Die neununddreißigste Fabel.
Vom ungezohen Kind und seiner Mutter.

Es het ein frau ein kleinen son,
Denselben ließ zur schule gon;
Da stal er einem andern knaben
Ein büchlin, wie die kinder haben,
Brachts heim; die mutter ließ geschehen
Und solchs dem knaben übersehen.
Nicht lang darnach bracht ein baret,
Das er auch so gestolen het:
Das ließ die mutter ungestraft:
Damit irn beiden leid verschafft.
Denn wie an jaren wuchs der knab,
Nam an der dieberei nicht ab
Und meint, es wer im alles frei,
Geriet zu großer dieberei,
[34]
Stal immer mer, biß er gefangen,
Verurteilt ward, am galgen zhangen.
Da folgt im nach ein große schar,
Da ward er seiner mutter gwar,
Die in beweinet und beklagt.
Der dieb da zu dem henker sagt:
»Mein liebe mutter stet alldort;
Ich hab ir noch ein nötigs wort
Heimlich zu sagen in ein or,
Wolt nicht gerne, daß jemand hör.«
Ein stadtknecht rief, da ward es stille;
Man wolt im solches tun zu willen.
Er sprach: »Mutter!« Sie kam zu stund,
Hielt im das or nah an den mund,
Daß sie im seines willens pfleg:
Da biß ers ir vom kopf hinweg.
Sie schrei gar laut; da ward im haufen
Der gschicht halb ein großes zulaufen;
Sprachen: »Ein solch verzweifelt bub
Wer wert, daß man in baß betrub.«
Denn er wer nicht ein schlechter dieb,
Sondern vergeß natürlich lieb,
Wer gar verzweifelt und verblendt,
Daß er also sein mutter schend,
Welch Gott zu ern geboten het,
Wer wert, daß man im mer antet.
Da sprach der dieb: »Ach lieben leut,
Denkt dran, was ir gesehen heut,
Und laßt euch solchs zur warnung sein.
Ja, wenn mich het die mutter mein
So jung gestraft und virgas geben,
Dörft jetzt an mir nit solchs geleben.
Het ich gehabt straf unde zwang,
So gieng ich jetzt nit disen gang.«
Die eltern sein dazu geschaffen,
Daß sie mit fleiß ir kinder strafen;
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Darumb sie Gott so hoch geert,
Wie uns denn sein gesetze lert,
Daß sie die höchste er solln han,
Die er in amptes halben gan.
Die straf komt den kindern zu gute,
Wenn mans züchtigt mit einer ruten
Bei zeit, weil sie sich strafen lan.
So lert der weise Salomon:
»Wer die straf an dem son verseumt,
Damit die tugent auch wegreumt
Und gibt groß ursach zu den sünden:
Weiche ärzt machen stinkend wunden.«

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Waldis, Burkhard. Fabeln. Esopus. Zweiter Theil. Das dritte Buch. 39. Vom ungezohen Kind und seiner Mutter. 39. Vom ungezohen Kind und seiner Mutter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-91A0-1