jeder nimmt mich nur teilweise, nimmt mich nicht ganz. Darum bin ich jedem ein anderer und keinem der wahre, der ganze.

Ich würde verzweifeln in dieser Zeit; aber ein unendlich seltsames Etwas fühl' ich quillen aus dem Tiefinnersten, aus dem Geiste selbst, aus dem Mittelpunkte meines Wesens, und gründen und bilden aus all der Fülle eine selige Einheit, schaffen und ordnen darin und erzeugen ein volles jugendlichstrebendes Bewußtsein.

Ich blicke dann in mich selbst zurück, verschwimme trunken in meiner eigenen Tiefe, fühl' aus der ersten Quelle mein Ich, mein Sein; fühl' es im Anschaun einer selbstgeschaffenen Welt im Busen. Das, Bruder, das ist so etwas Riesenhaftes, dieses in sich Schauen,[208] dieses in sich Verschwimmen. Das muß die Wonne der Gottheit sein!

Ich kann's nicht leugnen, ich bin stolz. Ich fühle lebhaft in mir etwas Ursprüngliches, Ungeschaffenes, Unzerstörbares, etwas Unabhängiges, das sich genug ist in seiner eigenen Fülle, waltet und herrscht, etwas, das ewig anstrebt, voll Kraft und innerer Stärke, etwas – Göttliches.

Das fühlen alle die Vielen nicht, die sich wegwerfen und krümmen, sei es vor Gott oder Menschen.

Ich lass' alle Kräfte meines Innern wogen und walten, sich anstrengen und erneuern. Aber ich gesteh' es mir selbst, ich halte sie nicht in Zucht, im Gleichmaß.

Meine Seele hat Freiheit, kann wählen nach Gefallen und richten, unmittelbar, aus eigner Quelle über Sein und Nichtsein. Das ist das Göttliche in mir, der unveränderliche Wille zu wählen zwischen Gutem und Bösem. Das ist die hohe ewig lebendige Liebe. Ich fühle: ich bin, bin Mensch!

Überall ist Leben und Wärme. Ich gebe Leben und nehme Leben. Wie unendlich viel Schönes und Gutes um mich; wie viel tausend zum Genuß einladende Dinge! Und ich kann es doch nicht mehr recht genießen. Einst hab' ich alles gewagt, alles gepflegt und genossen; ich hab' auch geduldet, o überschwänglich viel geduldet. Nun ist es aus! Aus, Bruder! Durch alle meine Nerven, meine Muskeln klang es einst: Lebe! Genieße! Die Stimme schweigt. Ich harre vergebens auf sie. Ich sehne mich nach ihr, weine nach ihr; aber sie – schweigt.

[209] Die Blumen meiner Kindheit sind wohl noch; blühen immer noch; aber ich kann, ich darf sie nicht pflücken. Ich sog einst meinen Mut, Glauben und Vertrauen aus ihren Kelchen. Mir fehlt nun der Sinn für ihren Geruch.

O sieh, nicht das Untergehen fürcht' ich, aber jenes Dahinschwinden, jene allmähliche Auflösung, jenes Verdorren und Vertrocknen. So mit einemmal aus den Wurzeln gerissen zu werden, mit einemmal, – das möcht' ich lieber!

Die Menschen sind mir viel zu altklug; haben viel zu wenig Kindersinn. Das Frische, Jugendliche, die Einfalt ist doch mehr als all das verdrießliche Fortschlendern, das Ineinandergreifen von tausend verwobenen Sitten und Gebräuchen.

Das ist die höchste, die allein wahre Tugend, die unmittelbar aus dem Innern quillt, ohne Gesetz und Vorschrift, ohne Buchstaben und Wort, mitten aus dem Geiste, durch seine eigentümliche Kraft, durch die Stimme des Göttlichen in ihm. So geradezu handeln, wie's einem der Geist eingibt, dem innern Drange zu folgen und dem unverdorbnen Sinn und Herzen, das gefällt mir, und das tun die Kinder.

Ich hab' auch so einen Knaben um mich. Du solltest den Jungen sehen mit seiner vollen Traubenwange, seinem Feuerauge, seinen langen blonden Locken.

Oft wandl' ich an seiner Hand durch stille grüne Wiesen. Der Kleine vergnügt mich mit tausend sonderbaren Fragen, die ich oft nicht zu beantworten weiß. O, dieses Schaffen und Treiben, dieses Hinansteigen [210] von der Folge zum Grund, ist dem Menschen so eigen! Und wenn dann das blaue Gebirge vor uns dämmert, worüber ich herkam, Theodor, da wird alles, jeder Pulsschlag wird zum Schmerz, zu einer unüberwindlichen Sehnsucht, die mich hinüberzieht über alle Fernen zu ihr. Ich blicke dann hinaus mit blutendem Herzen und presse den Knaben an mich und seufze: Wärst Du mein! Wäre sie Deine Mutter!

O, ich vergehe über dem Gedanken!

[211] Phaethon an Atalanta

Nach Dir verlangt es mich, Himmlische! Wenn ich die Augen öffne des Morgens, fühl' ich Deine warmen Lippen im rosigen weichwallenden Morgenrot, und wenn die Nacht kommt, sehe ich Dein Bild durch das Dunkel wie ein lichtvolles Wesen heranschweben zu mir, mich anlächeln. Ich glaube Deinen Kuß zu fühlen und den Druck Deiner Hände und schlummere dann so hinüber! Dann erscheinst Du mir im Traume, ganz wie Du warst, wie Du bist, mit Deinem Angesicht voll Engelsliebe, voll Glauben und Hoffnung. Du streust Blumen auf mich herab, zarte jugendliche Blumen aus Deinem Schoße. Dann blickst Du zum Himmel und gehst wieder von mir.

Du Angebetete, warum bin ich ferne von Dir? Gerade jetzt ferne von Dir? Warum kann ich mein Herz nicht an Deinen Busen legen, Du Zarte, Liebende?

Ein Schmerz füllt meine Seele, und doch lebe ich nur in diesem Schmerz.

Ich kann's nicht nennen mit einem Namen, das Gefühl, mit dem Du meinen Busen füllst. Wo ich [212] fallen will, da glänzt es mir wie ein Licht durch die Finsternis, reinigt mich, läutert mich, gibt mir das vollste erhabenste Bewußtsein meines Selbst, vergeistigt mich, hebt mich auf zum Urbild der Menschheit, zu Gott! Ist es Ehrfurcht, Liebe, Freundschaft, anbetende Neigung?

Dich sehen, Dich lieben war eins. Ich lebte nicht vordem. Ich war nicht. Ich träumte nur zu sein.

Alles ist mir anders in der Natur geworden. Ich bin nicht mehr ihr Kind. Ich bin im Kampfe mit ihr.

Oft wenn ich die Sonne hinabgehen sehe, und alles glüht der Scheidenden und wallt in ihrem unsterblichen Licht, da stürzen mir die Tränen aus den Augen, und ich rufe: Hinab! Hinab! Und wenn des Nachts der Mond am Himmel ist, dann wandl' ich hinaus allein ins Freie. Das magische Licht und die riesigen Schatten, das Zusammenschwimmen der Bilder und Gestalten im Duft, die zitternden funkelnden Wellen im Lichtregen, das geheime tiefe Rauschen und Wogen durch Blätter und Äste, der Mond über den alten Eichenkronen schwebend, der hohe feierliche Geist über der Gegend wallend, die Ruh und Bewegung, die Kinder seines Hauches, das Licht im Wasser, und das Leben und Regen in den Pflanzen ...

Und dann die Welten, wie sie wandeln in ihrem Riesengange, zusammenschwimmen wie bleiche Milch, wie unaussprechliche zerfließende Regungen unserer Sehnsucht! Ein blasser Nebel die unendlichen Körper der Schöpfung, dämmernd wie Träume von Blumen, in ewigem unveränderlichem [213] Schwung, alle, alle! Schneller als Gedanken, geworfen und geschleudert aus der Hand des ordnenden allwaltenden Geistes, Kinder der Unermeßlichen, diese Fülle, diese Größe und doch diese Ordnung!

Atalanta, da weiß ich mich nicht zu fassen. Ich verliere mich selbst. Ich kann die Ordnung der Welten nicht begreifen. Sie wirbeln untereinander, Millionen und wieder Millionen Sonnen. Ich höre das Sausen und Dröhnen ihres Schwunges, das Donnern ihres Zusammenstoßens. Alle wanken und zittern, erlöschen, zertrümmern sich. Alles, alles im Wirbel. Alles aus Schranken und Fugen. Die ganze Schöpfung ein Klang, ein Krachen, ein Knattern, über mir, unter mir!

Wo bin ich, Atalanta, Du Überschwängliche? Ich bin nicht mehr. Ich fühle nicht mehr. Aus, aus! Die Schöpfung, das Dasein aus! Das All ein Nichts!

[214] Atalanta an Phaethon

Warum dies fürchterliche Glühen? Dies verwirrte innerliche Beben? Dieser Abfall von der Natur?

O Du, den ich liebe, mit Dir ist es weit gekommen! Phaethon, mein Auge füllt sich mit Tränen, mit Tränen für Deine Seele!

Warum hast Du den Weg verloren? O Phaethon, dachtest Du denn nicht an mich?

Ich sah Dich und bebte. Wie eine Erinnerung aus den Tagen eines schöneren Lebens, wie die Erfüllung einer seligen Ahnung war der Blick Deines Auges.

Da schwammen wir zusammen, Seele mit Seele, Geist mit Geist, schauernd in Wonne! Du fühltest, Du lebtest in mir, und ich in Dir! Unser Dasein war verschmolzen, über und über getaucht in überschwängliches Entzücken wie zusammengeflossene Wölkchen ins glühende wallende Meer der Abendröte.

Du führtest mich mit Dir fort, die Bebende, wie der kühne Adler die zarte Taube. Ich folgte Dir, und mir schwindelte nicht.

[215] Mein Inneres entfaltete sich wie der lebensreiche geschlossene Blumenkeim an Deinem Busen, Geliebter, an Deinem Munde! Du dachtest, und ich fühlte; Du dachtest, und ich ahnte. Du warst der schaffende kräftige Sinn; ich war, voll erwiedernder Liebe, voll Willen und Neigung, die Überlegung; und aus uns entsprossen wie heitere lächelnde Kinder die Weisheit und Tugend.

Ich hing an Dir mit einem Busen voll Liebe wie Immergrün um sonnige Felsen, und wir schwärmten wie jugendliche Sommervögel um alles Gute und Schöne und sogen jene Fülle daraus, jene allbeseelte Innigkeit, die so lebendig macht, so offen für jede Stimme der Gottheit in uns und außer uns.

Unser ganzes Wesen war Andacht. Wenn wir wandelten in der Natur, unser Inneres so wogte und doch so tiefbeseligt war, aus Bäumen und Blättern, Blumen und Gräsern, aus Wellen und Wolken nur Eines uns überquoll, der Geist der Gottheit in seiner stillen ruhigen Größe, um uns, in uns alles so innig war, so warm und so voll, so vieles und das Viele nur Eines ... Diese Fülle und doch dieser selige Gleichklang! Ewiger Frühling, ewige Jugend! O, das war schön!

Ordnung überall und Übereinstimmung! Und Du hast das geheimnisvolle Band aus dem inneren Auge verloren, das diese Mannigfaltigkeit zur Einheit bringt? Überall Leben und Liebe! Du allein bist ohne Glauben, Hoffnung und Zuversicht?

Hab' ich die Kraft verloren, Dich glücklich zu machen?

[216] O warum diese verzehrende Glut, dieses betäubende Sehnen? Du bist so unruhig geworden, so wild in der Ferne; und meine Seele liebt Dich doch mit so viel Frieden, so viel Ruhe und so viel Stärke.

Die höchste Liebe ist wie das Schweigen der allbeseelten stummlebendigen Natur, tief und ruhig wie das klare unermeßliche Meer! Ewig, unergründlich, unaussprechlich!

Ahnst Du das nicht in stillen Nächten, wenn Du allein bist und doch so warm Dich geliebt fühlst, so innig gedrückt an den Mutterbusen der Natur?

Die Schöpfung ist wie ein ungeheurer Baum, der ewig sich gleich bleibt. Auf ihm blühen, wachsen und welken die Welten; sie glühen im dunkeln Raume wie freundliche goldene Früchte im dunkel schwellenden Laub. Unter ihm wandelt Gott. Sein Geist durchsäuselt den Baum und stärkt und erhält mit Liebe die Früchte. Sagen Dir das nicht die Sterne des Himmels?

Lieber, o wie machst Du mir bange? Wie möchte ich um Dich sein, Dich zu schützen, in Liebe zu erhalten. Gedenkst Du der Nacht, wo wir uns gelobten, uns zu suchen im Mond, dem keuschen Bilde der ruhigen unveränderlichen Gottheit? O geliebter Jüngling, warum vergaßest Du denn den heiligen Schwur?

Die drei Säulen sind verlassen. Einsam steht der geliebte Homeroskopf, wo jene Fülle der Gesichte wie zartbewegtes Laub um uns spielte. Nur im Tempel des Eros sitze ich oft einsam und lange und weine, weine um Dich! Da schweben zu mir heran die Geister geschwundener Stunden. Die Vergangenheit naht an [217] der Hand der Erinnerung wie ein weinendes Kind am Arme der Mutter, und Dein Bild, Dein Wesen begegnet mir wie das Wehen zarter Lindenblüte.

Oft bin ich heiter. Mein Schmerz ist so süß. Natur, Gott, Unsterblichkeit, Liebe, alles wird mir eins. Ein überströmendes Gefühl! Ein tiefer, sich selbst stärkender Sinn!

Katon ist wieder still geworden, aber ohne Schmerz. Nur manchmal wird er offner und verklärter, wenn wir des Abends von Griechenland sprechen. Dann blickt er oft lange stumm in Cäciliens Auge, seufzt und schweigt. Oft mahnen sie sich auch an die Tage, wo sie am Eurotas lebten. Ich werde dann still und immer stiller und weiß nicht warum? Er ist so ernst, so groß. Sein Schweigen ist so tief.

Lebe wohl, Phaethon! Lege meine Worte in Deinen Busen!

Ruhe kehre Dir von oben, Friede von Gott! O, kein Mädchen hat inniger, heißer geweint um den Geliebten als das Deine um Dich.

Gedenke meiner, Phaethon, gedenke jener Nacht, wo wir uns trennten!

Phaethon an Theodor [15]
[218] Phaethon an Theodor

O Theodor, Freund meiner Jugend, es ist weit mit mir gekommen!

Ach, ihre Seele ist so rein, so lauter, und die meine, wie wüst, wie verworren!

O wie sie mich liebt! Mich! Mich!

Das ist das erhabenste, was ich denke: Sie liebt mich, diese Seele voll Gottheit! Sie liebt mich! Und diese Liebe, die ich fühle, die meinen ganzen Geist durchschauert – Unsterblichkeit! Gott! – das fließt zusammen mit ihr, innig, glühend, beseligend!

Und Vorsehung, Bruder, Vorsehung! Welch ein Gedanke! Ein Geist ruht auf uns, voll Liebe voll Wahrheit! Und doch, ich kann mir das nicht mehr so denken wie sonst!

Ich kenne die Ruhe nicht mehr, jenes göttliche Schweigen der Seele, jenes befriedigte Anschaun der inneren Welt.

So lang ich hier bin, hab' ich noch nie in meinem Homer gelesen. Ich bin ja geschieden von dieser Welt voll Ruhe, voll Licht, voll Einheit.

[219] Ich lese nichts mehr als die griechischen Briefe, die sie mir schreibt. Da glaub' ich oft ihre Seele in einem Wort zu finden; schau starr hin; küsse das Wort, bis ich es nimmer sehe vor meinen Tränen!

Bei Nacht auf einsamen Wegen durch öde verlassene Felder, da hab ich meine Lust.

Ich sitz' auf einem Berge. Da bin ich dann allein. Kalte dunkle Schauer wehen um mich; meine Seele antwortet in dumpfen verklingenden Tönen. Das Weltgebäude betracht' ich dann.

Wenn ich ruhig bin und in mir beseligt durch den Geist der Gottheit, der in meiner Seele webt, dann glaub' ich die Musik der Welten zu vernehmen; ich glaube zu hören, wie sie sich schwingen und klingen in der ungemessenen Bahn!

Theodor, am Sternenhimmel blüht meine einzige Wonne. Die Gottheit steht nie so groß, so klar, so überschwänglich da in ihrer Fülle vor mir, als wenn ich zum nächtlichen Himmel aufblicke.

Manchmal fass' ich wieder diese Ordnung und Einheit.

Ewig bewegen die Welten sich, ewig! Und doch nach einem Gesetze! Im Riesenschwunge, den unsere Sinne nicht fassen, und doch nach Regel und Ordnung!

Überall Sein und Werden! Im ganzen unermeßlichen All! Welten dämmern wie blasse Nebelflecken, wie milchweiße verschwimmende Streifen, werdend, sich gestaltend, in allmählich reifendem Entfalten, sich sammelnd aus dem unendlichen Stoff in die riesigen Formen. Welten sind geworden, wurden gebildet aus [220] dem gewaltigen Element wie volle blühende Blumen aus dem Keime; schwimmen im ewigen Äther in Jugend und Vollendung. Welten schwinden zusammen, vertrocknend, erstarrend, alternd, sich lösend vom Wasser, dem nährenden, tränkenden. Abgespiegelt der Mensch mit seinem Werden, Wachsen und Welken in den Gestalten der Schöpfung!

An- und zurückstrebend, sich nähernd und entfernend, liebend und hassend, die Körper gegeneinander im uferlosen Raume!

Und wie Kinder der Liebe, wie unwillkürliche Regungen unsers Innern, geschweifte Riesenkometen mit gewaltigem Gange, wandelnd durch die bewegten Welten, glänzend im unerforschten Laufe bald über unserm Weltenkranze, bald schreitend zwischen Mond und Erde! Und all das Wechselwirken, getrieben, geschwungen vom Allmächtigen! Alles im ewigen Gange, durch einen Hauch seines Odems, durch eine Bewegung seiner Hand!

Phaethon an Theodor [16]
[221] Phaethon an Theodor

Sieh, Theodor, immer geht es weiter! Kein Stillstand! Ewiger Stufengang! Das ist so der Natur gemäß.

O lächle nicht! Weine! Weine!

Ruhe, Stille, Frieden, Demut, Zuversicht und Mut! Davon weiß ich nichts mehr.

O mein Name! Der Sohn eines Himmlischen ist kein Himmlischer selbst! Ein Mann, gemischt aus irdischem und überirdischem Stoff, vermaß sich den Sonnenwagen zu führen durchs All, mit kühnem Selbstvertrauen, verblendet vom Übermut, verlassen von oben! Die Rosse des Wagens schnaubten. O Bruder, der Arme konnte die Ungebändigten nicht leiten. Sie rannten aus der Bahn, verbrannten die Erde! Der Übermütige, mit seiner endlichen Kraft sich brüstend, ward niedergeschmettert vom Blitze des Olympiers!

Ach, diese irdische Kraft, die sich selbst die Schranken nicht setzt, wirft der zürnende Gott zurück.

Auf dem Kirchhofe sitz' ich nächtelang. Diese Stille, dieses Schweigen umher! Tot, verstorben, [222] verlassen alles, alles! Über mir, unter mir, in mir nur ein mattes verwehendes Beben im gerüttelten Zweige, im flüsternden Blatte! Die Geister der Verschiedenen im einsamen Zittern des Grashalms, im grauen traurigen Leichenstein, im dämmernden herabwallenden Mond licht webend! Noch so eine dumpfe Rückerinnerung von all der Fülle, von all dem überschwänglichen Sein, dem ewigen Wogen und Fließen, und nun dies Nichts! Dies Dahinschwinden! Auf all dies Gerege solche Totenstille! Solch ein stummes Verzweifeln in mir selbst!

Und dann auf einmal ist's wie ein geschwungenes Rad in meinem Gehirn. Ich kann nichts mehr denken, nichts mehr fühlen. O Bruder, Bruder, wie wird das werden?

Phaethon an Theodor [17]
[223] Phaethon an Theodor

Der Wirbel wird nicht lange mehr dauern!

Höre!

Nur Gott weiß es, der Alliebende, aber auch der Allgerechte! Meine Unschuld ist befleckt! Ich bin nicht mehr rein! O schaudre! Schaudre!

Und sie! O Theodor, mein Theodor, ich sehe keine Rettung mehr!

Nur einmal meine Hand zu tauchen in die Feuerwogen des Morgenrots und erwärmt zu werden von seiner unsterblichen Fülle über und über! Nur einmal Gott zu schauen, wie er ist, ohne Hülle, Bild, Gestalt und Farbe. Ihn! Die ewige wandellose Liebe! Dann gäbe es kein Nichts mehr für mich! Meine Brust wäre voll von den Wellen seines unversiegbaren Lichtquells! Leben wieder in mir! Frieden und Ruhe der Gottheit!

Unsterbliche Liebe! Eins ist Alles, und Alles ist Eins. Das fühlt' ich einst! Und nun?

Meine Seele hing einst an der Natur wie der Säugling an den Brüsten der Mutter. Ich fühlte mich so groß, so ewig, so geliebt!

[224] Glühend, zerfließend weinte meine Seele vor Wonne! Ein Lied des Dankes, eine Freudenträne war mein Leben.

O, sie hätte mich glücklich gemacht! Bruder, wenn ich vor ihr stand, und mein Blick sich verlor im Seelenmeer ihres Auges, und ihr Mund lächelte, als ob er mich bäte, ihn zu küssen, so innig, ganz Liebe, so ganz Hingebung, und sie nichts wußte, nichts kannte als mich; ich ihr alles, alles war, und sie so ganz befriedigt; all ihr Sehnen und Wünschen gestillt schien in meinen Armen!

Ihr Auge befruchtete die Keime meiner Seele. Sie schossen alle auf und standen alle in Blüte. Ihre Tränen waren der linde tränkende Tau. Ihre Seele floß von ihrem Busen, von ihrem Auge in das meine, unbegrenzt, endlos, ewig!

Nun ist auch sie allein! Es wandeln ja schwere ungeheure Sonnen durch die Räume des Alls ohne Erde.

Es schwimmen ja grenzenlose ungestaltete Flecken im Unermeßlichen, die noch nicht gereift sind, die sich erst in Jahrtausenden zu Riesenwelten bilden.

Sie und das ganze All des unendlichen Gottes ist mir Eines. Es drücken beide mich nieder.

Phaethon an Theodor [18]
[225] Phaethon an Theodor

Schicksal? O, das macht mich wahnsinnig: zu stehen am Abgrund, hinunter zu starren in seine Tiefen! Bruder, nur ein Sprung! Die Felsenrippen gähnen! Und die Stimme aus dem Innern donnernd: Hinunter! Nachhallend durch meine tiefste Seele: Hinunter! Du mußt! Magst du wollen oder nicht! Dich lenkt ein Gott! Nur Täuschung ist dein Wille! Hinunter!

O Fluch dem Gedanken!

Phaethon an Theodor [19]
[226] Phaethon an Theodor

Maß zu halten bei solcher Fülle, das war sonst mein Höchstes. Ich kann's nicht mehr!

Auch jene süße Bewegung des Herzens kenn' ich nicht mehr, wo es, so einig mit sich selbst, sich regt und wallt, wie die glühenden Feuerwellen des Meeres am Abend, so zart, so verschmolzen und doch so liebendeinig!

Ein kalter schauriger Frost durchwirbelt meine Seele, und wenn er einmal weicht, so ist's keine freundliche begeisternde Freude, die an seine Stelle tritt; es ist eine zuckende Wonne, ein verzehrendes Sehnen, das durch mein Inneres fährt und schnell verrauscht und der alten Nacht die Stelle wieder räumt.

Und beten? Warum kann ich nicht mehr beten? Sieh, da hatt' ich gestern meinen Knaben vor mir stehen, faßt ihn, hob ihn auf, drückt' ihn weinend an meinen Busen, küßte seine vollen unschuldigen Wangen und stammelte: Bete! Ach, und er betete, so klar, so innig, so harmlos, als kennt' er zu dem ihn, er [227] betete; als fühlt' er seine Nähe! Und mich! Wie er mich ansah! Ich ließ ihn sinken, als dürft' ich ihn nicht anhauchen, das reine gottbefreundete Wesen.

Theodor, wär' ich einmal frei, und hielte mich die Erde nicht an sich, die Erde, die ich nicht lieben kann, dann stürzt' ich in den leeren Raum, der sich ausdehnt zwischen den wandelnden Welten des Schöpfers; dann stürzt' ich ewig von einem Weltsystem ins andre, vorüber an allen Millionen Sonnen und Monden; begegnete den Kometen, die sich vor Jahrtausenden unsrer Erde näherten, die in Jahrtausenden noch kommen werden! Brüder, ewig, ewig würd' ich taumeln und fallen und kein Ufer, keinen Grund, keine Grenze finden. Immer tiefer und immer weiter und doch kein Ende! Jahrtausende stürzen durch das All, und doch kein Ende!

Phaethon an Atalanta [1]
[228] Phaethon an Atalanta

Atalanta, Du Liebe, Gute, laß mich zurückgehn in die Tage der Wonne!

Die Seelen aller Menschen haben einst das Heilige, das Wahre, das Wesentliche gesehen in seiner Göttlichkeit.

Auch wir schwebten einst mit der Gottheit in der Höhe; wir waren in ihr, eins mit ihr, lenkten mit ihr das unermeßliche All.

Aber es schwanden uns die Flügel. Wir sanken tiefer und immer tiefer durch die Schöpfung, und fielen auf unsere Erde. Da wand sich der Körper um uns, die unsterblichen Seelen; eine kurze, bald welkende Hülle schloß sich um unser unvergängliches Wesen.

Atalanta, wir liebten einst das Schöne, das Gute, ganz wie es ist, göttlich und übermenschlich. Wie ein belebender Saft quoll es stärkend und kräftigend durch unser Innerstes und tränkte die wachsenden Flügelkeime. Aber wir liebten das Böse und fielen!

[229] Ach, das eine Roß, das meine Seele lenkt an ihrem Wagen, will wohl hinan, will über den Kreis des Himmels, will zur Anschauung der Gottheit; aber das andere hält mich schnaubend an der Erde. Ich ringe, kämpfe; aber die Schwungkraft meiner Flügel ist gelähmt.

Einst schwammen, webten und wirkten wir in Gott und sahen die Schönheit wie trunkne Eingeweihte, im Wogen und Wallen ihres lauteren Lichtes. Nun wandeln wir, in einen Körper gehüllt, wir göttlichen Wesen, getrennt von unserer Mutter, der Gottheit, ewig uns sehnend nach ihr, auf einem Wandersterne, den wir einst kaum kannten als bleichdämmerndes Lichtbild. So klein war er uns im Anschaun der Gottheit!

So kamen wir auf die Erde. Du wardst in Griechenland in einen Körper gehüllt, und ich im rauhern Norden. Wir kannten uns nicht, wenn wir schon einst zusammenwebten in Gott.

Wir sahen uns; wir küßten uns wie zwei bebende glühende Strahlen, entflossen aus einem Urlicht der Sonne.

Wir fühlten uns leichter und freier in unserer Körperhülle. Mächtiger und gewaltiger wuchsen die Federn aus ihren Wurzeln.

Wir sahen uns, strebten, glühten, uns zu einen, ganz ineinander zu fließen. Dein Angesicht, Du Göttliche, war mir der reine seelenvolle Abdruck der körperlosen Schöne.

Gestillt war unser Schmachten, unser Sehnen. Wir liebten; wir hatten gefunden, was wir bewußtlos [230] suchten. Die Urschönheit bebte wie klares quillendes Mondlicht durchs Nebeldunkel unsers Innern. Wie das verschwebende Säuseln der Linde klang die alte liebende Stimme der Erinnerung.

Wir brachten einander näher der Gottheit durch Liebe, durch unaussprechliche Liebe.

O Atalanta, was taten wir nicht füreinander!

Atalanta an Phaethon [1]
[231] Atalanta an Phaethon

Jüngling, hast Du kein Gefühl für mein Weinen um Dich?

Nicht so, Geliebter, kannst Du mich lieben! Nicht das ist die wahre innige Liebe. Du bist eine wilde lodernde Flamme, die prasselnd aufschlägt und schnell erlöschend sich selbst wie das Dasein Anderer verzehrt. Du nanntest mich Dein Mädchen, das Du liebst, und Du liebst mich so wenig, daß Du mich tötest?

Einst war unser Gefühl süße innige keusche Blumenliebe. Glühende Wonne flocht sich in ewiger Jugend durch unsere Tage wie Rosen durch unser Haar.

Wenn Du vor mir standest und Dein blaues Auge glühte, voll Geist, voll gestillter Sehnsucht, voll seliger Liebe, voll heiliger keuscher Neigung, so treu, so voll Glauben und Gott: Jüngling, wenn Du so vor mir standest und Deine dunkeln Locken von Deinen Schläfen wogten wie um das Haupt eines jugendlichen Gottes, da weinten Aug' und Seele in mir, und allmächtig, in einem Wirbel, schlug mein Inneres wie eine wogende Weihrauchsäule nach oben! Nicht [232] Mädchen, nicht Kind mehr, mit Gott mich vereinend in einem Kusse der Liebe, wie auferstanden als reiner geläuterter Geist aus dem Grabe, schwebend über der Erdenhülle wie die ewigjunge Morgensonne in ihrer wallenden Lichtfülle über der alten Erde!

Ich sah ja Gott in Dir. Er sprach aus Deinem Auge, wenn Du weintest oder mich anlächeltest, aus Deinen Lippen, wenn sie Worte der Liebe stammelten, wenn sie im Kuß an den meinigen brannten. Aus Deinem ganzen Wesen sprach der ewige liebende Gott!

Da faßte ich ihn wieder und drang durch sein keusches lauteres Himmelblau und erkannte ihn mit dem verklärten Auge meines Geistes. Und das quoll wieder zu Dir, hinüber und herüber, ewig erwiedert!

Du hattest mich gesehen! Das weiße Roß, das Du lenktest am Wagen, ward erfüllt mit tiefer Liebe. Das schwarze toste und schäumte schnaubend an den Zügeln und zog voll wilder Brunst den Wagen tobend mit sich fort. Ich war Dein Liebling geworden; aber vor Deinem Geiste schwebte die Erinnerung der echten Schöne und füllte Deinen Busen an mit keuscher heiliger Scheu. Denn die wahre Schönheit ist rein wie das weiße Silberlicht der Sonne und unberührbar wie die Unschuld der Jungfrau.

Du zogst die Zügel, und die Rosse stürzten.

Ich bebte.

Wir kamen uns nahe und immer näher. Die Liebe quoll wie ein Strom von Deinen Augen in die meinen, von meinen in die Deinen. Unsere Geister waren erfüllt von ihr.

[233] Und nun?

Phaethon, warum hast Du Deinem wütenden Rosse die Zügel gelassen, daß es schnaubt und wiehert und die wallende Mähne schüttelt? Kennst Du nimmer den alldurchdringlichen Strahl der heiligen Liebe, die von Seele zu Seele zittert wie der Echoklang von Berg zu Berg? Ist die heilige Scheu, der ruhige, sich immer verstärkende Sinn, das heitere züchtige Gefühl gewichen aus Deinem Busen?

Jüngling, lenke Deine Rosse! Deine Arme sind stark. Der Strahl der Gottheit in Deinem Innern ist warm und groß. Lenke Deine Rosse! Das Mädchen Deiner Liebe weint um Dich! O schone die Weiche, die erbebt vor dem Geschnaube Deiner zügellosen Rosse! Schone sie! Sie sinkt auf die Knie vor Dir und bittet Dich weinend: Liebender, schone die Arme, die Dich liebt!

[234]

Phaethons Zustand war schrecklich. Er rang und kämpfte sich wund.

Den Tag über arbeitete er. Man hörte ihn oft die halbe Nacht hindurch laut weinen. Keine Seele war um ihn, die ihn hätte trösten, seinen Schmerz hätte lindern können. Wenn er ein Buch zur Hand nahm, so warf er es gleich wieder auf die Seite.

Vor den Leuten preßte er seinen Schmerz in die Brust; aber er sprach laut genug aus dem wilden Glühen der Augen, dem blassen eingefallenen Gesichte.

Er schwelgte, stürzte sich in Genüsse aller Art. Seine Seele ward immer finstrer, wilder, verdorbener; immer schwerer wurde die Rettung.

Viele, die ihn kannten, wollte er nicht mehr kennen. In seinen Reden verlor er immer den Faden wieder, machte die wunderbarsten Kombinationen und schien oft das Vergangene vom Gegenwärtigen nicht mehr unterscheiden zu können. Immer aber sprach er von Reinheit. Er hatte lauter fixe Ideen, die ihm niemand berühren durfte.

Am liebsten lief er durch Wälder oder über Berge. Er glaubte seinem Schmerz zu entgehen; und wenn es nicht möglich war, so knirschte er in Anfällen von Verzweiflung.

An Theodor schrieb er nur abgebrochene Sätze wie folgende.

Phaethon an Theodor [20]
[235] Phaethon an Theodor

Mit Gott zu kämpfen, war das nicht von jeher mißlich? Die Riesen, die Gebirge türmten aufeinander und mit gewaltiger Kraft die wandellose Macht des Vaters der Götter und der Menschen stürzen wollten, die eichenstarken Männer, warf ewig unerschüttert, den Donner von der Höhe schmetternd, allmächtig der erzürnte Gott zu Boden.

Wie mir einst alles Leben war, ist mir alles nun Tod, wohin ich blicke.

Die Millionen Welten, die werden, sind und vergehen wie der Mensch, die aus dem Elemente sprangen wie Blasen und wachsen! Ich bin so garnichts gegen das unermeßliche All!

Ewiges Sein! Ewiges Nichts! Wie fürchterliche Feinde sich gegenüberliegend, einander zerstörend und aufreibend, beide mir gleich verhaßt! Mir wirbelt's!

Denke Dir das Nichts! Bruder! Das Nichts! Mensch!

Was ist auf Erden der Mensch? Was der Blumenstaub auf dem Blatte. Sie verwehen.

[236] Als ich mich noch so ewig fühlte, o da war ich wie ein Gott!

Auf das ewige Sehnen und Kämpfen, das Ringen und Treiben muß doch Ermattung folgen, und auf Ermattung?

Tod?

Eine Träne im Auge meines Mädchens, ein Blick in ihre Seele, ein Kuß auf ihre reinen Wangen, ein stummer Druck ihrer Hand, machte mich das nicht unsterblich?

Das Leben ist ein ungeheures Meer, in dem wir schwimmen, bis seine Wogen uns verschlingen.

Es ist Gott wohl ein liebender Gott; aber ich fühle doch, wenn er mich an seinen Busen drückt, daß ich so klein bin gegen ihn.

O, sich ihm zu nähern und nicht zu Nichts zu werden! Vor ihm bleiben zu können, dazu muß man rein sein wie sie, wie sie!

Wir Menschen sind nur Wolken, die vorüberwandeln am Himmel und manchmal durchglüht werden von seinem Hochrot; aber sie verwehen wie Träume.

[237]

Alles, was er noch in dieser Zeit zeichnete, trug den Stempel seiner Geistesverwirrung: himmelstürmende zurückgeschleuderte Riesen; Eichenstämme, samt den Wurzeln aus dem Boden gewirbelt und über wildes jähes Felsgeklippe taumelnd; engelschöne Mädchen, die Hände betend zu Gott hebend; abgezehrte, die Hände ringende, zu Boden liegende Jünglinge; Kirchhöfe, worin beim Mondlicht die Geister über den Gräbern schweben und einsame Menschen um ihre verstorbenen Geliebten trauern. Dann zeichnete er wieder Atalanta mit dünnem fließendem Gewande, mit aufstrebenden Flügeln, auf Wolken schwebend, in den langen fließenden Locken junge Blumen, mit zartem offenem Busen, die gott-trunknen Augen zu einem großen Auge hebend, das über ihr aus wallendem Lichte quoll, womit er das Auge Gottes bezeichnen wollte. Das wiederholte er hundertmal und fügte zuletzt immer seltsamere Bilder und Zeichen hinzu. Er verschloß alles sorgfältig, was er gebildet.

Wenn er einen schönen weißen Knaben sah, drückte er ihn an den Busen, weinte, nannte ihn ein Kind der Sonne.

Gegen Erwachsene war er verschlossen und geheimnisvoll. Die Worte Gott und Natur kamen nie auf seine Lippen.

Um diese Zeit erhielt er einen Brief von Atalanta, der sich schloß auf folgende Weise:

Atalanta an Phaethon [2]
[238] Atalanta an Phaethon

Ich stand am See. Der Mond schien ebenso hell auf die stille dämmernde Gegend wie einst, als wir miteinander in den Kahn traten. Blasses Gewölk küßte die verschwimmenden Bilder der Berge. Der Wind spielte wie ein liebender Geist in den Blättern. Überall war ein sanftes inniges Wogen der Natur, in den silbernen zitternden Wellen, im wankenden Laub, in den Bildern der Bäume auf dem Wasserspiegel, in den Wolken des lautern Äthers. Selbst der dunkle Himmel schien zu quillen und zu wogen wie ein seelenvolles lieberfülltes Auge. Und doch war's so eine heilige Stille, so ein überschwänglichsüßes Schweigen.

Ich schaukelte mich allein im Kahne. Mein Auge hob sich zum Mond und weinte seine Tränen hinauf und trank Ruhe, Demut und Frieden aus seinem Lichte. Immer stiller und stiller ward mein Gemüt und immer lauterer, voller. Ein unbegreiflich seliges Sehnen schwang mich fort. Dann verlor sich mein nasses Auge in Himmel und Wasser, drang tiefer und immer tiefer, bis es schwamm in Licht und Dunkel.

[239] Ich schlummerte ein im Kahne. Mir träumte, es wäre auch Mondnacht und ich triebe in der nämlichen Gegend auf dem See. An Dich dacht' ich. Vom Ufer herüber aus dem Laube schwebten unendlich zarte Töne, drangen durch mein Tiefinnerstes, voll Liebe, voll Innigkeit, voll reiner Seele. Mit einemmal hob sich der Kahn im Gewässer. Ich erschrak. Ein weißer zarter Knabe mit blonden Locken und duftenden Rosenkränzen lenkte mit rosenroten Banden ein paar blendendweiße Schwäne durch die Luft. Seine Nähe war wunderbar beseligend. Er schwebte zu mir in den Kahn und legte seine Händchen um meinen Hals und blickte mich so liebend an mit seinem blauen Auge und küßte meine Lippen. Dann zogen die Schwäne den Kahn durch die Luftwellen weiter und immer weiter. Es schwand das Dunkel. Mich umwogte das glänzendste reinste Licht. Da wachte ich auf. Der Kahn war wieder ans Ufer getrieben. Ich stieg aus; aber den Traum sagte ich weder dem Vater noch Cäcilien.

Die Guten sagen, ich sei blaß geworden. Diese Tage fühlte ich körperliche Schmerzen. Vielleicht schwebe ich bald hinüber! Eine Ahnung sagt es mir.

Erschrick nicht, Du bange zerrüttete Seele! Ich bringe zu Gott einen Busen voll unsterblicher Liebe.

[240]

Mit starrem Entsetzen legte Phaethon den Brief aus der Hand. Von nun an war alle Ruhe für ihn dahin. Er rang mit dem Wahnsinn.

Alles Maß verlor er in Genüssen. Der Fürst erfuhr davon und verwies es ihm nachdrücklich. Phaethon wurde trotzig, stolz und übermütig. Es war umsonst, daß ihn Freunde warnten. Er hielt sie für keine Freunde.

Eine Krankheit warf ihn nieder; aber seine Natur war stark und hielt die Stürme aus.

Um diese Zeit kam unvermutet sein Theodor an, den er noch immer warm und treu liebte. Er erschrak über Phaethons Aussehen.

Er gab sich alle Mühe, die Gemütskrankheit des Freundes zu lindern oder gar zu heilen. Er hätte ihm eine Reise zu Atalanta vorgeschlagen, aber er kannte den Unglücklichen und wußte wohl, wie dann seine entflammten Lebensgeister vollends rasten, alles Maß verlören.

Phaethon war oft mürrisch, immer empfindlich, leicht zu beleidigen; und wenn er es war, so tobte er bald; bald weinte er wieder. Theodor gab ihm nach, fügte sich ihm ganz. Er duldete alle seine Launen und Stimmungen; kam ihm überall entgegen mit Liebe. Phaethon fühlte es wohl.

Halbe Tage lang sprach er von Griechenland, aber immer unzusammenhängend. Er versicherte, daß er dahin gehe, sobald es der Fürst erlaube.

Auf seinem Klavier spielte er wilde grelle Phantasien; und wenn er etwas ruhiger wurde, hauchte er ein brennendes Gefühl in unendlich traurigen Elegien aus.

[241] Theodor erfuhr seine Ausschweifungen. Er war entsetzt. Fast gab er den Armen verloren.

Er war immer um ihn; bat ihn oft mit Tränen, an seinem Halse liegend, sich zu bessern. Phaethon ward dann rasend. Seine Augen rollten wütend im Kreise; Zuckungen wandelten den Unglücklichen an. Er weinte laut; raufte sich die Haare.

Theodor schwieg endlich.

Einst kam er des Morgens auf sein Zimmer. Vor Schreck blieb er stehen. Phaethon kniete an der Wand. Sein Kopf lag auf einem Stuhle. Theodor lief auf ihn zu. Der Arme regte sich nicht. Er schüttelte ihn voll Entsetzen. Endlich bewegte er sich, drehte den Kopf zurück und sah den Freund mit einem fürchterlich irren verglühenden Blick an, voll verbissenem Schmerz, voll Wahnsinn. Die Haare hingen ihm wild über das Gesicht. Plötzlich sprang er auf und ergriff den Freund am Halse mit einem wütenden Schrei. Dieser hielt ihm mit Mühe die Arme. Phaethon stürzte stumm zu Boden.

Ein Brief lag auf dem Tische. Mit Zittern ergriff ihn Theodor. Er war von Atalanta.

Atalanta an Phaethon [3]
[242] Atalanta an Phaethon

Empfange die letzten Worte Deiner Atalanta und weine mit ihr, aber heilige selige Tränen, wie sie einst in Deinem Auge schwammen, als wir noch, blühend und gesund, wie befreundete Quellen ineinanderflossen.

Deine Geliebte gehört der Erde nicht mehr an. Ihr einziges, ihr überschwänglich brünstiges Sehnen ging nach dem Himmel. Er lächelt mich an, o Phaethon, so unschuldig, so süß wie die Mutter ihr wiedergefundenes Kind.

Meine Hülle wird erstarren; aber meinen Geist erfüllt die Wärme der Gottheit, meine Seele die Fülle des Himmels. Ein tiefes seliges Wogen durchbebt mein Tiefinnerstes. Wie sonst nur mein Auge in den Äther verschwimme ich nun ganz in sein ewiges Blau wie eine Träne!

Meine Hülle wird sinken; aber mein unsterblicher Geist steigt aus dem welkenden Körper wie ewiger Duft aus dem Kelche der sterblichen Blume.

Ich werde sterben!

[243] Zittere nicht! Bebe nicht! Nur weinen darfst Du, weinen mit einem Auge voll Glauben und Himmel.

O Phaethon, Gott stärke Deinen Mut! Die Du liebst, wirst Du verlieren!

Ach freilich bin ich noch jung. Ich hätte noch lange, lange leben können in Deinen Armen! Aber das wollte mein liebender Vater nicht.

Ich stand noch da wie die aufgehende Rose. Das Morgenrot sandte seine Lichtwogen auf mich und spielte mit seinem unsterblichen Strahl um meine kindlichen Wangen. Alles glühte, webte, regte sich am Busen der warmen Sonne! Alles war eins! Ein unendlicher Schauer der Wonne!

Schöner Jüngling, Du warst mein Glück! Du fandest mich in meinem innersten geheimsten Heiligtum, in meiner tiefsten Seele, wohin nur Gott dringt. Du drangst hinein, umfaßtest mein Ich in einem Kusse! Alles Ewigkeit! Unermeßliches Leben!

Selig, selig war die Ahnung der geoffenbarten Gottheit, die in unserm endlosen entzückten Geiste quoll wie die Träne der Feuerwonne in einem frommen Auge.

Auch auf dieser Erde schon sollte uns ein ewiges Glück werden.

Es ward nicht.

Dein Mädchen weint. Es sollte Dein Weib, sollte Mutter werden. Jüngling, wenn Du keusch bist wie Dein Mädchen, so fühle mein weinend Herz. Ein lächelndes Kind an meinem reinen Busen, Dich, mich, eine ewige alldurchglühende Liebe darin zu fühlen! Unser schönstes heiterstes Dasein in dem jungen blumigen [244] Wesen zu finden! Die Liebe des Vaters und der Mutter wie gestaltet! O Jüngling, was die Gottheit ihr selbst, ist die reine keusche Mutter dem Kinde. Wie sie das zarte weiche Geschöpf, das verloren wäre ohne ihre Liebe, mit der Milch des Busens nährt, so nährt die Gottheit sie selbst mit ihrer ewigen lauteren Fülle. Ich durfte nicht Mutter werden! Ich sterbe noch so jung.

Mein Gott wollte es. Ich habe mich ihm ganz ergeben. Kennst Du diese entzückendste der Wonnen, dieses grenzenlos selige Gefühl noch? Zu leben, zu sein in ihm, dem Geiste der Liebe? Zu glühn in ihm wie in einem warmen allesdurchquillenden Lichte? Zu schauen in die endlose Tiefe seines Wesens wie ein Auge in den klaren und doch unergründbaren Äther!

Und ist der Tod denn schrecklich? Ist das Morgenrot nicht schön nach der kurzen Nacht? Ist der Tod nicht die erhabenste Wiedergeburt des unsterblichen Geistes? Nicht der Triumph der Seele über den Körper? O, aus dem Grabe blüht wie eine ewigjunge Blume neues glühenderes Leben, volleres schöneres Dasein Rosen und Myrten, die Blumen der Liebe, sind die Sinnbilder des Todes.

Es ist das seligste Hochzeitsfest, das Fest der ewigen und innigen Verbindung mit Gott! Jüngling, die Deine Braut auf Erden war, feiert es nun mit Gott für die Ewigkeit!

Siehe, Du Lieber, wenn Du in stillen Nächten hinaufblickst in den Äther, dann irrt Dein Auge voll gestillter Sehnsucht durch die Sterne, aber voll Licht,[245] voll Liebe. Denn auf einem der Sterne wandelt Dein Mädchen, wandeln die Geister all Deiner Geliebten! Auch sie blickt dann mit einem höheren Auge nieder auf die kleine unendlich ferne Erde, wo Du wandelst, und denket Dein.

Die letzte Scheidewand fällt! O laß uns noch einmal miteinander beten, beten wie unsterbliche Geister, wie Kinder des alliebenden Gottes:


Heilig, Gott, ist Deine Welt, das Werk Deiner Allmacht! Licht der Lichter, Kraft der Kräfte, Du Geist der Reinheit, Dein Wesen ist wie eine lautere Flamme! Nur die Reinen kommen zu Dir! Nimm uns auf, Deine Kinder! Nimm uns auf an Deinen Busen!


Phaethon, Phaethon, wir sehen uns drüben! Meine Seele füllen unendliche Gesichte.

Wir werden schweben in Deinem Morgenrot, o Gott, und uns baden in seinen wallenden Wogen wie milchweiße Schwäne, auf- und untertauchen in den glühenden Wellen voll Licht und Wärme, dahinfliegen durchs All, Arm in Arm, zwei selige Geister! Unsere Häupter umwallt die ewige Schöne Gottes. Auf unserer Stirne schwebt der große Gedanke der unsterblichen Schöpfung. Unser Auge ist die göttliche Kraft des hellen befreiten Geistes, der das Wesen durchdringt seines liebenden Gottes! Auf unsern Wangen bebt die Liebe des Allerhalters, die er kundtut dem Menschen in allen Sonnen und Monden, Erden und Milchstraßen, in jedem saftigen Kraut, jedem flüsternden Blatte, jedem freundlichen Sonnenblick. Unsere Brust schwellt die [246] Wonne der Unsterblichkeit, unsers freien göttlichen Wirkens und Webens in Gott. In ihr drängt sich zusammen die ganze überschwängliche Fülle des Guten und Schönen, das im Weltall keimt und reift!

Schon fühl' ich mich freier; schaue die Bahn, auf der ich wandle zum Schöpfer, wandle so schnell wie der Gedanke entgegen der ewigen Wonne, dem ewigen reineren Sein, entgegen der heranwallenden Schöne Gottes.

Phaethon, willst Du Deine Braut auf Erden noch an Deine Brust drücken, so eile, so eile!

[247]

Ein Bote war gekommen und hatte den Brief gebracht. Zugleich erzählte er auch das Nähere von Atalantas Krankheit.

Theodor wußte sich kaum zu fassen. Er war entschlossen, Phaethon dahin zu begleiten.

Er weckte ihn aus seiner Betäubung, wollte sprechen und konnte es nicht vor Weinen. Phaethon bekam von neuem Zuckungen. Theodor mußte ihm mit Gewalt die Arme halten. Der Unglückliche sprach nichts. Nur einmal stieß er mit einem fürchterlichen Seufzer die Worte aus: Nur die Reinen kommen zu Gott!

Theodor bestellte den Augenblick ein paar Reitpferde und hielt selbst beim Fürsten an. Er bekam die Erlaubnis.

Sie ritten ab. Tag und Nacht brausten sie fort.

In dritthalb Tagen ritten sie zum Schloßtor hinein.

[248] Ein Brief von Theodor, den er an einen seiner Freunde schrieb, meldet folgendes:


Theodor an Mör[ike]

Es ist entschieden mit unserm Freunde! Es ist fürchterlich entschieden!

Der Phaethon, der einst jene große Welt im Busen trug, der einst das geliebteste Kind der liebenden Natur war, der einst so kühn unter uns allen stand wie ein gewaltiger in die Wolken gestreckter Riesenberg unter niedern Hügeln, der Phaethon ist – wahnsinnig!

Weine mit mir! Beweine den Armen! O, was hab ich gelitten in diesen Tagen!

Noch bin ich wie betäubt, zittre, schaudre in allen Nerven.

Wir ritten Tag und Nacht. Am andern Morgen wechselten wir die Pferde.

Phaethon sprach kein Wort. Mit fliegenden, vom Wind gewirbelten Haaren rannte er besinnungslos die Straße dahin.

Zwei Nächte durch schliefen wir nicht.

[249] Am dritten Tag waren wir in der Nähe des Schlosses. Phaethon sprang vom Pferde, stürzte mir wütend um den Hals und preßte mich riesenmäßig an seine klopfende Brust.

Da stand ich einst! rief er fürchterlich weinend. Gott! Gott! Verlaß mich nicht! Seine Lippen schäumten. Es war das letzte vernünftige Wort, das ich von ihm hörte.

Wir stürmten durchs Schloßtor hinein. Es war ein heiterer schöner Abend. Der Westen brannte von wallendem Golde.

Ein Diener lief uns entgegen. Seid Ihr da? rief er schluchzend. Sie stirbt, sie stirbt!

Wir rannten die Treppen hinauf. Phaethon riß eine Tür auf. O Gott! Ich muß aufhören; die Worte schwimmen vor meinen Augen.

Freund, ich sah sie, die mir Phaethon einst mit solch trunkenen Worten geschildert! Ich sah sie in ihren letzten Augenblicken.

Höre und bete!

Ein hochgewölbtes Zimmer umfing uns, wo oben auf blauem Grunde die lieblichsten Engelsgestalten in tausendfachen Stellungen schwebten. Auf einem mit Purpur überwallten Bette lag sie:

Ein sterbender Engel!

Ihr blasses Haupt ruhte matt auf einem Kissen. Ihre dunkeln Locken lagen in langen Wallungen um sie her. Hellgrüne Akazien, glühende Rosen waren im Kranz um ihr Haupt geschlungen. Ein paar große dunkle Augen voll Himmel und Frieden blickten traurig [250] und doch selig die Umstehenden an. So lag die Blasse, die Schöne.

An ihrem Bette kniete seine Cäcilie, wie in einen unaussprechlichen Körper hingegossen, ohne Seufzer, ohne Sprache. Ein hoher Mann stand am Haupte der Sterbenden, der die Stirn mit seiner Hand verdeckte. Katon war's, ihr Vater.

Das Wort faßt dieses Bild nicht!

Phaethon lag vor ihr, bedeckte ihr bleiches Angesicht mit seinen wilden Locken, küßte sie wütend.

Er sprach kein verständliches Wort. Nur fürchterliche Seufzer stöhnte er aus.

Sie wand sich los mit schwachen Kräften und erhob sich etwas und neigte sich gegen den Knienden.

Gott, Du hast Menschen, die Dir gleichen!

Dieses Auge, ach dieses überschwängliche Auge, mit dem sie ihn ansah! So unendlichwunderbar schauernd! So voll Trauer; voll Milde! Halb verletzt und doch voll unaussprechlicher göttlicher Liebe.

Er aber glühte; sein Blick rollte wild. Aber er fühlte doch die Seele in dem Auge, die Fülle, die Liebe!

Der große Mann ging ans Fenster. Es war, als ob er's nicht mehr aushalten könnte.

Atalanta ergriff halb zitternd Phaethons Hand. Eine Träne glänzte in ihrem Auge. Der junge zarte Busen hob sich, voll Liebe anschwellend, unter den Tüchern. Sie sagte mit einem tiefen Seufzer: Ach, warum bist Du so gefallen?

O, das sagte sie so unendlich traurig, so zerflossen in Wehmut und doch so ganz voll Liebe!

[251] Er aber raste. Mit einem gräßlichen Oh! stürzte er von neuem über sie. Seine Lippen brannten auf den ihren.

Wir hörten sie weinen. Sie konnte sich nicht losmachen. Wir richteten den Wahnsinnigen auf.

Wie sie sich wieder frei sah, weinte sie noch stärker. Dann lispelte sie wieder wie betend: Ach, warum muß ich ihn so wiedersehen!

Sie schien sich zu sammeln. Wieder ergriff sie seine Hand und sagte: Ach, so bist Du noch mein!

Dann verschwamm ihr Blick in den Wogen des Abendrots durch die hohen offenen Bogenfenster.

Sie ward verklärt.

Dahinein! sagte sie mit einer Engelsstimme. Dahinein werd' ich tauchen, ein unsterblicher Geist, mich baden im ewigen Licht! Auch Du ... – ihr Auge blickte schmerzlichliebend auf den Unglücklichen, – auch Du wirst einst wieder im Licht wallen, wenn Deine Seele zu Gott schwebt!

Sie sank in seine Arme, die Liebende! Blumen und Locken ruhten auf ihm.

Noch einmal blickte sie auf und sah den Vater an und die weinende Cäcilie! Dann sank sie wieder an Phaethons Brust, seufzte nur noch in einem namenlosen Tone: Rein!

Lange blieben sie aneinander.

Er hielt sie, küßte sie. Ihr Auge war geschlossen. Ihre Wangen fühlten seine Küsse nicht mehr. Ihren Busen füllte nicht mehr das warme jugendliche Leben.

Wir alle schluchzten laut. Phaethon hielt kniend die tote Braut an Mund und Brust.

[252] Wir wollten ihn losmachen. Er blickte uns rasend an, mit funkelndem Auge. Wir ließen ihn. Erstarrt blieben wir stehen.

Er legte sie wieder auf das Kissen, so sanft, so zärtlich, und kniete neben sie hin.

Ich trat der Abgeschiedenen nahe. Mich überwallte die unaussprechliche Schöne. Wie Milch war ihr ganzes Angesicht. Und diese Lippen! Wie noch warm von den Küssen, die Phaethon auf die weichen gedrückt hatte.

Katon schien gefaßt. Cäcilie war untröstlich. Atalantas Tod, Phaethons Wahnsinn hatten zu sehr auf sie gewirkt. Man mußte sie ohnmächtig wegtragen.

Phaethon wollte das Zimmer durchaus nicht verlassen. Er sprach kein vernünftiges Wort mehr.

Die ganze Nacht soll er im Zimmer auf und abgegangen sein, ohne ein Wort zu sprechen.

Am nächsten Morgen dankte mir Katon freundlich für meine Begleitung. Wir gingen in das Zimmer, wo die Tote lag. Phaethon war nicht da. Wir erschraken.

Aber bald tat sich die Tür auf, und Phaethon trat herein mit allerlei Blumen, Jasminen, Lavendel, Ringelblumen, Tulpen, Rosen, Lilien, Narzissen, Nelken, Tremsen, Akazienzweigen und roten und blauen Kornblumen. Er hatte ein langes rotes Tuch umgeworfen, in dem er die Blumen zum Teile trug. Uns schien er gar nicht zu bemerken.

Er trat auf das Bett zu, legte seine Hülle zurück, küßte die bleichen schönen Wangen der Geliebten und [253] bedeckte sie ganz mit Blumen. Dann kniete er wieder vor sie hin, schlang seine Arme um sie und regte sich nicht mehr.

Wir wagten ihn nicht zu stören. Heilung schien unmöglich. Die Diener, die die Nacht durch wachen mußten, sagten, er habe nur wenig geschlummert, viel im Schlafe gesprochen; sie hätten dem Bette durchaus nicht nahekommen dürfen.

Den ganzen Tag nahm er nichts zu sich. Mit uns sprach er kein Wort. Die Nacht hindurch blieb er wieder neben ihrem Bette sitzen.

Am andern Morgen sollte sie begraben werden. Man wollte ihn mit Gewalt aus dem Zimmer bringen. Er wehrte sich verzweifelt, schlug einen der Männer zu Boden. Dann verhielt er sich ruhiger.

Man brachte den Sarg herein. Da riß er sich wieder los. Kein Arm war nun stark genug, den Rasenden zu halten. Seine Kraft war riesenmäßig.

Er kniete vor dem Mädchen, weinte laut, küßte sie auf Mund und Stirne, löste ihre Locken auf, faßte sie dann um den Leib, legte ihr wankendes Haupt an seinen Busen und trug sie zum Sarg. Keine fremde Hand durfte sie anrühren. Er legte sie selbst hinein. Bei all dem sprach er nichts.

Katon führte Cäcilie herein. Sie war entkräftet und lehnte sich an Katons Brust. Sie zerfloß in Tränen, wie sie das junge geliebte Mädchen im Sarge sah und die vielen Blumen auf ihr und den wahnsinnigen Jüngling daneben kniend. Auch Katons männliches Auge war voll Tränen.

[254] Auf einmal schlug Phaethon den Sargdeckel zu. Cäcilie sank mit einem lauten Schrei zu Boden. Man brachte sie weg. Phaethon lächelte.

Der Sarg ward in ein Gewölbe des Mausoleums getragen. Phaethon folgte. Gegen Abend brachte ihn Katon wieder herauf. Nun erst nahm er wieder etwas zu sich.

Am vierten Morgen nahm ich Abschied. Phaethon wollte durchaus nicht mit mir. Er schien mich kaum zu kennen. Wie ich ihm um den Hals fiel, weinte er auch und sprach lauter seltsame Worte. Was ich denn von ihm wolle? Er sei ja unsichtbar. Er habe längst schon keinen Körper mehr. Ich solle nur ruhig sein. Er wolle mir schon auch blaue Tremsen bringen. Gott liebe ja seine Menschen. Ob ich's denn nicht gesehen, wie der Mond sein Auge zugedrückt habe. Er sei sehr gern im Himmel; werde sich nächstens auch einen Regenbogen machen, und für das Übrige werde er schon sorgen.

Mit blutendem Herzen empfahl ich Katon noch einmal die Sorge für den Armen, nahm Abschied von der kranken Cäcilie und schied.

Ach, Freund, das Viele, das mir begegnet, drängt sich so eng und mächtig vor meinen Sinnen zusammen, daß ich mich nicht mehr zu fassen weiß.

Du kanntest ihn ja, wie er war. Du würdest schaudern, wenn Du sähest, wie er ist.

Alles, alles hat er verloren, was er hatte, was ihn so groß machte, was ihn zu Gott hinanhob. Er hat alles verloren, sich selbst, die Welt und Gott.

[255] Mensch, was bist Du in Deinem Stolze?

Ich will nichts weiter sagen. Es ist fürchterlich. Meine Sinne verwirren sich schon ob dem Gedanken.

Lebe wohl!

[256]

Phaethons Raserei ging in einen stillen Wahnsinn über. Katon tat alles, was er konnte. Es half nichts.

Von allen seinen Freunden und Bekannten, von seinem ganzen vorigen Leben, selbst von Atalanta sprach er nie ein Wort. Alles, was er über die Lippen brachte, waren Worte, aus einer Menge fremder Sprachen untereinander gemischt, und tausend sonderbare Sätze voll Unsinn und Halbsinn.

Nur einmal lief er davon und ging in das Dorf, wo er einst gewohnt. Er wußte noch Johannes Haus; öffnete die Türe. Der Gute saß am Fenster, sah die schreckliche Gestalt zur Tür hereinkommen; kannte sie nicht, erschrak. Phaethon legte sich über einen Tisch herein, blickte ihm starr ins Gesicht, sagte mit fürchterlicher Stimme, durch den Bart murmelnd: Phaethon! und lief wieder zur Türe hinaus. Er ging dann wieder dem Schlosse zu. Von da an besuchte ihn Johannes fast alle Tage. Der Wahnsinnige schien sich aber an nichts zu erinnern.

Wenn er Katon oder Cäcilie beleidigt hatte, kam er immer wieder zu ihnen, bat sie in lauter Worten ohne Sinn um Vergebung.

Er spielte viel auf dem Klavier, aber lauter verwirrte Phantasien. Schrecklich war's, den Wahnsinnigen spielen zu hören!

Des Nachts stand er meistens auf und wandelte durch den Garten oder durch die Gänge des Schlosses. Wenn er ein Kind sah, winkte er ihm freundlich, wollte es zu sich locken; aber die Kinder flohen ihn.

[257] Alles, was er bekommen konnte von Papier, überschrieb er in dieser Zeit. Hier sind einige Blätter aus seinen Papieren, die zugleich einen tiefen Blick in den schrecklichen Zustand seines verwirrten Gemütes geben. In der Urschrift sind sie abgeteilt wie Verse nach pindarischer Weise.

[258] Phaethons letzte Aufzeichnungen

In lieblicher Bläue blüht mit dem metallnen Dache der Kirchturm. Den umschwebt Geschrei der Schwalben; den umgibt die rührendste Bläue. Die Sonne geht hoch darüber und färbt das Blech im Winde; aber oben stille kräht die Fahne. Wenn einer unter der Glocke dann herabgeht, jene Treppen; ein stilles Leben ist es, weil, wenn abgesondert so sehr die Gestalt ist, die Bildsamkeit herauskommt dann des Menschen. Die Fenster, daraus die Glocken tönen, sind wie Tore an Schönheit. Nämlich, weil noch der Natur nach sind die Tore, haben diese die Ähnlichkeit von Bäumen des Waldes. Reinheit aber ist auch Schönheit. Innen aus Verschiedenem entsteht ein ernster Geist. So sehr einfältig aber die Bilder, so sehr heilig sind die, daß man wirklich oft fürchtet, die zu beschreiben. Die Himmlischen aber, die immer gut sind, alles zumal wie Reiche, haben diese Tugend und Freude. Der Mensch darf das nachahmen. Darf, wenn lauter Mühe das Leben, ein Mensch aufschauen und sagen: So will ich auch sein? Ja. So lange die [259] Freundlichkeit noch am Herzen, die reine, dauert, mißt nicht unglücklich der Mensch sich mit der Gottheit. Ist unbekannt Gott? Ist er offenbar wie der Himmel? Dieses glaub' ich eher. Des Menschen Maß ist's. Voll Verdienst, doch dichterisch, wohnt der Mensch auf dieser Erde. Doch reiner ist nicht der Schatten der Nacht mit den Sternen, wenn ich so sagen könnte, als der Mensch; der heißt ein Bild der Gottheit.

[260]

Gibt es auf Erden ein Maß? Es gibt keines. Nämlich es hemmen den Donnergang nie die Welten des Schöpfers. Auch eine Blume ist schön, weil sie blüht unter der Sonne. Es findet das Auge oft im Leben Wesen, die viel schöner noch zu nennen wären als die Blumen. O, ich weiß das wohl! Denn zu bluten an Gestalt und Herz und ganz nicht mehr zu sein, gefällt das Gott? Die Seele aber, wie ich glaube, muß rein bleiben; sonst reicht an das Mächtige auf Fittichen der Adler mit lobendem Gesange und der Stimme so vieler Vögel. Es ist die Wesenheit, die Gestalt ist's! Du schönes Bächlein, du scheinst rührend, indem du rollst so klar wie das Auge der Gottheit durch die Milchstraße. Ich kenne dich wohl; aber Tränen quillen aus dem Auge. Ein heiteres Leben seh ich in den Gestalten mich umblühen der Schöpfung, weil ich es nicht unbillig vergleiche den einsamen Tauben auf dem Kirchhofe. Das Lachen aber scheint mich zu grämen der Menschen; nämlich ich hab ein Herz. Möcht ich ein Komet sein? Ich glaube. Denn sie haben die Schnelligkeit der Vögel; sie blühen am Feuer und sind wie Kinder an Reinheit. Größeres zu wünschen, kann nicht des Menschen Natur sich vermessen. Der Tugend Heiterkeit verdient auch gelobt zu werden vom ernsten Geiste, der zwischen den drei Säulen wehet des Gartens. Eine schöne Jungfrau muß das Haupt umkränzen mit Myrtenblumen, weil sie einfach ist ihrem Wesen nach und ihrem Gefühl. Myrten aber gibt es in Griechenland.

[261]

Wenn einer in den Spiegel sieht, ein Mann, und sieht darin sein Bild wie abgemalt; es gleicht dem Manne. Augen hat des Menschen Bild; hingegen Licht der Mond. Der König Ödipus hat ein Auge zu viel vielleicht. Die Leiden dieses Mannes, sie scheinen unbeschreiblich, unaussprechlich, unausdrücklich. Wenn das Schauspiel ein solches darstellt, kommt's daher. Wie ist mir's aber, gedenk ich Deiner jetzt? Wie Bäche reißt das Ende von Etwas mich dahin, das sich wie Asien ausdehnt. Natürlich dieses Leiden, das hat Ödipus. Natürlich ist's darum. Hat auch Herkules gelitten? Wohl. Die Dioskuren in ihrer Freundschaft, haben die nicht Leiden auch getragen? Nämlich wie Herkules mit Gott zu streiten, das ist Leiden! Und die Unsterblichkeit im Neide dieses Lebens, diese zu teilen, ist ein Leiden auch. Doch das ist auch ein Leiden, wenn mit Sonnenflecken bedeckt ein Mensch, mit manchen Flecken ganz überdeckt zu sein! Das tut die schöne Sonne; nämlich die zieht alles auf. Die Jünglinge führt die Bahn sie mit Reizen ihrer Strahlen wie mit Rosen. Die Leiden scheinen so, die Ödipus getragen, als wie ein armer Mann klagt, daß ihm etwas fehle. Sohn Laios, armer Fremdling in Griechenland! Leben ist Tod, und Tod ist auch ein Leben.

[262]

Solche Papiere verwahrte er sorgfältig. Wenn er zeichnete, waren es lauter Figuren, die keinen Sinn hatten.

Plötzlich starb Cäcilie. Von Atalantas Tod an war sie nicht mehr gesund. Katons Schmerz war unermeßlich. Der wahnsinnige Phaethon schmückte ihren Leichnam auch mit Blumen.

Noch ein Jahr blieb Katon auf dem Schlosse. Dann gab er den unglücklichen Freund einem wackern Tischler in sein Haus, der im Dorfe wohnte.

Katon verschwand an einem Morgen vom Schlosse. Die drei Särge seiner Geliebten hatte er mit sich genommen. Er hatte das Schloß verkauft. Man glaubte, er sei nach Griechenland gegangen.

Phaethons Zustand ward immer elender. Er spielte nicht mehr Klavier; schrieb kein Wort mehr. Den ganzen Tag lief er in seinem Zimmer auf und ab.

Im Sommer klagte er immer über Unruhe und Beklemmung. Er wandelte dann gewöhnlich bei Nacht im Hause umher.

Der Tischler nahm ihn oft mit sich aufs Feld. Er mußte ihn aber hüten.

[263]

Ein alter Freund Phaethons schrieb nach vielen Jahren einmal an einen andern Freund:

Ich kam durchs Dorf T *** Hier besuchte ich den wahnsinnigen Phaethon, der in der ganzen Umgegend bekannt ist.

Wir waren einst Jugendfreunde. Sein hoher strebender Geist, sein edler kräftiger Sinn, sein heißes Herz, selbst seine körperliche Schönheit machte ihm alle Herzen gewogen. Geliebt, geachtet ward er, wohin er kam.

Uns allen war er ein Rätsel. Er galt für einen Schwärmer. Immer klagte er über tausenderlei Dinge, wollte alles in größerem Maße, als wir begreifen, als wir geben konnten. Mit unserer Freundschaft war er nie zufrieden. Das wolle nichts heißen. Wir sollten ihn viel glühender lieben.

O, denke Dir den schönen wunderbaren Jüngling mit den blauen Augen, dem blassen lieben Angesicht, den langen braunen Locken! Denke ihn Dir zurück!

Seine Geschichte ist Dir bekannt. Laß Dir erzählen und schaudere, wie ich ihn traf.

Ich stieg eine enge steinerne Treppe hinab, die von einem kleinen Bergabhang zu einem einsamen Tischlerhause führte. Da sollte er wohnen. Ich ging eine schmale Stiege hinauf. Ein freundliches junges Mädchen trat mir entgegen. Ich fragte das hübsche Kind nach Phaethon. Sie öffnete eine Türe!

In einem kleinen engen Stübchen stand ein Mann mit langem wildem Barte, nur halb angekleidet, mit[264] großen unbeschnittenen Nägeln, die Hände auf dem Rücken zusammenschließend, sich unaufhörlich gegen mich verneigend. Er ist's, sagte das Mädchen. Ich stand da wie ein Gerichteter. Die Worte starben mir auf der Zunge. Das Mädchen sprach mir Mut ein. Ich ging endlich auf ihn zu und gab mich ihm zu erkennen. Er verneigte sich noch tiefer, schüttelte den Kopf und lispelte: Eure königliche Majestät kenne ich nicht! Nein, nein! Kenne ich nicht! Nein!

Ich schauderte.

Er stand an der Türe, die Hand auf einen Stuhl gestützt und die Füße übereinanderlegend. Unaufhörlich sprach er mit sich selbst in einer Mischung fremder Sprachen und selbsterfundener Worte. Ich sah ihn starr an. Nur noch matte Spuren seiner alten Schönheit hatte die furchtbare Krankheit zurückgelassen. In seinem großen Auge allein war noch Geist; ein unaussprechlich sonderbarer Blick, der mir durch Mark und Bein schauerte.

Ich fragte ihn noch Einiges. Er antwortete aber auf alles mit unverständlichen Worten und versicherte mir, das könne, das dürfe er nicht beantworten.

Auf einmal verneigte er sich wieder und noch tiefer als vorher. Ich glaubte, er wolle, daß ich ihn verlasse, und trat hinaus. Außen blieb ich noch eine Zeit lang stehen und sah, wie er im Zimmer auf und abging. Ich dachte an die wilden Tiere, die so in ihrem Käfig wandeln, und rannte schaudernd die Treppen hinunter.

[265]

Wird der verwegen aus den Schranken getretene, sich mit Gott zu messen erkühnende, in seinem Riesenschmerz in und durch sich selbst zermalmte Geist anderswo Licht, Maß und Wahrheit finden und wie?

Reizt ihn nicht, den höchsten Geist! Lernt ihn erkennen durch – Ruhe! Dann liebet! Dann betet an! Nur wer bei Fülle Maß hält, ist ihm ähnlich, dem Maße selbst.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Waiblinger, Wilhelm. Briefroman. Phaeton. Phaeton. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8B09-E