[15] Zweites Lied

Siehe doch die Stadt der Gräber
In bacchantischer Entzückung!
Rom verjüngt sich, Kindertage
Lebt es wieder, und ich folgte
Nicht dem Strome dieser Freude,
Die in allen Straßen wüthet,
Würfe keinen Feuerbrand
In die allgemeine Flamme?
Einsam stehn die alten Tempel
Um den Palatin, verlassen
Von dem mächtigen Geschlechte,
Das sie einst verehrt, verlassen
Von der Mitwelt selbst; dem Corso
Wälzt aus dem Vulkan der Freude
Sich die wilde Strömung zu,
Schwellend durch gedrängte Gassen.
Drum hinweg mit Ernst und Trauer,
Selbst den ehrbarsten Gedanken
Nennt man heut' nur Grille; laßt mich
Frisch ins taumelnde Gewimmel,
Frisch ins brausende Gewoge;
Wie man sonst der Narren lachte,
Lacht man heut' mit vollem Recht
Eines trockenen Verständ'gen!
Fürchte nur, dich zu verlieren;
Wie im Meer ein Regentropfen,
So vergehst du hier, und keiner
Fragt nach deinem Rang und Wissen,
Aller Bande der Gewohnheit
Ist der Mensch nun los, die Willkür
Wird Gesetz, und lüstet dich's,
Kannst du auf dem Kopfe gehen.
[16]
Armuth gibt's nicht mehr und Reichthum.
Eine Maske deckt sie beide,
Und geduldig nimmst du jeden,
Wie er scheint; Gesicht und Hülle,
Wort und die Geberde tauschen
Die Geschlechter selbst, das Alter
Lächelt dich in Locken an,
Und die Jugend geht an Krücken.
Was die Welt im Ernst getrieben,
Und was Geist und Hand beschäftigt,
Nur zum Scheine, nur zum Scherze
Trägt man Alles dir vor Augen,
Hier der Gärtner seine Blumen,
Der Gelehrte seine Bücher,
Seine Medicin der Arzt,
Und der Landmann seine Früchte.
Aus der Erde fernsten Strecken
Kommen bunte Völkertrachten,
Mahomskinder, Mohrenprinzen,
Aethiopische Gesichter,
Und um ganz dich zu verwirren,
Schickt das Reich der Fabel Gnomen;
Widerstehe, wenn du kannst,
Allerliebsten jungen Feen.
Von den fliehenden Gestalten
Glückt es keine dir zu fesseln;
Diese möchtest du verfolgen,
Jene lockt dich an. Vergebens!
Wesenlose Schattenbilder,
Schwinden sie hinweg, gehören
Nur sich selber an, und du
Bist allein zurückgeblieben.
[17]
Und des eignen Lebens denk' ich,
Jener Zeit, da ihre Bilder
Mir die Welt, und seine Tiefen
Das Gemüth, da mir die Menschheit
Ihre Thaten aufgeschlossen,
Da vom Reiche der Lebend'gen
So viel herrliches sich stolz
Im Gemüthe mir gesammelt.
Da der Mensch und alle Dinge
So phantastisch noch im Dufte
Mir erschienen, da sie alle
Noch sich glichen, da die Masken
Mich getäuscht, da ich nach allen
Mit vermeßnem Wahn gegriffen,
Und von tausenden mir nichts
Als mein eignes Selbst geblieben.

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TextGrid Repository (2012). Waiblinger, Wilhelm. Gedichte. Lieder des Römischen Carnevals. Lieder des Römischen Carnevals. Zweites Lied. Zweites Lied. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8CB3-4