[126] Die sechsundachtzigste Fabel.
Vom Weibe und dem Wolfe.

Es het ein weib ein kleines kind,
Wie man derselben noch wol findt,
Das kunts mit etzen oder seugen
Von seinem weinen nimmer schweigen;
Es weinet dennoch tag und nacht.
Die mutter zorniglich bedacht
Und sprach: »Wilt nicht dein weinen laßen,
Hinaus werf ich dich auf die straßen,
Auf daß dich da der wolf mög freßen,
Eins bösen kinds kan wol vergeßen.«
In dem ein wolf lief eben für,
Zur selben zeit kam für die tür,
Das weib hort mit dem kinde ringen,
Gedacht: möcht dir ein solchs gelingen,
Du woltest gern die nacht hie bleiben!
Solchs tet die frau nun lang betreiben,
Dreut stets dem kinde mit der scherfe,
Hinaus wolt sies dem wolfe werfen.
Zuletst begunt das kind zu schlafen:
Vergebens war des wolfes hoffen.
Es macht das hoffen und das harren
Die ganze nacht den wolf zum narren,
Biß daß der liechte tag anbrach
Und er die hunde laufen sach.
Het lang gefrorn, mit leerem bauche
Tet er sich trollen nach dem strauche.
Sein weib lief im von fern entgegen,
Sein kinder teten sich auch regen
Und meinten, durch sein lang abwesen
Het dester größern raub erlesen.
[127]
Die wölfin sahe, daß er nicht het;
Gar trauriglich in fragen tet
Und sprach: »Hastu gar nichts gefangen?
So ist umbsunst all uns verlangen.«
Der wolf antwort gar trauriglich:
»Ein weib hat heint betrogen mich,
Mit irem kind hat mich genarrt,
Darauf die ganze nacht geharrt:
Heraus zu werfen oft verhieß,
Dennoch sies bei ir ligen ließ.«
Die wölfin sprach: »Du alter narr,
Gee wider hin, noch lenger harr:
Du soltst dich harren wol zu tot,
So leid kein kind sein mutter hot,
Wenns schon die ganze nacht solt weinen
Oder sich zehen mal verunreinen,
So wirfts man doch dem wolf nicht für:
Magst wol gen für ein ander tür.«
Bei disem weib wird angezeigt
Die liebe, welche die mutter tregt
Zu iren unartigen kinden:
Tuts dennocht waschen, wischen, winden,
Mit iren brüsten selber seugen,
Und was sie in sunst kan erzeigen,
Auf daß die mütterliche liebe
Gegn den kindern sich ernstlich iebe.
Man sagt, daß man die bschißne kind
Nicht oftmals weg geworfen findt.

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TextGrid Repository (2012). Waldis, Burkhard. Fabeln. Esopus. Erster Theil. Das erste Buch. 86. Vom Weibe und dem Wolfe. 86. Vom Weibe und dem Wolfe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8E87-7