[88] Die einundneunzigste Fabel.
Vom Wolfe und Fuchse.

Im winter kalt hin nach weihnacht
Sich ein hungriger wolf aufmacht
Aus jenem holz, lief in das felt,
Gar fleißig nach der narung stellt.
Denselben da der fuchs ersach.
Er lief bald durch ein kleinen bach
Und netzet sich da gar und ganz,
Daß im bald hart gefror der schwanz.
Lief gegem wolf und tet in grüßen.
Er sprach: »Köntst mir den hunger büßen,
Wie jens mal in dem holen weg,
Da du mir gabst ein seiten speck.
Der hunger hat mich hart beseßen,
Hab nit in dreien tagen geßen,
Und halt, du hast früh morgens heut
Gar wol gelebt an guter weit,
Umbsunst bistu zwar nit so naß.«
Er sprach: »Dir solt wol werden baß,
Wenn du mochtst karpfen oder hecht,
Und ich dich etwan dahin brecht,
Da du möchtst fahn in dreien stunden,
So vil deinr fünf ertragen kunten,
Wenn du dein schwanz auch woltest netzen,
Ein stund, zwo, drei aufs eis zu setzen,
Und tetest, wie ich dich wolt lern.«
Da sprach der wolf: »Von herzen gern!«
Er lief mit im hin auf das eis
Und sprach: »Ich weiß ein neue weis
Zu fischen, wil ich dir vertrauen.«
Da war ein loch ins eis gehauen,
Da man das waßer pflag zu schepfen.
Er sprach: »Du solt dich heut wol kröpfen,
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In disem loch vil fische sein.
Den schwanz heng über dhelft hinein;
Denn mustu stetes halten still.
Und horch, was ich dir sagen wil:
So kommen zhand die fisch mit haufen
Allsamet nach dem schwanz gelaufen
Und bleiben all daran behangen,
Werden also von dir gefangen.
Du must dich aber gar nit regen
Oder im waßer den schwanz bewegen
So lang, biß ich dirs werd ansagen.
Die fisch wil dir heim helfen tragen;
Wir sein hie sicher, darf keiner forcht.«
Er tet im so; der wolf gehorcht.
Bald im der schwanz im eis erstarrt;
In dreien stunden gfror so hart.
Er sprach: »Halt noch ein wenig still!
Zuhand ich dirs wol sagen wil,
Biß ich erst hinder jenem strauch
Ausleren mag den vollen Bauch.«
Der fuchs bald durch den schnee so tief
Einr gans biß an das dorf nach lief.
Des wurden bald die leut gewar
Und hetzten all die hunde gar,
Dem fuchs sie haufet liefen nach;
Der fuchs weit vor den hunden floch
Und sprach zum wolf: »Es ist jetzt zeit,
Zeuhe auf den schwanz; nit lenger beit!«
Er sahe die hund und wolt auch fliehen;
Da kunt er nit den schwanz ausziehen,
War gar erstarrt vor großem frost:
Zuletst in selb abbeißen must;
Wolt er anderst retten das leben,
Must er den halben schwanz drumb geben.
Wer sich behelfen kan mit liegen,
Weiß nichts denn nur die leut betriegen,
Der hat groß lust und gfallen dran:
Drumb sol sich ein fürsichtig man
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Für solchen füchsen wißen zhüten,
Daß sie nit füchsisch in sie wüten,
Ir red nit bald in credo schreiben:
So mag er unbetrogen bleiben.

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TextGrid Repository (2012). Waldis, Burkhard. Fabeln. Esopus. Zweiter Theil. Das dritte Buch. 91. Vom Wolfe und Fuchse. 91. Vom Wolfe und Fuchse. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-910D-2