[134] [347]Georg Weerth
Humoristische Skizzen aus dem deutschen Handelsleben
1845–1848

[347][349]

1. Der Lehrling

I.

Der Lehrling

Wir stehen im Comptoir des Herrn Preiss.

Rötlich strahlt der Morgen durch zwei große, halb verstaubte Fenster auf die Tintenkleckse des Schreibpultes. Sandbüchsen, Federmesser, Gänsekiele und ähnliche friedfertige Instrumente schlummern in holder Gemeinschaft neben Postpapier und Propatria. Hohe, ledergepolsterte Dreifüße umringen das Pult; und das Pult hat Schubladen mit Schlössern und Riegeln daran von echtem Eisen. An den Wänden, die in ihrer Jugend unschuldig weiß waren, hängen Landkarten, die mit der Zeit alt geworden sind. Außer ihnen bemerkt man ein Porträt Napoleons, den jeder kennt, ein Porträt Rothschilds, den viele kennen, und ein Porträt Gottfrieds, Friedrich Jammers seliger Erben Sohn, den nur der Herr Preiss kennt, weil er einst aufeinen Schlag siebenhundert Reichsgulden an ihm verdiente, im Zwanzig-Gulden-Fuße.

Ein Bücherschrank schmückt den Hintergrund des Zimmers. Darin bemerkt man das Hauptbuch gebunden in Schweinsleder, mit rotem Titel und messingenen Klammern; das Kassabuch, gebunden in grüne Leinewand, mit Ecken von Eisenblech; die Prima Nota, gebunden in schwarzen Maroquin mit Goldschnörkeln; das Kopierbuch, dick und schwer wie eine Chronika; das Erkundigungsbuch, enthaltend günstige und ungünstige [349] Zeugnisse über Moralität, d.h. Zahlungsfähigkeit der Mitglieder ehrenwerter Kaufmannschaft; das Kalkulationsbuch, darin Profit und Schaden auskalkuliert bis auf Heller und Pfennig; und endlich die Kladde, so schon viele Jahre lang gedient und reichlich besudelt worden mit roter und schwarzer Tinte, mit Türkenköpfen, Gänsefüßen und ähnlichen fratzenhaften Verzierungen längst verschollener Handelsgehilfen. Nur das Geheimbuch fehlt in dieser trefflichen Bibliothek, denn dieses bewahrt man vor den Augen der Menge, weil die Aktiva und die Passiva des Herrn Preiss darin stehen, welche niemand schauen soll, damit nicht, wie Nante sagt, jemand den Schleier reiße von des Herrn Preiss etwaigen schamhaften Verhältnissen – –

Über dem Ganzen ruht eine siegellackduftende Atmosphäre, und schaust du um dich, da mußt du unwillkürlich ausrufen: Hier wird Geld verdient!

Die Uhr schlägt acht, und knarrend dreht sich die Tür in den Angeln. Eintritt der Herr Preiss.

Herr Preiss ist ein kleiner, aber stattlicher Mann, handfest und rund, ernsthaften Antlitzes, doch freundlichsten Bäuchleins. Unter den ergrauten Wimpern schimmern zwei flinke, unternehmende Falkenaugen. Seine Nase ist etwas gebogen, die Lippen sind fein geschnitten, das Kinn steht ein wenig nach vorn. Der Herr Preiss ist ein schöner alter Kaufmann. Er trägt graue Hosen, einen langen, grünen Rock, Halstuch und Weste sind weiß, und den fast kahlen Schädel bedeckt die Mütze mit großem Lederschirm. Der Herr Preiss nimmt die Brille aus dem Futteral und beginnt seine Morgenandacht: er liest den Amsterdamer Handels- und Börsenbericht. Lassen wir ihn lesen.

[350] Wir wollen zurück nach der Türe sehen. Sie öffnet sich zum zweiten Male, und herein tritt der Buchhalter des Geschäftes, ein Vierzigjähriger; an der Hand führt er einen Knaben, kaum fünfzehn zählend.

Der Buchhalter ist lang und dürr; er besitzt eine rote Nase, und in dem feierlichen Ernste seines Antlitzes ist deutlich zu lesen, daß er 600 Taler verdient, jährlich, mit Mühe und Arbeit. Der Kopf des Knaben ist weniger ausdrucksvoll, er ist eher nichtssagend schön und gleicht einem gesunden Borsdorfer Apfel, an dem die Wespen des Jahrhunderts noch nicht genagt haben.

»Hier ist unser neuer Lehrling!« beginnt der Buchhalter, nachdem er den im Lesen vertieften Herrn einige Male spähend umwandelt hat.

»Ha, das fehlt auch noch!« erwidert der Herr Preiss. »Jetzt soll man sich wieder mit einem dummen Jungen abgeben!« Dann auf den zarten Handelsbeflissenen losschreitend, fährt er fort: »Aber kommen Sie nur näher, mein lieber Sohn; ich habe mit Ihrem Vater den Kontrakt schon geschlossen. Sie stehen nun auf der Schwelle eines neuen Lebens, und wenn Sie sich nur gut halten, so wird es Ihnen auch schon gut gehen – aber das findet sich alles erst später.«

»Später, später!« wiederholt der Buchhalter bedeutsam. Das fromme, merkantilische Schlachtopfer errötet und verneigt sich ehrfurchtsvoll.

»Vor allen Dingen will ich Sie gleich mit Ihren Arbeiten näher bekannt machen. Arbeit ist unser Los, Arbeit ist unsre Bestimmung; mit der Arbeit verdienen wir unsern Käse und unser Brot, unsern roten und weißen Wein; die Arbeit bringt uns Lilien und Rosen.

Am besten tun Sie, wenn Sie am Morgen in aller Frühe [351] aufstehen. Sie verrichten Ihr Gebet und gehen dann auf die Post, indem Sie den Offizianten erklären, Sie wären der neue Lehrling des Herrn Preiss und wünschten die Briefe zu erhalten. Das erste Mal soll jemand mit Ihnen gehen, damit Sie von vornherein gehörig legitimiert sind.

Die Briefe, diese viereckigen weißen Geheimnisse, ergreifen Sie sorgfältig und machen sich in entsetzlicher Hast damit aus dem Staube. Blitzschnell müssen Sie mir die Briefe überbringen, keine Minute lang auf der Straße verweilen, nichts darf Sie aufhalten – und wäre auch die Welt am Untergehen, so müssen Sie doch erst hierherlaufen und mir die Briefe einhändigen. Oh, es wäre schrecklich, wenn Sie je einmal in diesem Punkte nachlässig wären; denn sehen Sie, von den Briefen hängt alles ab – also merken Sie sich das!

Haben Sie die Briefe überbracht, so verfügen Sie sich zu dem Herrn Buchhalter und fragen Sie ihn, ob er Wechsel einzukassieren hat. Die Wechsel des Lebens sind vielfältig: Solawechsel, Tratten und Protestierte, manchmal sind sie betrübend, manchmal erfreulich. Die Protestierten gehören zu den betrübenden, und die besten sind die, welche man nicht zu bezahlen hat. Glücklich der, welcher in gemäßigtem Wechselverhältnis mit der Gesellschaft steht; ihn werden nicht Rost, nicht Motten und nicht die Zinsen des Bankiers fressen; Ruhe wird seinen Schritt umsäuseln, und der Pfeffer eines Mahnbriefes wird nie den Mohn seines Schlafes stören.

Mit den Wechseln, die Ihnen der Buchhalter gibt, treten Sie in die Häuser, wo sie fällig sind; das heißt, wo die Wechsel fällig sind – Gott bewahre uns vor fallenden Häusern! Das Wechseleinkassieren ist ein wichtiges, [352] ernstes Geschäft, wie denn überhaupt alles wichtig ist, wobei Geld im Spiele ist. Merken Sie sich das. Mit Geld ist nicht zu spaßen; mit dem Gelde muß man vorsichtig sein wie mit seiner Seele; Geld ist das A und O des Daseins, Geld ist alles – vergessen Sie das nie!

Ich will annehmen, Sie hätten einen Wechsel auf die Herren Müller & Comp. – Da gehen Sie auf das Comptoir des Herrn Müller und sagen laut und deutlich: ›Herr Müller! Hier habe ich einen Wechsel von Herrn Preiss und bitte um den Betrag.‹ Der Herr Müller wird den Wisch von oben bis unten besehen, er wird auch Sie einmal vom Wirbel bis zur Zehe mustern und wird, wenn die Sache übrigens in Ordnung ist, in seine Geldkiste greifen, um Ihnen die fragliche Summe vorzuzählen.

Dies ist ein Augenblick, von welchem vieles abhängt.

Ich muß Ihnen nämlich bemerken, daß es in der Handelswelt gar nicht auffällt, wenn sich der eine gegen den andern so gut wehrt, wie er kann. Im Handel hört alle Freundschaft auf, im Handel sind alle Menschen die bittersten Feinde. Ich will Ihnen das jetzt näher auseinandersetzen. Sie stehen vor Herrn Müller, um das Geld in Empfang zu nehmen. Er sah Sie an, er beschaut Sie nochmals, er denkt: ›das scheint ein junger, unerfahrener Mensch zu sein‹, und zu gleicher Zeit fällt ihm ein, daß er einige schlechte Münzsorten in seiner Kasse hat, daß es die höchste Zeit ist, dieselben wieder einmal in die Welt zu bringen, und daß Sie vielleicht der Mann sein würden, der ihn hierbei unterstützen könnte – – und immer weiter denkt der Herr Müller, spricht aber kein Wort, sondern greift in seine Geldkiste und hat kein Mitleid mit Ihrer Jugend, mit Ihrer Anmut und Ihrem Unverstande, und, das versichere ich Ihnen, wenn Sie nicht[353] gehörig aufpassen, da mischt Ihnen der Herr Müller ein paar beschnittene Dukaten, ein paar hannoversche Fünfgroschenstücke oder einige Blafferte unter Ihr Geld, so sicher wie zwei mal zwei vier ist – sehen Sie – und dann ist der Teufel los!

Es versteht sich von selbst, daß ich den Herrn Müller nur als ein unschuldiges Beispiel anführe. Der Herr Müller ist ein ehrenwerter Mann. Aber was geht Sie das an? Da doch jedenfalls die Möglichkeit vorhanden ist, daß selbst dem ehrenwerten Herrn Müller einmal etwas Menschliches passiert, so sind Sie unter allen Verhältnissen des Lebens verpflichtet, den Herrn Müller für einen – ich will gerade nicht sagen: Schuft – jedenfalls aber für das zu halten, was einem Schufte zwischen Hell und Dunkel aufs frappanteste ähnlich sehen könnte. Sie müssen sich steif und fest einbilden, der Herr Müller wolle Sie übertölpeln, und deswegen müssen Sie ihm auf die Finger passen, und dann werden Sie auch nie einen König Hieronymus, einen Coburger Dreier oder einen Dänischen Fuchs mit nach Hause bringen. Verstehen Sie mich?«

Dem jugendlichen Lehrling fiel es wie Schuppen von den Augen. Die Worte des Herrn Preiss durchdrangen ihn mit ihrer ganzen unermeßlichen Wahrheit.

»Haben Sie für Ihren Wechsel das richtige Geld zu den richtigen Kursen in Empfang genommen, so stecken Sie alles in Ihren Sack, binden den Sack mit einem Bindfaden zu und fassen den Sack mit der Hand so fest an, als es Ihre Kräfte erlauben.

Wie Sie es mit einem Wechsel machen, so machen Sie es mit allen, und sind Sie fertig, so kehren Sie unverzüglich nach Hause zurück. Unverzüglich, sage ich Ihnen! Das [354] Geld in den Händen, schauen Sie weder rechts noch links, bis Sie wieder auf unserm Comptoir stehen, wo Sie der Herr Buchhalter mit offnen Armen empfangen wird, wenn Sie keinen Bock geschossen haben.

Oh, schießen Sie keine Böcke! Hüten Sie sich vor den Böcken, nichts ist entsetzlicher als ein Bock.

Aus der Stadt zurückgekommen, beginnen Sie die Comptoirarbeiten. Sehen Sie, hier ist das Kopierbuch. Das gehört Ihnen, das sollen Sie nun in Zukunft führen. Sie werden viel dadurch lernen, und die Beschäftigung ist interessant. Fast das ganze Geschäft läuft durch dieses Buch. Jeder Brief, den wir schreiben, muß hier kopiert werden. Obenhin schreiben Sie den Namen des Menschen, an den die Epistel gerichtet ist, und dann schlankweg alles, was folgt, bis zu den Empfehlungen, Grüßen und freundschaftlichen Versicherungen. Dergleichen Sachen brauchen Sie nie zu kopieren, denn es versteht sich von selbst, daß wir ›achtungsvoll‹ unterzeichnen, wenn jemand eine gute Bestellung gab, daß wir ihn mit unendlicher Liebe und Wärme umfassen, wenn er bestellte und zugleich bezahlte, und daß wir ihm unsre grenzenlose Verachtung zu erkennen geben und bloß ›höflich grüßen‹, wenn er auf zwei Mahnbriefe nicht erwiderte.

Machen Sie die Buchstaben so schön wie möglich, und vor allen Dingen nehmen Sie sich mit den Zahlen in acht. Das ist eine ernsthafte Geschichte. Wenn eine Zahl nicht richtig ist, da fährt gleich die Konfusion hinein von allen Ecken. Am Buchstaben ist mir nicht soviel gelegen, aber an der Zahl – hören Sie mal, guter Freund, kopieren Sie mir die Zahlen richtig, sonst sind wir geschiedene Leute. Zahlen regieren die Welt.

[355] Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß es mit dem Abschreiben der Briefe nicht allein getan ist; es versteht sich von selbst, daß Sie sich auch den tiefen Sinn dessen, was Sie kopieren, einzuprägen haben. Das Kulante des Stils, die Eleganz der Wendungen, das Treffende in den Ausdrücken und Benennungen, die Höflichkeit inmitten der größten Grobheit und das Einschmeichelnde bei der heftigsten Erbitterung – alles, alles haben Sie sich zu bemerken, alles Ihrem Gedächtnis einzuprägen, damit Sie einst selbst Korrespondent werden können und damit ich Sie einst zur Höhe meines Geschäftes avancieren lassen kann.

Auch der einzelnen Manipulationen, welche die Korrespondenz berührt, müssen Sie sich stets zu erinnern wissen, und die Namen unsrer Kunden bemerken Sie sich und die Art, wie wir sie entweder über den Löffel barbierten, wie wir sie auf den Händen trugen oder wie wir sie im Gedränge untergehen ließen; denn daraus können Sie stets abnehmen, wes Geistes Kinder sie sind und welchen Kredit sie verdienen.

Sie sehen, ich übertrage Ihnen eine herrliche Arbeit. Das Kopierbuch ist das Evangelium des Comptoirs – und nun schreiben Sie es auch recht hübsch, damit ich Freude an Ihnen erlebe.

Groß ist der Handel und weltumfassend! Glücklich der, welcher unter seinen Fittichen geruht, denn ihm wird wohl sein wie einem Maienkäfer unter den Linden.

Sind die Comptoirarbeiten vorüber, da bricht ein neues Leben für Sie an. Sie beschäftigen sich nämlich dann auf dem Warenlager, in den Magazinen. Man wird Sie Muster anfertigen, Pakete machen und Ballen versenden lassen, wodurch Sie sich um unschätzbare Kenntnisse bereichern [356] werden. Qualitäten und Preise der verschiedenen Waren erlernen Sie spielend, indem Sie dem Abschlusse manches Kaufes beiwohnen. Sie sehen, welche Sorte für diese Gegend zieht und welche für eine andre paßt, Sie lernen die Sitten und Gewohnheiten der verschiedenen Völker kennen, ihre Fehler und ihre Tugenden, ihre Zahlungsfähigkeit und, ach! – auch ihre Insolvenz!

Menschen lernen Sie kennen, indem Sie mit Käufern und Verkäufern umgehen; studieren Sie ja die Schwächen eines jeden, denn das wird nie zu Ihrem Schaden sein. Merken Sie sich jedes Lächeln Ihres Gegenmannes, das geringste Zucken seiner Mundwinkel, die leiseste Bewegung seiner Augen, denn das Äußere des Menschen spiegelt oft genug das Innerste seiner Seele wider. Die Seele aber steht in genauem Zusammenhang mit dem Geldbeutel, und die Börse Ihres Gegners ist stets von speziellem Interesse für Sie.

Dunkel deute ich Ihnen die vielen Genüsse an, welche die Lust Ihrer Jugend und die Seligkeit Ihres Alters sein werden.

Gibt es etwas Schöneres als den Handel und Wandel? Gibt es ein vollkommeneres Wesen auf Erden als einen vollkommenen Kaufmann?

Ein vollkommenes Wesen soll vor allen Dingen seine Zeit begreifen und sein Jahrhundert; ein guter Kaufmann verstand von jeher beides, denn er verstand sich auf sein eignes Interesse!

Ruhig, im Bewußtsein seiner Würde, steht er da, und alle Künste und Wissenschaften der Welt drängen sich zu ihm heran, um ihm zu huldigen, um ihm zu dienen. Philosophie, Mathematik, Geographie, Ökonomie, die [357] ganze Rechtswissenschaft samt der Medizin und allen übrigen Herrlichkeiten von einem Pol bis zum andern, was wären sie, wenn sie der Kaufmann nicht in preußisch Kurant verwandelte.

Glücklich preise ich Sie, daß ein gutes Schicksal Sie in den Port des Kommerzes führte. Arbeiten Sie treulich von 7 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, und gehen Sie endlich nach Hause und legen Sie sich zu Bette. Da lassen Sie alles, was Sie am Tage sahen und hörten, noch einmal an Ihrer Seele vorübergehen, Briefe und Wechsel, Dukaten und Krontaler, Geldsäcke und Kopierbücher, Kurse und Warenproben, Konkurrenten und Geschäftsfreunde, und stärken Sie sich hieraus zu neuer Tätigkeit durch einen kurzen, aber erquickenden Schlaf.

Verstehen Sie mich? Ich hoffe, Sie haben mich verstanden. Aber jetzt noch eins! Nämlich –«, hier machte der Herr Preiss eine lange Pause, er legte die Hand auf die Schulter des Lehrlings und sah ihn mit einem durchbohrenden Blicke an, »– nämlich, hören Sie, junger Mann! Ich habe Vertrauen in Sie. Sie sind von rechtschaffener Familie, und ich bin bereit, Sie in mein Geschäft durchaus einzuweisen; ich will Ihnen Gelegenheit geben, in dieser Welt fortzukommen; ich kann Ihnen versichern, wer in meiner Schule gewesen ist, der kommt fort – hören Sie! Vier Jahre lang wer den Sie einstweilen bei mir bleiben, denn so lautet der Kontrakt, den ich mit Ihrem Vater geschlossen habe; diese vier Jahre werden Ihnen herumgehen wie ein Tag; denn keine Stunde sollen Sie müßig sein, und ich werde Ihnen genug zu tun geben. Hören Sie aufmerksam zu – eines befehle ich Ihnen vor allem, und ich will, daß Sie dieses eine halten sollen vor allem andern– nämlich, was Sie auch hören und was Sie auch sehen werden [358] auf meinem Comptoir oder auf meinem Lager – kurz, was Ihnen auch begegnet im ganzen Umkreise meines Geschäftes, erwähnen Sie davon nicht das geringste, sobald Sie die Schwelle meines Hauses verlassen haben! Verstehen Sie mich? – Stumm wie ein Fisch!«

»Stumm wie das Grab!« flüsterte der erschrockene Lehrling; er atmete tief auf, und seine unschuldigen Augen neigten sich vor den Flammenblicken des gewaltigen Prinzipals.

Während der Konversation des Herrn Preiss und des Lehrlings waren die übrigen Arbeiter ins Comptoir getreten und hatten sich lautlos an ihre Plätze gesetzt. Eine Totenstille entstand in dem mystischen Raume, und man hörte bald nur noch das Kritzeln der Federn, die in geschäftiger Eile über das Papier tanzten.

2. Der Korrespondent

II.

Der Korrespondent

Der Herr August ist ein schöner junger Mann von fünfundzwanzig Jahren. Was kann ein Mensch mehr verlangen!

Sein Haar ist blond, seine Augen sind blau, seine Wangen sind frisch, sein Kinn ist spitz. August hat weiße Hände, er ist schlank gewachsen und hübsch gekleidet. Die Mutter Natur und der Schneider haben sich angestrengt, ein angenehmes, gesellschaftliches Wesen aus ihm zu machen.

Zierlich und anständig schreitet August durch die Gassen. Den Hut trägt er etwas vorn auf der Stirn; er wedelt mit den Handschuhen und liebäugelt mit den freundlichen [359] Kindern, die etwa am Fenster sitzen, zwischen Myrten und Geranien, das Herz voll knospender Sehnsucht und in den Lilienfingern den Strickstrumpf.

August verfügt sich auf das Comptoir, denn er ist Korrespondent in dem Hause Preiss. Sechs Wochentage lang muß er dort Briefe schreiben an alle geehrten Geschäftsfreunde gen Osten und gen Westen, und nur am siebenten ruht er, da bleibt er daheim, und selig ist ihm die Morgenstunde des Sonntags, wo der Tabak dampft und der Mokka duftet und wo er deine Romane liest, o göttlicher Clauren!

Beobachten wir unsern Freund, wie er sich eben an das große Schreibpult setzt, um sein Tagewerk zu beginnen. Vergessen ist jetzt die süße Außenwelt, vergessen das Lockenköpfchen, das ihn eben gegrüßt, vergessen die ergreifendste Stelle aus Claurens Schriften, vergessen die Karoline des Billards, die er noch am Abend vorher so trefflich geschnitten, und vergessen der Dukaten, den er verloren im Landsknecht! Finsterer Geschäftsernst starrt ihm entgegen aus dem Comptoir des Herrn Preiss.

»Was hat die Post gebracht?« fragt der würdige Prinzipal. »Es sind viele Briefe gekommen; schreiten wir zur Beantwortung!«

Da langt August nach den Geschäftsepisteln des Tages und beginnt: »Die Herren Rand & Lieblich übermachen uns 700 Gulden auf Frankfurt und bestellen 100 Ballen Kaffee von der zuletzt erhaltenen Sorte. Die Ware soll gleich versandt werden, und sie verlassen sich in betreff des Preises auf unsere vielerprobte Rechtlichkeit.«

»Antworten Sie den Leuten«, erwiderte Herr Preiss, »daß ich sie achte und liebe. Für die 700 Gulden wollen wir sie nach unbezweifeltem Eingang mit dem wärmsten [360] Danke erkennen. Die 100 Ballen Kaffee erfolgen mit dem nächsten Schiffe, und zwar aus besondern freundschaftlichen Rücksichten einen halben Taler billiger. Versichern Sie die Menschen meiner unwandelbaren Ergebenheit, und empfehlen Sie mich ihnen mit ausgezeichneter Hochachtung.«

»Die Herren Fuchtel & Peitsche«, fuhr August fort, »schreiben uns einen bösen Brief; sie sagen, sie hätten unsre letzte Sendung Kaffee erhalten, aber die Qualität sei nicht nach Probe; sie wünschen daher eine namhafte Vergütung, oder sonst soll die ganze Geschichte zu unsrer Verfügung bleiben.«

»Antworten Sie diesen Leuten, daß ich ein Ehrenmann sei und daß solche Dinge nie bei mir vorfallen könnten. Sie sollen sich eine Brille anschaffen und die Sache noch einmal untersuchen. Sagen Sie, daß die Preise des Artikels einen merklichen Aufschwung zu nehmen schienen, und machen Sie den beiden Herren sehr bange, dann werden sie sich wohl beruhigen. Ich weiß sehr gut, daß die Sendung nicht ganz nach Probe ist, aber wir sind alle schwache und sterbliche Menschen, und jeder hilft sich, so gut er kann. Grüßen Sie Herren Fuchtel & Peitsche achtungsvoll. Weiter im Text!«

»Der Herr Parzival junior drückt uns sein Bedauern aus, daß er unsre letzte Rechnung noch nicht habe bezahlen können. Die Zeiten seien schlecht, er sei aber ein ehrlicher Mann. Außerdem wünscht er noch ein Faß Öl zu erhalten.«

»Dieser Mensch gefällt mir gar nicht. Schreiben Sie ihm, daß ich seinen Rimessen nichtsdestoweniger mit großer Ungeduld entgegensähe, und was das Faß Öl betreffe, so würde ich dasselbe lieber bis auf den Grund [361] austrinken, ehe ich es ohne vorher erfolgte Bezahlung absendete; und dann grüßen Sie Herrn Parzival bloß höflich.«

»Die Geschwister Fischer schreiben, daß die zuletzt erhaltene und schon bezahlte blaue Farbe gar nicht zu verkaufen, da sie unecht sei. Wir möchten die Sendung doch durch eine andre ersetzen.«

»O Zeus! Schon bezahlt und nun noch Reklamationen! Verfertigen Sie diesen unschuldigen Geschwistern Fischer doch einen recht lustigen Brief. Schreiben Sie, daß es seine volle Richtigkeit mit der schlechten Qualität der Ware habe, aber zu den billigen Preisen, die ich den Geschwistern ansetze, könne man auch nichts Gutes liefern. Sie sollen die Geschichte in Gottes Namen behalten; schreiben Sie das recht versöhnlich, denn die Geschwister sind brave Leute, und bieten Sie ihnen eine neue Quantität recht niedrig an. Grüßen Sie die Geschwister auch recht freundschaftlich, dann werden sie sich schon zufriedengeben. Und nun?«

»François père et fils in Avignon bitten um Abrechnung über die seinerzeit konsignierten 7 Fässer Krapp. Wenn die Ware noch nicht verkauft ist, so sollen wir zum bestmöglichen Preise losschlagen.«

»Diese Franzosen wollen wir schneiden. Nichts ist vorteilhafter als ein Konsignationsgeschäft. Es ist eigens vom Schicksale dazu gemacht, daß ein ehrlicher Mann etwas daran verdiene. Die Fässer Krapp sind längst verkauft. Schreiben Sie daher den Leuten, daß ich sie bis zur Stunde auf dem Lager gehabt hätte. Es sei unmöglich gewesen, so schlechtes Zeug loszuwerden. Nach ihrem Wunsche hätte ich sie aber jetzt mit Gewalt fortgeschafft, leider sei deswegen aber auch der Preis ziemlich niedrig. Machen [362] Sie dann eine Verkaufsrechnung 30 bis 50 Prozent zu unsern Gunsten; ermuntern Sie die Herren zu fernern Konsignationen, und versichern Sie dieselben meiner ganzen Sorgfalt für ihr Interesse und Wohlergehen. Sie können auch noch bemerken, daß ich ihnen aus reiner Gutmütigkeit keine Lagerspesen berechnen wolle, denn ich bedaure selbst, daß dieser erste Versuch nicht besser ausgefallen sei. Führen Sie den Brief recht hübsch aus, und schreiben Sie französisch, damit uns die Leute besser verstehen. Was gibt es sonst?«

»Ein Brief des Herrn Julius Lavendel. Er gibt einen Auftrag auf 10 Kisten Indigo, will aber auf die frühere Sendung etwas vergütet haben.«

»Das ist gar nicht dumm von ihm. Antworten Sie diesem Manne, daß er die 10 Kisten Indigo haben soll, mit Vergnügen; die Vergütung brauchen Sie aber gar nicht zu berühren; wir müssen tun, als hätten wir das gar nicht gelesen, und wenn er noch einmal darauf zurückkommt, so wollen wir sie bewilligen und ihn auf eine andere Weise dafür zu packen suchen. – Sela!«

»Jetzt kommt ein Schreiben der Herren Ehrlich & Wunderlich. Sie wollen Offerte in Zucker haben und können eine bedeutende Partie gebrauchen.«

»Nun, das ist mir ja bedeutend lieb. Schreiben Sie diesen Biedermännern einen höchst poetischen Liebesbrief, notieren Sie ihnen die jetzigen Preise und grüßen Sie dieselben freundschaftlichst und mit achtungsvoller Ergebenheit. Wenn Sie damit fertig sind, so erkundigen Sie sich aber noch einmal bei unserm Bankier, ob die Kerle auch solide sind; es gibt in dieser insolventen Jahreszeit so viel schlechtes Volk, daß man wahrhaftig etwas vorsichtig sein muß.« [363] »Der Advokat in Offenbach erwidert auf unsere neuliche Anfrage, daß unser Prozeß gegen den Juden Lilienstern noch immer nicht zu Ende sei. Bei der großen Sorgfalt, mit der er unser Interesse vertrete, hoffe er indes, über Jahr und Tag damit fertig zu werden. Leider seien die dasigen Gerichtsverhältnisse äußerst verwickelt.«

»Sehen Sie, so geht es einem ehrlichen Kaufmann, wenn er unter die Wölfe gerät! Die Advokaten sind die prächtigsten Leute von der Welt beim Kartenspiel oder bei einer vorzüglichen Flasche Wein – aber wehe, wenn sie, losgelassen, das Interesse ihrer Freunde vor Gericht vertreten! Die Haare fangen eher auf einem alten Koffer an zu wachsen, die Mücken verwandeln sich eher in Dromedare, als daß man durch einen Advokaten zu seinem rechtlichen Eigentume kommt. Legen Sie den Brief dieses Offenbachers beiseite, damit ich ihn nie wieder zu Gesicht bekomme, damit ich nicht an dem Adel der menschlichen Seele zu zweifeln beginne, damit sich die Sanftmut meiner Brust nicht in Wut, damit sich die Milch meines Herzens nicht in Wermut verkehrt. Das Advokatenhandwerk muß ein einträgliches Geschäft sein; ich will doch einen meiner Söhne Advokat werden lassen.«

»Ein Herr Tarantel teilt uns mit, daß er eine Erfindung gemacht habe, um das Farböl vorteilhafter tournant zu machen, und ladet uns ein, einige Fonds vorzuschießen, damit diese Erfindung exploitiert werden könne.«

»Erwidern Sie diesem Exploiteur, daß Erfindungen nicht in meine Branche schlagen. Es sei sehr gut möglich, daß er ein zweiter James Watt, ein Arkwright oder ein Liebig sei; ich befasse mich indes nur mit Zucker, Kaffee und Heringen; weiter reiche mein Horizont nicht. Im [364] übrigen wünsche ich ihm des Himmels reichen Segen; ich sei ein armer Mann und grüße ihn ergebenst.«

»Der Herr Pfarrer von Flachsenfingen bittet um einige Beiträge zu einer milden Stiftung.«

»Melden Sie ihm in blumenreichen Ausdrücken, daß dergleichen gegen meine Geschäftsprinzipien sei – aber halten Sie! Der Bruder dieses Pfarrers ist ja einer unsrer besten Kunden; nein, schicken Sie ihm 10 Taler, sagen Sie, ich sei ein großer Philanthrop, und mit ganzem Herzen überreiche ich ihm diese Kleinigkeit. Sie müssen recht viele Worte machen, damit der Glanz der Phrasen die Geringfügigkeit meiner Gabe in etwa verdeckt; und empfehlen sich mich Sr. Hochwürden dann mit christlicher Liebe und Ergebenheit. Aber es ist doch entsetzlich, daß man nur Briefe von Advokaten, Erfindern und Geistlichen erhält, gerade von den Leuten, die mich am wenigsten interessieren. Gibt es denn gar nichts Erfreuliches mehr?«

»Der Herr Salamander in der Pfalz bestellt 20 Tönnchen Heringe umgehend.«

»Dieser Mann ist mein Freund. Aber das ist viel; 20 Tönnchen auf einmal; es muß wenig Durst mehr, ja es muß viel Katzenjammer in der Pfalz geben. Ist unser Salamander auch wohl solide? Schreiben Sie ihm, die Heringe sollten baldigst den Rhein hinaufschwimmen; Rimessen auf Köln wären aber angenehm, denn das Geld sei rar. Empfehlen Sie mich dem Salamander mit bewußter und bekannter Freundschaft.«

»Zum Schlusse haben wir noch zwei Briefe von Bankiers aus Paris und Amsterdam.«

»Und was wollen die von mir?«

»Die Herren Brummfliege Eidam & Co. beklagen sich [365] bitter darüber, daß wir schon seit mehreren Jahren einen großen Posten in unserm Kredit stehen hätten, von dem sie uns die höchsten Zinsen vergüten müßten, und daß wir so gut wie gar keine Geschäfte mit ihnen machten. Dies könne nicht länger so fortgehen, wir müßten so gefällig sein und ihre Dienste etwas in Anspruch nehmen, sie verdienten ja gar nichts an uns usw. Dies schreiben die Amsterdamer. Zur selben Zeit ersuchen uns die Herren Scorpion frères in Paris, über jeden Betrag bei ihnen zu verfügen; ihre Dienste wären uns unter allen Verhältnissen gewidmet, und sie würden sich glücklich schätzen, wenn wir ihre Kapitalien bald und bedeutend in Anspruch nähmen.«

»Schreiben Sie den Leuten, daß ich ihnen für ihr schmeichelhaftes Anerbieten sehr verbunden wäre; leider hätte ich aber schon selbst so viel Geld und litte gerade in diesem Augenblicke so entsetzlich an überflüssigen Fonds, daß ich bei bestem Willen von fremden Kapitalien keinen Gebrauch machen könne und es einstweilen der Zukunft überlassen müsse, ob ich ein mal zu einem Geschäfte die Hand bieten dürfe. Sollte dieser Fall eintreten, so würde ich mich gern ihrer Offerte erinnern und bliebe indes achtungsvoll usw. der Ihrige.«

»Da sind wir fertig!« rief August und seufzte tief auf. Er hatte wirklich einige Mühe gehabt, mit dem Gedankengange des würdigen Prinzipals gleichen Schritt zu halten. Da er sich aber den Umriß sämtlicher Briefantworten auf einem Stückchen Papier bemerkte, so wurde es ihm dennoch möglich, die Ideen seines erfindungsreichen Meisters schnell in jenen zierlichen Wendungen wiederzugeben, welche schon längst die Wonne und die Bewunderung aller Geschäftsfreunde des Herrn Preiss [366] waren. Ungesäumt gab er sich ans Werk; und wiederum lag eine tiefe Sabbatstille über dem ganzen Comptoir; denn auch die jüngern Leute, welche den Reden ihres Herrn aufmerksam gelauscht und sich bei mancher Stelle bedeutungsvoll zugenickt oder voll süßen Einverständnisses angelächelt hatten, versanken jetzt wieder in ihre Arbeit, während der dürre Buchhalter den Namen mancher respektablen Firma auf die Seiten seines großen Hauptbuches malte.

Der Herr Preiss aber zog den Lyoner Foulard aus der Tasche des großen Rockes und trocknete den Schweiß von der hohen, olympischen Stirn, welche so kühn allen Gefahren trotzte und so reich an vorteilhaften Erfindungen war. Die Hände auf den Rücken legend, schritt er gesenkten Hauptes auf und ab durch den düstern Hintergrund des Comptoires, tief in der Seele erwägend, ob er recht getan und richtig gehandelt, und es war ihm zumute wie dem Helden Homers, dem ränkevollen Odysseus, nachdem er betrogen Polyphem, den groben Cyklopen.

3. Der Buchhalter

III.

Der Buchhalter

Der Buchhalter Lenz besaß eine rote Nase. Dies ist sehr wichtig. Er besaß nicht die Nase Bardolphs, jenes flammende Meteor, bei dessen Strahl der gute Falstaff stets an das Feuer eines schlimmen Jenseits denken mußte, – er besaß auch nicht die Nase Wahls, welche drei Tage lang zur Welt kam, während der junge Herr Wahl selbst erst am vierten erschien, – und er besaß auch nicht die Nase Lord Henrys, jene berühmte rötliche Kartoffel, [367] welche nach der Versicherung eines frivolen Franzosen einzig und allein von der großen Erdäpfelseuche des Jahres 1845 verschont geblieben sein soll – nein, der Buchhalter Lenz besaß seine eigene Nase, er konnte sich bei seiner eigenen Nase ziehen.

Die rote Nase, welche Herr Lenz von Gottes und Rechts wegen mitten im Gesichte trug, war das kostspieligste Kleinod seines Leibes. Sie war das Resultat eines langjährigen, ernstlichen Trinkens, das Produkt eines sorgfältig gelöschten Durstes, die Konsequenz einer nie ruhenden Niersteiner und Piesporter vertilgenden Leidenschaft; – sie hatte weder den erschreckenden Karfunkelglanz der Bardolphschen noch den erheiternden Strahl der Wahlschen noch die mystische Couleur der Nase Sr. großbritannischen Lordschaft – nein, mit einem stillen, wehmütigen Abendrot beschien sie das feierliche Antlitz des dürr aufgeschossenen Besitzers; man sah, der Herr Lenz hatte aus Wehmut getrunken, der Trunk war ihm eine Sache des Trostes gewesen.

Aber weshalb bedurfte der Herr Lenz des Trostes? War er nicht Buchhalter im Hause Preiss? Verdiente er nicht sechshundert Taler jährlich mit Mühe und Arbeit? Besaß er nicht das ganze Zutrauen seines Prinzipals? Durfte er nicht sogar auf dem Comptoir rauchen? War der Herr Lenz nicht in Arkadien geboren? – Ach ja, das war alles wohl schön und gut; aber der Herr Lenz hatte einst in seiner Jugend einen großen ökonomischen Fehler begangen, und das paralysierte wieder alle seine Glückseligkeit; der Herr Lenz hatte, es ist bedauerlich zu erzählen, er hatte einst in seinem zweiundzwanzigsten Jahre – oh, wie unvorsichtig! ja, es ist entsetzlich zu melden – er hatte geheiratet. Armer Lenz –! Er hatte nie [368] etwas von der malthusianischen Bevölkerungstheorie gehört; er wußte nicht, daß sich die Population gewöhnlich in einer geometrischen Proportion – wie 1, 2, 4, 8, 16, 32 – zu vergrößern strebt und daß die Subsistenzmittel nur in einer arithmetischen – wie 1, 2, 3, 4, 5, 6 – zuzunehmen pflegen; er hatte nie daran gedacht, daß die Summe seiner Nachkommenschaft einst den Betrag seines Saläres überwiegen könnte, und er begriff deswegen nicht den Widerspruch seines Daseins, welcher sich dadurch immer schärfer und bedenklicher ausgeprägt hatte, daß sich die Zahl seiner Kinder allmählich verachtfachte und daß sich die Summe seines Gehaltes in derselben Zeit nur verdoppelte. War es daher ein Wunder, daß der gute Herr Lenz oft eine halbe Nacht in die harmonische Öffnung eines grünen Römers hinabstierte, eifrig bemüht, das große ökonomische Rätsel seines Lebens zu erforschen und zu erraten? War es ein Wunder, daß sich das Morgenrot auf den Wangen seiner armen Kinder immer mehr verlor, während das Abendrot seiner eignen Nase immer flammender emporstieg? Und war es ein Wunder, daß der trostlose Lenz, so hin und her gewürfelt zwischen den Kontrasten des Schicksals, zwischen der Scylla des Familienjammers und der Charybdis der Wirtshausschulden, endlich auf dem Comptoir des Herrn Preiss den einzigen Ort fand, wo er an seinem rechten Flecke war, wo er die Leiden der Vergangenheit und die Sorgen der Zukunft vergaß bei der Arbeit der Gegenwart?

Der Buchhalter Lenz war ein trefflicher Arbeiter. In seiner engen Hose, welche für die langen Beine eigentlich etwas kurz ist und die großen Stiefel in ihrer ganzen Ausdehnung sehen läßt; in seinem schwarzen, abgetragenen Frack, dessen äußerst spitze Zipfel dürftig über [369] den Ort aller Sitzsamkeit hinabfallen; in seiner hohen Krawatte, die den Hals in einer wahrhaft beunruhigenden Weise umschnürt – sehen wir ihn im Hintergrund des Comptoirs stehen.

»Was für Geld zählen Sie da?« beginnt der gewaltige Prinzipal, der Herr Preiss, indem er auf seinen Buchhalter und Kassierer losschreitet.

»Gestern abend mit der Post gekommen, schlechte Sorten!« erwidert der Buchhalter, indem er ein Dutzend Geldstücke aus der rechten in die linke Hand schießen läßt.

»Mit der Post gekommen? Schlechte Sorten? Was für Sorten sind das?«

»Krontaler und Dukaten, alle zu leicht.«

»Alle zu leicht? Und von wem sind sie?«

»Von dem Manne aus Nassau; alle zu leicht.«

»Alle zu leicht? Das ist ja um des Teufels zu werden!«

»Alle ein paar As zu leicht; wir werden viel daran verlieren –«

»Wir, verlieren? Ei, das ist ja ganz verkehrt! Heutzutage noch am Gelde verlieren? Das fehlt noch! Gott sei bei mir! Am Gelde verlieren – schreiben Sie doch dem Nassauer, daß ich kein Schuft, sondern ein ehrlicher Mann sei; schreiben Sie ihm, er habe gute Ware von mir bekommen, und ich wolle gutes Geld haben!«

»Schon zehnmal geschrieben«, erwiderte der Buchhalter, indem er jeden Krontaler auf die Waage und dann kopfschüttelnd auf den Tisch springen ließ.

»So schreiben Sie es denn zum elften Male – oder, halt! Schreiben Sie lieber gar nichts. Wir verdienen genug an der Ware und müssen uns in diesen Geldverlust fügen; [370] das heißt, sehen Sie nur zu, daß Sie die leichten Stücke bei den Arbeitern, den Schiffern, den Fuhrleuten, bei Kollekten unterbringen; auf diese Weise kommen wir glücklich davon; verstehen Sie mich?«

»Verstanden!« murmelte der Buchhalter und trat dann an sein Schreibpult, indem er die großen Seiten des gewichtigen Hauptbuches sorgfältig feierlich auseinanderschlug.

»Was machen unsre ausstehenden Gelder?« fuhr der Herr Preiss fort.

»Sie machen mir viel Sorge«, erwiderte der bedächtige Herr Lenz.

»Haben wir viel zu fordern?«

»Genug zu fordern, aber wahrscheinlich wenig zu empfangen.«

»Vor allen Dingen müssen wir mahnen!«

»Das versteht sich von selbst! Und die Herren Hero & Leander zuerst, denn diese haben trotz aller Anfragen nichts von sich hören lassen.«

»Schreiben Sie ihnen also, daß es mich sehr in Erstaunen setze, daß sie auf mein Jüngstes nichts erwidert hätten; ich müsse daher mit Gegenwärtigem nochmals um schleunige Abmachung der letzten Posten bitten und würde im schlimmsten Falle höchst unangenehme Maßregeln gegen sie ergreifen!«

»Dann kommen die Herren Romulus & Remus; sie schulden zwei Fakturen, längst verfallen.«

»Das sind ja wahre Heiden! Teilen Sie ihnen freundschaftlichst mit, daß der Diskont unanständig hoch sei und daß ich lächerlich schlecht bei Kasse wäre; ich würde mir daher erlauben, den Betrag meiner Forderung in drei Abschnitten auf sie zu entnehmen, um deren freundliche [371] Aufnahme bei Verfall ich zwar sehr artig, aber dennoch dringend gebeten haben wolle.«

»Ferner haben wir die Herren Castor & Pollux – schulden bedeutend, sehr im Rückstand.«

»Wie, auch diese alte, ehrwürdige Firma? Das ist ja entsetzlich! Man sieht, wie alles Große in der Welt herunterkommt! Schreiben Sie den Leuten einen zarten Mahnbrief – treten Sie sie mit Anstand – sagen Sie, ich würde mich glücklich schätzen, bald mal etwas von ihnen zu hören, und empfehlen Sie mich diesen bankerotten Menschen mit großer Konsideration; wir müssen uns langsam von ihnen loswickeln –«

Da trat der Herr Preiss einen Schritt rückwärts und überließ den Buchhalter seiner Arbeit; der Herr Lenz hatte sich den Inhalt der Mahnbriefe bemerkt und fuhr fort, die Konti seines Hauptbuches in Ordnung zu bringen.

Im Hause Preiss führte man die doppelte oder italienische Buchhaltung. »Doppelt« nennt man diese Buchhaltung, weil sie doppelt so langweilig ist wie die einfache, und »italienisch«, weil sie mit den Pomeranzen und Apfelsinen aus einem und demselben Lande kommt. Sollte diese Erklärung indes noch nicht genügen, so fügen wir noch hinzu, daß die doppelte Buchhaltung eine viel größere Sicherheit in den Rechnungskolonnen gewährt als die einfache, weil gewissermaßen jede Rechnung doppelt geführt wird, so daß dann die eine Kolonne die andere kontrolliert.

Höchst wunderbar und geheimnisvoll ist dieser ganze Prozeß. Unsre Leser müssen sich einbilden, sie hätten hundert harte Taler in ihrer rechten Hosentasche und wollten damit einen steilen Berg hinanlaufen. Da doch [372] nun die Möglichkeit vorhanden wäre, daß man bei dem vielen Hin – und Herspringen einen Taler aus der Tasche verlöre und durch ein Vergessen der ursprünglichen Summe vielleicht zuletzt gar nicht einmal mehr wüßte, ob dies der Fall gewesen sei oder nicht, so steckten unsre Leser auch hundert Kieselsteine in die linke Hosentasche und trügen sie ebenfalls bis auf die Höhe des Berges. Wenn man dort angekommen wäre und untersuchen wollte, ob es mit den Talern noch seine Richtigkeit habe, so würde man nur die Summe des Geldes mit der Summe der Kieselsteine zu vergleichen haben und in dem Übereinstimmen der beiden Summen die beste Garantie einer ohne Verlust geschehenen Reise finden können. Stellte es sich dagegen heraus, daß der Betrag der Taler nicht der Summe der Steine gleichkäme, so würden unsre Leser natürlich die Gefälligkeit haben, den Berg wieder hinabzulaufen und das Verlorene so lange zu suchen, bis es gefunden wäre. Ebenso mit der doppelten Buchhaltung. Wenn der gute Herr Lenz das ganze Jahr hindurch über jeden Rechnungsposten eine doppelte Buchung gemacht hatte, da war es ihm natürlich am 31. Dezember viel leichter zu sehen, ob irgendein Bock geschossen sei oder nicht. Stimmten die beiden Kolonnen, so war der Herr Lenz sehr froh gestimmt. Stimmten sie nicht, so war er mißgestimmt, und wie unsre Leser den Berg hinablaufen mußten, so mußte der arme Herr Lenz dann alle Rechnungen des Jahres so lange wieder nachaddieren, nachsubtrahieren, nachdividieren und nachmultiplizieren, bis der viel verfluchte und oft vermaledeite Fehler entdeckt war.

Die Moral der ganzen Geschichte wird unsern Lesern längst einleuchtend sein: Fürchte dich nicht vor der doppelten [373] Buchhaltung; sie ist zwar mit viel mehr Fluchen, Schweiß und Schimpfen verbunden als die einfache, aber sie behütet dich auch vor der Todsünde einer falschen Bilanz. So auch dachte der Herr Lenz, als er die besten Jahre seines Lebens daransetzte, jene mystischen Konti zu schreiben: »Nero & TiberiusSollen an Kaffee-, Zucker- und Korinthen-Konto«, oder: »Hering-, Stockfisch- und Sardellen-Konto Soll an Haus August Fliegenfänger«, oder: »Ahr-, Rhein-, Lahn- und Moselwein-Konto Hat an das Gasthaus ›Zu den drei Lilien‹« soundso viel, oder: »Tacitus Florian Müllers Söhne Haben an Öl-, Krapp-, Seifen-und Lichter-Konto« so viel.

Der Buchhalter Lenz betrieb seine Arbeit mit Liebe. Feierlich ernst war ihm dabei zumute. Der alte Möbius hat seine Kommentare zum Cicero und zum Cäsar nicht aufmerksamer geschrieben als der gute Lenz die Köpfe seiner Handels-Konti. Mit einem gewissen Stolze, mit einer wahren Verachtung schaute Lenz in seiner doppelten Buchhaltungswürde auf die Kollegen anderer Geschäfte hinab, in denen man nur die einfache Prozedur des Soll und Haben benutzte. »Wir haben die doppelte, italienische Methode auf unserm Comptoir«, beliebte der Herr Lenz zu sagen, wenn ihn jemand nach diesem Punkte fragte, und ein vornehmes Lächeln zuckte dann um die geistreichen Lippen des hagern Mannes.

Während der gute Lenz seinem buchhälterischen Talente freien Lauf ließ, hatte sich der Herr Preiss der Türe zugewandt, um einen hereintretenden Makler zu bewillkommnen.

»Wie sieht es mit Indigo aus?« fragte er den Zwischenhändler.

[374] »Er scheint im Preise weichen zu wollen«, erwiderte der Gefragte.

»O Herr, wir haben das ganze Lager voll! Aber was macht Krapp?«

»Krapp ist bedeutend angenehmer.«

»Gut, daß ich keinen brauche; und Heringe?«

»Äußerst flau und scheinen ferner herunterzugehen –«

»Das ist mir lieb; und Getreide?«

»Befindet sich schlecht –«

»Da müssen wir spekulieren!«

»Für Öl ist die Meinung freundlicher.«

»Nun, da kann sich mancher von den Flecken erholen, die es bei der letzten Kampagne abgesetzt hat. – Spiritus?«

»Fehlt allgemein –«

»Gut, daß wir welchen auf Lager haben!«

»Lederpreise verlassen ihre bisherige Lethargie.«

»Wahrscheinlich infolge des größern Knutenbedarfs.«

»Kaffee, Tabak und Reis sind beständig. In den Viehhandel ist aber ein allgemeiner Schrecken gefahren –«

»Woran sicher die Überproduktion schuld ist.«

»Hopfen ist sinkender Tendenz.«

»Interessiert mich gar nicht.«

»Rauchwaren gestalten sich vorteilhafter.«

»Nun, das freut mich für unsre polnischen Freunde; wie steht es mit Füchsen?«

»Füchse sind sehr gesucht. Bären weniger gefragt, Zobel eher vernachlässigt. Strumpfwaren äußerst anziehend –«

»Und was haben Sie sonst Neues?«

»Schlimme Gerüchte verbreiten sich aufs neue in betreff der Kartoffeln.« [375] »Nun, da rate ich Ihnen, nicht in die Kirche zu gehen, denn es wird gewiß kollektiert. Aber hören Sie auf! Ich weiß genug. Wie kann man jetzt etwas unternehmen, wo die Zeiten so schlecht sind? Guten Morgen. – Haben Sie unsre drei Schuldner gemahnt, Herr Lenz?«

Der Herr Preiss hatte den Makler eiligst verlassen und sich noch rascher dem Pulte seines Buchhalters zugewandt.

Der gute Lenz war mehrere Stunden lang sehr fleißig gewesen. Zum fünften oder sechsten Male hatte er schon sein »Nero & Tiberius Sollen an Kaffee-, Zucker- und Korinthen-Konto« auf die Seiten des großen Buches geschrieben, da wandelte ihn plötzlich ein gewisses Etwas an, das mit einer leisen Sehnsucht nach einem kühlen, erfrischenden Trunke entfernte Ähnlichkeit hatte. Er sah sich nach den jüngern Comptoirarbeitern um – sie waren in ihre Beschäftigung vertieft. Er schaute hinüber nach dem Herrn Preiss – der unterhielt sich gerade mit dem Makler. Der Augenblick war günstig. ›Sei mir gegrüßt, du einzige Phiole, die ich mit Andacht aus der Tasche hole!‹ Und da steckte Herr Lenz den langen Arm mit den noch längern Fingern in den Schlitz seiner dürftigen Frackzipfel, den Kopf zwischen die Schultern zurückziehend, den Rücken zu einem Katzenbuckel krümmend und die langen, dürren Beine schlotternd vor Angst zu einem blitzähnlichen Zickzack zusammenbiegend. Da war's geschehen. Sie schaute ihn an, die liebliche Flasche mit dem schimmernden Getränk, mit dem flüssigen Feuer – er hätte jetzt nicht mehr widerstehen können, und wäre auch die Welt darüber zugrunde gegangen – es blitzte, es funkelte – ein Ruck, und der Pfropfen war gelöst – wie ein Sechzehnender legte der Buchhalter Lenz sein Haupt in den Nacken, und Mann und Flasche [376] schwelgten auch in demselben Momente in der Wollust eines glühenden, unendlichen Kusses. –

»Haben Sie unsre drei Schuldner gemahnt?« klang es da plötzlich von der andern Seite des Zimmers herüber. Zornfunkelnden Blickes stand Herr Preiss vor seinem Buchhalter – es war ein entsetzlicher Augenblick.

Die Nase des armen Lenz entfärbte sich – die Phiole entsank seiner Hand – in Stücke brach sie, in tausend Stücke, und durch das Comptoir des Herrn Preiss wogte ambrosischen Duftes der Geist des vergossenen Wacholders.

4. Ein verschlissener Kommis

IV.

Ein verschlissener Kommis

Der Herr Preiss legte plötzlich die Feder auf den Rand des Schreibpultes; er sah nach der Uhr, er erhob sich vom Stuhle und entfernte sich.

O frohes Ereignis! Tief seufzte das Comptoirpersonal auf; der Buchhalter Lenz nahm drei große Prisen; der Korrespondent öffnete seinen holden Mund und gähnte entsetzlich; der Lehrling reckte Arme und Beine in wollüstiger Entzückung; und ihrer aller Gedanken begegneten sich in dem Jubelrufe: ›O Heil, daß er fort ist!‹

Zu derselben Zeit trat aber eine schlanke Magd in violettem Kleide und mit blendend weißer Schürze in das Zimmer und setzte einen großen Präsentierteller auf den nächsten Tisch. »Da ist der Tee!« frohlockte der Buchhalter. So war es. Der Herr Preiss hatte nämlich die lobenswerte Gewohnheit, seine Leute stets gegen Abend etwas zu bewirten, da er nach einer genauen Kalkulation in Erfahrung gebracht hatte, daß dies den Eifer seiner [377] Comptoiristen wenigstens um zehn Prozent vergrößerte. »Da ist der Tee!« rief der Buchhalter. Wie ein Lauffeuer hatte sich diese frohe Kunde nicht allein durch das Comptoir, sondern auch durch Lager und Magazine verbreitet, und von allen Seiten nahten jetzt die holden Söhne Merkurs, um sich selig lächelnd bei den blaugeblümten Tassen des Services niederzusetzen. Unter den Herankommenden war auch ein alter Mann, morsch wie ein verwitterter Kirchturm, der Nestor des Personals – er hieß Sassafraß. Silbernes Haar umwogte seinen großen Schädel, aber ein mildes Lächeln umschwebte die feinen Lippen. Der alte Sassafraß war, ach, ein verschlissener Kommis.

»Wie lange arbeiten Sie nun eigentlich schon hier auf dem Comptoir, Herr Sassafraß?« begann der Korrespondent. – Der Alte besann sich. »Um Mariä Himmelfahrt fünfunddreißig Jahre, jawohl, fünfunddreißig Jahre um Mariä Himmelfahrt.«

»So? Und nun sagen Sie mir doch, was haben Sie eigentlich von Ihrem Leben gehabt?«

»Ich? Gehabt? Ich habe 400 Taler gehabt, mein ganzes Leben lang, das heißt seit zwanzig Jahren; denn früher war der Herr Preiss gar nicht zu bewegen, mir mehr als 300 zu geben. Wenn ich ihm damals von Zulage sprach, so wollte er jedesmal auf den Rücken fallen vor lauter Schreck und Verzweiflung.«

»Herr Sassafraß, da müssen Sie Reichtümer aufgespeichert haben! 400 Taler brauchen Sie im Jahre nicht. Sie haben ja gar keine Gelegenheit, Geld auszugeben. Sie arbeiten den halben Sonntag und die ganze Woche von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends, ach, sagen Sie uns doch, was machen Sie eigentlich am Abend?« [378] Der Herr Sassafraß schenkte sich eine zweite Tasse Tee ein, faltete dann die Hände, machte ein sehr ernstes Gesicht und erwiderte: »Das will ich Ihnen verraten. Punkt 8 Uhr verlasse ich das Comptoir, wie Sie wissen; und da die Nacht keines Menschen Freund ist, so eile ich schnell nach Hause, um nicht auf der Straße von ihr überrascht zu werden. Zu Hause angekommen, bemächtige ich mich einer irdischen Pfeife; ich bemächtige mich einer Portion Tabaks AB Reuter und bemächtige mich zweier Groschen. Mit der Pfeife, mit dem Tabak und mit den zwei Groschen verfüge ich mich zu meinem langjährigen Freunde, dem Wirte in den ›Drei goldenen Reichskronen‹. In den ›Reichskronen‹ setze ich mich hinter den Ofen, rauche vier Pfeifen und trinke für meine zwei Groschen zwei Schnäpse Rum, und wenn die letzte Pfeife geraucht und der letzte Tropfen Rum getrunken ist, da – schlafe ich ein und schlafe so lange, bis mein langjähriger Freund, der Wirt in den ›Drei goldenen Reichskronen‹, auf meine Schulter klopft und mir verkündet, daß die Geisterstunde geschlagen hat. Dann raffe ich mich auf; in Zeit von einer Minute bin ich in meiner Wohnung; bald schlafe ich aufs neue ein, und am andern Morgen stehe ich hier auf dem Comptoir – schön wie immer – und so habe ich es bereits fünfunddreißig Jahre lang getrieben.«

»Würdiger Mann!« unterbrach ihn der Korrespondent; »aber da müssen Sie ja schon sehr alt sein. Wann sind Sie eigentlich jung gewesen?«

Ob dieser Frage wäre der Herr Sassafraß fast ärgerlich geworden. »Ich, jung? Meinen Sie, ich wäre niemals jung gewesen?! Allerdings war ich jung! Jung war ich Anno 1802, um die heilige Osterzeit, als mich die Herren [379] Sigismund Ritter sel. Söhne und Konsorten zuerst mit auf die Frankfurter Messe nahmen – der wichtigste Moment meines Lebens! Ach, damals« – die Augen des alten Sassafraß wurden feucht, denn die Erinnerungen seiner Jugend dämmerten plötzlich am Horizonte seines schwachen Gedächtnisses empor und erfüllten ihn mit dem höchsten Entzücken –, »damals! Das war eine Zeit. Es war der Monat Mai meines Lebens. Wie ein General mit gezognem Schwerte auf der Walstatt, so stand ich mit meiner Elle auf der Frankfurter Messe, und – aber das sollen Sie niemandem wiedererzählen, darüber müssen Sie schweigen, meine Herren, denn es soll niemand weiter darüber sprechen, verstehen Sie mich –, damals verliebte ich mich auch zuerst – jawohl, ich verliebte mich in Esther, die Tochter unsres Hauswirts, und als ich abends bei ihr war, im Dunkeln, ach Gott, im Dunkeln ganz allein bei ihr war – so etwas haben Sie nun noch nicht erfahren –, da auf einmal geschah vor der Tür ein erschreckliches Gepolter. Ich drückte Esther an meine Brust, wir hielten den Atem an, wir horchten. ›Esther!‹ seufzt da jemand aus den Grundtiefen seines Herzens, ›Esther! geliebtes Wesen!‹–und kaum hatte Esther dies gehört, da erwidert sie: ›Ritter, o geliebter Ritter!‹ und hält mir die Hand vor den Mund und bittet mich, ich möchte um des Himmels willen ruhig sein, sonst wären wir alle beide verloren. Und ich hätte mich auch dabei beruhigt, aber das ›Ritter, o geliebter Ritter!‹ ließ plötzlich einen fürchterlichen Gedanken in mir aufsteigen, und ich reiße mich von Esther los und stürze – ich Unbesonnener! – auf die Tür zu, um zu sehen, wer der geliebte Ritter ist.

Jener Augenblick war schrecklich in seiner Art. Ich liebte Esther. Sie hatte ein holdes, orientalisches Profil, [380] und ich war blond damals, blond wie ein Engel, und wenn ich in der »Traube« zu Frankfurt Wein getrunken hatte, nur ein Glas voll, da stieg mir der Wein in den Kopf, und ich bekam purpurrote Lippen und rosenrote Wangen, und das blonde Haar dazu – ach! Und Esther war so nächtlich und schwarz. Sie war zwar getauft und hieß eigentlich Magdalena, aber sie war doch noch schön und ausländisch, levantisch, und ich nannte sie immer Esther. Ich liebte sie schon seit drei Wochen und hatte ihretwegen schon drei Ballen Mousseline de laine an die verkehrte Adresse gesandt und schon genug Vorwürfe deswegen in Empfang nehmen müssen, aber ich liebte Esther nur desto heißer. Denken Sie sich also meine Gemütsstimmung, als ich plötzlich zu bemerken glaube, daß noch ein Zweiter um Esthers Liebe wimmert und daß Esther ihn ›Ritter, o geliebter Ritter!‹ nennt. Ach, und auf riß ich die Stubentür – da fällt mir jemand mit aller menschlichen Gewalt in die Arme und umschlingt mich und küßt mich, und weil es dunkel war, so küßt er mich gerade mitten auf die Nase. Ich aber taumle zurück. Da fällt der Mond mit zitterndem Licht durch die Lindenbäume ins Zimmer herein, und zitternd erkannte ich – wen erkannte ich? Ich erkannte den Herrn Sigismund Ritter sel. Söhne und Konsorten. Diese Erkenntnis war schuld daran, daß ich schon nach vierzehn Tagen tiefsinnig über den Taunus wanderte.

In Mainz gründete ich mir später eine neue Existenz – in einer Weinhandlung.«

»Und Esther?« fragte der Korrespondent.

»Sie weilt längst im Reiche der Geister.«

»Und die Herren Sigismund Ritter sel. Söhne und Konsorten?« [381] »Sind längst erloschen, falliert, Passiva 30000 Gulden. Ich aber saß in Mainz und blickte hinab in den grünen Rhein; wenn aber der Donnerstag und der Freitag in der Woche erschien, da mußte ich in den Keller hinabsteigen und die Aufsicht über das Abzapfen der Fässer führen. Ein traurig Geschäft! Umringt von Weinfässern und rohen Küfern, die meinen Schmerz nicht verstanden, verbrachte ich elende Tage; meine Seele war weich damals, der Wein würde mich nicht erquickt haben, der Gesang der Küfer konnte mich nicht erfreuen. Lange dauerte es, ehe ich meinen Gram überwand, lange, ehe ich Esther vergaß. Das Haus, in dem ich arbeitete, hieß Hannes & Flint. Der Herr Flint war stets auf Reisen; der Herr Hannes blieb aber zu Hause und schenkte mir seine Zuneigung. Er sagte mir einst in einer vertraulichen Stunde, ich sei der erste von allen seinen jungen Leuten, der sich nicht nach kurzer Zeit schon der Völlerei ergeben hätte – und sehen Sie, so etwas freut mich, und ich mochte den Herrn Hannes wiederum gern leiden. Hätte er freilich meine geheime Geschichte gewußt, so würde ihm alles begreiflich gewesen sein. Das Weingeschäft ist aber ein verrufenes Geschäft, es verdirbt auf die Dauer den Allerbesten. Die Verführung ist zu groß, der Wein ist zu stark für uns arme Menschen. Wer könnte sich auf die Dauer gegen den Wein verteidigen? Und so kam es, daß ich nach Jahr und Tag doch zuletzt das Glas in die Hand nahm. Anfangs mit Widerwillen, dann mehr lüstern und zuletzt mit Wollust. In jener Zeit geschah es aber, daß einst der Pfälzer ganz vortrefflich geriet; wir nahmen die Bauern auf ganz eklatante Weise mit und machten ein enormes Geschäft. Eine ungeheuere Quantität legten wir zu den billigsten Preisen ein und verkauften [382] wie nie zufor. Es verstand sich also von selbst, daß ich die Hand mit anlegte, eine Schürze vorband und mich vor den Kranen setzte. Dies war gefährlich, und wie mir in Frankfurt die Liebe nur zum Unglück erblüht war, so floß mir in Mainz der Wein nur als ein Wein des Verderbens. Ja, er floß mir! Denn in jener Zeit, wo ich vor den Fässern der Pfalz saß, schwand auf einmal meine frühere Tugend, schwand der Gedanke an meine frühere Esther, schwand alles, und nichts stellte sich dafür ein als – erschrecklicher Durst.

Ich löschte ihn und löschte ihn vom Morgen bis zum Abend und löschte ihn bis zur Nacht, bis ich einschlief, jawohl, einschlief vor einem Pfalzfasse. Mein Kopf war hintenüber gesunken; meine Beine starrten gegen Osten und Westen; in der einen Hand soll ich die Flasche gehalten haben, in der andern hat man nichts bemerkt. So lag ich und schlief, und geträumt habe ich gewiß, denn man hat ein zärtliches Lächeln auf meinem Gesichte bemerkt. Ich weiß aber von allem dem nichts; ich weiß nur, daß an jenem Abende, oder in jener Nacht, plötzlich der ganze Keller erdröhnte, daß jemand plötzlich mit dem Hammer auf ein leeres Faß schlug und ebenso plötzlich mit einer wahren Donnerstimme ›Sassafraß, o Sassafraß!‹ in meine armen Ohren brüllte. Das war der Herr Hannes. Ja, der Herr Hannes, und neben ihm stand der Herr Flint, der eben von der Reise zurückgekommen war und mit seinem Kompagnon noch zu so später Zeit den herrlichen Pfälzer in Augenschein und Genuß nehmen wollte. Niemand hatte vermutet, daß ich noch unter der Erde vorhanden sei. Da treten die beiden Herren zu der Fässerreihe und finden mich, wie ich schlafe, den Kopf hintenüber gesunken, die Beine gen Osten und Westen [383] starrend, lächelnden Gesichtes, in der einen Hand die Flasche, in der andern nichts, und wie ich den Kranen offengelassen habe, und daß aller Pfalzwein davongelaufen ist, und daß der ganze Keller nach Lilien und Rosen duftet, von dem verfluchten Pfälzer, und daß ich einen Schaden angerichtet habe von wenigstens 200 Gulden.

Herr Hannes war ein Ehrenmann; er würde mir das verziehen haben, denn er liebte mich. Aber trunken, wie ich war, rollte ich ihm das leere Faß zwischen die Beine, daß er klagend auf den nassen Boden stürzte, ach! – und nach Herrn Flint stach ich mit dem Heber wie mit einer Lanze. Ich erhielt meinen Abschied. Nach vierzehn Tagen fuhr ich auf einem Gemüseschiffe tiefsinnig den Rhein hinab.«

Die jungen Kollegen des Herrn Sassafraß betrachteten ihren Nestor mit wehmütigen Augen, denn schrecklich erschien es ihren unerfahrenen Seelen, zwei ehrwürdige Prinzipäle auf solche Weise zu beleidigen. ›Wie, wenn dir dies mit Herrn Preiss begegnete?‹ dachte ein jeder. Man schauderte.

»Aber wo landeten Sie nach Ihrer Rheinfahrt?« fragte der Korrespondent.

»Hier in der Stadt«, erwiderte der Alte, »und ich brauche Ihnen wohl nicht zu versichern, daß ich gern in die Dienste des Herrn Preiss trat. Es sind jetzt fünfunddreißig Jahre. Die Kontinentalsperre existierte damals. Die Franzosen standen am Rhein, und wir trieben Schmuggelei. Mit Erfolg! Das versichere ich Ihnen. Der Herr Preiss war damals in der Knospe seines Lebens, voller Tätigkeit, voller Ausdauer und voller Kühnheit in seinen Entwürfen. Ach, indem ich begeistert für ihn [384] arbeitete, habe ich mich selbst vergessen, das ist wahr, aber ich bereue es nicht. Ich hatte auch kaum die Zeit, um an mich zu denken, denn beschäftigt waren wir vom Morgen bis zum Abend. Während sich in aller Welt die Menschen auf die Köpfe schlugen, während Reiche stürzten und neu entstanden, während die Heere kamen und gingen und oft den Strom hinauf und hinunter die Kanonen donnerten, daß einem Hören und Sehen verging, blieben wir nett an Ort und Stelle und suchten alles zu unserm eignen Besten zu lenken. ›Was geht uns die Weltgeschichte an!‹ sagte mir Herr Preiss oft. ›Mögen sich die Kerle einander totschlagen – wenn wir nur leben!‹ Und trefflich tummelten wir uns herum und machten manch gute Bilanz, und als endlich der Friede heranhinkte mit seinen zerschossenen Helden und seinen enttäuschten Phantasten, da standen wir auch groß und herrlich in der Handelswelt da. Und bis auf den heutigen Tag – welcher Name klingt ehrenfester und solider als der des Herrn Preiss? Wer beugt sich nicht vor ihm, dem Gewaltigen?« – Die Stimme des alten Sassafraß zitterte; er stockte. Die Liebe zu seinem rüstigen Prinzipale hatte seine Zunge gelöst. Es fiel ihm plötzlich ein, daß er vielleicht zuviel erzählt, daß er vielleicht zu offen geschwatzt – entsetzt sprang er vom Stuhle empor.

Das ganze Comptoirpersonal folgte seinem Beispiele; es war auch die höchste Zeit, daß man die Sitzung aufhob und an die Arbeit zurückkehrte, denn die Tür wurde geöffnet, und herein trat der Herr Preiss.

Das Erscheinen des gestrengen Herrn wirkte sehr entschieden auf die gehorsamen Diener. Alles war sogleich in voller Tätigkeit; auch der alte Sassafraß wollte sich [385] an sein Pult setzen, da winkt man ihn nach einer andern Richtung. Eine Minute darauf stand er mit dem Prinzipale in dem Privatstübchen, in dem Geheimzimmer des Geschäftes.

»Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen«, begann der Herr Preiss. »Ich muß das jetzt endlich zur Sprache bringen; sehen Sie mal, Herr Sassafraß, verstehen Sie mich recht. Ich bemerke nämlich seit einiger Zeit, daß Sie gar nicht ordentlich mehr arbeiten können. Sie können nicht dafür. Sie sind ein wenig zu früh alt geworden. Aber das darf mich nicht in meinem Geschäfte hindern; und es hindert mich wirklich. Selbst tun Sie nichts Gescheites mehr, und andern Leuten stehen Sie nur im Wege. Der Handel ist sehr schwierig geworden, nur mit jungen Kräften kann man vorwärts. – Ich bin also zu dem Entschlusse gekommen, daß Sie mein Haus verlassen sollen. Ich bedauere dies, denn wir sind lange Zeit gute Freunde gewesen. Es geht aber nicht länger. – So kommen Sie denn morgen lieber nicht mehr wieder; bleiben Sie zu Hause und pflegen Sie sich. Ich will nach Kräften zu Ihrem Unterhalte beisteuern. – Das ganze Gehalt kann ich Ihnen freilich nicht mehr bezahlen, aber verlassen will ich Sie auch nicht. So schlimm ist es nicht gemeint – verhungern sollen Sie nicht. Kost und Logis bezahle ich Ihnen, Sie haben sich ja auch etwas erspart; da leben Sie nun künftig herrlich und in Freuden, Sie alter Junggeselle.«

Der Herr Sassafraß stand wie vom Donner gerührt.

»Lassen Sie sich dies nicht zu sehr zu Herzen gehen; anderen Leuten geht es bald ebenso wie Ihnen. Ich selbst werde ebenfalls alt und muß mich wahrscheinlich in kurzem in meine Einsamkeit zurückziehen. Na, leben Sie [386] wohl! Besuchen Sie uns zuweilen einmal. Ich meine es gut mit Ihnen.«––

Der Herr Preiss verließ das Zimmer.

5. Der Reisende, wie er sein soll

V.

Der Reisende, wie er sein soll

Der Herr Preiss sah so bedenklich aus, als sollte er mit Drillingen niederkommen. Er sprach kein Wort.

Die Arme auf den Rücken legend, marschierte er mit gesenktem Haupte hin und her. Plötzlich blieb er steif vor seinem Pulte stehen.

Während die linke Hand an den großen Lederschirm der grünen Mütze faßte und den gewaltigen Schädel von seiner Bedeckung befreite, verlor sich die rechte Hand in der tiefen Brusttasche des Oberrockes und zog daraus hervor eine große Brille.

Die Brille, mit der der würdige Handelsherr in wichtigen Augenblicken seine Adlernase zu bewaffnen pflegte, war ein höchst antikes Kabinettstück der Familie Preiss, das sich aus den dunkelsten Zeiten, von Geschlecht zu Geschlecht, bis auf unsern Freund fortgeerbt hatte. Mit Gläsern groß wie Wagenräder, eingefaßt von schwerem, silbernem Rahmen und in einem dicken, mit Perlmutter ausgelegten Futterale, erinnerte diese Brille nur zu sehr an jene frommen Pfahlbürger, die weiland alles für die Ewigkeit bauen zu müssen glaubten: ihre muffigen Häuser, ihre plumpen Karossen, ihre plüschenen Hosen und ihre spitzen Nägelschuhe; ja, die nicht ruhig sterben konnten, wenn sie ihren Dienern und Enkeln nicht eine ganze Rumpelkammer voll alter Tabaksbeutel und [387] Schnupftabaksdosen hinterließen, ein halbes Dutzend Meerschaumpfeifenköpfe und wenigstens drei bis vier doppeltumkapselte Uhren mit allem, was daran baumeln muß von Gold und von Silber, von Agat und von Tombak.

Die Brille des Herrn Preiss war der Rest eines derartigen Nachlasses. Wie er von dem antiken Vater auf den modernen Sohn und von dem modernen Sohn auf den frivolen Enkel überging, hatte er sich durch leichtsinniges Verschenken und durch noch verwerflicheres Vertrödeln immer mehr verringert. Solange Herr Preiss selbst noch zu der frivolen Jugend gehörte, war ihm das allmähliche Verschwinden der teuern Hauskleinodien kaum aufgefallen. Als er aber nach und nach zu denselben Jahren kam, in denen seine Vorfahren einst mit ihrem Leben abschlossen und das testamentarische Verzeichnis ihrer Schätze, oder besser ihrer Tugenden und Sünden, d.h. ihrer Aktiva und ihrer Passiva, entworfen hatten: da wurden die Liebhabereien der Väter auch wieder bei ihm lebendig, und er konnte die große Familienbrille nicht aufsetzen, ohne mit Rührung daran zu denken, daß sein Großvater selig schon die Heilige Schrift durch sie gelesen und die Urgroßmutter ihre Waschzettel da durch studiert hatte, vor fast einem runden Jahrhundert.

Zu bemerken ist noch, daß die Brille des Herrn Preiss eine sogenannte Knipp- oder Kneifbrille war, die nicht mit Silber- oder Stahlstäben hinter den Ohren befestigt wurde, sondern die frei auf dem Nasenbein ritt wie ein Reiter auf dem Sattel.

Ein leiser Puff begleitete das Öffnen des Futterals, aus dem ein eigentümlicher Duft emporstieg, ein sonderbares Gemisch verrotteter Familiengerüche.

[388] Als aber das alte Instrument seinem Gehäuse glücklich entschlüpft war, hauchte Herr Preiss auf die trüben Gläser und nahm dann einen Zipfel des saubern Sacktuches und rieb und reinigte sie von aller Unsauberkeit. Vorsichtig hob er sie dann empor und hielt sie gegen das Licht, und als er sah, daß die gewaltigen Gläser noch geradeso hell funkelten wie zur Zeit des bibellesenden Großvaters und der waschzettelstudierenden Urgroßmutter, setzte er das teure Kleinod behutsam auf die Spitze der werten Nase, den Kopf in den Nacken legend, damit die Augen nicht hinübersähen über den silbernen Rand der soliden Fassung.

Jetzt drückte er auch den Steiß in den knarrenden Comptoirstuhl, und weit hinauslangend, griff er mit der linken Hand nach einem Bogen Postpapier, während die rechte den Kiel einer Schwanenfeder faßte, um ihn tief hinabzutauchen in den mystischen Schlund eines riesigen Tintenfasses. –

Schüchtern von ihrer Arbeit aufsehend, waren die Comptoiristen allen Manövern ihres Herrn mit den Blicken gefolgt. Es existierte kein Zweifel mehr: der würdige Prinzipal ging mit dem Gedanken um, eigenhändig einen Brief zu schreiben. Es war dies zwar kein unerhörtes Ereignis, nichtsdestoweniger aber ein Akt von einiger Bedeutung, denn nur zu seiner Unterschrift pflegte sonst der alte Handelsherr die Feder anzusetzen, und es mußten wichtige Dinge im Spiele sein, daß er sich zu eigenhändiger Abfassung einer Epistel herabließ.

Tiefe Stille herrschte in dem weiten Comptoir. Da fuhr die Feder des Herrn Preiss kratzend über das weiße Papier, und hurtig entfloß ihr der folgende Brief:

[389] »Verehrtester Freund!

Erlauben Sie, daß ich Ihre teure Aufmerksamkeit für einige wohlfeile Minuten in Anspruch nehme.

Ich habe einen zweiten Weinreisenden zu engagieren. – Sie werden meine ganze Unruhe begreifen!

Ein Handlungsreisender überhaupt soll schon ein Mensch sein, der alle wünschenswerten Eigenschaften in sich vereint. Unter einem Weinreisenden, namentlich unter einem Rheinweinreisenden, verstehe ich aber vollends ein Individuum, das einem Engel an Anmut und Liebenswürdigkeit und, mit Respekt zu melden, dem Teufel selbst gleich sein soll an Ränken und an Kniffen.

Ein Weinreisender soll ein Mensch sein in der Blüte des Lebens; nicht zu groß und nicht zu klein; nicht zu dick und nicht zu dünn; er soll gelebt haben, ohne abgelebt zu sein; er soll gerieben sein, ohne aufgerieben zu sein. Unbeugsam sei sein Wille, aber biegsam sein Rücken.

Flink müssen seine Augen sein; flink seine Zunge und Lippen; flink die Beine. Schöne, phantastisch gekräuselte Haare würden ihm nicht übel stehen; ein romantischer Schnurrbart dürfte ihn ausnehmend zieren. Seine Hände wird er reinzuhalten haben bis in die Fingerspitzen, und wenn er lächelt, da soll er zwei Reihen Zähne zeigen, schillernd wie zwei Schnüre von Perlen. Lebendig gestikuliere er mit beiden Armen, angenehm kokettiere er mit dem malerischen Kopfe. Mienen und Sprache verändere er nach den Umständen. Um Aufträge bitte er in weichen, wohltönenden Akkorden; um Zahlung trete er in frechen, impertinenten Dissonanzen auf. Höflich sei er gegen Leute, die grob sind; grob gegen Menschen, die höflich [390] sind, denn wo Grobheit ist, da ist Geld, aber wo Höflichkeit herrscht, da ist Heulen und Zähneklappen.

Geschmack besitze ein Weinreisender in der Wahl seiner Kleider. Er erlaube sich die grellsten Farben; nur versöhne er das eine mit dem andern, und nie trage er einen grünen Rock zu einer blauen Hose, nie zu einer dito Weste eine ähnliche Krawatte. Die Krawatte binde er in eine unaussprechliche Schleife, mit den Zipfeln gen Morgen und gen Abend starrend wie die Arme an einem Meilenzeiger, wie die Flügel an einer Windmühle.

Vor allen Dingen befleißige er sich stets der saubersten Wäsche. Sein Hemd sei weiß wie Lilien, rein wie die Unschuld – an seinem reinen Gewissen ist mir nichts gelegen.

Besondere Kenntnisse verlange ich von meinem Reisenden nicht; ich bin damit zufrieden, wenn er so tun kann, als ob er etwas wüßte. Ein oberflächliches Bekanntsein mit den vornehmsten Tagesfragen dürfte übrigens nicht schaden, damit er z.B. die Emanzipation der Juden nicht mit der der Neger oder der Nachtigallen verwechselt oder von der Pomare von Otaheiti so spricht wie von der Pomare des Jardin Mabille und etwa auf Ehre versichert, daß er mit Ihrer Königl. Hoheit eine der seligsten Nächte zugebracht habe, deren sich ein solcher Weinreisender bei seinen beschränkten Spesen schmeicheln könne.

Eine eigene politische Ansicht oder Meinung erlaube ich meinem Reisenden durchaus nicht. Er hänge den Mantel nach dem Winde. Da wird er am besten segeln.

Ohne gerade unhöflich zu werden, führe der Rheinweinreisende an der Table d'hôte immer das große Wort. Er warte mit Neuigkeiten auf, mit Neuigkeiten, die bei [391] einigermaßen gutem Vortrag so alt sein dürfen wie Methusalem. Er mache lustige Späße, die sämtliche Gäste dergestalt zum Lachen bringen, daß ihnen die Brocken im Halse steckenbleiben und daß sie ein über das andere Mal die Gläser zu Munde führen müssen, um nicht sofort zu ersticken. Auch Anekdötchen krame er aus; nach den Anekdötchen auch – Zötchen. Hat er aber auch darin ein Erkleckliches geleistet und sind nach Tisch nur noch die auserlesensten Gäste versammelt und vereinigt eine gemeinsame gute Flasche die würdigsten Häupter: da schreitet er von den Anekdötchen allmählich fort zur Anekdote, von den Zötchen zur Zote.

Oh, Wunderdinge habe ich Reisende durch dergleichen kleine Mittel verrichten sehen; stundenlang saß man zusammen, ein Wort gab das andere, Bekanntschaften knüpften sich im Nu, und Geschäfte machten sich spielend.

Der Rheinweinreisende trinke – aber er trinke nie zuviel. Das letztere überlasse er seiner Umgebung, um sie desto besser in einem schwachen Augenblicke zu überraschen. Neben sein Kuvert pflanze er stets eine vorzügliche Flasche, und wie aus Zufall fülle er daraus die Gläser seiner Nachbarn. Es ist fast immer der Fall, daß sich irgendein törichter Gast dadurch veranlaßt sieht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, und ehe eine Viertelstunde herum ist, wird eine große Schlemmerei an der Tagesordnung sein, die der Wirt natürlich willkommen heißt und mit trefflichen Bestellungen bei dem kundigen Reisenden belohnt.

Frechheit und Ausdauer seien übrigens die Hauptprobleme eines Reisenden. Er setze seinen Stolz darin, grade da Geschäfte zu machen, wo seine Konkurrenten dies am [392] wenigsten für möglich halten. In seinen Unternehmungen lasse er sich durch nichts abschrecken. Wirft man ihn zur Tür hinaus, so springe er zum Fenster wieder hinein. Immer sei er höflich unter solchen Umständen, immer verbindlich, immer wiederhole er, daß er die Ehre habe, seine Offerte in Rheinweinen zu machen, und wie im Himmel mehr Freude über einen einzigen Sünder ist, der Buße getan hat, als über neunhundertneunundneunzig, die der Buße nicht bedürfen, so wird der wahre Weinreisende über den Verkauf eines einzigen Ankers an eine bisher total unfruchtbare Bekanntschaft eine weit höhere Satisfaktion empfinden als über das Placement eines ganzen Stückfasses an einen langjährigen, treuen Kunden.

Doch was nutzt es, mein verehrter Freund, daß ich Ihnen alles so haarklein auseinandersetze? Sie verstehen mich längst, Sie begreifen, was ich wünsche. Sie wissen, daß die Zeiten schlecht sind und daß man nur durch die außerordentlichsten Mittel der steigenden Konkurrenz die Stirn bieten kann. Schauen Sie daher um sich in dem weiten Kreise Ihrer Bekanntschaften, und haben Sie jenes Individuum, jenes Menschenjuwel, jene Perle von einem Rheinweinreisenden, deren ich bedarf, gefunden: so erinnern Sie sich, verehrtester langjähriger Freund, Ihres ebenso aufrichtigen als hochachtungsvoll ergebenen

Preiss.«


Der würdige Handelsherr hatte seine Epistel beendigt. Das ganze Comptoirpersonal hörte dies an dem Geräusche, das das Schreiben des Namens »Preiss« verursachte. Der Herr Preiss kannte die Wichtigkeit einer Unterschrift. Ehe er sich dazu entschloß, seinen werten Namen dem Papiere einzugravieren, machte er gewöhnlich [393] einen Augenblick halt, die geschwungene Feder in der Schwebe haltend, das Haupt sinnend hin und her wiegend. Es war, als ob er plötzlich mit dem Geschriebenen nicht mehr einverstanden sei, als unterschriebe er ein Todesurteil, ja, es war ihm, als ob es: Geld kosten könne – dies war das schlimmste, und er zitterte, und die Augenbrauen zuckten zusammen, und die Brille bewegte sich auf der Nase.

Natürlich dauerte diese peinliche Unentschlossenheit nur eine Sekunde lang, denn während die Linke noch erschrocken emporfuhr, senkte schon die folgsame Rechte wieder die tintegefüllte Feder auf das weiße Papier, jetzt fünf bis sechs mystische Kreise beschreibend, ohne das Papier zu treffen, und dann mit Geprassel hinabfahrend, um mit Blitzesschnelle die sechs Buchstaben des teuern Namens zu vollenden und einen Schwung hinzuzufügen, der einer Seeschlange gleich in grandiosen »Windungen das Ganze fabelhaft umringte.

Mit einiger Selbstzufriedenheit blickte der alte Handelsherr auf seinen schönen Brief und auf seine treffliche Unterschrift – auf die Unterschrift, die schon so glorreich geprangt hatte auf manch großem Wechsel und die so vorteilhaft bekannt war auf allen vaterländischen Börsen. Eine gewisse Rührung wandelte den ehrenwerten Herrn an; er betrachtete sich in seiner Unterschrift wie in einem Spiegel, und er mußte gestehen, daß er ein solides Haus sei, über alle Zweifel gut – und feierlich erhob er sich von seinem Sitze.

Das Futteral der Brille hatte sich indes wieder geöffnet, mit leisem Puff, entsendend den Duft verrotteter Familiengerüche. Hinein schlüpfte die Brille, und Futteral und Brille schlüpften in die Seitentasche des großen [394] Rockes. Herr Preiss bedeckte dann sein gewaltiges Haupt, die Arme über den Rücken kreuzend und wiederum auf und ab durch das Comptoir schreitend mit festem Schritt.

6. Der Reisende, wie er ist

VI.

Der Reisende, wie er ist

Während der Herr Preiss seinem Freunde über den Reisenden schrieb, »wie er sein soll«, näherte sich bereits der Tür »der Reisende, wie er ist«. Es hatte dem Alten in der Tat beim Schreiben des Briefes nur das Bild dieses ausgezeichneten Mannes vorgeschwebt, in dem er längst jenes »Menschenjuwel« besaß, das er eben in einer zweiten Person so sehnlich herbeiwünschte. Ja, der Herr Fridolin Sommer, der erste Weinreisende im Hause Preiss, trat ins Zimmer, leuchtend und lustig wie ein frischgeschlagener Friedrichsdor. Ein Mann in der Blüte des Lebens; ein Mann, nicht zu dick und nicht zu dünn; ein Mann, nicht zu alt und nicht zu jung; ein Mann, der gelebt hatte, ohne abgelebt zu sein; ein Mann, der gerieben war, ohne aufgerieben zu sein; ein Mann, dem die phantastisch gekräuselten Haare nicht übel standen, den der romantische Schnurrbart ausnehmend zierte; ein Mann, dessen Zähne schillerten wie Perlen, dessen Hände weiß waren bis in die Fingerspitzen und dessen Hemd reiner war als die Unschuld, vor allen Dingen reiner als sein Gewissen; ein Mann, der Geschmack zeigte in der Wahl seiner Kleider, dessen Frack, dessen Hose und dessen Weste vortrefflich harmonierten; ja, ein Mann, dessen Krawatte in einer unaussprechlichen Weise gebunden war, mit den Zipfeln gen Morgen und gen Abend starrend [395] wie die Arme an einem Meilenzeiger, wie die Flügel an einer Windmühle.

Fast zu gleicher Zeit den Kutscher bezahlend, einige Befehle in betreff seines Gepäcks erteilend und das Comptoirpersonal flüchtig grüßend, war Herr Sommer bis in die Mitte des Zimmers vorgedrungen, wo der würdige Prinzipal plötzlich in seiner Wanderung innehielt und, das Haupt emporhebend, jetzt mit dargebotenen Händen dem vortrefflichen Diener bewillkommend entgegeneilte.

Herr Sommer verneigte sich ehrfurchtsvoll. Den Hut vom Kopfe reißend und den Kopf verbindlich lächelnd auf die Brust senkend, riskierte er mit herabhängenden Armen und mit anmutig verschränkten Beinen dasselbe Kompliment, welches schon so viele Leute entzückt hatte, wenn er ihnen in melodischem Tone die frohe Botschaft verkündigte, daß er der Herr Fridolin Sommer sei, der das Vergnügen habe, das Haus Preiss zu repräsentieren, und sich die Ehre gebe, ihnen seine Offerte in Rheinweinen zu machen, beste Qualität und ausnehmend billig.

Erst nach zweimaligem Wiederholen dieser wundersamen Verbeugung wagte er die Hände des Prinzipals mit den seinigen zu berühren und unter herzlichem Druck und Schütteln auf den Ruf: »Ach, da sind Sie ja!« die geistreiche Antwort: »Ja, da bin ich!« folgen zu lassen und: »Ich hoffe, daß Sie sich wohlbefinden, Herr Preiss, und daß Sie nicht an der Zukunft verzweifeln in diesen schlimmen Zeiten, wo die Konkurrenz immer größer wird – doch wie befindet sich Ihre werte Familie?«

Da war der erste Sturm des Begrüßens vorüber. Die Rückkehr des Herrn Sommer war ein Ereignis. Der Buchhalter Lenz hatte unwillkürlich drei große Prisen genommen; [396] August, der Korrespondent, legte die Feder auf den Rand des Tintenfasses, und der Lehrling hörte auf im Kopieren der Briefe, andachtsvoll den großen Mann betrachtend, der so glücklich war, mit dem gestrengen Prinzipale händeschüttelnd die freundlichsten Grüße wechseln zu dürfen.

Weder dem Buchhalter noch dem Korrespondenten noch dem Lehrling war es indes erlaubt, schon jetzt ihren Gefühlen weiter Luft zu machen, denn der Prinzipal bugsierte seinen Reisenden sofort in das Geheimkabinett des Geschäftes, wo er ihn mit den Worten: »Nun, was haben Sie denn auf Ihrer Tour ausgerichtet?« in die eine Sofaecke drückte, während er selbst aufmerksam horchend in der andern Platz nahm.

»Die Zeiten sind schlecht geworden – –«, begann Herr Sommer und sah plötzlich so trostlos aus wie ein protestierter Wechsel. –

Wir müssen bei dieser Gelegenheit ausdrücklich bemerken, daß es unter Kaufleuten Sitte ist, stets über schlechte Zeiten zu klagen. Und wären die Zeiten so brillant wie sie sich ein einigermaßen ehrlicher Mann nur denken kann, ja wälzte sich die halbe Kaufmannschaft im Golde herum: die ehrenwerten Ritter von der Bank und der Börse, wenn man sie nach ihrem Verdienste fragte, würden dennoch die Hände ringen und wie Nilpferde, die am Zahnweh leiden, jammernd erwidern, daß die Welt sich mit jedem Tage verschlechtere, daß man kaum das Salz verdiene, geschweige das liebe tägliche Brot, und daß sie alle gesonnen seien, nächstens den ganzen Kommerz an den Nagel zu hängen, um in der Stille und Zurückgezogenheit auf irgendeinem billigen Dorfe von jenem wenigen Fette fortzuexistieren, das ihnen des [397] Schicksals Unerbittlichkeit aus frühern, bessern Zeiten übriggelassen.

Dies ewige Klagen über schlimme Tage, über schlechten Verdienst ist nicht nur jetzt an der Tagesordnung, nein, die hübschesten Anekdoten aus den neunziger Jahren beweisen uns, daß sich damals die Handelswelt nicht weniger darin gefiel, stets die Ohren hängen zu lassen, um hinter möglichst sauern Gesichtern die heimliche Freude zu verbergen, daß der schlaue Gott des Gewinstes ihre Unternehmungen so trefflich unterstützt hatte. So wird uns von einem alten märkischen Fabrikanten erzählt, daß er einem jüngern Verwandten auf die Frage, ob es wohl noch der Mühe wert sei, diese oder jene Fabrik anzulegen, mit schmerzlicher Stimme zur Antwort gegeben habe, er möge sich derlei tolle Pläne aus dem Kopfe schlagen, die Zeiten seien gar zu schlecht geworden, man verdiene kaum 90 Prozent mehr. Selbst auf die Schriftsteller der Handelswelt ist die Sitte des Lamentierens übergegangen, denn fast alle englischen Nationalökonomen schließen ihre Räsonnements mit jenem großen Stoßseufzer über den Verfall des Handels, decline of commerce, – die armen Engländer, die armen Kaufleute!

»Verehrter Herr Preiss, die Zeiten sind schlecht geworden –«, begann der Reisende Sommer, als er mit seinem Prinzipale allein war. »Die Konkurrenz erdrückt uns. Man arbeitet wie bei einer halb verlorenen Schlacht, wie in den Schrecken eines Schiffbruches – ja, wahrlich, das Geschäft bietet wenig Freude mehr.«

»Trösten Sie sich«, unterbrach hier der würdige Prinzipal, dessen feine Nase nur zu gut roch, daß der erfindungsreiche Sommer mit dem Gedanken umging, durch [398] die einleitende Jeremiade das glückliche Resultat seiner Bemühungen doppelt belohnenswert erscheinen zu lassen, »trösten Sie sich, liebster Herr Sommer, wir sind hier unter uns, ersparen Sie sich alle überflüssigen Phrasen. Es ist zwar richtig, daß sich die Welt mit jedem Tage verschlechtert, aber wir Menschen werden auch mit jedem Tage gescheiter, und so korrigieren wir leicht das grause Verhängnis, so daß am Ende des Jahres, wenn wir Bilanz machen, stets das alte gute Gleichgewicht wiederhergestellt ist. Sagen Sie mir daher frei heraus, was Sie auf Ihrer Reise durchgesetzt haben. Geben Sie mir einen vollständigen Reisebericht.«

Da räusperte sich Herr Sommer und erwiderte mit Anmut: »Zuerst ging ich zu unsern Landsleuten und Nachbarn, die wie alle Rheinländer noch dieselben empfänglichen Gemüter haben. Sie interessieren sich für alles, schwatzen womöglich über noch mehr, und ihre Konversation kommt zugleich mit ihrem Durste erst dann plötzlich ins Stocken, wenn ihnen nachts im Wirtshause einfällt, daß sie den Hausschlüssel vergessen haben und daß die zärtliche Ehehälfte das schrecklichste Donnerwetter verhängen wird, wenn die Sitzung nicht sofort bis zum nächsten Abend verschoben wird. Oh, solange der Hausschlüssel des Rheinländers einzige Waffe ist, solange wird der Absatz der verwerflichsten Weinsorten nie eine Unterbrechung erleiden. Ich habe mich aufs neue hiervon überzeugt indem ich sogar unsern sauern Moselwein bis auf den letzten Tropfen verkaufte.«

»Unsern sauern Moselwein? Ei, das ist mir ja sehr lieb!« Der besondere Nachdruck, den Herr Preiss auf das Wort sehr legte, bewies, daß der fragliche Moselwein sehr, sehr sauer sein mußte.

[399] »Aber wen haben Sie mit dieser hoffnungsvollen Partie beglückt?«

»Unsern speziellen Freund, den Wirt ›Zu den Drei Lilien‹.«

»Arme Lilien! Offenherzig gestanden, Herr Sommer, ich bin der festen Meinung, daß dies das letzte Geschäft ist, was wir mit diesem Manne gemacht haben. Und glauben Sie nicht, daß wir die entsetzlichsten Schikanen bei diesem Verkauf erleben werden? Fürchten Sie nicht, daß der Mann die ganze Partie zu unsrer Verfügung lassen wird, sobald er sie nur von ferne berochen hat?«

»Bei einem Wirte ist freilich alles möglich. Aber bis dahin mache ich ja in den ›Drei Lilien‹ wieder meine persönliche heitere Aufwartung. Persönlich macht sich alles besser. Mein ehrliches Gesicht, meine Überredungsgabe, mein liebenswürdiges Betragen, das Feuerwerk meiner schlechten Witze, die Sündflut meiner schönen Anekdoten – alles dies ist zu berücksichtigen, alles dies wird dazu beitragen, um das Rückgängigwerden des Geschäftes zu verhindern. Und sollte unser alter Freund dennoch in einiges Grübeln verfallen, da sinke ich gerührt an seine Brust, küsse seiner Frau die Hand und, schwöre seiner häßlichen Tochter Julie –«

»Hören Sie auf, Herr Sommer! Ihre Herzensangelegenheiten sind mir gleichgültig; Ihre Verkäufe werden mir stets willkommen sein.«

»Aus den Rheinlanden pilgerte ich ins Wuppertal. Die Leute jener Gegend zerfallen in zwei Klassen: in sogenannte ›Wilde‹, das heißt vernünftige Menschen, die leben und leben lassen und ihre Weine da kaufen, wo sie am besten und am billigsten sind, und in sogenannte ›Feine‹, [400] das heißt Pietisten oder horntolle Kerle, mit denen man nur dann ins Geschäft kommt, wenn man sich wie sie auf den Kopf stellt und den Steiß mit Fäusten schlägt nach der Melodie: ›O weh mir armen Sündenbock‹.

Die Luft im Wuppertale ist frisch, und beide Parteien trinken bedeutend; da aber die erstere der ganzen Konkurrenz offensteht, so ist mit der zweiten bei weitem mehr anzufangen, falls man sich ihren Hokuspokus und ihren christlichen Jargon richtig anzueignen weiß. Dies zu übernehmen hielt ich für eine mir würdige Aufgabe. Ich zog daher meine rheinische Karnevalsjacke aus und erschien im schwarzen Frack, mit umgeklappten Vatermördern wie ein Seminarist, mit Haaren, die auf der Stirn gescheitelt wie bei einem Bonner Professor, mit stieren, blöden Augen wie eine alte Eule bei Sonnenaufgang, den Kopf auf der linken Schulter und in den Mundwinkeln ein wehmütiges Lächeln.

Ich will mich hängen lassen, wenn ich nicht wie der größte Jammerkerl aussah, den je ein vernünftiger Mensch vor die Tür geworfen hat. In dieser Maske ging ich sonntags in die Kirche, schlug die Hände über den Kopf zusammen wie ein Telegraf, entfaltete mein großes Gesangsbuch und brüllte wie ein frommer Wüstenleu. Meine Nachbarn raunten sich sofort in die Ohren, daß ich ein fremder Kandidat sein müsse, der wahrscheinlich nächstens zur Probe predigen werde, der etwa auf die bevorstehende Synode pilgern oder sonst in kirchlichen Zwecken eine Reise an den heiligen Strand der Wupper unternommen, und der Gesang war auch kaum vorüber, als schon ein Mensch, der wie ein Laubfrosch bei schlechtem Wetter aussah, sich verschämt zu mir herüberbog, mich ›Bruder‹ nannte und mir eine Prise offerierte.

[401] Von dieser Prise datiere ich eine der besten Geschäftsreisen, die ich je gemacht habe; denn wenn man nach dem Schlusse der Predigt auch erfuhr, daß ich zwar kein Kandidat sei, so überzeugte man sich doch davon, daß ich große Lust verspürte, einst ins Himmelreich zu kommen, und die Folge davon war, daß ich mit meinem neuen Bekannten schon am selben Abend in einem christlichen Bruderkränzchen so treulich zusammensaß, als hätte ich seit zehn Jahren nichts wie Gebetbücher gefressen.«

»Sie müssen sich schön in dieser Gesellschaft ausgenommen haben –«, unterbrach Herr Preiss.

»Vortrefflich!«

»Aber die Geschäfte –?«

»Sie haben recht, ich will Sie nicht länger warten lassen. Die Sache machte sich vorzüglich. Nachdem nämlich ein frommer Wechselmakler das Einmaleins nach der Melodie ›Wer nur den lieben Gott läßt walten‹ gesungen, ferner ein frommer Bankier seinen Kurszettel in ein Gebet übersetzt und andächtig gesprochen, hierauf ein frommer Häuserspekulant seine uneigennützigen Absichten in betreff eines neu zu errichtenden Gotteshauses dargetan und schließlich ein frommer Rentner den Segen gesprochen und darauf hingewiesen hatte, wie es fürnehmlich des Christen Pflicht sei, sich Schätze zu erwerben, so da nicht Motten und Rost fressen: trat vor dem Auseinandergehen der frommen Bruderschaft noch ein Mann auf –«

»Welcher Mann?«

»Ein Mann, Herr Preiss –«

»Schießen Sie los!«

»Ich selbst trat auf!«

»Hören Sie mal, Herr Sommer, das war frech.«

[402] »Sehr frech, aber ich fühlte mich vom Heiligen Geiste inspiriert, und ich trat auf und machte den Vorschlag –«

»Welchen Vorschlag?«

»Daß sich alle Frommen des Wuppertales dazu vereinigen möchten –«

»Um Ihnen 10 Stückfaß Neununddreißiger zu bestellen?«

»Nein, um einen Mäßigkeitsverein zu stiften –«

»Sind Sie des Teufels?«

»Ja, um einen Mäßigkeitsverein zu stiften, der allen Wein, allen Schnaps und alles Bier ausschließe und die Bevölkerung des Wuppertales zu dem Genuß einer der größesten Gottesgaben, zu dem Genuß des kalten Wassers zurückführe.«

»Aber ich verstehe Sie nicht, Herr Sommer.«

»Dasselbe war der Fall mit der ganzen Versammlung, der Skandal wurde allgemein. Ich ließ mich aber nicht irre machen und berief mich auf das 23. Kapitel der Sprüche Salomonis, Vers 29 bis 32, wo der Trunk entsetzlich blamiert wird.«

»Ich hätte Ihnen diese Bibelkenntnis nicht zugetraut.«

»Dieser Spruch machte die frommen Brüder stutzen. Der Handschuh war hingeworfen. Die Debatte begann.«

»Verschonen Sie mich!«

»Alte und junge Leute, rote und blasse Nasen, runde und keine Bäuche suchten mich zu widerlegen. Man machte mich darauf aufmerksam, daß die angeführte Stelle mit andern Versen ganz im Widerspruch stehe. Salomo selbst spreche im Hohenliede in den blumenreichsten Ausdrücken von Trauben, Weinstöcken und Weinkellern. Außerdem habe Christus eigenhändig das Wasser in Wein verwandelt und endlich sei mein Zitat [403] aus dem Alten Testamente, könne also im Wuppertale, wo man sich mehr an die vier Evangelien halte, von gar keiner Bedeutung sein – genug, ich fiel mit meinem Vorschlage glänzend durch.«

»Gott sei Dank!«

»Wehmütig gestand ich meine Niederlage ein, indem ich hinzusetzte, daß ich denn jetzt, wo eine so gelehrte Gesellschaft meine Skrupel überwunden habe, allerdings fortfahren werde, für das Haus Preiss in Rheinweinen zu arbeiten, obgleich mir diese Beschäftigung seit einiger Zeit so gottlos erschienen sei, daß ich eben im Begriff gewesen wäre, mich von dieser vermeintlichen Sünde durch jenen Mäßigkeitsvorschlag auf immer loszusagen.«

»Herr Sommer, Sie sind ein großer Heuchler!«

»Und alles in Ihrem Interesse, Herr Preiss. Sie können sich gar nicht vorstellen, welchen Effekt dieser Schluß machte. Man umringte mich; man wünschte mich näher kennenzulernen; man lud mich für alle Tage der Woche zu Gaste; die so ganz gegen mein Interesse unverhohlen ausgesprochenen Regungen meiner schönen Seele machten die Runde von Mund zu Mund.« »Und der Erfolg war?«

»Daß ich in den nächsten Tagen Aufträge von allen Ecken und Enden erhielt. Der fromme Wechselmakler, der das Einmaleins sang, bestellte einen Anker Laubenheimer zu 36.«

»Und der Bankier, der den Kurszettel betete?«

»Bestellte eine Ohm Scharlachberger zu 70.«

»Und der fromme Gotteshausspekulant?«

»Erbittet sich zwei Ohm Traminer zu 90.«

»Und der fromme Kapitalist, den nicht Motten und nicht Rost fressen?« [404] »Wünscht umgehend ein Stückfaß Steinberger Kabinett zu 120. Alles comptant. Doch erlauben Sie, dem Manne, der mich Bruder nannte und der mir eine Prise offerierte – –«

»Ja, diesem?«

»Ja, diesem gab ich einen Anker Piesporter gratis.«

Vater Preiss konnte nicht umhin, wohlgefällig zu lachen.

»Aus dem Wuppertal zog ich nach Westfalen, in unser geliebtes Münsterland, in das Land der preußischen Regierungsräte und der geistlichen Herren. Ich brauche Ihnen nicht zu versichern, daß sich unsre alten Freunde noch sehr wohl befinden. Nur der Kanonikus Schmits ist gestorben; er wollte grade unsern Probe-Anker Erbacher zu 70 einer gewissenhaften Prüfung unterwerfen, als er plötzlich in ein besseres Jenseits abberufen wurde.«

»Schade, der Mann zahlte bar.«

»Das Münsterland liebe ich vor allen deutschen Gauen. Ein solcher Durst und so hartnäckige Trinker sind mir noch nie vorgekommen. Und die Leute trinken etwas Gutes. So fand ich z.B. den alten Domherrn Valentin, der gerade in seinem Studierzimmer damit beschäftigt war, eine Abhandlung über die unbefleckte Jungfrau zu schreiben, hinter einer wahren Batterie von teils leeren, teils halb ausgetrunkenen Flaschen Rüdesheimer, Markobrunner usw. Als er mich hereintreten sah, jauchzte er, als ob ihm der Heiland in Person erschienen, fiel mir um den Hals und ruhte nicht eher, als bis ich seinen ganzen Keller durchgetrunken und – Ave Maria purissima! – solche Kreise im Zimmer beschrieb, daß das Manuskript über die unbefleckte Jungfrau samt Tintenfaß und Sandbüchse, samt Flaschen und Folianten dem allgemeinen [405] Umsturze verfiel. Der alte Valentin hielt sich die Seiten vor Lachen, und gemeinschaftlich setzten wir uns dann auf die Trümmer seines Studierzimmers und sangen das Lied von der Ratt im Kellernest. Einige Stunden später sang er die erste Messe. Bestellt eine Ohm Steeger zu 60.«

»Und der alte Herr von Säuerig?«

»Ist noch immer derselbe alte Gimpel wie früher. Jetzt hat er wieder eine neue Marotte; er ist nämlich vor kurzem in Berlin gewesen und bildet sich nun ein, daß er bei Hofe gern gesehen sei. Außerdem hält er sich für einen großen Politiker. Der alberne Kerl teilte mir ›die höchsten Staatsgeheimnisse‹ mit, und erst am Abend, als wir in seinem Gemüsegarten durch die Brennesseln spazierten, blieb er plötzlich stehen und sagte mir, indem er auf eine alte hölzerne Statue zeigte: ›Herr Sommer, lassen wir den Staat einstweilen ruhen; es mögen viele Dinge im Staate vorgehen, welche uns gerechte Ursache zur Besorgnis geben, aber, Herr Sommer, ich versichere Ihnen hier an diesem schönen Orte, hier zu den Füßen dieses Olympiers, daß die zwei Ohm Assmannshäuser, die Sie mir im verflossenen Herbst gesandt haben, von der niederträchtigsten Qualität sind.‹ – ›Herr von Säuerig‹, erwiderte ich ihm, ›Sie sind ein zu großer Staatsmann, um eine solche Kleinigkeit erwähnen zu dürfen. Lassen Sie die zwei Ohm von Ihren Dienstboten austrinken, und ich will Ihnen zwei neue Fässer senden, die Ihrer würdig sind.‹ Natürlich war Herr von Säuerig ein viel zu großer Staatsmann, um so etwas refüsieren zu wollen.«

»Und was macht unser Freund Söffig?«

»Ja, der alte Söffig ist sehr aufgebracht. Er ist der Meinung, daß wir ihn stets herzlich schlecht bedient haben.« [406] »Kann wohl sein – –«

»Um den Mann zu besänftigen, bot ich ihm unsern Vorrat Brauneberger zu einem sehr billigen Preise an. Aber vergebens. Und ich würde vielleicht ohne Auftrag von dannen gegangen sein, wenn mir nicht noch zur rechten Zeit eingefallen wäre, daß der alte Söffig in der Liebe zu seiner Frau und zu seinen Kindern die schwächste Seite hat. Ich stellte mich daher in Position und sprach mit Pathos: ›Teuerster Herr Söffig, ich gestehe, daß Sie ein hübsches Detailgeschäft haben und vor der Not des Lebens gesichert sind. Aber bedenken Sie, was Sie tun. Eine der billigsten Partien Brauneberger entgeht Ihnen. Denken Sie an Ihre Frau und an Ihre Kinder, und wenn Sie einen Rest von Liebe für sie im Herzen tragen, so vernachlässigen Sie nicht so rücksichtslos die Interessen Ihrer armen Familie. Ja, besinnen Sie sich, ehe es zu spät ist. Weisen Sie meine Offerte nicht von sich! Akzeptieren Sie diese Partie Brauneberger 5 Taler unter Kostpreis!‹«

»Und er tat es?«

»Das versteht sich von selbst. Sein gutes westfälisches Herz konnte nicht widerstehen.«

»Es ist mir lieb, daß wir den Brauneberger los sind!«

So fuhr der Reisende Sommer fort, seinem Prinzipale zu erzählen, wie er die Provinzen des Rheines mit guten und schlechten Gewächsen überschwemmt hatte, hier durch seine Überredungsgabe siegend, dort durch schlaue Verstellung, und der Gott der Kaufleute und der Diebe blickte lächelnd hinab auf die treusten seiner Jünger.

Der Buchhalter Lenz, der Korrespondent und der Lehrling saßen indes auf ihren Comptoirstühlen und ärgerten sich nicht wenig, daß ihnen der Reisebericht des [407] gewandten Geschäftskollegen entging. »Sollte es nicht möglich sein, die Türe leise zu öffnen?« fragte endlich verschämt der Lehrling. »Das würde ein zu großes Vergehn sein!« erwiderte der Korrespondent. »Ein zu großes Verbrechen!« meinte der Buchhalter.

»Meinen Sie nicht, daß wir den Schlüssel leise aus dem Schloß ziehen könnten?« fuhr der Lehrling fort. »Vielleicht ließe sich wenigstens etwas hören.«

»Lauschen ist ein Vergehen!« erwiderte der Korrespondent. »Ein Verbrechen!« meinte der Buchhalter.

»So lassen Sie uns die andern Türen und ein Fenster öffnen, vielleicht daß dann die Tür des Geheimzimmers von selbst aufspringt –«

Dieser Vorschlag schien selbst dem Buchhalter durchaus unschuldig zu sein, und im Nu flogen Fenster und Tür offen, und das Schloß des Geheimzimmers, durch den Luftzug erschüttert, knarrte in seinen Riegeln und sprang zurück.

Leider hatte der Reisende Sommer in diesem Augenblick seinen Bericht schon so gut wie beendigt. Oberflächlich erkundigte sich Herr Preiss nur noch nach einigen Kunden, die der Reisende nicht genannt hatte.

»Was macht der Herr Bengel?«

»Hat sich in Spekulationen aufgelöst.«

»Wie befindet sich Madame Meyer, die Wirtin in der Schenke?«

»Danke für gütige Nachfrage, will erst bestellen, wenn der Frühling kommt –«

»Und die Veilchen blühn – aber bestellte Ihnen Herr Freundlich nichts?«

»Nein, dieser Mann war sehr unfreundlich. Er drohte, mich wie ein falsches Stück Geld auf den Tisch nageln [408] zu wollen, wenn ich mich je wieder bei ihm sehen ließe.«

»Da nehmen Sie sich doch lieber in acht. Aber was treibt unser alter Freund Sebastian Johannes?«

Herr Sommer, der alle Fragen seines Prinzipals bisher so rasch und lustig beantwortet hatte, zog bei dem Namen Sebastian Johannes plötzlich sein Gesicht in die verhängnisvollsten Falten.

»Nun, wie steht es mit dem Johannes?« Der Alte blickte seinen Reisenden forschend an.

»Herr Preiss«, fuhr dieser endlich fort, und seine Stimme zitterte, »Herr Preiss, ich hatte es gut mit ihnen vor; ich wollte Ihnen den heutigen Tag nicht verderben; Herr Preiss – ach, Herr Preiss, der Sebastian Johannes –«

»Nun, rücken Sie mit der Sprache heraus!«

»Der Sebastian Johannes – –«

»Nun, was ist mit ihm?«

»Der Johannes ist – –«

»Heiliger Gott, er ist doch wohl nicht –«

»Fassen Sie sich, Herr Preiss!«

»Ist er –?«

»Kaputt ist er – –«

»Kaputt!« seufzte der Alte.

»Vierzig Prozent in der Masse.«

Tiefe Stille entstand. Aus dem Comptoir herüber klang aber bald darauf vernehmlich die Stimme des Buchhalters: »Folio 213. Sebastian Johannes: 522 Taler, 10 Silbergroschen, 6 Pfennig im Debet.

[409]

7. Der Makler

VII.

Der Makler

Jeder, der einmal in einer größern Handelsstadt war, in Liverpool, in Amsterdam, in Hamburg usw., wird bemerkt haben, daß es unter den Tausend und aber Tausend Menschen, die sich auf den Straßen aneinander vorübertreiben, immer einige Nasen, einige verzwickte Augen, einige krumme Rücken oder schlenkernde Arme gibt, welche einem bei jeder Gelegenheit, zu jeder Tageszeit in den geräuschvollsten Stadtvierteln von neuem begegnen.

Man meint zuletzt, man habe die Leute schon früher gekannt, und da man sich davon überzeugt, daß sie alle Menschen kennen und fast alle grüßen und auch von den meisten wiedererkannt und wiedergegrüßt werden, so wechselt man eines Morgens vielleicht ebenfalls einen Gruß mit ihnen, aus Zerstreuung, aus Zufall, um nachher unwillkürlich zu lachen, wie man zu einer solchen Intimität mit einer total fremden Nase kommen konnte.

Diese ewigen Pflastertreter und Grüßer der Handelsstädte unterscheiden sich von den geputzten Flaneurs der Bäder und Residenzen durch ihr einfaches, ja sogar schäbiges Äußere. Abgelaufene Stiefel, staubige Hosen, fatale Röcke und antike Hüte bilden nur zu oft das Kostüm dieser Allbekannten und Allkennenden. Man sieht, es sind Leute, die nicht der Parade und des Pläsiers wegen umherlaufen. Ihr Gang ist zu rasch für die süße Beschäftigung des Nichtstuns. Die Bewegung ihrer Arme ist zu lebendig für ein Dasein der stillen Betrachtung, und ihre Nasen und Augen sind zu ausdrucksvoll, als daß man vermuten dürfe, sie würden je nach etwas anderm umspüren [410] als nach sehr praktischen und einträglichen Dingen. Folgt man einem solchen Menschen mit den Blicken, so wird man ihn nach hundert Grüßen und Komplimenten endlich seitwärts springen und in den heiligen Hallen eines Geschäftslokales verschwinden sehen. Zwei Drittel dieser Leute, die überall und nirgends sind, die Gott und alle Welt kennen, gehören in den Handelsstädten zu der ehrsamen, wohlbekannten Gilde der Makler, zu jenen emsigen, höchst nützlichen Individuen, welche die Geschäfte zwischen Käufer und Verkäufer vermitteln und gewissermaßen im Handel die Rolle übernehmen, welche die Kuppler in der Liebe spielen.

Der Herr Emsig, der eben das Comptoir des Herrn Preiss betritt, ist einer der vollkommensten Leute seines Zeichens. Sparsam, tätig, ausdauernd, gefällig, immer auf dem Sprunge, immer in Transpiration, läuft er vom Morgen bis zum Abend von Haus zu Haus, von Tür zu Tür, hier Neuigkeiten hörend, dort Neuigkeiten erzählend, hier Aufträge empfangend, dort Aufträge verrichtend, hier dem Verkäufer auf Ehre und Seligkeit versichernd, daß er nur 3/8 geben könne, wenn er streng genommen 1/2 in der Tasche hat, und dort dem Käufer auseinandersetzend, daß er 99 geben müsse, wenn auch Aussicht vorhanden ist, daß man zu 98 kaufen kann. Und dabei immer die Ehrlichkeit und Offenherzigkeit selbst, ohne Geheimnis, voller Leutseligkeit und schlechter Witze. Ein Mann, zu allem zu gebrauchen; ein Mann, dem man nur das erste Wort zu sagen braucht, weil er das zweite von selbst weiß; ein Mann, der sich selten irrt, der in jedes Herz und in jede Tasche zu sehen versteht, der in den kältesten und unbeweglichsten Gesichtern so richtig buchstabiert wie in einem grobgedruckten Buche; ein[411] wahrer Sohn Merkurs, des listigen Gottes, als dessen schalkhafter Geist er lügend hin- und herüberschwebt vom Käufer zum Verkäufer und vom Verkäufer zum Käufer.

Durch das ewige Rennen und Stürzen ist Herr Emsig fast den ganzen Tag außer Atem. Er spricht daher nur in kurzen Sätzen.

»Schönen guten Morgen, Herr Preiss. – Wie befindet sich Ihre werte Gesundheit? – Wünsche wohl geruht zu haben. – Was gibt es Neues?«

»Neuigkeiten erwarte ich von Ihnen«, erwiderte Herr Preiss, indem er, ohne den Makler anzusehen, in seiner Arbeit fortfuhr.

»Der Kaiser von China hat im Tode gelegen; die Königin von England hat schon wieder ein Kind gekriegt; in Polen ist ein Froschregen vorgekommen. Was sagen Sie dazu?«

»Ich glaube, daß es wahr ist.«

»Ich nicht; der Kaiser von Rußland ist nach Warschau abgereist; der König von Preußen hat einen Gichtanfall gehabt; in Wien herrschen die Blattern; Ruhe in Frankreich. Was sagen Sie dazu?«

»Sonst nichts Neues?«

»Sonst gar nichts Neues. In München sind Bierrevolten vorgefallen. König Ludwig soll sich sichtbar verjüngen; es verbreiten sich wunderliche Gerüchte – Lola Montez soll schwanger sein. Was sagen Siedazu?«

»Daran sind Sie gewiß schuld!«

»Bedaure, daß ich nicht mehr die Ehre habe – die Dreiprozentigen sind gestiegen; sehr schönes Wetter heute; viel Animo im Geschäft; kann ein Pöstchen Frankfurter gebrauchen. Was sagen Sie dazu?«[412] »Kann nicht damit aufwarten.«

»Werde es sonstwo bekommen. Überall Spekulationslust. Geld ist billig. Leute haben recht. Wollen Sie nichts unternehmen? Können reich werden. Was sagen Sie dazu?«

»Bin schon reich.«

»Sollten sich an der neuen östreichischen Anleihe beteiligen; sollten Effekten kaufen. Gibt nichts besseres als den Effektenhandel. Was meinen Sie dazu?«

»Der Effektenhandel ist ein unmoralisches Geschäft!«

»Unmoralisch! Was ist unmoralisch? Geld verlieren ist unmoralisch! Aber billige Preise – eine Steigerung vor der Tür – Aussicht auf Gewinn: das ist Humor, das ist Moral! Sie sind der moralischste Mensch, wenn Sie in den Effekten spekulieren. Unmoralisch! – Jetzt sage ich nichts mehr.«

»Um so besser!«

»Ach, Herr Preiss, ich kenne Sie gar nicht mehr. Sie haben sich sehr verändert. Sind die schönen Zeiten vorüber? Haben Sie aufgehört, sanguin zu sein? Wollen Sie schon jetzt auf Ihren Lorbeern ruhen? Wollen Sie schon jetzt mit Salomo sprechen, daß alles eitel ist? – Oh, Herr Preiss, ich bedaure Sie, ich weine. Ich bin betrübt, daß Sie nicht begreifen können diese hohe Politik des Effektenhandels, jenen erhabenen Gedanken, sich durch ein Geschäftchen in Staatspapieren an der Weltgeschichte unsres Jahrhunderts zu beteiligen, einzugreifen in den Gang der Begebenheiten und eine Rolle zu spielen unter den größesten Männern, den Finanziers der Jetztzeit, in deren Händen die Geschicke liegen, des Orients und des Okzidents –« Herr Emsig schnappte nach Luft; er konnte nicht mehr. – »Was sagen Sie dazu?«

[413] »Gar nichts!«

»Gar nichts? Nichts sagen Sie dazu? Habe ich je so etwas gehört? Was sagen Sie denn zu den östreichischen Metalliques? Was denken Sie davon?«

»Ich denke an den Spielberg, an den Korporalstock. Ich meine, ich würde geprügelt.«

»Oder wollen Sie spanische? Was fällt Ihnen dabei ein?«

»Die Inquisition, Ketten und Schafott.«

»Oder bei russischen?«

»Sibirien und die Knute. Sind Sie bald fertig?«

»Ja, ich bin fertig, ganz fertig. Ich habe genug, genug bis an den Jüngsten Tag. Aber geben Sie mir Ihre Gründe für diese Abneigungsgründe, Herr Preiss! Ohne Gründe gehe ich nicht aus Ihrem Comptoir.«

»Sind Stockprügel keine Gründe?«

»Nein, es sind Stockprügel.«

»Sind Inquisitionen und Ketten keine Gründe?«

»Nein, es sind bloß die Komparative der Stockprügel.«

»Sind Sibirien und die Knute keine Gründe?«

»Nein, es sind bloß Superlative.«

»Hören Sie mal, Sie Superlativ von einem Fondsmakler, lassen Sie mich in Ruhe. Ich soll den Regierungen Geld leihen? Ich soll verrottete Staaten wegen ihrer schlechten Politik unterstützen? Ich soll korrumpierten Höfen Gelegenheit geben, sich in allen Greueln der Ausschweifung herumzuwälzen? Für stehende Heere beitragen, die uns Krieg und Pestilenz über den Hals bringen? Ich? Hören Sie mal, Herr Emsig –«

»Habe alles gehört, Herr Preiss, schaudre, ja, ich schaudre und weine. Es ist wahr, es ist kein Zweifel mehr, [414] der Herr Preiss sind Demokrat geworden; der Herr Preiss ein Demokrat! ›Verrottete Staaten – korrumpierte Höfe – Greuel der Ausschweifung –!‹ So sprechen die Demokraten; Leute unter Null; Menschen, 10 Prozent unter Pari; Kerle mit 40 Prozent Rabatt; arme Schlucker, bei denen der Schöpfer ausrief: Fort mit Schaden! Ja, so sprechen die Demokraten. Der Herr Preiss ein Demokrat! Seit Moses ist kein größeres Wunder geschehn. Schönen guten Morgen, Herr Preiss!«

Herr Emsig schritt der Türe zu. –

Nach diesen heitern Präliminarien, die sich in ein oder andrer Weise bei jedem Besuche des Herrn Emsig erneuerten, hielt es endlich Vater Preiss für geraten, von seiner Arbeit aufzuschauen und den Comptoirstuhl so herumzudrehen, daß der Rücken an das Pult lehnte und die volle Front dem Makler zugewandt war. Herr Emsig kannte die Manöver seines Gegners aus langer Erfahrung. Er hatte nur auf diesen Moment gewartet. Während Herr Preiss den Umschwung seines Comptoirstuhles vollendete, sprang Herr Emsig schon wieder von der Tür zurück, und gleich zwei Kampfhähnen, die nach kurzer Pause nur um so wütender entbrennen, maßen sich jetzt die beiden Alten mit forschenden Blicken.

Herr Preiss war es, der diesmal die Konversation zuerst wieder aufnahm. Ein etwas spöttisches Lächeln zuckte um seine Lippen, und in langgezogenem Tone begann er:

»Sieh da, Herr Emsig! Wo kommen Sie her? Ich hatte Sie gar nicht bemerkt. Was haben Sie mir zu sagen?«

»Nehmen Sie mir das nicht übel, Herr Preiss, das ist stark, sehr stark. Seit vollen zehn Minuten schütte ich Ihnen mein Herz aus –«

[415] »Seit wann haben Sie ein Herz?«

»Seit einer vollen Viertelstunde unterhalte ich Sie über die tiefsten Geheimnisse meiner Seele –«

»Haben Sie wirklich eine Seele?«

»Und Sie antworten mir auf alles, was ich vorbringe, und tun, als ob Sie ganz Ohr wären, und jetzt kennen Sie mich kaum, wissen kaum, daß ich hier bin – Herr Preiss, das ist beleidigend, verletzend. Die Zeit ist kostbar.«

»Spottwohlfeil ist die Zeit, wenn es flau im Geschäfte ist. Also, was wollen Sie eigentlich von mir?«

»Ihnen nochmals wiederholen, daß es nichts Köstlicheres gibt als die Zeit, für einen Menschen wie mich, dessen Minuten nicht wie bei Ihnen nach Talern und Dukaten, sondern nach lumpigen Groschen gezählt werden – was sagen Sie dazu?«

»Wie stehen russische?«

»Niedrig, niedrig, Herr Preiss!«

»Und spanische?«

»Kosten fast gar nichts.«

»Und östreichische?«

»Kriegen Sie umsonst zu.«

»Hören Sie mal, Herr Emsig, ich bin nicht abgeneigt, etwas zu brauchen, wenn ich es umsonst habe. Für Rußland interessiere ich mich nicht, für Spanien noch weniger, aber für Östreich habe ich etwas übrig, wenn es nichts kostet. Was meinen Sie, Lenz?«

Der Buchhalter Lenz schrak wie gewöhnlich zusammen, als sein Name genannt wurde. Er steckte die Nase über die linke Schulter, fragte, was der Herr Preiss zu befehlen habe, und stolperte dann prisend zwischen Herr und Makler.

[416] »Sehn Sie mal, der Herr Emsig will uns zu einer Spekulation in österreichischen Metalliques verleiten. Was ist Ihre Ansicht?«

»Das Haus Habsburg«, begann Herr Lenz, »ist ein ehrwürdiges, altes Haus, über dessen Solidität, wie bei allen alten Häusern, eigentlich nichts Positives bekannt ist, welches aber schon so viele Stürme glück lich überstanden hat, daß man fast erwarten sollte, es werde auch in Zukunft seine Akzepte zu honorieren imstande sein.«

Hier nahm Herr Lenz wieder eine Prise. »Außerdem ist das Geschäft der Habsburger, wenn ich mich so ausdrücken darf, nicht nur ein sehr bedeutendes, sondern auch bei einigermaßen richtiger Leitung ein möglicherweise sehr ersprießliches, denn das Kaiserreich, so prekär es auch in seiner Zusammensetzung aus den widerstrebendsten Branchen auf den ersten Anblick erscheinen mag, besteht nichtsdestoweniger aus sehr soliden Brocken, aus Provinzen, die immerhin einen guten Puff Taxen vertragen können. Es kommt daher eben nur auf die Leitung an, und ich muß gestehen, daß ich den alten Herrn von Metternich, wenn auch grade nicht für einen sehr ökonomischen Geschäftsmann, so doch für einen Chef von großer Courage halte, dem es auch nach allenfallsigen schlechten Spekulationen stets wieder gelingen dürfte, eine befriedigende Bilanz abzuschließen. Treten daher nicht ganz unvorhergesehene Ereignisse ein, fallen keine allgemeineuropäischen Konflikte vor, bricht, mit einem Worte, grade keine Revolution aus –«

Bei dem Worte »Revolution« mußte Herr Lenz unwillkürlich niesen. Der Makler Emsig bekreuzte sich; Herr Preiss trat drei Schritte rückwärts.

»Ich sage, bricht grade keine Revolution aus, so muß [417] ich offen bekennen, daß ich nicht die geringste Gefahr dabei sehe, wenn man sich mit dem ehrenwerten Hause der Habsburger bis über Hals und Kragen in ein Geschäft eingelassen hätte.«

»Sie sind sanguin, Lenz!« nahm hier Vater Preiss das Wort, »sehr sanguin! Haben Sie schon je in des alten Metternich Tasche gesehen? Haben Sie je schon in die Herzen der habsburgischen Völker geblickt? Wer bürgt mir dafür, daß nicht einst ein sehr bedauerlicher Zank zwischen der Staatstasche und den Völkerherzen ausbricht?«

»Die Liebe!« versetzte der Makler Emsig mit Rührung und schnitt ein Gesicht, hold wie die Stockrose. »Die Liebe des Volkes zu seinem angestammten Herrscherhause bürgt Ihnen dafür, daß die Kaiserstaaten nie von jenen Ausbrüchen der Unzufriedenheit heimgesucht werden, wie wir sie erlebt haben in verschollenen Zeiten in jenem Lande, dessen Dreiprozentige unter dem Schutze eines großen Bürgerkönigs heute nicht minder unterworfen sind der allgemeinen Steigerung und grade den besten Beweis liefern, wie ruhig man sich einlassen darf – «

»Werden Sie nicht pathetisch, Herr Emsig!«

»Pathetisch! Habe ich nicht das Recht, pathetisch zu werden, wenn mich das Glück der Völker ergreift? Bin ich nicht gerührt des Morgens beim Kaffee, wenn ich die auswärtigen Kurse in der Zeitung finde und aus jedem Achtelchen, aus jedem Viertelchen, welche Konsols oder Dreiprozentige in die Höhe gegangen sind, die allgemeine Zufriedenheit, das allgemeine Weltvertrauen lese? Andere Leute lesen zuerst die Nachrichten; ich lese zuerst die Kurse, in denen die Weltgeschichte ausgedrückt [418] wird in runden Zahlen und Brüchen, deutlich und verständlich für alle, die da Augen haben zu lesen und Gefühle zu begreifen! Was sagen Sie dazu?«

Da der Buchhalter Lenz an dem Bart der Feder kaute und nachdenkend zu Boden sah und Herr Preiss kopfrechnend gen Himmel blickte, so wartete der Makler nicht auf eine Antwort, sondern er fuhr fort:

»Sie sagen, daß ich recht habe. Ja, ich habe recht. Noch gestern hat mich meine jüngste Tochter gefragt: ›Vater, weshalb siehst du zuerst immer nach den Kursen?‹ – ›Liebes Kind‹, habe ich geantwortet, ›das kommt von der schönen Einrichtung. Sieh mal hier: gestern standen die Konsols 84, und heute stehen sie auch 84; nun weiß ich, daß in England nichts passiert ist. Gestern kosteten die Dreiprozentigen..., heute stehen sie... der Herr Guizot muß also einen großen Triumph in der Kammer gemacht haben. Gestern hielten sich östreichische auf..., heute stehen sie auf...; der Kaiser hat also gewiß gut geschlafen, und was ich mit meinem Verstande geraten hatte, das hatte sich in der Wirklichkeit zugetragen, das stand schwarz auf weiß gedruckt.‹ Und sehen Sie, Herr Preiss, so etwas kann einen rühren, wenn man dies allgemeine Vertrauen sieht, diese Liebe zur guten Sache, diese friedliche Weltentwicklung, und mit inniger Überzeugung ruft man aus: ›Ja, es gibt noch Gemüt in der Welt, alles ist Avance, alles Gewinn!‹«

»Na, dann kaufen Sie mir für 20.000 Taler Metalliques!« rief Herr Preiss, indem er plötzlich aus seinem Rechenexempel wie aus einem Traume erwachte.

»Abgemacht!« erwiderte Herr Emsig und griff nach Hut und Stock, um sofort das Weite zu suchen.

»Aber kaufen Sie billig, nicht über...!« [419] Der Makler drehte sich in der Tür um, legte den Kopf auf die Schulter, kreuzte die Arme vor der Brust und verdrehte Augen und Mundwinkel zu einem wehmütigen Lächeln.

»Herr Preiss, sehen Sie mich an! Sehe ich aus, als ob ich teuer kaufen würde? Sehe ich unbillig aus? Ach, Sie wissen's, der Eduard Emsig weiß das Vertrauen seiner ehrenwerten Geschäftsfreunde zu schätzen! Ließe ich mir doch eher ein Stück von meinem Körper schneiden, ehe ich ein Viertel gäbe, wo ich mit einem Achtelchen siegen kann!«

Keuchend und transpirierend vor maßloser Geschäftslust purzelte Herr Eduard Emsig die Treppe hinab in die Straße, ein wahrer Sohn Merkurs, des listigen Gottes, als dessen schalkhafter Geist er hin-und herüberschwebte vom Käufer zum Verkäufer und vom Verkäufer zum Käufer.

8. Die Spekulation

VIII.

Die Spekulation

Wie unsre Leser bereits wissen, umfaßte das Geschäft des Herrn Preiss verschiedene Branchen. Herr Preiss liebte es, in vielen Gegenständen zu »machen«. Er behauptete, daß man sich an den Schafen erholen müsse, wenn man an den Ochsen verloren habe, und daß die Heringe wieder einbringen würden, was an den Korinthen flötengegangen sei. »Der gute Durchschnitt ist die Hauptsache!« rief er aus. »Und wenn ich am Ende des Jahres meine zehn- oder fünfzehntausend ehrlich ›herum‹-gebracht habe, da ist es mir einerlei, ob ich sie am Wein verdiente oder am Essig, am Weizen oder am Hühnerdreck.« [420] Der Herr Preiss war in diesem Räsonnement urdeutsch, aus dem einfachen Grunde, weil er ein Deutscher war und kein Engländer. Wäre der Herr Preiss ein Brite gewesen und hätte er z.B. in Mark Lane gewohnt, so würde er natürlich nur in Korn »gemacht« haben; hätte er in Bermondsey gehaust, so würde er ausschließlich in Leder beschäftigt gewesen sein, und wäre seines Bleibens in Lower Thames Street gewesen, so würde er sich lieber den Hals abgeschnitten haben, als in etwas anderm zu handeln als in den Diamanten der »Schwarzen Indien«, in den Steinkohlen von Wales und Northumberland.

Aber Herr Preiss interessierte sich nur für den Durchschnitt, eben weil er sich für alles interessierte. Weltumfassend war sein Gemüt. Sein Geist schwang sich hinauf bis zum Höchsten und ließ sich herab bis zum Niedrigsten, und wenn seine Spekulationslust plötzlich ihre Grenzen fand, so war es gewöhnlich da, wo der Gott des Gewinstes aufhörte, das Gebet seines treusten Jüngers zu erhören, und der Teufel des Verlustes anfing, jene greulichen Gesichter zu schneiden, die da gleichen den Königsfratzen auf beschnittenen Dukaten oder den Grimassen derjenigen, die solche Dukaten annehmen müssen zum vollen Kurse.

»Na, sehen Sie, Lenz«, sprach der Herr Preiss zu seinem Buchhalter, »da ist schon wieder ein Brief von einem Bankier, der sich beklagt, daß wir keine Geschäfte mit ihm machen; neulich haben uns noch die Herren Brummfliege Eidam & Co. und die Scorpion frères aus Amsterdam und Paris geschrieben, heute kommt dieser Hamburger – es ist großartig! Die Bankiers reißen sich förmlich um mich, die ganze Welt will mich mit Geld überschütten. Aber ich kann keinen Gebrauch davon [421] machen; ich habe schon an meinen eigenen Fonds zuviel – es gibt doch nichts Langweiligeres, als wenn man nicht mehr weiß, was man mit seinem Gelde anfangen soll! Was meinen Sie, Lenz?«

»Ich meine, daß ein reicher Kaufmann, der an seinem Plus leidet, eigentlich mit einem armen Teufel, der sich mit seinem Minus herumschlägt, auf derselben Stufe der Gemütsstimmung steht. Verlegenheit hier und Verlegenheit dort. Verzweiflung bei einem Millionär und Verzweiflung bei einem Bettler. Himmlischer Vater, deine Ratschläge sind unerforschlich, aber nimm mir das nicht übel, deine Menschen sind die kuriosesten Geschöpfe, die mir in meiner Praxis vorgekommen sind!«

»Philosophieren Sie nicht, Lenz! Der Gedanke, daß mein Kapital schlechte oder vielleicht gar keine Zinsen einbringt – kurz, der Gedanke, daß kein Geld verdient wird, ist ebenso schrecklich für mich als der Gedanke, daß Geld verlorengeht. Raten Sie mir daher, was ich mit meinem überflüssigen Gelde tun soll!«

Lenz hätte in diesem Augenblick die geistreiche Bemerkung machen können, daß der kürzeste Weg zum Ziele eine gewissenhafte Teilung aller Reichtümer zwischen Herr und Diener sei; aber Lenz war ein zu vollkommener Buchhalter, um eine solche moderne Scheußlichkeit nur zu denken, geschweige auszusprechen, und mit dem ernsthaftesten Gesichte von der Welt erwiderte er:

»Ja, Herr Preiss, das ist eine fatale Geschichte. Ich habe schon oft darüber nachgedacht, aber ich muß gestehen, daß ich bis jetzt noch keinen unbedingt glücklichen Ausweg zu finden wußte.«

Der arme Lenz! Er, der nur 600 Taler jährlich verdiente, [422] diente, mit Mühe und Arbeit; er, der mit allen Münzsorten, großen und kleinen, auf dem freundschaftlichsten Fuße stand, dem sie alle willkommen waren, den sie aber leider grade am allerseltensten besuchten – er, der arme Lenz, wußte keinen Ausweg für überflüssige Gelder – seltsames Geständnis einer schönen Buchhalterseele!

»Ich bin doch nicht ängstlich in meinen Unternehmungen«, fuhr Herr Preiss fort, »ich mache Geschäfte in allen nur möglichen Artikeln, aber trotzdem sammeln sich bei all meinen Bankiers Kapitalien an, für die ich keine Verwendung habe. Ja, man sollte sich fast darüber freuen, wenn man mitunter eine Fallite erlebt – oh, der verfluchte Sebastian Johannes! Ja, wir reichen Leute sind übel dran. Das Geld wird immer billiger. Wir werden erdrückt von unserm Kapital. Retten Sie mich, Lenz!«

»Wenn ich kann, mit Vergnügen!«

»Und schlagen Sie mir alles vor, was Ihnen Ihr gesunder Menschenverstand eingibt.«

Lenz nahm eine große Prise und sprach:

»Ich habe wohl einmal daran gedacht, daß es gut wäre, wenn Sie Land kauften. Land ist ein sicherer Artikel. Das Land geht nicht kaputt, das Land läuft nicht davon. Land ist etwas Solides. Ja, es hat etwas für sich, Land zu besitzen, ein Stück von diesem Erdball, einen Brocken von dieser sichtbaren Welt. Kaufen Sie Land!«

»Land, Land! Liebster Lenz, ich bin kein Bauer; ich verstehe ja nichts vom Lande; was soll ich mit Land tun? Soll ich morgens hinausgehen und die Lerchen singen hören? Das hab ich schon jetzt umsonst. Soll ich die Sonne hinter den Kornfeldern aufgehen sehen? Kostet mir schon jetzt nichts! Dazu brauch ich kein Land zu kaufen. Was soll ich mit Land tun?«[423] »Wenn Sie Ihr Land nicht selbst bebauen wollen, so können Sie es verpachten.«

»Verpachten! Land verpachten! Lenz, das ist mir ein Greuel. Da müßten wir ja Pachtkontrakte machen, müßten etwas Schriftliches geben, müßten uns binden für lange Zeit, Lenz, und wir bekämen mit Advokaten und Notaren zu tun – es graut mir! Machen wir um Gottes willen keine Geschäfte, wozu ein Rechtsgelehrter notwendig ist.«

»So verkaufen Sie Ihr Land wieder. Spekulieren Sie in Land, wie Sie in Kaffee und Zucker spekulieren.«

»Kaffee und Zucker kenne ich, aber ich kenne kein Land. Es geht mir mit dem Lande wie Jannchen von Amsterdam mit dem Wasser: Jannchen war sieben Jahre zur See gewesen und hatte noch kein Wasser gesehen; ich laufe schon seit fast siebzig Jahren auf dieser Erde herum und habe noch kein Land gesehen. Was soll ich mit Land tun? Ich kenne kein Land. Wenn ich mich zu einer Landspekulation einschiffte, so würde ich ohne Steuer und Kompaß fahren und an dem ersten groben Bauer so sicher scheitern, wie ich im Kaffee- und Zuckerhandel noch immer wohlbehalten im Hafen angekommen bin.«

»Wenn Sie keine Ländereien kaufen wollen, so spekulieren Sie wenigstens in Grundstücken innerhalb der Stadt, in Bauplätzen –«

»Nicht wahr, und ich soll auch noch die Häuser darauf bauen lassen?«

»Allerdings! Das wäre noch besser!«

»Lenz! Zu welchen Extravaganzen wollen Sie mich verleiten! Wenn ich nicht aus jahrelanger Erfahrung wüßte, daß Sie mein treuer Diener wären, daß Sie meine Interessen zu den Ihrigen machten, so würde ich denken, [424] daß Sie im Solde irgendeines Schwindlers ständen, mit dem Sie ein Komplott geschlossen hätten, um mich unglücklich zu machen. Ich soll Land kaufen, dann Bauplätze, und jetzt soll ich sogar Häuser bauen lassen! Haben Sie denn ganz vergessen, was uns vor einigen Jahren passiert ist? Gewiß, Sie haben es vergessen! Ich will Sie daran erinnern. Die Mordgeschichte steht mir vor dem Gedächtnis, als ob sie erst gestern geschehen wäre. – Ökonomisch, wie ich bin, und ich habe alle Ursache, ökonomisch zu sein, faßte ich dennoch einst den traurigen Entschluß, mir das ausschweifende Vergnügen eines neuen Pferdestalles zu bereiten. Unglückselige Idee einer schwachen Stunde! Aber ich hatte gerade viel Geld verdient, es war mein Geburtstag, und ich hatte meinen Kindern verboten, mir irgend etwas zum Geschenk zu machen. Geschenke meiner Kinder! Als wenn ich so etwas nicht aus meiner eignen Tasche bezahlen müßte! ›Kinder‹, sprach ich daher, ›auf euer Geschenk habe ich verzichtet, aber ich ehre euern guten Willen, und da ich weit davon entfernt bin, euch die Freude, mir Freude zu machen, zu verderben, so erlaube ich euch, mir die Erlaubnis zum Bau eines neuen Pferdestalles zu geben.‹ – ›Ein Pferdestall! ein Pferdestall!‹ hieß es da, daß mir die Ohren gellten, und mein ältester Sohn lief sofort zu dem Architekten... – Gott verzeih ihm, ich schäme mich, seinen Namen auszusprechen –, und ehe drei Tage herum waren, legte man mir einen Riß vor, von dem ich soviel verstand wie die Kuh vom Sonntage. –

›Kinder, die Geschichte wird zu kostspielig!‹ rief ich. Aber das half nichts. ›Wie wird sich der Schimmel freuen, wenn er in den neuen Stall kommt! ›meinte meine jüngste Tochter. ›Was wird der Fuchs sagen, wenn er an der [425] neuen Krippe steht!‹ versetzte die zweite.,Der Stall ist wirklich vortrefflich projektiert!‹ versicherte mein ältester Sohn. ›Und er kostet fast gar nichts‹, fügte mein jüngster hinzu. Genug, ich unglücklicher Mann ließ mich beschwatzen. Architekt, Maurermeister, Zimmermann, Arbeiter, eine ganze Bande von Schwindlern stürzte uns ins Gehege hinein, und ehe ich mich recht besinnen konnte, lag der ganze Hof voll von Steinen, Ziegeln, Mörtel, Brettern usw., daß man Hals und Bein zu brechen meinte.

Es läuft mir noch kalt über den Rücken, wenn ich an das Abenteuer denke. Es war in der Tat abenteuerlich. Vom Morgen bis zum Abend ein ewiges Hämmern, Sägen, Singen, Schreien, Saufen – zwei Fässer Rum sind uns in jener Zeit wie durch ein Wunder ausgelaufen; sechs Tönnchen Heringe fehlten – aber was das Schlimmste war, das Geschäft wäre beinah darunter zugrunde gegangen. Die Jungen aus dem Comptoir verloren in allem Spektakel Sinn und Verstand; kein Mensch konnte mehr richtig addieren; keine Seele wußte mehr einen Brief zu schreiben; immer mit der Nase bei dem neuen Bau; alles mit Augen und Gedanken bei dem neuen Pferdestall.

Endlich stieg dieses Ungeheuer aus der Erde empor; ich hatte keine Zeit, mich danach umzusehen. Da tritt der Moses Hersch ins Comptoir und fragt mich: ›Herr Preiss, was lassen Sie denn bauen?‹ – ›Einen Pferdestall, Moses!‹ erwiderte ich ihm. ›Abraham und Isaak!‹ schreit da der Hersch. ›Herr Preiss, nehmen Sie mir das nicht übel, aber ich habe wahrhaftig gemeint, Sie wollten unserm Volk eine neue Synagoge bauen!‹ Ich biß mir die Lippen. – Am nächsten Tage besucht mich der geheime Regierungsrat von Plunder: ›Aber was lassen Sie denn bauen, werter Freund?‹ – ›Einen Pferdestall, Herr Regierungsrat!‹ –[426] ›Verzeihen Sie, ich glaubte in der Tat, Sie ließen der Venus einen Tempel richten.‹ – Ich wurde fast ärgerlich. Aber es sollte noch schlimmer kommen, denn nicht lange nachher kommt auch unser gutmütiger, dummer Nachbar Ziegenbein, der Schneider, und erkundigt sich mit spöttischem Lächeln, ob ich mir ein Familienbegräbnis errichten ließe. Da riß mir die Geduld; ich konnte es nicht länger aushalten. Ich stürzte vor die Tür und beschaue mir meinen Stall einmal von oben bis unten – die Leute hatten recht. Die Geschichte ist fürwahr einer Judenschule, einem Venustempel oder einem Grabmale ähnlicher als einem Pferdestalle, und voller Wut springe ich auf den Architekten los, um ihn an die Gurgel zu fassen. Daß ich mich nicht wirklich an ihm vergriffen habe, ist ein Wunder. Aber der Mann, oder besser gesagt dieser abscheuliche Schwindler, machte ein sehr ernsthaftes Gesicht und erklärte mir alle Vorteile und Schönheiten seines Meisterwerks mit so unendlicher Ruhe und Gelassenheit, daß ich unwillkürlich stutzte und nicht mehr wußte, was ich sagen sollte.

›Ja, ich glaube, mir ein Monument durch diesen Stall gesetzt zu haben!‹ rief er zum Schlusse, indem er den Kopf stolz in den Nacken warf. Sprach's und verschwand, und wie sich's von selbst verstand, mußte ich sein Monument bezahlen, mit, Gott verzeih mir, 1800 Talern Preußisch Kurant und einigen Silbergroschen.«

»Ich weiß –«, seufzte der Buchhalter.

»Aber hiermit war der Skandal noch nicht zu Ende. Denn als endlich der liebe Schimmel in seinem Stalle steht und der liebe Fuchs an die schöne Krippe gebunden wird und der Hengst seinen Platz einnehmen soll: da findet es sich plötzlich, daß das Monument so liederlich [427] enge gebaut ist, daß auch die geduldigste Schindmähre keine zehn Minuten darin stehen kann, ohne rasend zu werden. Der Schimmel beschädigt sich schon in den ersten vierzehn Tagen dergestalt am linken Vorderfuße, daß ich ihn 15 Louisdor unter Kostpreis verkaufen muß. Der Fuchs hält es länger aus, da aber die Wände mit schneeweißen, glänzenden Fliesen ausgelegt sind und die Sonne durch das Glasdach schräg darauf hinunterprallt, so wird das arme Tier durch das ewige Flimmern und Blitzen in Zeit von einem halben Jahre so stockblind, daß ich schließlich froh bin, es für ein Glas Bier und ein Butterbrot an den ersten besten Droschkenkutscher loszuwerden. Und was den Hengst angeht – nun, das wer den Sie nicht vergessen haben! Er wurde derart von allen Mängeln seines Stalles tollgemacht, daß er sich aufs Beißen und Schlagen legte und unserm Johann zwei Rippen zertrümmerte. Da hatte ich das Monument satt. Es wurde verändert und wieder verändert – aber umsonst! Zuletzt brachten wir die Gäule wieder in den alten Stall zurück. Das Monument stieg zur Bestimmung einer Waschküche. Später wurde es ein Magazin, es war alle Aussicht vorhanden, daß es endlich zu einer Synagoge, zu einem Venustempel oder zu einem Grabmal avancieren würde. – Da ich aber weder Jude noch Heide bin und vor allen Dingen keine Lust habe, mich schon begraben zu lassen, so kamen wir endlich im Familienrat darin überein, daß das Monument eines genialen Künstlers zu einem –«

»Aber Herr Preiss, ereifern Sie sich nicht!«

»Ja, daß dieses Denkmal moderner Baukunst zu einem Abtritt eingerichtet werden solle.«

»Ach, Herr Preiss –«

[428] »Und jetzt sprechen Sie mir nicht mehr von Häuserbauten.«

»Aber was soll ich Ihnen sonst vorschlagen?«

»Was Sie wollen. Nur kein Land, nur keine Bauplätze, nur keine Häuser. Himmlischer Vater! Häuser soll ich bauen, Straßen sogar, ganze Straßen voll Synagogen, Venustempel und Grabmäler. Es schwindelt mir, ich werde verrückt. Schlagen Sie mir alles vor, nur nicht das!«

»Wenn Sie kein Land kaufen, keine Bauplätze akkaparieren und keine Häuser bauen lassen wollen, so interessieren Sie sich einmal bei einem Bergwerk, bei einer Eisen-, Blei-, Zink-, Kupfer-, Silber- oder Goldmine.«

»Da haben wir's! Ein neuer Schwindel! Ich hätte nie gedacht, daß Sie so fruchtbar an ruinösen Projekten wären. Aber ich versichere Ihnen, daß Sie mich nie zu solchen Tollheiten überreden werden. Bergwerksunternehmungen sind in der Tat nur Bauunternehmungen in umgekehrter Richtung. Bei einem Hause verbaue ich mein Geld nach oben, bei einem Bergwerke nach unten. Ja, ein Bergwerk ist unter hundert in neunundneunzig Fällen das sicherste Grab für jedes ehrlichen Mannes Hab und Gut. Bergwerke bauen! Das fehlte noch! Daß einen die Regenwürmer und die Kobolde auslachen bis in den Mittelpunkt der Erde. – Ich begreife Sie nicht, Lenz; denken Sie denn gar nicht mehr an den mexikanischen Bergwerksverein, von dem ich noch heute unter Glas und Rahmen eine Aktie aufbewahre, die meinem alten Ohm Peter, Gott habe ihn selig, tausend Bergische Taler kostete und die ich bei der Erbschaftsteilung, bloß um meinen nächsten Verwandten besonders zu verpflichten, für vier gute Groschen übernahm?« [429] »Nun, so will ich Ihnen etwas Besseres vorschlagen.«

»Los damit!«

»Wir leben in einem großen Jahrhundert –«

»Meinen Sie?«

»Das meine ich nicht bloß, es ist so.«

»Habe noch wenig davon gesehen. Zwei mal zwei ist noch nicht mehr wie vier.«

»Mit gerechtem Stolz, ja mit einem gewissen mitleidigen Lächeln können wir bei dem Werk unsrer Tage zurückblicken auf die größesten Momente –«

»Von Anno Tobak.«

»Auf die größesten Taten aller Zeiten und Völker.«

»Na, mäßigen Sie sich, Lenz; es wird einem angst und bange bei Ihrem Enthusiasmus.«

»Ja, angst und bange wird es einem bei jenem gewaltigen Umsturz, den alle Verhältnisse genommen haben, seit uns der Geist der Gegenwart lehrte, statt der Hand des Menschen, statt der Kraft des Rosses, statt der Gewalt des Sturmes jenes große Mittel in Bewegung zu setzen, welches über die Häupter unsrer Vorfahren als Rauch des heimischen Herdes, als lieblicher Duft bei festlichen Gelagen oder als leichtes Opfergewölk unbegriffen dahinzog.«

»Fassen Sie sich kurz, Lenz. Wovon sprechen Sie?«

»Von jener großen Erfindung –«

»Der Luftpumpe, der Elektrisiermaschine, der Guillotine, der Klistierspritze –?«

»Nein, von der Erfindung der Dampfmaschine!«

»Aha, das ist etwas andres! Sie wollen also, daß ich in Eisenbahnaktien spekuliere?«

»Allerdings!«

»Lenz, Sie sind ein gefährlicher Mann. Ist es mir doch [430] nie eingefallen, daß Sie durstiger Dezimalbruch von einem sterblichen Buchhalter solche hochfahrende Dinge in Ihrem Haupte beherbergen! Also in Eisenbahnen soll ich spekulieren?

In Aktien schwindeln und meine teuern Prozente einbezahlen, damit die liebe weite Welt billig auf Reisen gehen kann! Oh, ich kenne das! Heute kauft man zwölf Stück Aktien, und morgen hat man 12 Prozent gewonnen. Freude ist in Trojas Hallen; man denkt, das werde alle Tage so fortgehen, und man kauft noch zwölf andre Aktien hinzu, und man gewinnt von neuem, und man gewinnt zum dritten Male, und der Teufel, dem man den kleinen Finger gab, nimmt bald die ganze Hand. Kein Halten, keine Rettung! Wie ein Spieler sitzt man am grünen Tisch; die Stirne brennt, die Augen glühen. Schreien hundert Mäuler: ›der Schwindel ist aus!‹, so schreien tausend Zungen: ›der Schwindel geht erst an!‹ Und immer tollkühner stürzt man sich in den Strudel hinein, jeder hofft, daß er noch vor Toresschluß sein Schäfchen scheren werde; niemand glaubt, die Zeche bezahlen zu müssen. Da wendet sich plötzlich das Blatt, der Gipfel der Schwindelei ist erreicht, und mit leerem Beutel und mit langer Nase purzelt man fluchend und verwünschend aus dem Himmel der Glückseligkeit in die Arme des ersten besten Gerichtsdieners, auf die Streu des Schuldturms – und ein solches Schicksal wollen Sie mir bereiten, Lenz, mir, Ihrem gütigen Prinzipal, der Vertrauen in Sie setzt, der Ihnen gern sein Inneres erschließt – Lenz! Bedenken Sie –«

»Ich muß gestehen, Herr Preiss, daß ich sonst keine Vorschläge mehr zu machen habe«, fuhr Lenz fort, ohne sich im geringsten an die Aufregung seines Herrn zu kehren.

[431] »Sie haben mich gefragt, und ich habe Ihnen geantwortet. Meine Pläne gefallen Ihnen nicht – gut. Es tut mir leid, daß ich nichts Besseres weiß.«

»Ja, das sei Gott geklagt!«

»Allenfalls können Sie auch Feuerversicherungsaktien kaufen – «

»Nicht wahr, damit ich keine Nacht mehr ruhig schlafen kann, damit ich bei dem Schrei jeder Eule glauben soll, der Nachtwächter rufe Feuer, damit ich das Morgenrot für den Schein von hundert brennenden Dörfern halte, damit mich überall ein brennlicher Geruch verfolgt wie ein Gestank der Hölle, aus ewiger Angst um meine lumpigen Aktien –?«

»Oder Seeversicherungsaktien können Sie kaufen.«

»Nicht wahr, damit mich statt des Feuers das Wasser verfolgt. Damit ich bei jedem Windstoß zusammenschaudre und ausrufe: da ist ein Schiff gescheitert. Damit ich nachts von Klippen und Untiefen träume, von Haifischen und Korsaren. Damit mein ganzes Vermögen von Wind und Wetter abhängt und meine Gemütsstimmung mit dem Barometer steigt und fällt – – Hören Sie auf, Lenz!«

»Ich höre auf.«

Eine lange Pause entstand.

Vater Preiss war so sehr in Eifer geraten, daß sein Gesicht hochrot glühte. Er lief mit hastigen Schritten durchs Zimmer, den Foulard aus der Tasche reißend, um den Schweiß von der gewaltigen Stirn zu trocknen. Einem aufmerksamen Beobachter würde es indes nicht entgangen sein, daß der schlaue Alte hinter seiner scheinbaren Opposition gegen alles, was der Buchhalter vorbrachte, nur die brennende Lust zu den meisten Spekulationen [432] zu verbergen suchte. In der Tat, unser Freund befleißigte sich stets, das Gegenteil von dem zu sagen, was er dachte, und wenn er selbst seinem Buchhalter gegenüber in dieser Weise auftrat, so geschah es nur, um die Gedanken des guten Lenz desto sicherer zu ergründen. – Blieb Lenz trotz allen Widerspruches bei seinem ursprünglichen Plane, so war dies ein Grund mehr, um die Sache reiflicher zu überlegen, im Kleinen zu versuchen und endlich im Großen auszuführen.

Nur wenige Tage verflossen daher nach dieser stürmischen Konversation: da wandte sich Vater Preiss schon mit der ganz beiläufigen Frage an den Buchhalter:

»Sie meinten also, daß ich Land kaufen sollte?«

»Allerdings, Herr Preiss; ich halte dies für ein sehr sicheres Geschäft.«

»Nun, ich bin davon überzeugt, daß ich Geld daran verlieren werde; aber ich will es riskieren, bloß um Ihnen durch den Erfolg zu zeigen, daß ich recht habe. – Die Altenburgische Herrschaft soll verkauft werden – eine Herrschaft! Es wird mir ganz mittelaltrig zumute. Einerlei. Schreiben Sie dem Notar, daß ich auf die Parzelle 600000 Taler biete.«

Der Buchhalter gehorchte, und die Parzelle Nr. 6 wurde Eigentum des Herrn Preiss.

Einige Tage später bemerkte der Alte, als ob es ganz zufällig wäre:

»Nicht wahr, Lenz, Sie rieten mir, Bauplätze zu kaufen?«

»Allerdings, Herr Preiss!«

»Ein schlechter Rat! Aber wir wollen es wagen. Bieten Sie dem Gärtner H. am Rattentor bis zu 50000 Taler für seine Grundstücke.«

[433] Der Buchhalter gehorchte, und die Grundstücke des Gärtners wurden Eigentum des Herrn Preiss.

»Wollten Sie mich nicht auch zu einer Schwindelei in Eisenbahnaktien verleiten?« fragte der Alte, als wiederum eine Woche verstrichen war.

»Ich riet Ihnen bei bestem Gewissen, den günstigen Moment für diese Transaktion nicht vorübergehen zu lassen.«

»Es ist unsittlich, Lenz, zu schwindeln; und ich werde mich ins Unglück stürzen, ich weiß es. Aber mein Geld liegt untätig; was soll ich machen? Schreiben Sie dem Direktor der Dülken-Buxtehude-Nordbahn, daß ich die offerierten neunzig Stück Aktien akzeptiere.«

Der Buchhalter gehorchte, und die halbe Dülken-Buxtehude-Nordbahn wurde Eigentum des Herrn Preiss.

»Sonst nichts Neues?« fragte der Buchhalter.

»Auch bei der neuen Feuerversicherungsgesellschaft wollen wir uns für ein Pöstchen beteiligen, aber schreiben Sie auf einem halben Briefbogen, das Papier ist teuer.«

»Und die Bergwerksaktien?«

»Na, auf Ihre Verantwortlichkeit will ich sie nehmen. Schicken Sie den Betrag in bar. Aber die leeren Geldsäcke will ich zurück haben; heiliger Gott, die Säcke kosten Geld!«

»Nichts mehr zu bestellen?«

»Mensch, Buchhalter Lenz! Versuchen Sie die Götter nicht!


›Meine Ruh ist hin,
Mein Herz ist schwer;
ich finde sie nimmer
und nimmermehr.‹«
[434]

9. Sassafraß

IX.

Sassafraß

In einem früheren Abschnitte überlieferten wir der allgemeinen Aufmerksamkeit einen Mann mit Namen Sassafraß.

Man wird sich erinnern, daß dieser alte Junggesell nach fünfunddreißigjähriger Dienstzeit seinen Abschied erhielt: »weil er zu früh alt geworden« – »weil er selbst nichts Gescheites mehr tue und nur andern Leuten im Wege stehe« – »weil man bei der steigenden Konkurrenz nur mit jüngern Kräften fortkommen könne« – usw. Es ist genug, es wird dem Leser erinnerlich sein, daß der alte Sassafraß wie ein ausrangiertes Pferd auf halbes Futter gesetzt und als Kommis a.D. mit der angenehmen Aussicht davongeschickt wurde, den Rest seiner Tage darüber nachdenken zu können, inwieweit es ratsam sei, fünfunddreißig Jahre lang für einen ausgezeichneten Prinzipal Kopf und Herz auf den Markt zu tragen zum Preise von 400 Talern jährlich.

Die Seelenstimmung des exilierten Kommis war eben nicht die erfreulichste – als charakteristisches Merkmal der Konsternation des unglücklichen Mannes heben wir hervor, daß er nach der erwähnten Katastrophe während voller drei Tage nicht hinübereilte zu seinem langjährigen Freunde, dem Wirt in den »Drei goldenen Reichskronen«; daß er während runder zwei Wochen nicht die gewohnten zwei Gläser Rum trank, zu 2 Silbergroschen preußisch; und daß er, was das Schlimmste war, während eines ganzen Monats keinen Zug AB Reuter tat aus der irdischen, überirdisch geliebten Pfeife.

»Was fehlt Ihnen?« fragte der langjährige Freund, der [435] Wirt in den »Drei goldenen Reichskronen«, als er seinen Gast ohne Rum und ohne Pfeife zuerst wieder auf der Ofenbank sitzen sah.

»Oh!« erwiderte Sassafraß und seufzte tief auf. »Es ist mir ein großes Unheil widerfahren, ein Malheur, das mich erschüttert und gebeugt hat, denn: den ich liebte, den ich pflegte, mein bester Kanarienvogel, er ist –«

»Oh, was Sie sagen!«

»Ja, er ist den Weg alles Irdischen geflogen, er ist gestorben – tot.«

»Ach, das tut mir doch sehr leid; der arme Vogel! Gott habe ihn selig.«

Und der Wirt fragte nicht zum zweiten Male, denn er war ein viel zu verständiger Mann, als daß er nicht begriffen hätte, wie es eines alten Junggesellen größester Kummer sein muß, wenn sein bester Kanarienvogel zu einem unbekannten Jenseits hinüberdämmert.

»Wie kommt es, daß Sie so still sind, Herr Sassafraß?« fragte die langjährige Freundin, die Wirtin in den »Drei goldenen Reichskronen«, als der Alte ihr holdes Grüßen nicht mehr erwiderte.

»Oh!« stöhnte Sassafraß und schlug die Augen gen Himmel. »Liebste Frau, ich habe vielen häuslichen Kummer gehabt; die Hand des Schicksals hat mich hart getroffen, denn die Gespielen meiner alten Tage, meine Goldfische, meine unvergeßlichen Goldfische, sie sind –«

»Jesus, Maria, Josef! Sie sind doch wohl nicht –?«

»Ja, sie sind alle krepiert, an der Lungenseuche – tot.«

»Ach, die armen Bestien, schenke ihnen Gott die ewige Ruhe – ihnen wird wohl sein; so geht es den Guten – früh dahin!« Und die Wirtin störte den Alten nicht zum [436] zweiten Male, denn sie war eine viel zu zart besaitete Seele, sie besaß ein viel zu weibliches Herz, als daß sie das schreckliche Unglück eines alten Junggesellen, der seine Goldfische verliert, nicht im vollsten Maße mitgefühlt und mitgetrauert hätte.

Erst als der pfiffige Schneider, der dünne Ziegenbein, ein langjähriger Gesellschafter des Wirtshauses zu den »Drei goldenen Reichskronen«, immer naseweiser nach dem wirklichen Grunde der sassafräßlichen Betrübnis zu forschen begann: da lieh der Alte seinem Unmut den Ausdruck der tiefsten Entrüstung und stieß einen schrecklichen Fluch aus, nach dem alle Kanarienvögel in den Lüften und alle Goldfische in den Wellen elendiglich umkommen sollten am Schnupfen, an Rheumatismus, an der Lungenseuche und an Altersschwäche.

Endlich war der wildeste Schmerz überwunden. Sassafraß fand sich wieder regelmäßig in den »Reichskronen« ein; Sassafraß trank wieder Rum; Sassafraß rauchte wieder AB Reuter. – »Der Kanarienvogel ist vergessen!« meinte der Wirt. »Er hat sich getröstet wegen der Goldfische!« dachte die Wirtin. »Sassafraß ist wieder ein Mensch, mit dem man umgehen kann!« versicherte der Schneider, und alles war wieder wie sonst.

Doch nur auf der Ofenbank des Wirtshauses fand der Greis sein früheres Glück wieder; denn schrecklich war ihm an jedem neuen Morgen das Erwachen in der eigenen Wohnung, wenn er den langen lieben Tag sich dehnen sah, an dem er nicht zu der gewohnten Beschäftigung auf das Comptoir des Herrn Preiss eilen konnte: die Briefe zu lesen, so die Frühpost gebracht, die Rechnungsposten nachzusehen, welche am Tage vorher durch die Bücher gegangen, Empfangsanzeigen zu schreiben an geehrte [437] Geschäftsfreunde oder Mahnbriefe auszufertigen an höchst verwerfliche Kunden.

Jammernd rang er in solchen Augenblicken die Hände und rief: »Oh, Herr Preiss! Warum haben Sie mir das getan! Warum haben Sie mich verstoßen aus Ihrer Nähe, mich, Ihren treusten Diener! Habe ich gefehlt, so will ich mich bessern. Habe ich gesündigt, so will ich Buße tun. Irrte ich in der Addition, so will ich es wieder gutmachen durch Wunder in der Multiplikation; schoß ich einen Bock beim Subtrahieren, so soll mich aus aller Schmach erretten die korrekteste Division! Oh, Herr Preiss, Sie haben nicht wohlgetan, mich zu entlassen! Ich war Ihnen unentbehrlich; ich war der Hort und das Heil des ganzen Comptoires; ich war der gute Geist Ihres Geschäftes! Wer bürgt Ihnen jetzt dafür, daß alles pünktlich nachgerechnet wird? Wer garantiert Ihnen, daß jeder schlechte Schuldner überwacht wird mit Argusaugen? Wer wird Zucht und Sitte aufrechterhalten unter dem jungen Personal? Wer wird dem Buchhalter Lenz, diesem unseligen Manne, jene schauderhafte Phiole entwinden, wenn er sich nicht schämt, in dem Heiligtume des Geschäftes, vor dem Pulte, auf dem das Hauptbuch liegt, ja, vor diesem Hochaltar des Comptoires jener entsetzlichen Leidenschaft des Wacholdertrinkens den Zügel schießen zu lassen, die ihn und das ganze Geschäft zugrunde richten und Öde und schauerliche Stille zurücklassen wird, wo unter meiner Leitung Kapitalien auf Kapitalien emporgeblüht sind wie goldne Wunderblumen! – Oh, ich meine, ich sähe ihn, diesen zügellosen Menschen, diesen Buchhalter Lenz, in der engen Hose, in dem schäbigen Frack, mit der grünen Brille und der roten Nase, wie er aus Freude über meinen Abschied täglich einen Zentner Tabak schnupft– [438] ich meine, ich sähe ihn, der an allem schuld ist, der mich verleumdet und gestürzt hat, wie er mit faulen Ohrenbläsereien das Herz des besten Menschen, meines unvergeßlichen Prinzipals, zu vergiften strebt, wie er ihn in schnödem Wacholderdusel zu den tollsten Unternehmungen verleitet, zu Spekulationen in Aktien, zu Schwindeleien in Fonds, die bald seinen ehrlichen Namen mit Schande an die große Glocke bringen und endlich den Fall eines Hauses herbeiführen werden, an dessen Größe ich fünfunddreißig Jahre rastlos gearbeitet!« –

In solche und ähnliche Jeremiaden verfiel der alte Sassafraß an jedem neuen Morgen, so daß er sie zuletzt mechanisch herleierte und dann in ein dunkles Brüten und Sinnen verfiel, aus dem er erst abends in den »Reichskronen« wieder erwachte. Ja, dieser Zustand artete momentan in vollständige Geistesabwesenheit aus, in der er den eigentlichen Grund seines Kummers ganz vergaß und dann unwillkürlich zu Hut und Stock griff, um den gewohnten Weg, direkt nach dem Comptoire des Hauses Preiss, einzuschlagen.

Mehrere Male war er schon bis vor die Tür seines alten Herrn gedrungen und erst da entsetzt zurückgewichen. Eines Morgens, als er ungewöhnlich fieberte, überschritt er aber auch die Schwelle und trat bis in das Comptoir.

Der Buchhalter, der Korrespondent und der Lehrling waren nicht wenig erstaunt, als sie den alten Kollegen so ohne weiteres an sein großes Pult eilen sahen. Lenz steckte die Feder hinter das Ohr und nahm eine bedeutungsvolle Prise. August, der Korrespondent, erhob sich von seinem Stuhl und folgte dem tiefsinnigen Alten mit Blicken, in denen Neugier und Mitleid miteinander wechselten. Der Lehrling schlich auf den Zehen näher und umspähte ihn, [439] wie man einen Nachtwandler belauscht, von dem man fürchtet, daß er erwachend stolpern und fallen wird, um sich ein Leid anzutun. Niemand wagte aber, den Eintretenden zu stören.

Sassafraß rückte indes mit der sorglosesten Unbefangenheit den Dreifuß näher an das Pult, setzte sich, tauchte die Feder in das Tintenfaß und begann in jenen ungeheuern Schriftzügen, welche einer alten Kaufmannshand eigentümlich sind, den folgenden Brief zu schreiben:


»Herrn Buchhalter Lenz. Dahier.

(privatim)

Wohlgeborener Herr!

Das Gefühl der unaussprechlichsten Wehmut beschleicht mein Herz, wenn ich bedenke, daß ich vom Schicksal dazu ausersehen bin, eine Sache zur Sprache zu bringen, welche in den Annalen des bürgerlichen Lebens nicht ihresgleichen hat.

Mein Herr! Von einem Manne, ja noch mehr: von einem Familienvater, mit dem ich so viele Jahre lang in dem nächsten und angenehmsten Verkehr gestanden, hätte ich nie erwartet, daß er mit so bedauerlicher Hintenansetzung aller freundschaftlichen Rücksichten, aller Konvenienzen und aller merkantilischen Pflichten ein Vertrauen erwidern würde, das ich zwar noch keinem Ehrenmanne versagte, das ich aber Ihnen vor allen andern in so umfangreichem Maße bewiesen.

Die Freundschaft, mit der ich Ihnen in den dunkelsten Zeiten Ihres Lebens entgegenkam, die Achtung, die ich Ihnen sogar in den delikatesten Epochen Ihrer Karriere nicht versagte, und der Kredit, mit dem ich Sie selbst dann noch auszeichnete, als die Gefühle der Wertschätzung [440] mehr und mehr in mir erkalteten – mein Herr! Diese wohlwollenden Gesinnungen meinerseits, ja, diese Grundpfeiler unsrer frühern Verbindung, sie sind durch Ihr rücksichtsloses Benehmen, durch Ihre unverzeihliche Leichtfertigkeit bis in ihre tiefsten Tiefen erschüttert!

Mein Herr! Sie schulden mir siebenundzwanzig Silbergroschen! –

Das Schreckliche ist gesagt. Der Alp ist gerollt von meiner Brust. Ich bewege mich freier.

Was sind 27 Silbergroschen!?

Eine kleine Summe allerdings; ein Tropfen in jenem ungeheuern Meere des Kredits, das belebend hin- und herüberrollt von Kontinent zu Kontinente; ein Sandkorn in jenem kolossalen Gebirge von Kapital, das die menschliche Tätigkeit, Chimborasso gleich, aufgetürmt hat zu einer Grundlage für alle fernere Entwicklung; vielleicht die kleinste Ziffer in der großen Betriebsamkeitssumme aller Völker des Erdballs. Ja, eine kleine Summe scheint in der Tat: die Summe von siebenundzwanzig Silbergroschen.

Aber wie der Lenker der Sterne dort oben in dem Blau der Unendlichkeit dem Großen seine Bahn gezeigt und dem Kleinen seine Stelle gegründet; und wie der Weise das Große als Großes zu begreifen und das Kleine als Kleines zu würdigen versteht, ja, wie jedes Ding aufhört, klein zu sein, sobald es betrachtet wird nach seiner Eigentümlichkeit, so hört auch auf, eine unbedeutende Summe zu sein, nach ihrer wahren Natur betrachtet: die Summe von siebenundzwanzig Silbergroschen.

Welches ist die wahre Natur dieser Summe? Ich will es Ihnen sagen. Mein Herr! Jene 27 Silbergroschen bilden ein Darlehn meinerseits und eine Schuld Ihrerseits; [441] sie sind ein Denkmal des Höchsten, was es auf Erden gibt: des Umgangs des Menschen mit dem Menschen; sie legen Zeugnis ab von einem zugestandenen Vertrauen, von einer übernommenen Verbindlichkeit; sie sind das Resultat eines gesellschaftlichen Prozesses, der stündlich an allen Orten, verschieden nach Form und Umfang sich erneuend, das Leben der Völker schafft, der Wüsteneien in wogende Felder verwandelt, der Städte aus dem Boden zaubert und die Meere belebt mit Schiffen, ja, in ihrer sozialen Bedeutung ist eine heilig große Summe: die Summe von siebenundzwanzig Silbergroschen.

Sie schulden diese Summe! Sie sind verantwortlich für diesen Betrag! Sie werden also erlauben, mein Herr, daß ich Sie in nahe Verbindung mit dieser Summe bringe. Sie werden mir gestatten, daß ich Ihnen dieselbe vorhalte wie einen Spiegel, damit Ihre Zahlungsfähigkeit sich darin beschaut. Sie werden mir zugestehen müssen, daß ich, hervorgegangen aus einer Zeit, welche alles auf Zahlen reduziert: den Verstand, den Witz, das Talent, den Glauben, die Liebe..., daß ich, wurzelnd in der Moral eines Jahrhunderts, welche den Preis der menschlichen Tätigkeit zu dem Werte des Menschen gemacht hat, daß ich durch alles dieses berechtigt bin, Sie nicht nur als Mitglied der Gesellschaft, als Staatsbürger, als Kaufmann, sondern auch als Mensch zu messen: nach dem Maßstabe von siebenundzwanzig Silbergroschen!

Es ist entsetzlich; ich schaudre; ich verhülle mein Antlitz – denn selbst diesem Maßstabe haben Sie nicht genügt! Wollten Sie nicht? Konnten Sie nicht? Es ist dasselbe! Sie haben nicht bezahlt – das ist die Hauptsache. Sind Sie denn wirklich keine 27 Silbergroschen wert? Sie werden mir antworten, daß Sie mehr wert sind, daß in [442] dem Preiskurant der Gesellschaft, in dem die Tätigkeit eines Bankiers mit einer Million, die Tätigkeit eines Philosophen mit 3 Louisdor per Druckbogen, die Tätigkeit eines Bettlers mit einem Almosen von 3 Pfennigen verzeichnet ist: Ihre Tätigkeit aufgeführt steht mit 600 Talern jährlich, für Mühe und Arbeit, daß aber die Gesellschaft, wie in so vielen andern Fällen, auch Ihren wirklichen Wert nicht hoch genug in ihrem Preise ausdrückte – kurz, daß Sie eine verkannte Größe sind, daß Sie benachteiligt wurden eben um jenes verhängnisvolle Bruchteil und daß Sie, zwar anerkannt mit 600 Talern, dennoch zugrunde gehen müssen wegen jener schrecklichen Differenz von siebenundzwanzig Silbergroschen.

In dem, was Sie sagen, steckt ein Körnchen Wahrheit. Ich gestehe es, in der Differenz zwischen Wert und Preis liegt die halbe Not unsres Jahrhunderts. Aber habe ich dies nicht stets anerkannt? Allerdings! Als Sie im Beginn unsrer Bekanntschaft jenen großen ökonomischen Fehler begingen, der Stimme der Liebe zu gehorchen, und ein edles Weib heirateten, da zerriß ich alle ihre Schuldscheine, denn ich erinnerte mich dunkel, daß auch ich geliebt hatte und daß die Liebe keine Ökonomie kennt und keine Schuldscheine. Als Sie einige Jahre später vergebens versuchten, der Stimme der Vernunft zu gehorchen, und auf eine überschwengliche Weise zur Bevölkerung des Erdballs beitrugen, da machte ich zum zweiten Male einen Strich durch unsre Rechnung, denn ich dachte: ›Wer weiß, wozu es gut ist, daß ich diesen Kindern Strümpfe und Schuhe kaufe, auf daß sie wandern durch alle Jahrhunderte.‹ Und als Sie endlich zum dritten Male, zwar nicht ein Opfer der Liebe und der Überbevölkerung, sondern die Beute jener entsetzlichen Leidenschaft wurden, [443] welche, ach, so viele große Geister mit den gemeinsten Schlingeln geteilt haben, da machte ich abermals tabula rasa mit Ihren Schulden, denn ich sagte mir: ›Wer weiß, ob der Trunk dieses Mannes nicht vorgesehen in der göttlichen Weltordnung und schmählich vergessen worden ist in dem Preiskurant der Gesellschaft.‹ – Aber soll ich deswegen auch verzichten auf diese siebenundzwanzig Silbergroschen?

Nimmermehr! Es hieße dem Schicksale auf die frevelhafteste Weise in den Arm fallen. Ich würde Sie abhalten, in jener Differenz zwischen Wert und Preis endlich einen Sporn zu finden für rastlose Arbeit; einen Sporn, jenen großen Männern nachzustreben, die, gezwungen von der Not des Lebens, Berge geebnet und Felsen emporgetürmt. Drum, wie das Licht von der Sonne, den Regen von der Wolke, die Stille von der Nacht und die Frucht vom Baume, so fordre ich von Ihnen Zahlung Ihrer Schulden und mahne Sie feierlichst um siebenundzwanzig Silbergroschen!

Wie können Sie zögern, abzuschütteln diese furchtbare Schuld! Wenn Sie den Fischer sehen, wie er immer wieder das Netz auswirft; wenn Sie den Jäger sehen, wie er rastlos dem Wilde nacheilt; wenn Sie den Matrosen sehen, wie er sich mutiger stets in Sturm und Gefahr begibt, und den Krieger, wie er entschlossener die Stirn dem Feinde entgegenträgt – wenn Sie alles dieses sehen, gelüstet es Sie dann nicht, ebenso unverdrossen zu fischen, zu jagen, zu segeln und zu raufen, und wäre es auch nur um siebenundzwanzig Silbergroschen!?

Ja, wie können Sie es wagen, der Welt ein Antlitz zu zeigen, auf dem in flammender Frakturschrift geschrieben steht: Keine siebenundzwanzig Silbergroschen!

[444]

Hätten Sie einen Rest von Scham in sich, wollten Sie einen Augenblick innehalten auf der Bahn des Schwindels und des Leichtsinns, sie müßten ausrufen: ›Berge, bedecket mich, Ströme, rauschet über mich, denn ein Ebenbild Gottes, ein Herr der Schöpfung gebietet nicht einmal über siebenundzwanzig Silbergroschen!

Das Gefühl unaussprechlicher Wehmut beschleicht mein Herz. Möge der Geist dieses Mahnbriefes Sie wachend und träumend umsäuseln. –

Von Herzen wünscht dies höflichst

Ihr Sassafraß.«


Während der alte Sassafraß, um seiner Melancholie über die Dinge im allgemeinen und seinem Groll über den Buchhalter Lenz im besondern Luft zu machen, in diesen Variationen über 27 Silbergroschen seine langgeübte Kunst des Mahnbriefschreibens zu einer so enormen Höhe steigerte: war Lenz allmählich näher getreten und hatte die für ihn bestimmte Epistel über die Schulter des Schreibenden hinweg ungestört von Anfang bis zu Ende gelesen.

Zur Ehre seines Herzens und zum Beweise, daß alle bessern Gefühle noch nicht in ihm erstorben, müssen wir ausdrücklich bemerken, daß, nach der Aussage des Korrespondenten und des Lehrlings, die Lektüre des Briefes ein höchst wunderbares Wechselspiel von Regenbogenfarben in dem Antlitze des Buchhalters hervorzauberte, so daß sein Kopf bald einem flammenden Nordlicht, bald einem verfinsterten Monde, bald einem bleiernen Regenhimmel glich.

Glücklicherweise trug Lenz keinen Dolch unterm Gewande; [445] er trug nur eine Schnupftabaksdose in der Tasche, und zum zweiten Male rettete vielleicht eine Schnupftabaksdose die Welt vor dem Verderben.

Denn ist es nicht eine historische Tatsache, daß Napoleon, die Eroberung Englands beabsichtigend, von Calais in einem leichten Nachen hinausfuhr auf die hohe See und daß er, stets zurückgeschleudert von den schäumenden Wellen, plötzlich voll Zorn in die Tasche griff und, eine Brillantdose daraus hervorziehend, sie der ersten wiederkehrenden Woge fluchend ins Gesicht warf?!

Wie damals der große Korse statt einer Flotte nur eine Dose aus der Tasche zog und darauf verzichten mußte, den britischen Löwen zu bändigen, und wie er bald darauf durch den Neid der Götter stufenweise hinabsank und endlich ein »stiller Mann« wurde – so taumelte auch der Buchhalter Lenz hinab von dem Gipfel seines Zornes, als er statt des Dolches nur die Dose von Tombak fand, und verzichtete auf den schrecklichen Racheplan, durch einen mörderischen Stoß vom Leben zum Tode zu befördern: den alten Sassafraß!

Ja, es war in der Tat der wichtigste Moment in dem Leben des Herrn Lenz. Dieser Moment, wo er die Dose statt des Dolches fand, wo er zum ersten und zum letzten Male dem größten Manne unsrer Zeit, dem großen Napoleon, so ähnlich sah.

Sage man nicht, daß wir leichtsinnig spotten und übertreiben! Denn welche Wendung würden die Dinge genommen haben, wenn Napoleon wirklich eine Flotte und wenn Lenz wirklich einen Dolch statt der Dose aus der Tasche gezogen hätte? Es ist gar nicht abzusehen. Wie Napoleon in einem solchen Falle die Briten vernichtet und zu doppelter Macht emporgewachsen, den letzten [446] Winkel der Erde mit Krieg überzogen und unterjocht haben würde, so würde auch der rasende Lenz mit dem Dolche in der Hand nicht eher geruht haben, als bis Sassafraß den eignen Mahnbrief besiegelt mit dem roten Herzblut. Im Kampfe der Männer wäre das Hauptbuch vom Pulte hinabgestürzt, die Tintenfässer würden umgestoßen worden sein, das Comptoir hätte bis in seine Grundtiefen gezittert, das Haus Preiss, durch Mord und Totschlag verwüstet, wäre um allen Kredit gekommen und hätte fallend andre Häuser mit sich zu Boden gerissen, so daß immer neue Schläge für den Handel und die Industrie daraus entstanden wären und schließlich eine große Geld- und Handelskrise die Welt bis in ihre letzten Dörfer erschüttert und namenloses Unglück verbreitet hätte über Millionen redlicher Menschen.

Aber Lenz fand statt des Dolches seine Dose – und wie Napoleon mit kaiserlicher Nonchalance dem Ozean jene historische Prise offerierte, so reichte auch Lenz, mit jener unbeschreiblichen Würde, die einem Schnupfer von Profession und Prinzip eigentümlich ist, eine Prise dem großen Antagonisten, dem alten Sassafraß – und gelöst war das grause Dilemma.

Sassafraß erwachte plötzlich aus seinem Trübsinn; er fand sich, im Widerspruch mit dem Befehl seines gewaltigen Prinzipals, vor dem alten Pulte des Comptoires; er sah den Buchhalter Lenz, noch die Stirne umlodert von Gewittern, wie er zu holder Versöhnung die Prise bot; er sah den Mahnbrief, den er geschrieben in einem Augenblick trauriger Geistesabwesenheit; er erinnerte sich der alten Freundschaft mit Lenz und der vielen seligen Stunden, die er verlebt in den Räumen dieses Comptoires; die Jugend wurde bei ihm lebendig und flutete, ein alles [447] mit sich fortreißender Strom, in sein Alter hinein – Sassafraß wurde weich, er zitterte, und mit zitternden Händen zerriß er den schrecklichen Mahnbrief und sank weinend in die ausgebreiteten Arme des Buchhalters. –

Von diesem Augenblicke an gelang es dem alten Sassafraß, seine Verbannung von dem Comptoir des Herrn Preiss bis zu einem gewissen Grade mit Gleichmut zu ertragen und, im Hinblick auf so manchen großen Unglücklichen des Altertums, sich in jenen klassischen Mantel der Ruhe und der Weltverachtung zu hüllen, der das Gemüt endlich mit einer gewissen Heiterkeit zurückblicken läßt auf die Wechselfälle des Lebens.

10. Der Herr Preiss in Nöten

X.

Der Herr Preiss in Nöten

Wiederum stehen wir im Comptoire des Herrn Preiss. Rötlich strahlt der Morgen durch zwei große, halbverstaubte Fenster auf die Tintenkleckse des Schreibpultes. Sandbüchsen, Federmesser, Gänsekiele und ähnliche friedfertige Instrumente schlummern in holder Gemeinschaft neben Postpapier und Propatria. Hohe, ledergepolsterte Dreifüße umringen das Pult; und das Pult hat Schubladen mit Schlössern und Riegeln daran von echtem Eisen.

Totenstille.

»Das Jahrhundert ist sehr schlecht geworden«, seufzt endlich der Herr Preiss.

»Sehr schlecht«, erwidert der dürre Buchhalter mit außerordentlichem Nachdruck.

Armer Herr Preiss! – Er war ordentlich mager geworden, [448] unheimlich mager, der sonst so stattlich runde, der handfeste Mann. Die flinken, unternehmenden Falkenaugen hatten allen Glanz verloren; schärfer als früher war die Biegung der Nase, und das sonst so keck nach vorn stehende Kinn, es hing hinab, ja verdächtig hinab auf die Spitzen des Halstuches. An den Kleidern des ehrenwerten Handelsherrn, die, nicht zu vergessen, noch vor dem 24. Februar aus der Bude des kunstfertigsten aller Schneider gingen, sah man indes erst recht, welche Veränderungen sich zugetragen. Die Hose war voller Falten ... Wahrheitsliebende Nachbarn behaupteten, der Herr Preiss habe vier geographische Meilen verloren, im Durchmesser.

»Aber mögen die Zeiten auch noch so schlecht sein, die Energie ist mir geblieben!« fuhr der Herr Preiss zu dem Buchhalter fort. Bitterkeit lag im Ton seiner Stimme.

»So Gott will!« seufzte dieser. »Aber die österreichischen Metalliques-Coupons fallen mit jedem Tage.«

Wie dem Hexameter der Pentameter folgt, so folgte die Antwort des Buchhalters dem Ausrufe des Prinzipals.

Der Buchhalter Lenz litt mit seinem Herrn, wenigstens scheinbar; denn trotz der schlechten Zeiten erhielt er nach wie vor seine 600 Taler jährlich, das Neujahrsgeschenk extra. Der Herr Lenz hatte noch immer eine rote Nase – das Morgenrot einer bessern Zukunft. Auch im Prisen war bei ihm keine Reaktion eingetreten – braun und duftig tropfte es hinab auf die verblichene Weste. Man sah ihm an der Nase an, daß er noch der alte Buchhalter war, aber dennoch litt er. Seit dem 24. Februar war er dreimal zur Kirche gewesen; stündlich seufzte er sechsmal; zwölf alte Federn fraß er per Tag.

[449] »Ich kann Ihnen versichern«, sprach der Herr Preiss weiter, »nichts auf der Welt konnte mir ungelegener kommen als diese Revolution.«

»Die verfl ... Revolution!« hätte der Herr Lenz beinah gesagt.

»Wahnsinn ist es, nichts als Wahnsinn! Froh und glücklich lebten wir dahin. Ein lauterer Bach war unser Leben, kaum getrübt von einer Fallite. Ruhig schlafend bei Nacht, gestärkt erwachend am Morgen, taten wir, was Gott gebot und unser eigenes Interesse. Taten wir Böses, so lag es in der Natur der Sache, denn schwache Menschen sind wir, schwach und vergänglich. Zur Arbeit erhoben wir die Hände; steckten wir sie in die Tasche, so geschah es aus Gründen – um zu halten, was wir hatten. Segen folgte unserm Beginnen wie das Ende dem Anfang. Manchmal waren's 20 Prozent; manchmal darüber. Kam uns die Post, da gab's was. Ein Brief von den Ufern der Lahn, von der Mosel, von den Höhen des Schwarzwaldes: 10 Fässer Heringe, eine Ordre auf Rosinen, und jedesmal war verdient. Ruhig gaben wir Kredit, wie uns selbst kreditiert wurde von Bankier zu Bankier. Gab es Gefahr, da mahnten wir stark, aber immer mit Anstand. Vertrauen genossen wir, Vertrauen gaben wir. Wir zahlten stets so spät als möglich, aber immer in Zeiten. Wir waren immer gefällig, nur nicht zu unserm Nachteil. Sorgend für uns, schadeten wir niemand – uns am wenigsten. Wir ließen leben und lebten. Das letztere war die Hauptsache. Zufrieden waren wir mit Gott und aller Welt, weil wir zufrieden waren mit uns. Trotzend der Konkurrenz, überwanden wir vieles. Leuchtend lag die Zukunft vor uns – da schlägt die verfluchte Revolution hinein!« [450] »Und unsre Bons auf die Insel Sandwich fallen auf Null«, unterbrach der Buchhalter mit Schwermut.

»Ja, da schlägt die Revolution hinein, wie der Hagel in ein Kartoffelfeld, wie der Blitz in den Spinat! Verschwunden ist unser Hoffen, und unser Glück ist aus. In düstern Träumen wälzt man sich nachts auf seinem Lager, noch gestern träumte ich, eine Guillotine und ein Bettelsack tanzten einen schauerlichen Walzer. Schweißtriefend erwacht man am Morgen, und sieht man in den Spiegel, da glaubt man einen vom Galgen Gefallenen zu sehen. Ruhe suchend im Gebet, gelingt dieses doch selten, denn unheilschwanger steht einem der Tag bevor, und aus den frommsten Erhebungen zu Gott taumelt man unwillkürlich mit den Gedanken zurück in die entsetzliche Wirklichkeit. Voll Angst beginnt man seine Arbeit, und zitternd eröffnet man jeden Brief, denn es ist nur zu wahrscheinlich, daß irgendeiner ›Mit traurigem Herzen‹ oder ›Ich sehe mich in die traurige Notwendigkeit‹ oder ›Bei dem Drang der Verhältnisse bedaure ich‹ oder mit irgendeiner andern bankerotten Phrase beginnen wird. Falliten folgen Falliten, und der Kredit ist erschüttert bis in seine Urtiefen. Throne wackeln, und es wackelt der letzte Seifensieder. Bankiers fallen wie die Fliegen im Winter, und die, welche auf den Beinen bleiben, sind so hartleibig, als hätten sie nur Wasser gesoffen und gekochte Eier dazu gegessen seit sieben Monaten. Wegen jedes Lauseposten wird man gemahnt, als schuldete man eine Million zwei Jahre über Verfalltag. Die gleichgültigsten Freunde und weitläufigsten Anverwandten pumpen einen an wie der Student seinen Stiefelfuchs. Aufträge bleiben aus; die, welche eintreffen: Ziel 14 Monate. Keiner traut seinem Nachbarn; man betrachtet sich wie ein [451] Robert Macaire den andern. Auf der Straße geht man einher wie ein Leichenbitter, verhöhnt von rohen Proletariern, gierig angegafft vom nimmersatten Volk. Auf der Börse ist es still wie mitten in einem Kornfelde. Man hört die Mäuse an den Wänden krabbeln, und Tränen rinnen um die angeschlagenen niedrigen Kurse. Oh, Herr Lenz, wir sind heimgesucht worden von einer schweren, sehr schweren Landplage. Wie ein trauernder Jude an den Wassern zu Babylon, also sitze ich klagend auf meinem Comptoirstuhl.«

Eine Pause entstand. Herr Preiss bedeckte die gewaltige Stirn mit beiden Händen, indes der Buchhalter Lenz eine Prise nahm, von den allergrößten.

»Wir müssen uns einschränken!« fuhr der Herr Preiss endlich fort. Der Buchhalter spitzte die langen Ohren und hielt unwillkürlich in der zweiten Prise inne.

»Wir müssen uns einschränken, Lenz. Die Ökonomie ist das einzige, was uns retten kann.«

Der Buchhalter wurde immer aufmerksamer.

»Man muß sich durchlavieren wie ein guter Seeräuber. Wir verdienen nichts mehr; die Geschichte kann nicht länger so fortgehen.«

Dem Buchhalter wurde es schwül zumute.

»Vor kurzem habe ich noch unsern alten Kommis Sassafraß verabschiedet.«

Dem Buchhalter ging ein Zittern durch beide Waden.

»Wir müssen in diesem System fortfahren.«

›Heiliger Gott!‹ dachte der Buchhalter.

»Mein Entschluß steht felsenfest! Ökonomie! Ökonomie! dies sei die Losung.«

Des Buchhalters rote Nase erblaßte.

»So merken Sie sich denn –«

[452] Abermals hielt Herr Preiss inne, und eine Pause fürchterlicher Angst raubte dem Buchhalter schier die Besinnung.

»So merken Sie sich denn, Herr Lenz – merken Sie sich.« Hier schlug der erschütterte Prinzipal mit der Faust auf das Schreibpult, daß alle Tintenfässer und Federn und Bleistifte das lustigste Menuett begannen.

»Merken Sie sich, Herr Lenz, wir müssen unsre – Wagenpferde abschaffen.«

Tief seufzte der Buchhalter auf. »Der Wille Gottes geschehe!« murmelte er, und seine Augen blickten gerührt gen Himmel.

»Aber damit sind wir noch lange nicht fertig, Lenz. Dem alten Sassafraß und den beiden Wagenpferden muß ein weiteres folgen.«

›Es geht aufs neue los!‹ dachte der entsetzte Buchhalter.

»Daß ich den Wagen verkaufe, wenn ich keine Pferde mehr habe, das versteht sich von selbst.«

»Allerdings!« versetzte der Buchhalter, »das ist logisch.«

»Aber auch logisch ist es«, fuhr der Herr Preiss fort, »daß nicht nur in Stall und Remise Modifikationen eintreten –«

»Sondern auch in Küche und Keller«, warf der Buchhalter ein.

»Sowie namentlich im Getriebe meines Geschäftes«, vollendete der Prinzipal.

»Wir sind auf derselben Stelle«, seufzte der Buchhalter, und der Angstschweiß brach ihm aus allen Poren.

»Merken Sie sich deswegen ferner, Lenz –«

»Ich merke mir.«

[453]

»Und notieren Sie sich –«

»Ich notiere mir.«

»Die Produktionskosten und die Betriebsspesen müssen bis auf ein Minimum reduziert werden.«

»Bis auf ein wahres Minimum«, stotterte der Buchhalter.

»Zu diesen Reduktionen gehört erstens –«

»Erstens –«

»Daß in unserm Geschäftspersonal –«

»Verehrter Herr Preiss«, unterbrach der Buchhalter.

»Es geht nicht anders, Lenz! In unserm Geschäftspersonal–«

»Stoßen Sie nicht Ihre treuesten Diener von sich!«

»In unserm Geschäftspersonal –«

»Kann man mit den Arbeitern im Magazine anfangen.«

»Allerdings, Lenz! Und dann müssen wir ans Comptoir gehen –«

»Und den einen Lehrling abschaffen –«

»Und den jüngsten Kommis – Lenz!«

»Allerdings.«

»Sowie ferner – es tut mir leid – nein, der jüngste Kommis kann bleiben – es tut mir sehr leid – was Sie betrifft – Lenz.«

Hier hatte die Geduld des Buchhalters ein Ende. In großen Tropfen rann der Schweiß auf seine erblichene Nase. Die grüne Brille entglitt ihr, und wie eine Blume im Sturm brach er zusammen, der unglückselige Mann, und die Arme eines Comptoirstuhles nahmen ihn auf und hielten ihn fest umschlossen.

Der Herr Preiss hatte indes nicht vollendet. Der Schluß seiner Phrase war ihm auf der Zunge geblieben, [454] denn eben trat der Postbote ins Zimmer und überbrachte die Zeitung. Seit den Februarereignissen in Paris und seit den eingetroffenen Wiener Nachrichten hätte sich der Herr Preiss nicht durch vierundzwanzig Pferde von sofortigem Lesen der Zeitung abziehen lassen. Die Unterredung mit dem Buchhalter wurde daher im Nu unterbrochen, und die grüne Mütze tief ins Gesicht drückend, die Beine fest ineinanderkneifend und das Zeitungsblatt mit beiden Händen ergreifend, schickte sich der würdige Herr auf der Stelle an, die Bühne der Welt rasch lesend zu durcheilen.

Armer Preiss! Du wußtest nicht, was du tatest. Seht ihn sitzen, den gewaltigen Mann. Er schaut in das verhängnisvolle Blatt, er liest nur einen Augenblick – da ergreift ein Zittern all seine Glieder, seine Knie schlottern, die Mütze fällt vom Haupte: »Revolution in Berlin!« ruft er mit erstickter Stimme, und wie der Buchhalter Lenz gegen Westen gefallen, so sinkt der würdige Prinzipal gen Osten in die Arme des Lehnstuhls. »Hallo! Jetzt ist der Teufel erst recht los –«, das sind die letzten Worte, die er zu sprechen vermag, die Zunge versagt ihm den Dienst, seine Augenlider sinken, und wiederum herrscht auf dem weiten Comptoir Todesstille.

Rötlich aber strahlt der Morgen durch die zwei großen, halbverstaubten Fenster auf die Tintenkleckse des Schreibpults.


Nach jener welterschütternden Nachricht der Berliner Revolution hatte der Herr Preiss einen kläglichen Tag verlebt. Da kam die schwarze Nacht, und seine Angst stieg um 20 Prozent. ›Die Nacht ist keines Menschen Freund‹, dachte der Herr Preiss und suchte in seinem[455] Pult nach zwei alten türkischen Pistolen, die ihm einst sein Großonkel mütterlicher Seite von einer Entdeckungsreise in den Orient mitgebracht hatte. Er schickte in die Apotheke und ließ sieben Lot Pulver fordern, prima Qualität. Kugeln fehlten ihm – er nahm zwei Agatkugeln aus seinem Petschaft.

Nach dem Abendessen, welches lautlos und in ängstlicher Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, verzehrt wurde, verriegelte Herr Preiss eigenhändig alle Türen des Hauses. Eine Dogge, halbe Rasse, wurde in der Küche hinter dem Fensterladen angebunden; ein Nachtlicht brannte auf dem Hausflur. Gegen 11 Uhr schlich der würdige Mann mit todesverächtlicher Miene die Treppe hinauf in sein Schlafgemach. Tiefe Stille. Es war sehr unheimlich. – ›Jedenfalls siehst du einmal unter dein Bett!‹ dachte Herr Preiss. – Die eine türkische Pistole in der Hand, bückte er sich mühsam, und voll schauerlicher Freude überzeugte er sich davon, daß alles in Ordnung, daß kein Schinderhannes zugegen und daß nur der weiße, unschuldige Nachttopf ruhig und gelassen dastand in der Fülle seiner harmonischen Formen. Wie es jeder Fromme zu tun pflegt, zog der Herr Preiss auch diesmal vor dem Nachtgebet seine Uhr auf, eine Genfer Repetieruhr, laufend in sechs falschen Diamanten. Dann eine baumwollene Mütze mit großem Quast aus der Kommode ziehend, krönte er sein müdes Haupt bis tief über die Ohren.

»Die Unterhose kannst du anbehalten«, murmelte er. »Man kann nicht wissen, wofür es gut ist; auch die Strümpfe werde ich nimmer ausziehen; man weiß nicht, was passiert ...« Da setzte er den Fuß auf die Lehne des Bettes.

[456] Also dastehend in weißer Unterhose, in baumwollener Nachtmütze und das eine Bein auf dem Rande des Lagers, empfahl Herr Preiss sich dem allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde, und noch einmal hinaushorchend, ob sich auch gar nichts rege da draußen in der revolutionären Außenwelt, taumelte er dann mit einem kühnen Salto mortale in die sanften vaterländischen Kissen. Auf dem Nachttisch aber lagen die zwei türkischen Pistolen, ein Federmesser und drei Dutzend Schwefelhölzer.

Mehrere Stunden mochte der Schlafende ruhig geschnarcht haben, da neigte sich der Träume lieblicher Gott über die baumwollene Nachtmütze des würdigen Handelsherrn und ließ ihn träumen folgenden Traum. Der Herr Preiss träumte, alle Zahlen seines großen Hauptbuches hätten ein Komplott, eine Konspiration gegen sämtliche Nullen desselben gebildet.

Die Nullen, weil ihrer zwei hinter Eins: Hundert und weil ihrer fünf hinter Eins: Hunderttausend ausmachen, hatten nämlich seit undenklicher Zeit behauptet, daß sie allein Wert und Wichtigkeit in der Welt hätten und daß alle übrigen Zahlen nur existierten, um ihnen wohlgefällig zu sein. Bei öffentlichen Gelegenheiten in Adressen und Proklamationen vergaßen sie nie, diese Ansicht geltend zu machen, und wenn die guten, geduldigen Zahlen Einwendungen zu machen suchten, so wurden sie höchstens ausgelacht und mit einem Rüffel von wegen ihres beschränkten Untertanenverstandes wieder entlassen.

»Wir, von Gottes Gnaden, Null«, hatte manche dicke Null in dergleichen Fällen gesagt, »tun hiermit kund und geben zu wissen, daß ihr dummen, aber zudringlichen [457] Zahlen euch jeglicher Einmischung in unsre Kraft und Herrlichkeit enthalten sollt, widrigenfalls wir euch laut einem funkelnagelneuen Strafgesetzentwurf mit Knütteln, Bajonetten, Kartätschen und Schrapnells allerhöchst vom Leben zum Tode befördern werden.«

In solchem Stile, umwunden von einigen bürokratischen Verblümungen, beliebten die Nullen ihre Weisheit den Zahlen gegenüber an den Tag zu legen; und wie ein ehrlicher Mann vieles glaubt, wenn es ihm nur mit dem gehörigen Nachdruck gesagt wird, so glaubten auch die Zahlen bald an das, was ihnen die Nullen vortrugen, und es konnte nicht fehlen, daß sich mit der Zeit zwischen beiden Parteien das allerschönste Untertanenverhältnis entwickelte und schnell eine ganze Hetze von königlichen, kaiserlichen, fürstlichen, landgräflichen und ähnlichen Nullen gleich einem Heuschreckenschwarme das Land bedeckte.

Die Zahlen, als schlichte, biedere Staatsbürger, die sich lieber mit ihren Gewerben, mit Künsten und Wissenschaften als mit groben Nullen abgaben, hatten kaum gemerkt, daß die letztern sich mit jedem Tage fester und feister fraßen. Sie fuhren mit Vieren, sie schossen alle Hasen, sie fraßen Eis en vanille und rochen wohlriechend. Dazu liebten sie ihrer Untergebenen Schweiß und Blut; beides zapften sie ab und tranken es zum Wohle ihrer Staaten. Bei dieser guten Lebensart wurden sie, je länger, je lieber, immer aufgeblasener und hochmütiger. Sie stifteten Zerwürfnisse durch ihre Strafentwürfnisse, sie preßten durch ihre Preßgesetze; sie verboten das Singen und das Reden, ja beinahe das Husten und das Pissen.

Da brach den Untertanen die Geduld; sie kamen zusammen in kleinen Waschzetteln und Wirtshausrechnungen; [458] sie überlegten, was zu tun sei, und entwarfen folgende Adresse an die zunächst residierende Herrschaft:

»Allerdurchlauchtigste Majestät, allergnädigster König und Null! Ew. null und nichtigen Hoheit erlauben wir uns hierdurch die friedliche Bemerkung zu machen, daß wir zwar gern Dero Wichtigkeit insoweit anerkennen, als die Null überhaupt im Dezimal- und sonstigen Rechnungssystem Bedeutung hat, daß wir aber sehr bezweifeln, ob Ew. königl. Null noch dann irgendeinen Wert hätte, wenn ihr nicht stets eine bürgerliche Zahl vorherginge. Indem wir daher Ew. null und nichtigen Hoheit dringend anempfehlen, gütigst sofort die Souveränität der Zahlen eintreten lassen zu wollen, verharren und ersterben wir freundschaftlichst und ergebenst Ew. königl. Null betreffende Zahlen: Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf, Sechs, Sieben, Acht und Neun.«

Die zwar höfliche, aber nichtsdestoweniger höchst energische, im sogenannten jakobinischen Stile abgefaßte Adresse der Zahlen an Se. Majestät, die königliche Null, zeigte nur zu deutlich, daß sich die Unterzeichneten bemühten, das Verhältnis zwischen Fürst und Untertan von dem weltbekannten, historischen Rechtsboden auf die breiteste demokratische Grundlage hinunterzuziehen. Ihre null und nichtige Hoheit gerieten deswegen in die außerordentlichste Mißstimmung. Minister wurden entlassen, Gesandte wurden abberufen, Kammerjäger bekamen Fußtritte, und die Orden verringerten sich bedenklich. Am entsetzlichsten machte sich indes der Unwille Ihrer Majestät in dero allerhöchsten Handschreiben an sämtliche null und nichtigen Vettern und lieben Getreuen des weiten Landes Luft. Der freche, unehrerbietige Tadel altehrwürdigen Herkommens, den sich die Volksversammlung [459] der Zahlen in den Augen Ihrer Majestät zuschulden kommen ließ, wurde in den schwärzesten Couleuren geschildert. Man sprach geradezu von einer weitverzweigten Konspiration, welche den Umsturz alles Bestehenden zum Zwecke habe und nach vielfachen anarchischen Volksbelustigungen mit einer blau-weiß-rötlichen Republik endigen solle.

Zahlreiche Spione mit blonden Schnurrbärten und tiefliegenden schmutzig-blauen Augen, Leute von Gesinnung und Charakter, die sich zu des respektiven Landesfürsten wohldressiertesten Dienern rechneten, waren aufs eifrigste bemüht, der um sich greifenden Verderbnis der niederen Volksklasse nachzuspüren, und es bedarf wohl nicht der Versicherung, daß diese gefälligen, achtungswerten Männer zu Nutz und Frommen ihrer null und nichtigen Herren aus der Mücke der Wahrheit jedesmal den Elefanten der Lüge zu bereiten wußten und so die unselige Kluft zwischen Null und Zahl nur noch immer weiter und tiefer machten. – Es würde zu weitläufig sein, diese zu einer unheilvollen Katastrophe sich entwickelnde Spaltung in allen ihren Details verfolgen zu wollen. Der Herr Preiss träumte sie auch nur abgerissen und fragmentarisch, und wir sind zu gewissenhaft, um irgend etwas schildern zu wollen, was nicht wirklich faktisch und historisch in der unsterblichen Seele des Schlafenden zur Welt kam.

Jedenfalls wurden die Sachen sehr schlimm. Der berühmten Petition der Zahlen war von seiten der Nullen die tiefste offizielle Stille, von seiten der Zahlen die Qual der peinlichsten Erwartung gefolgt. Die guten untertänigen Zahlen wollten eine Antwort auf ihre Eingabe, ehe sie dem Throne wieder frohlockend nahten; [460] die hochgeborenen Nullen wünschten dagegen nicht früher etwas zu erwidern, als bis die gehörige Anzahl Schrapnells angefertigt worden sei und die außerordentlich kurzen diplomatischen Verhandlungen unter den verschiedenen Höfen ein anständiges Ende erreicht hätten.

Endlich waren diese durchaus nötigen Präliminarien erledigt, und da sich gerade ein sonderbares volkstümliches Gemurmel in den Grundschichten des bürgerlichen Lebens kundtat, so beeilte sich die eine namentlich angegangene Null um so mehr, ihren königlichen Gesinnungen in folgender höchster Proklamation den so sehr gewünschten Ausdruck zu verleihen.

Diese durch den »Staats-Charivari« veröffentlichte Proklamation hieß folgendermaßen:

»Irregeleitete Zahlen, sehr freche Landeskinder! Wurzelnd in dem Rechtsboden meiner glorreichen Ahnen und gehüllt in den Fabelmantel meiner absoluten Herrlichkeit, fühle ich das größeste Bedürfnis, ein unsägliches Mitleid mit euch zu haben. Die Forderung, euch die Souveränität zu bewilligen, beweist wohl am besten, daß ihr hiezu noch nicht reif seid. Der Untertan ist nicht ein fortdauernd nehmendes, sondern ein duldend empfangendes Wesen. Wehe euch, daß ihr herausgetreten aus eurer naturwüchsigen Entwickelung. Solange eine Null noch Wert und Wichtigkeit hat, wird euch nimmer gewillfahrt werden; denn es ist meine Pflicht, über euch zu wachen und zu herrschen wie eine wahrhaft landesväterliche, königliche Null.«

Ähnliche, von fast allen kaiserlichen wie land- und reichsgräflichen Nullen erlassene Proklamationen waren die Signale zu einem thronerschütternden Volksunwillen.

[461] Man raunte sich überall in die Backenbärte: entweder müsse man eine Revolution veranstalten oder man blamiere sich vor der ganzen Tierwelt. In einer massenhaft besuchten Volksversammlung drang diese Ansicht noch mehr durch. Die Eins, ein gerade gewachsener, tüchtiger Mann, setzte sie ohne viele Gestikulationen in einer trefflichen Rede sehr verständlich auseinander. Die Zwei, wie ein listiges Fragezeichen aussehend, machte sie zwar durch einige Einwürfe für den Augenblick wankend; als dann aber die Drei, ein recht knorriger Mann aus dem Volke, auftrat, da war die Sache schnell wieder im Zuge, und es bedurfte schließlich nur der kantigen Vier, um für die betreffende Angelegenheit den schallendsten Applaus zu erregen.

Mit dem glänzendsten Pathos entwickelte dann die bombastische Fünf die Segnungen, welche einem Umsturz des Bestehenden folgen würden. Die Sechs, ein entschiedenes, energisches Wesen, drang da auf Abstimmung; man gab aber noch der Sieben das Wort, die nach ihrem galgenähnlichen Äußern einen außerordentlichen Redeerguß verhieß.

Die Acht zeigte sich ebenfalls noch auf der Tribüne; da sie aber durch ihre aus zwei Nullen bestehende Gestalt nur zu sehr an eine außereheliche Abkunft höhern Orts erinnerte, so entstand ein wahrer Orkan von Völkergeschrei, und schnell mußte sie der keulenähnlichen Neun den Platz überlassen, die ohne weitere Umstände die Motion machte, daß man die Sitzung sofort auf die Straße verlege, um ihr einen desto praktischern Anstrich zu verleihen.

Soweit hatte Herr Preiss geträumt, da seufzte er tief auf, und der Quast der baumwollenen Nachtmütze bewegte [462] sich über seinem Haupte. »Das Volk steht auf, der Sturm bricht los.« – Mit Schrecken gewahrte er, wie die Zahlen und die Nullen die weiße, ebene Fläche seines großen Hauptbuches dazu ausersahen, das Schlachtfeld ihres Souveränitätskampfes zu werden.

Deutlich sah er, wie die Nullen des Kapitalkontos in geordneten Linien von der einen Seite heranrückten und wie sich von der andern die Zahlen aus allen kleinen Rechnungsposten in zwar ungeregelten, aber desto wildern Massen in den Kampf drängten. Einige Kolonnen roter Zinszahlen, welche mit der republikanischen Infanterie des Auslandes die frappanteste Ähnlichkeit hatten, ließen ihre Fronten noch schauerlicher erscheinen und trugen nicht wenig dazu bei, das königliche Blut der Nullen vor Schreck erstarren zu machen. Nur der kommandierende Prinz, eine Null vom reinsten Wasser, der Abgott der legitimen Soldateska, hatte sein schreckliches Herz auf der rechten Stelle; er hatte zwei große historische Rittersporen an die Absätze seiner allerhöchsten Stiefel geschnallt; in der königlichen Faust trug er ein schartiges, sehr antikes Schwert aus der Blütezeit des Absolutismus. Manchmal reitend auf einem englischen konstitutionellen Renner, bestieg er doch heute einen vaterländischen urkräftigen Klepper. Den Schnurrbart streichend, kommandierte er in jenem berüchtigten fürstlichen Akzent das »Vorwärts«; die Garde blies auf ihren Schalmeien das entsetzliche Lied: »Liebe, Liebe ist mein Leben, Liebe ist mich nötig«, und unaufhaltsam wogte die Schar der Nullen ihren Feinden entgegen. Diese, mit bürgerlichen Mistgabeln, mit modernen Basaltblöcken und höchst beunruhigenden Eisenstangen, stellten sich ebenfalls in Reihe und Glied. Zarte Frauen schickten sich an, von den [463] Dächern hinab die königlichen Nullen zum zweiten Male mit zwar erhitztem, aber dennoch ambrosischem Rüböle zu salben, während die Kinder nicht etwa Rosen und Aurikeln, sondern Scherben echten Kristalls dem heranziehenden Feinde entgegenstreuten. Selbst des Volkes verachtetste Hunde und des Märzes verliebteste Katzen schienen heute ihre Bravour außer alle Frage stellen zu wollen und erhoben als Antwort auf die Janitscharenmusik der königlichen Garde jenes herzerhebende nationale Geheul und Gezisch, das Steine erweichen, Menschen rasend machen kann. Während die beiden Parteien, kaum noch getrennt durch die Entfernung eines unwillkürlichen, gegenseitigen Respektes und durch einige in rein gotischem Stile aufgeführte Barrikaden, einander auf den Leib zu rücken suchten, rollten von der Stirn des Träumenden heiße, schwere Tropfen in den Brustlatz seines unschuldreinen Hemdes.

Der Herr Preiss erkannte nämlich gar nicht die welthistorische Bedeutung seines Traumes. In der Empörung der Zahlen gegen die Nullen seines Kapitalkontos sah er einzig und allein eine Gefährdung seiner kommerziellen Interessen. Gern hätte er deswegen das verhängnisvolle Hauptbuch hintereinander zugeschlagen, um auf diese Weise beide Parteien in der Geburt ihres Streites zu ersticken. Je näher der Ausbruch der Feindseligkeiten bevorstand, desto reaktionärere Gelüste erfaßten ihn. ›Am Ende sollst du mit deinem guten Gelde die Kosten dieser zwar sehr interessanten, aber dennoch verwerflichen Umwälzung bezahlen‹, dachte er, und ich frage jeden Unparteiischen, ob der würdige Handelsherr nicht das größte Recht hatte, in einen sehr wohltätigen Schweiß auszubrechen.

[464] Das Röcheln seiner träumerischen Angst sollte indes noch größer werden, als nun endlich die erste königliche Kartätsche mit einer unbegreiflichen Unverschämtheit den kühnen revolutionären Zahlen auf die Köpfe fiel und sofort von einem solchen Meteorsteinregen erwidert wurde, daß zwei königliche Nullen klagend das Zeitliche segneten. Der Kampf war nun eröffnet, und mit Entsetzen bemerkte der Träumende, wie dem Angriff der Nullen nur eine immer wilder emporflammende Raserei der Zahlen folgte. Die Säbel der Insurgenten, die Kugeln ihrer Jagdgewehre und die von allen Dächern tropfenden Pflastersteine vernichteten ganze Kolonnen seines Kapitalkontos. Dazu klang das Läuten der Sturmglocken so schauerlich wie das Klappern von falschen Dukaten; es war ihm nicht anders mehr zumute, als hätte er sieben unversicherte Schiffsladungen Kaffee auf der See in einem Äquinoktialsturme; sein edles kaufmännisches Herz schlug wie der Wecker an einer Schwarzwälder Uhr, und mit jeder Null, die hinunter zum Styx fuhr, rollte ein neuer Angstschweißtropfen über seine olympische Stirn.

Alles dies ertrug indes noch die Seele des Gepeinigten; mit wahrem Heroismus sah der herrliche Dulder die Tausende durch das Fallen zweier oder dreier Nullen zu Zehnern oder zu Einern werden; als aber endlich den Kieselsteinen, den Büchsenkugeln, den Ölphiolen und den Bierglasscherben gar noch der Feuerbrand folgte, als man das ganze Hauptbuch mit sämtlichen kaiserlichen, königlichen, gräflichen und ähnlichen Nullen in Brand zu stecken suchte: da fuhr er empor mit dem Schrei der Verzweiflung, die baumwollene Nachtmütze entsank seinem Schädel, und die Decken zur Seite schiebend und mit beiden beunterhosten Beinen zu gleicher Zeit dem [465] Bette entfahrend, griff er wie rasend nach einer der türkischen Pistolen des Nachttisches; rechts und links stürzten Leuchter und Schwefelhölzer, Pantoffeln und Nachttopf – losknallte das Pistol, und das Schlafgemach krachte bis in sein letztes Mauseloch.

Der Buchhalter Lenz, der eben seinen Herrn zu wecken gedachte und voll haarsträubender Angst, daß er sich frevelnd ein Leid angetan, ins Zimmer stürzte, fand den würdigen Prinzipal selig lächelnd am Fenster stehen. Der Herr Preiss sah, daß er geträumt hatte, und neugierig blickte er hinüber nach dem nächsten Kirchturme, von dessen Spitze die schwarzrotgoldene Fahne lustig im Morgenwinde flatterte.

11. Der Buchhalter Lenz als Bürgergardist

XI.

Der Buchhalter Lenz als Bürgergardist

Die Revolution des März war geschehen. Der Herr Preiss glich einem nassen Pudel, der seine Schnauze zwischen die beiden Vorderbeine steckt und über die Nichtigkeit alles Irdischen eine lange, melancholische Betrachtung anstellt. Die Februarereignisse berührten ihn wie eine Ohrfeige; die Märzrevolution traf ihn wie der Donner Zeus', des unsterblichen.

»Von heute an will ich alle Betteljungen in österreichischen Metalliques-Coupons bezahlen!« rief der schmerzlich bewegte Mann aus, »da bin ich sicher, daß ich nicht zuviel gebe. Meine Bons auf die Insel Sandwich sind nur zu Fidibus gut; meine Eisenbahn-und Bergwerksaktien – hol sie der Teufel. Sela!«

Dutzende ähnlicher Stoßseufzer entwanden sich der Brust des ehrenwertesten aller Handelsherren. »Aber[466] mein Entschluß ist gefaßt«, fuhr er fort, »verlassen will ich dieses Land der Schrecken, verlassen diese Atmosphäre der Anarchie; verkaufen will ich mein Haus, meinen Hof, meinen Garten; verkaufen meinen Wagen, meine Pferde, meine Hunde; entlassen meine Knechte, meine Mägde, meinen Buchhalter Lenz und hinüberziehen nach einer einsamen, wüsten Insel, fern, fern in den Wogen des unendlichen Meeres.« – Der Herr Preiss versank in ein dreiviertelstündiges Stillschweigen. Wer weiß, wie lange er dem Fluge seiner Phantasie gefolgt wäre, wenn nicht plötzlich draußen auf dem Gange des Hauses ein höchst beunruhigender Lärm entstanden wäre. Ein sonderbarer, ganz ungewohnter Skandal. Er kam näher. Es war das Getöse von Waffen; es war, als wenn klipp, klapp ein Säbel auf die Waden eines Mannes fiele – – und entsetzt hob sich der Sinnende empor von dem Kissen des Lehnstuhls. Da knarrte die Tür in ihren Angeln, und gerüstet vom Kopf bis zur Zehe trat der Buchhalter Lenz vor seinen erschrockenen Herrn.

»Lenz!« seufzte der Herr Preiss.

»Mein verehrter Herr!« erwiderte der Buchhalter.

»Lenz! Aber seid Ihr des Teufels, Lenz?«

»Verzeihen Sie, ich bin ein bewaffneter Staatsbürger!« – und Prinzipal und Buchhalter maßen sich mit den erstaunten Augen.

Lenz nahm sich vortrefflich aus. An seiner Seite trug er einen Säbel, den sechs Mann nicht aus der Scheide zu ziehen vermocht hätten. Auf seiner Schulter lag ein Gewehr, ein Kuhbein, lang wie es Lederstrumpf getragen, der Coopersche Nordamerikaner. Auf seinem Haupte schwankte eine Mütze mit der schwarzrotgoldenen Kokarde, groß wie ein Wagenrad. Dazu die großen Füße, [467] die enge, kurze Hose, die fast über den Rand des Stiefels reichte; die weiße, altertümliche Weste in Falten geschnürt durch den Riemen des Säbelgehänges, der schwarze Frack mit den dolchspitzen Zipfeln, die Brille endlich und die rote Nase nicht zu vergessen – alles das machte ein Ensemble, was den Griffel eines Hogarth oder den Pinsel eines Hasenclever auf der Stelle in die geschäftigste Bewegung gesetzt haben würde. Der Herr Lenz glich einem Soldaten aus der Armee Sir John Falstaffs, einem Warze, einem Schimmelig. Rechtes Kanonenfutter war der Kerl vom Schädel bis zur Sohle. Die Kindermädchen versteckten sich hinter den Haustüren, wenn er über die Straße ging, die Hunde bellten, die Hühner ließen vor Schreck ein Ei fallen.

Der Buchhalter hatte seine Muskete in die Ecke des Comptoirs gestellt; die Patronentasche aber noch auf dem Hintern und den Flamberg an der Seite, setzte er sich ohne weiteres auf seinen Stuhl, um nach Genuß einer großen Prise wie gewöhnlich sein Tagewerk zu beginnen.

Herrn Preiss wurde es schwül zumute; er blickte bald auf die Muskete, bald auf seinen Buchhalter. »Die Zeiten sind nicht bloß schlimm, nein, sie werden auch gefährlich!« murmelte er leise. »Man kann sich vor seinem eignen Buchhalter in acht nehmen, wenn er also schrecklich gerüstet einherschreitet.« Der Buchhalter schien das Gemurmel seines Herrn zu verstehen; er nahm zwei Prisen hintereinander, und ein freudiges Lächeln spielte um die Flügel seiner purpurnen Nase.

»Wir sprachen gestern von den Ökonomien, welche anzubringen wären«, begann der Buchhalter.

»Allerdings, Lenz!« erwiderte der Herr Preiss. »Die Ankunft der Berliner Post unterbrach uns.«

[468] »Ganz recht, verehrter Herr Preiss, aber sollen wir dies Kapitel nicht wieder aufnehmen?«

»Wie Sie wollen, lieber Herr Lenz! aber –«

»Fürs erste wollten Sie die Wagenpferde abschaffen.«

»Sehr richtig, Lenz – indes –«

»Und dann würden Sie den Wagen verkaufen, das war logisch.«

»Allerdings, Lenz, im höchsten Grade logisch, aber –«

»Den Modifikationen in Stall und Remise sollten weitere in Küche und Keller folgen.«

»Gut behalten Lenz; im Grunde –«

»Verzeihen Sie, vor allen Dingen sollten aber Veränderungen im Getriebe Ihres Geschäftes vor sich gehen –«, der Buchhalter schaute hinüber nach seiner Muskete. Dem ehrenwerten Herrn Preiss wurde es immer unheimlicher zu Sinne.

»Sehr bedeutende Änderungen im Getriebe Ihres Geschäftes!« wiederholte der Buchhalter mit Nachdruck.

»Allerdings, lieber Lenz, übrigens –«

»Die Produktionskosten sollten auf ein wahres Minimum reduziert werden.«

»Sie haben sich alles gut gemerkt, Lenz. Indes –«

»Mit Ihrem Geschäftspersonal wollten Sie anfangen.«

»Aber mein lieber Herr Lenz –«

»Die Arbeiter des Magazins sollten zuerst entlassen werden.«

»Ich weiß nicht, ob ich so sagte; jedenfalls –«

»Jedenfalls sollte aber auch das Comptoir dran.«

»Sie irren sich, lieber Herr Lenz!«

»Keineswegs! Der jüngste Kommis sollte jedenfalls geopfert werden.«

»Sie haben ein ungemein gutes Gedächtnis.«

[469] »Und wie Sie neulich den alten Sassafraß entlassen haben, so wollten Sie auch –«

»Ich wollte nichts mehr, Lenz!«

»So wollten Sie, was mich beträfe –«

Hier entstand eine große Pause. Der Buchhalter hatte seinen Herrn mit einem durchbohrenden Blicke angeschaut. Sacht ließ er sich hinabgleiten von seinem Comptoirstuhl, und einen Schritt seitwärts nach der Muskete tuend, schien er von der Antwort des Prinzipals die entsetzlichste aller Maßregeln abhängig machen zu wollen. Dem armen gefolterten Herrn Preiss war der Angstschweiß aus allen Poren gebrochen. Kaum seiner peinigenden Gedanken über die Dinge im allgemeinen los und ledig, wehte ihn schon wieder aus der Konversation mit dem Buchhalter der Geist der Anarchie und der Revolution an. Wie? Der sonst so sanfte Buchhalter, er wagte im Glanze der Waffen in das Comptoir zu treten und, mit der Patronentasche auf dem Rücken, mit dem Säbel an der Seite, eine Sache zur Sprache zu bringen, welche das Verhältnis zwischen Herr und Diener auf so empfindliche Weise berührte – es war unerhört, es war zum Verzweifeln!

Als der Herr Lenz daher die Worte sprach: »Wasmich beträfe –«, da versagte dem ehrenwerten Handelsherrn fast die Stimme, und nur mit bebenden Lippen konnte er die Worte hinzufügen: »Seien Sie unbesorgt, Herr Lenz, ich will Ihnen eine Zulage geben von 100 Talern jährlich – preußisch Kurant.«

Der Buchhalter nahm drei große Prisen. »Sie sind ein Ehrenmann, Herr Preiss!« rief er, und die Muskete ergreifend, schulterte er so flott wie der beste Korporal. »Da ich indes die Wache beziehen muß, so werde ich unmöglich [470] heute irgend etwas arbeiten können. – Guten Morgen, Herr Preiss!«

Staunend schaute der Herr seinem Diener nach. Die Kokarde der Gardistenmütze blitzte in den Strahlen der Morgensonne.

12. Wie sich der Herr Preiss nach den Zeitverhältnissen

XII.

Wie sich der Herr Preiss nach den Zeitverhältnissen richtet

»Ich bin heute mit dem rechten Bein aus dem Bett gestiegen«, begann der Herr Preiss zu seinem Buchhalter. »Ich habe mehr Mut als gewöhnlich, ich bin beinahe guter Dinge, der Hafer sticht mich fast –«

»Hafer ist im Preise gewichen«, erwiderte der Buchhalter Lenz, indem er im Lesen eines Preiskurantes fortfuhr.

»Sie verstehn mich nicht, Lenz, ich meine, daß ich wieder mehr Unternehmungsgeist habe, als es vielleicht in diesen schlechten Zeien wünschenswert ist; ich sehne mich nach Tätigkeit; vielleicht ist der Sommer –«

»Sommersaat steht noch sehr niedrig und ist beinahe gar nicht gefragt –«, unterbrach der Buchhalter.

»Nein, Lenz, ich meine, daß der Sommer wohl nur schuld daran ist, daß mich das schöne Sommerwetter wohl nur so heiter und kühn stimmt; bei lichter, klarer Witterung ist der Mensch mehr zu Spekulationen aufgelegt, als er es vernünftigerweise sein sollte. Ich fühle mich zu einer Torheit um 20 Prozent mehr aufgelegt als seit langer Zeit.«

»Zwanzigprozentiger Spiritus ist in Stettin augenblicklich nicht vorrätig«, erwiderte der Buchhalter, indem [471] er ruhig das Studium seines Handelsberichtes fortsetzte.

Der Herr Preiss wäre fast ärgerlich geworden. »Aber hören Sie doch zu, Lenz! Ich spreche weder von Hafer, von Sommersaat noch von Spiritus. Ich habe ganz andre Dinge vor; hole der Henker die gewöhnlichen Artikel! Ich sehne mich nach etwas Besserm; die Zeitverhältnisse –«

»Die Zeitverhältnisse wirken noch immer sehr störend auf das Geschäft ein, schreibt man von Amsterdam.«

Der Herr Preiss hätte beinahe geflucht. »Geben Sie das Lesen Ihres Berichtes dran, lieber Lenz, die Zeitverhältnisse lassen mich weder an Stettin noch an Amsterdam denken. Man muß sein Augenmerk auf die Dinge im allgemeinen richten, der Handel muß von einem höhern Standpunkt aus begriffen werden. Wie sich die Zeiten ändern, so müssen wir uns selbst ändern. Ein gescheiter Mann hängt den Mantel nach dem Winde –«

»Der dauernde Ostwind hält die Einfuhr in manchen englischen Häfen auf sehr bedauerliche Weise zurück, meldet man von Liverpool –«

»Donner und Doria, Lenz! Hören Sie, was ich sage. Wenn ich von meiner Gemütsstimmung rede, da sprechen Sie von Hafer; erkläre ich Ihnen die Einflüsse der Jahreszeit, da sind Sie beim Spiritus und bei der Sommersaat; will ich Sie von der Lage Europas unterhalten, da geraten Sie nach allen Ecken der Welt, nur nicht in die, welche uns am meisten interessieren muß.«

Erstaunt sah der Buchhalter von seinem Berichte auf, und der Herr Preiss fuhr fort:

»Sie wissen Lenz, mit den Artikeln, die wir bisher führten, ist es nichts mehr –«

[472] »Gar nichts!«

»In Korinthen ist es flau. In Heringen entschieden ruhig. Grütze wenig gefragt. Schnaps vernachlässigt.«

»Es ist, als ob niemand mehr Durst hätte.«

»Richtig bemerkt, Lenz! Wir müssen uns deswegen auf andre Gegenstände werfen, welche mehr den sozialen und politischen Zuständen der Gegenwart angemessen sind.«

»Man muß mit den Wölfen heulen.«

»Allerdings, Lenz! Und ich habe daher den festen Entschluß gefaßt, daß wir eine Spekulation in – raten Sie mal! –«

»Verehrter Herr Preiss, ich will Ihrer hohen Meinung nicht vorgreifen.«

»Daß wir eine Spekulation in – nun, strengen Sie sich etwas an, Lenz!«

»Entschuldigen Sie mich, Herr Preiss, ich bin zu konservativ, um alle Neuerungen auf der Stelle begreifen zu können.«

»Wohlan! Wir wollen eine Unternehmung in schwarzrotgoldnen Kokarden machen!«

»Das ist patriotisch!«

»Patriotisch oder nicht patriotisch, es ist einträglich!«

Der Herr Preiss warf sich in die Brust, und die Arme übereinanderschlagend, sah er den Buchhalter mit triumphierendem Blicke an. – Lenz nahm eine große Prise.

»Patriotisch und einträglich! Herr Preiss, ich bin ganz mit Ihnen einverstanden.«

»Nicht wahr, Lenz? Bei einer solchen Geschichte könnten wir reich werden.«

»Und wir machen uns verdient um das Vaterland!«

»Das ist dummes Zeug, Lenz. Aber ich glaube sicher, daß die Sache ziehen wird.«

[473] »Vielleicht! Aber es fällt mir da plötzlich etwas ein –«

»Und was, Lenz?«

»Glauben Sie, daß der schwarzrotgoldne Spektakel lange halten wird?«

»Wieso?«

»Denken Sie sich, daß uns die Russen oder die Franzosen über den Hals kämen oder daß wir gar Republikaner würden mit einer neuen Couleure – wie dann? Was machten wir dann mit unsern Kokarden?«

»Sie meinen also, Lenz, daß wir die russischen und französischen Kokarden zu gleicher Zeit mit den deutschen fabrizieren lassen sollten?«

»Das wäre schon besser – aber es bliebe gefährlich!«

»Sehr gefährlich, Lenz! Sie haben recht –«. Herr Preiss besann sich. Der Buchhalter schnupfte bedeutend.

»Nein, es geht nicht, Lenz. Es ist nichts mit dieser Geschichte, wir würden zu sehr von den Weltereignissen abhängen. Aber was sagen Sie zu Waffen?«

»Zu Säbeln und Dolchen?«

»Und zu Musketen und Kanonen?«

»Herr Preiss, wir haben große Konkurrenz in diesem Artikel; ich kann kaum dazu raten. Da der Konsumo von Waffen außerordentlich groß ist, so werden auch sicher bald wieder Verbesserungen angebracht, und wehe uns dann mit einem allmächtigen Vorrat! Wenn wir Waffen im Hause haben, da stürmen uns auch die Proletarier bei der nächsten Gelegenheit das Lager –«

Den Herrn Preiss überlief ein kalter Schauder. »Sie haben recht, Lenz. Waffen ist ein diffiziler Artikel – aber es ist doch entsetzlich, daß man beim besten Willen nichts unternehmen kann! Alles ist verdorben, das ganze Geschäft [474] ist ruiniert; es bleibt wirklich nichts anderes mehr übrig, als den ganzen Kommerz an den Nagel zu hängen.« –

Eine Pause entstand. Zufällig blickte der ehrenwerte Handelsherr in die zuletzt erschienene Zeitung. Er stutzte; er bog sich hinab; ein seliges Lächeln umflog seine Lippen – »Hier ist's! Ich hab's!« rief er, und die Arme auf den Rücken legend, trat er keck vor den erschrockenen Buchhalter.

»Wissen Sie was, Lenz?«

»Nun, Herr Preiss?«

»Wissen Sie, was der Lieblingsartikel der Gegenwart ist?«

»Welcher denn?«

»Wissen Sie, worin wir spekulieren müssen?«

»Worin denn?«

»Ich will es Ihnen sagen, Lenz! Merken Sie sich –«, die Stimme des Herrn Preiss bekam einen mystischen, feierlichen Ton, »spekulieren in – –Schrapnells!«

»– Schrapnells –«, wiederholte der Buchhalter Lenz langsam und deutlich.

Er erinnerte sich nicht, diesen Artikel schon früher einmal in einem Preiskurant verzeichnet gesehen zu haben.

13. Der Herr Preiss über die Dinge im allgemeinen

XIII.

Der Herr Preiss über die Dinge im allgemeinen

Auf dem Comptoire des Herrn Preiss lag wieder einmal die schauerlichste Geschäftsstille.

Der Herr Preiss sah aus wie ein Totengräber, in dessen [475] Kundschaft während ganzer vierzehn Tage auch nicht ein einziger Mensch gestorben ist.

In der Tat, seit vierzehn Tagen hatte der Herr Preiss keinen Käufer bei sich gesehen.

Der Buchhalter Lenz schrieb die Köpfe seiner Handelskonti für ein halbes Jahr im voraus, aus reiner Langerweile. Die schönen Handelskonti! »Romulus & Remus Sollen an Kaffee-, Zucker- und Korinthen-Konto.« Oder: »Rhein-, Ahr-, Lahn- und Moselwein-Konto Hat an Kastor & Pollux.« Der Buchhalter Lenz nahm zwischen jeder Silbe eine Prise. – August, der blonde Korrespondent, schnitt sich vierzehn Dutzend Federn, ebenfalls aus Langerweile; der Lehrling liniierte ein halbes Ries Propatria.

»Es ist mir unbegreiflich«, begann der Herr Preiss, »wie man jetzt mit dem Geschicke der Welt so leichtsinnig umgehen kann!«

»Sehr leichtsinnig!« erwiderte der Buchhalter.

»In Deutschland geht man indes noch weniger schlimm in diesem Punkte zu Werke als in manchen andern Ländern.«

»Bei weitem weniger! »erwiderte der Buchhalter scharfsinnig.

»Da setzt man z.B. in Frankreich an die Spitze des Staates einen Poeten!« – »Es ist unerhört!«

»Allerdings, Lenz. Es ist rein zum Tollwerden. Einen Poeten – einen Poeten, der Verse macht – einen Poeten – ich bitte Sie, Lenz, gibt es etwas Närrischeres auf der Welt als einen Poeten?«

»Nicht leicht – nur ein Mensch, der Verse liest, kann möglicherweise noch närrischer sein als ein Mensch, der Verse macht.«

[476] »Da sind wir ganz miteinander einverstanden, Lenz. Poesie ist Wahnsinn. Die Poesie ist die verrückt gewordene Prosa, und ein Poet gehört nach Siegburg, aber nicht an die Spitze der französischen Republik.«

»Dies mein ich nicht, Herr Preiss.«

»Wieso, Lenz?«

»Wenn die Poesie die verrückt gewordene Prosa ist, so kann man die Republik die verrückt gewordene Monarchie nennen; und steht ein Poet an der Spitze der Republik, so paßt das nur ganz herrlich; der eine Wahnsinn geht mit dem andern Hand in Hand.«

»Sie sind einsichtsvoller, als ich dachte, Lenz!«

»Wehe dem Lande, dessen Minister ein Poet ist!«

»Ein Mensch, der von Jugend auf nur für Rosen und Lilien, für grüne Wälder und goldne Saaten, für Lerchen und Nachtigallen und für ähnliche Lappalien schwärmte, der soll nun plötzlich eine Nation von fast sechsunddreißig Millionen essenden, trinkenden, tanzenden, räsonierenden und revolutionierenden französischen Menschenkindern im Zaume halten – hören Sie mal, Lenz, das kann nimmer gut gehn!«

»Nimmer, Herr Preiss; die Kurse müssen noch mehr fallen.«

»Das glaub ich auch, Lenz. Hole der Henker den französischen Poeten!«

»Erstens spricht er durch die Nase.«

»Und zweitens will er die Menschen glücklich machen.«

»Und drittens ist er ein Poet!«

»Er hat die drei gefährlichsten Mängel, welche ein Sterblicher haben kann.« –

Eine Windstille entstand in der Konversation. Der[477] Buchhalter beschaute seine Handelskonti; der Herr Preiss fuhr im Lesen der Zeitung fort.

»Außer den Poeten«, begann er endlich aufs neue, »sind indes auch die Astronomen an die Reihe gekommen. Da haben wir so einen gelehrten Mann, der sein ganzes Leben lang hinauf in den Himmel geschaut hat und der nun auf einmal die Erde regieren soll.«

»Es ist lächerlich, aber traurig.«

»Allerdings, Lenz, man hätte diesen Menschen provisorisch unter die Sterne versetzen sollen – aber unter irdische Minister – Lenz, es kann gewiß nicht gut gehn! Am meisten ängstigt es mich indes, daß man sogar Literaten und Zeitungsschreiber in das Gouvernement gebracht hat.«

»Was Sie sagen, Herr Preiss!«

»Ja, bei Gott, Lenz, Zeitungsschreiber sollen jetzt das Schicksal der Nationen entscheiden.«

»Es ist kaum glaublich.«

»Aber es ist eine entsetzliche, sehr herbe Wahrheit, Lenz, und ich muß gestehen, daß sich meine Haare sträuben, wenn ich an diese Gesellen denke.«

»Ein Zeitungsschreiber: Minister! Es ist fatal. Zeitungsschreiber gehören zu den gefährlichsten Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft.«

»Da haben Sie wohl recht, Lenz. Ich kenne diese Leute mit ihren großen Schnurrbärten und mit ihrem gottvergessenen, frivolen Lachen!«

»Sie sehen entsetzlich aus!«

»Und doch sah ich sie manchmal gern.«

»Nun ja, wie man bisweilen in Menagerien gern einen Tiger oder einen Panther sieht.«

»Allerdings! Die Kerle haben etwas Eigentümliches an [478] sich; auch bei uns sehen sie aus wie lustige Verbrecher – namentlich seit der Abschaffung der Zensur –«

»Ja, das war unser Unglück!«

»Tür und Tor ist jetzt ihrem Treiben geöffnet; alles verunglimpfen sie mit ihren Lästerzungen, und gern machten sie jede Woche wenigstens eine Revolution –«

»Bloß um eine Extrabeilage zu ihrer Zeitung machen zu können.«

»Sehr richtig, Lenz, und ich wollte, daß sie alle miteinander der Teufel holte; es ist eine verderbte Rasse.«

»Schade, daß sie manchmal gescheiter sind als andere Leute –«

»Frecher sind sie jedenfalls –«

»Niemanden können sie in Ruhe lassen –«

»Alles machen sie herunter.«

»Sie schreiben nicht für das Publikum –«

»Sie schreiben nur für sich selbst.«

»Man sollte eigentlich gar keine Zeitung mehr halten; bloß um diese Menschen zu ärgern –«

»Man muß sie wenigstens so schlecht wie möglich in ihrem Beginnen unterstützen –«

»Am Ende steht man sich noch besser unter der russischen Knute als unter dem Hohn eines Zeitungsschreibers.«

»Ja, wahrhaftig, Lenz, der Geist eines guten Bürgers spricht aus Ihnen.« –

Abermals versank der Herr Preiss in seine Zeitung und der Buchhalter in seine Handelskonti.

»Zu den Poeten, den Astronomen und Zeitungsschreibern kommt indes noch eine vierte Menschenklasse, welche anfängt, beunruhigend zu werden«, sprach der Herr Preiss.

[479] »Die Scharfrichter meinen Sie?«

»Gott bewahre, Lenz. Die Advokaten –«

»Ganz recht, die Advokaten.«

»Die Advokaten habe ich nie leiden können.«

»Sie sind hinterlistig und voller Ränke.«

»Sie hören die Flöhe husten, und sie sehen das Gras wachsen.«

»Sie führen Prozesse und machen uns den Prozeß.«

»Und ein ehrlicher Mann ist noch niemals sicher vor ihnen gewesen.«

»Und Ihren Abscheu vor diesen Leuten teile ich durchaus, Herr Preiss.«

»Ja, lieber Lenz, diese Advokaten haben nicht weniger angefangen, unser Jahrhundert zu dominieren; glattzüngigen Schlangen ähnlich winden sie sich aus ihren zerrütteten Vermögensverhältnissen empor zu dem Rand der Tribünen, wo sie so lange lästernd und verführend ihr entsetzliches Wesen treiben, bis sie aus dem Dunst einer Volksversammlung zu der Herrlichkeit eines einträglichen Staatsamtes eingehen können. So in Frankreich.«

»Und in Deutschland?«

»Lieber Lenz, man muß sich hüten, das Kind beim rechten Namen zu nennen. Oh, unsere Tage werden schlimm. Gleich blutigen Kometen stehen diese Poeten, diese Astronomen, diese Zeitungsschreiber und diese Advokaten unheilverkündend am Horizonte unseres bürgerlichen Himmels, doch was das schlimmste ist – Lenz –«

»Herr Preiss –«

»Was mich bis in die Seele hineinärgert –«

»Herr Preiss –«

[480] »Was meinen Zorn bis zu jauchzender Wut steigert–«

»Herr Preiss –«

»Das ist, daß gar ein ›Ouvrier‹ einen Platz in dieser provisorischen Rotte Korah hat.«

»Heiliger Gott!« seufzte der Buchhalter.

»Beschütze uns vor der blutroten Fahne«, setzte der Herr Preiss hinzu, und wiederum lag auf dem weiten Comptoire die schauerlichste Stille.

14. Das Dasein des Herrn Preiss gewinnt eine welthistorische Bedeutung

XIV.

Das Dasein des Herrn Preiss gewinnt eine welthistorische Bedeutung

Hastigen Schrittes betrat der Herr Preiss das Comptoir. Er trug eine weiße Halsbinde; die breiten weißen Vatermörder reichten bis unter das Ohrläppchen. Hemdkrause, Weste und Frack standen ihm vortrefflich. Die Stiefel des Herrn Preiss waren außerordentlich blank.

»Der Herr Preiss geht gewiß auf eine Kindtaufe«, murmelte der Korrespondent.

»Zum allerwenigsten auf ein Leichenbegängnis«, erwiderte der Lehrling. Da hatte der geschäftige Handelsherr das Comptoir durchschritten. Ein bedeutungsvoller Wink jagte den Buchhalter Lenz von seiner Arbeit auf, und Herr und Diener standen bald im Nebenzimmer des Comptoirs, in dem Geheimkabinett des Geschäftes.

Ehe die Konversation begann, hatte der Buchhalter Gelegenheit, seinen Herrn noch einmal von Kopf bis zu Fuß zu beschauen. Der Herr Preiss war in sichtlicher Aufregung. Das Blut war ihm in die Wangen gestiegen, [481] er zitterte. Vergebens suchte er den Sturm seiner Seele unter der feierlichsten Gelassenheit zu verbergen.

»Setzen Sie sich, Lenz«, sprach der Herr Preiss, »ich versichere Ihnen, wir leben in einer sonderbaren Zeit, die Ereignisse überpurzeln sich, die Weltgeschichte jagt mit vierundzwanzig Pferden.« – »Mit vierundzwanzig Postpferden«, setzte der Buchhalter hinzu. Da saßen Herr und Diener einander gegenüber. Lenz nahm eine Prise. Der Herr Preiss stemmte die Fäuste in die Seite und legte den Kopf zwischen die Vatermörder.

»Hören Sie aufmerksam zu, Lenz!«

»Ich bin ganz zu Ihrem Wohlgefallen, Herr Preiss.«

»Ich habe ein höchst wichtiges Schreiben bekommen. Ein Schreiben, welches Epoche in meinem Leben macht. Denken Sie sich, Lenz –«

»Ich denke, Herr Preiss.«

»Denken Sie sich, daß unser Projekt –«

»In Hopfen zu spekulieren –?«

»Halten Sie das Maul, Lenz! Verschonen Sie mich mit diesen trivialen Einwürfen; ich bin wahrhaftig in keiner Hopfenstimmung, die Zeiten sind zu gewitterschwanger, die Weltgeschichte rollt – denken Sie sich, Lenz –«

»Ich denke, Herr Preiss –«

»Denken Sie sich, daß unser Plan –«

»Eine Ölmühle zu bauen –?«

»Heiliger Schöpfer Himmels und der Erden, fallen Sie mir nicht ins Wort, Lenz. Es ist entsetzlich, Sie machen mich krank mit Ihren wohlgemeinten Bemerkungen. Wenn Sie die Wichtigkeit dieses Augenblicks nicht von vornherein einsehen können, so warten Sie wenigstens, bis ich fertig bin, bis Ihnen eine Laterne im Schädel aufgeht. – Denken Sie sich, Lenz –«

[482] »Ich denke, Herr Preiss.«

»Denken Sie sich, daß unsere Absicht, Schrapnells zu fabrizieren, allerhöchsten Ortes die günstigste Aufnahme gefunden hat.«

»Was Sie sagen, Herr Preiss!«

»Der General Schwefel von Höllenstein, der Kommandant des tausendvierzigsten Armeekorps, ist entzückt darüber.«

»Der edle von Höllenstein!«

»Der General Schwerenot von Donnerwetter, Kommandant der berittenen Kamel-Artillerie, ist voll meines Lobes.«

»Der würdige von Donnerwetter!«

»Der Admiral Freiherr von der Brandrakete, der sich am meisten in betreff des Preises, der Qualität und der Lieferzeit unsrer Schrapnells beschäftigt zu haben scheint, hat indes dem Entzücken und dem Lobe auch die praktische Berücksichtigung unsrer Eingabe folgen lassen, indem er Sr. Heiterkeit bei dem letzten Reichsfrühstück einen sorgfältig ausgearbeiteten Vortrag darüber gehalten hat.«

»Gott segne den Herrn von der Brandrakete!«

»Ja, ich hatte mich nicht geirrt. Die Schrapnellfabrikation mußte ziehen. Namentlich hat es Anklang gefunden, daß wir diese mörderischen Dinger ›Pillen gegen das souveräne Volk‹ nennen.«

»Und daß wir sie in Rosapapier verpacken?«

»Allerdings, Lenz!«

»Aber da werden wir wohl gleich eine gute Bestellung bekommen haben?« –

Hier entstand eine Pause. Die Lippen des Herrn Preiss umspielte ein mitleidiges Lächeln.

[483] »Aber haben Sie denn wirklich gar keine Ahnung von dem, was ich Ihnen eigentlich erzählen will?« Der Buchhalter wurde sehr aufmerksam.

»Können Sie nicht begreifen, daß es sich weniger um die Schrapnells selbst als um die loyale Bereitwilligkeit handelt, mit der ich den Staat unterstützen wollte?« Lenz öffnete den Mund vor Erstaunen.

»Oh, die Zeiten haben sich geändert! Wir stehen an der Schwelle einer schönen Zukunft.«

Der Buchhalter verlor fast den Verstand. Er war so sehr daran gewöhnt, seinen Herrn über die Not des Jahrhunderts klagen zu hören, daß ihm die plötzliche Verheißung einer schönen Zukunft wie das blaueste Rätsel erscheinen mußte.

»Ja, das Morgenrot der Freiheit ist über uns aufgegangen. Das Vaterland erwacht aus seiner Erstarrung. Die Macht der Tyrannen ist gebrochen, und Männer des Volkes sind berufen, die Segnungen einer glorreichen Revolution zum Segen einer ganzen Nation zu machen.«

»Segnungen einer glorreichen Revolution?« fragte sich der Buchhalter. Es wurde ihm gelb und grün vor den Augen. Die Ansichten des Herrn Preiss schienen sich über Nacht bedeutend geändert zu haben.

»Zitternd auf ihren Thronen schauen die Fürsten hinunter in die Reihen ihrer schlichtesten Bürger. Dort stehen die Männer, welche das Wrack des Staates retten, welche es mit kräftiger Faust durch den Schaum des Orkans zurück in den sicher schaukelnden Hafen geleiten können.« Dem Buchhalter Lenz brach der Angstschweiß aus; noch nie hatte ihn der würdige Herr mit so blumenreichen Redensarten überschüttet.

»Ist es daher ein Wunder, Lenz, daß man auch auf[484] mich sein Auge geworfen?« – Der Buchhalter wollte eine Prise nehmen, aber die Glieder versagten ihm den Dienst.

»Ist es ein Wunder, daß man auch mich aus dem Dunkel des Geschäftslebens herausreißt, um meinen Fähigkeiten den Platz anzuweisen, der ihnen im Buche des Schicksals bestimmt war?«

»Sie sind ein großer Mann!« murmelte der Buchhalter. »Schon durch Ihre Ölspekulationen haben Sie sich weit und breit bekannt gemacht.«

Unangenehm berührte es den Herrn Preiss, in seinen feierlichsten Momenten immer wieder an Öl und dergleichen erinnert zu werden. Der Buchhalter schien dies aber gar nicht zu merken. »Auch durch Ihre Unternehmungen in Korn machten Sie sich sehr verdient um die Gesellschaft.« Wiederum war es Herrn Preiss, als schüttete jemand einen Eimer kaltes Wasser über seinen Kopf. »Wüßten die Leute aber erst, was Sie in Quadratfüßen – «

Hier verlor der Herr Preiss die Geduld. »Genug, die Schrapnells haben den Ausschlag gegeben«, rief er; »aus sicherer Quelle weiß ich, daß man mich in der Residenz zur Bildung eines neuen Ministeriums erwartet.«

Der Buchhalter Lenz hätte vor Schrecken fast ein Kind gekriegt.

»Exzellenz!« stotterte er, seine Nase erblaßte.

Auf das ganz unbegründete Gerücht hin, daß der Herr Preiss Ministerpräsident werde, warfen ihm rohe Proletarier aber noch selbigen Abends die Fenster ein.

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TextGrid Repository (2012). Weerth, Georg. Skizzen, Feuilletons, Reportagen. Humoristische Skizzen aus dem deutschen Handelsleben. Humoristische Skizzen aus dem deutschen Handelsleben. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-9714-2