Georg Weerth
Die englischen Arbeiter

[189] Wir sind es bei den Buchhändlern der ganzen Welt gewohnt, daß sie die Rückseiten neu erschienener Werke mit den Annoncen ihrer übrigen Verlagsartikel behängen. So muß z.B. ein nagelneues Gebetbuch die Titel und [189] die Preise von einem Dutzend ähnlicher Erbauungsschriften durch die Welt schleifen; die Rückseite eines Kochbuches macht uns mit den neuesten Abhandlungen über Heringsfang und Käsebereitung bekannt. Eine neue Ausgabe selig verstorbener Klassiker hat einen förmlichen Kometenschweif von noch lebenden unglückseligen Autoren hinter sich. Der »Don Quijote« hat stets den »Gil Blas« und den »Chevalier Faublas« auf dem Nacken; der Shakespeare trägt fast immer den Byron und den Milton huckepack. Der Walther von der Vogelweide hat die »Gudrun« und den »Wieland den Schmied« und den »König Orendel« und »Parzival« und »Titurel« im Schlepptau usw., und das ist ganz recht. Es ist ganz in der Ordnung, daß man ein Kochbuch mit einer Käseschrift anzeigt, daß man das Wort Gottes mit den Worten eines evangelischen Kandidaten ausposaunt, daß man die meisten unserer jüngeren Poeten stets an der Nabelschnur ihrer guten poetischen Großmutter herumlaufen läßt. Unverzeihlich ist es indes, wenn es den industriellen buchhändlerischen Käuzen auch mitunter einfällt, die Gebetbücher unter die Käserubrik zu bringen, die Poesie unter den Heringsfang oder die evangelischen Kandidaten unter den »Chevalier Faublas«. In Deutschland geschieht dies freilich seltener; in England ist es aber an der Tagesordnung; so ein englischer Buchhändler ist nun einmal determiniert, seine Bagagen an den Mann zu bringen; er druckt nicht allein sämtliche ältern Verlagssachen auf die Rückblätter seiner neuern Bücher, sondern er fertigt sich auch separat einige tausend Annoncenbogen an, und du magst bei ihm kaufen, was du willst, er dreht dir einen solchen Bogen um dein erstandenes Werk. Ein englischer Buchhändler gehört immer einer gewissen Farbe, [190] einer bestimmten Partei an; er ist entweder ein Tory oder ein Whig, ein Freetrader oder ein Chartist, ein Angli-kaner oder ein Dissenter; nicht daß er deswegen nur Tory-Bücher verkaufte, wenn er ein Tory wäre, oder nur ausschließlich chartistische, wenn er zu der Partei der Chartisten gehörte – nein, keineswegs! Ein englischer Buchhändler ist ebensogut ein Mensch wie jeder andere auch; vor allen Dingen ist er ein Kaufmann, und wie jener Birminghamer Fabrikant sich für Missionsgesellschaften verwandte, zu gleicher Zeit aber doch Götzenbilder fabrizieren konnte, so kann ein englischer Buchhändler ein entsetzlicher Tory sein, ohne es gerade zu verschmähen, unter der Hand auch einige Schillinge an einem chartistischen Buche zu verdienen.

Jedenfalls bleibt er indes stets seiner Partei getreu; er wird dir das bestellte chartistische Buch schicken, er dreht aber einen Bogen aristokratischer Bücherannoncen darum; bestelltest du bei einem Teetotaler einen Band Trinklieder, so wird er die Trinklieder in den Prospektus einer Mäßigkeitsgesellschaft binden; forderst du bei einem frommen Buchhändler ein gottloses Buch, so wird er dir zwar das gottlose Buch nicht vorenthalten, er wird dich aber jedesmal auf eine ganze Liste heiliger und erbaulicher Schriften aufmerksam machen, und wirst du umgekehrt bei einem atheistischen Krämer ein gottesfürchtiges Traktätchen erhandeln, so wird er nicht unterlassen, dir das Gift seines Verlags in Gestalt einer zierlich gedruckten Annonce beizufügen. Wenn ich manchmal im Laufe der Woche verschiedene Bücher aus allerlei Läden zusammengetragen hatte, da entdeckte ich plötzlich auf meinem Tische die unheiligsten Spottgedichte, die schlechtesten Liebeslieder und die rührendsten Missionsberichte – [191] Sachen, welche doch alle gar nicht in mein Fach schlagen –, die wie durch ein Wunder in mein Zimmer geflogen zu sein schienen. Mit der Zeit kam ich erst hinter die Geschichte und habe mich später oft über einen sehr eifrigen Shopkeeper gefreut, der sieben Jahre lang um jeden Bleistift und um jedes Stück Siegellack, was er verkaufte, eine Abhandlung über die Notwendigkeit der Abschaffung der Korngesetze wickelte. Eine solche Manier, Propaganda zu machen, ist wirklich gar zu herrlich, und ich bin fest davon überzeugt, daß jener Shopkeeper auch seiner Zeit von der Anti-Corn-Law-League reichlich für seinen Patriotismus belohnt worden ist.

Am gewandtesten und eifrigsten sind die kleineren Buch- und Zeitungshändler in dieser Art des Annoncierens; sie haben größtenteils die arbeitende Klasse zu ihrer Kundschaft, und sie verfehlen nicht, jedem armen Teufel, der sich am Samstagabend eine Zeitung kauft, irgendeinen Vers, einen Spruch, ein Bild oder einen Aufruf mit in den Kauf zu geben. Während einer politischen Agitation kann dies Verfahren von unendlichem Nutzen für gewisse Parteien sein. Manchmal enthält der Umschlag einer Zeitung mehr als die ganze Zeitung selbst. Ich habe oft bemerkt, daß ein Holzschnitt, der die Gesichter bekannter Personen getreu wiedergab und auf Dinge Bezug hatte, welche die Arbeiterwelt im höchsten Grade interessierte, mit einem Schlage einen solchen Enthusiasmus unter den Leuten hervorrief, daß sie vor Freude laut aufjauchzten. Durch ein einziges Bildchen, durch wenige Striche, durch die winzigste Zeichnung eines einigermaßen geschickten Künstlers wurde oft eine größere Wirkung hervorgebracht als durch das längste Zeitungsräsonnement.

Von den vielen derartigen Bildern will ich nur eins[192] erwähnen, welches mir ein Bradforder Zeitungshändler mehr wie zehnmal um meine Blätter wickelte. Es frappierte mich seinerzeit um so mehr, weil es gerade in einem Augenblick verteilt wurde, wo die Verkehrtheiten unserer heutigen gesellschaftlichen Einrichtungen wieder einmal in ihrer ganzen Scheußlichkeit ans Licht kamen; wo in Bradford, in jenem Orte des blühendsten Handels und der ausgedehntesten Industrie, mit einem Male Tausende von Menschen auf den Straßen standen, welche weder Arbeit noch Brot hatten, welche nach einem Leben voller Not und Mühe nur eine Zukunft voll Verderben und Verzweiflung vor Augen sahen.

Ach, wüßte ich es zu zeichnen, dies kleine unbedeutende Bildchen! Es wäre das beste Gegenstück zu dem Gemälde der industriellen Prosperität Englands, zu jenen kolossalen Summen, zu jenen enormen Zahlen, mit denen ich vorher die Glückseligkeit der unternehmenden Briten zu schildern suchte.

Man sah einen Baum, eine prächtige Eiche, deren Äste sich nach allen Seiten hin ausbreiteten, deren Krone hinauf in die Wolken reichte. Die Wurzeln des gewaltigen Stammes schlugen tief hinab in den Boden. Unwillkürlich blickte man zuerst hinauf nach dem Gipfel; da sproßte das junge Laub aus den saftigen Reisern, und ein Kranz von grünen Büschen umgab eine schlanke Frauengestalt, die sich leicht auf den Zweigen zu schaukeln schien. Sie trug eine Krone auf ihren Locken und ein Szepter in der Hand, und jede ihrer Mienen schien zu sagen: ich bin Victoria Regina. Neben ihr blitzten Herzogskronen, Bischofsmützen und Hermelinmäntel durch das Grün des Laubes; die Schafsnase des alten Wellington nickte einem vertraulich innig entgegen, und die [193] karierten Hosen des Lord Brougham schimmerten deutlich hinter dem Gewirr der Zweige. Rechts hingen wie Äpfel an einem Christbaume die Minister der Königin, der eine in Akten vergraben, der andere wie in einer Rede begriffen, alle in verschiedenen Stellungen, und auf den ersten Blick erkannte man den wohlbeleibten Sir Robert Peel und den verschmitzten Sir James Graham. Links bemerkte man die Leiter der Opposition, an ihrer Spitze den kleinen Lord John Russell und den alten Dandy Palmerston; alle mehr oder weniger beschäftigt, aber wohlgenährt und lächelnd wie Leute, die ihres Glückes gewiß sind. Unter ihnen trieb sich rechts und links eine Schar Edelleute; der eine auf dem flüchtigen Renner daherspringend; der andere mit vielen Hunden auf der Jagd; der dritte bei einem Diner, das Champagnerglas in der Hand; der vierte in den Armen eines lieblichen Mädchens. Diese Gesellschaft nahm die Krone des Baumes ein. In dem mittleren Teile bemerkte man vornan einen feisten, wohlgenährten Mann, wahrscheinlich einen Bankier, umgeben von Geldsäcken und Schuldverschreibungen; neben und um ihn stattliche Handelsherren auf Ballen gelehnt, Seeleute auf das Anker gestützt und hin und wieder auch einen runden Pächter mit rosenroten Wangen. Doktoren, Advokaten und Pastoren, hübsch gekleidet, aber mit unzufriedenen Gesichtern, schwärmten in großer Menge um die in der Mitte Versammelten und schienen mit gierigen Blicken nach den Geldsäcken der Handelsleute hinüberzublicken. Dann folgten Ackerknechte hinter dem Pfluge, Weber hinter dem Webstuhl, Spinner an der Spinnmaschine und Männer in Bergmannstracht, die eben ihren Schachten entstiegen zu sein schienen. Dann Handwerker mit ihren Gerätschaften in der [194] Hand, der fleißige Schneider, der geschickte Tischler; Holzhacker dann und Mistschieber und Nähterinnen und Lastträger, und je weiter man an den Ästen des Baumes hinuntersah, desto mehr beschäftigte, rastlos arbeitende Menschen fand man. Wo aber der Stamm anfing, da schlang sich ein solches Gewirr von sonderbaren Gestalten durcheinander, daß man nur mit einiger Aufmerksamkeit das eine von dem andern unterscheiden konnte. Hunderte von Menschen, Männer, Weiber und Kinder, die meisten in Lumpen und Fetzen gehüllt, schienen sich mit Fäusten und Bettelstöcken um die letzten Brocken des Verdienstes zu prügeln. Der eine überstürzte den andern, jeder wollte nach oben streben, und unerbittlich trat man die Schädel mit den forteilenden Füßen. Rechts und links sanken die Schwächsten und Unglücklichsten aus den Reihen ihrer Genossen, der eine die Hände faltend, der andere das Haar zerraufend, der dritte die Brust mit Fäusten schlagend, und wie Leichen nach dem Kugelregen einer Schlacht sammelten sich die Kadaver der Gefallenen zu grauenhaften, entsetzlichen Gruppen am Fuße des gewaltigen Baumes. Bleiche, fahle Gesichter, stiere Augen, krampfhaft geballte Fäuste und magere, entfleischte Beine lagen in vollem Gewirr durcheinander, und wie gierige Blutegel und Nattern schlangen sich die Wurzeln des Baumes um die halbverwesten Leiber, ja sie drangen hinab bis in die Herzen dieser Unglücklichen, als ob dort die rechte Nahrung zu saugen sei für den ganzen Baum und für alles, was in seinen Ästen und Zweigen lebe, von dem fleißigen Spinner und Weber an bis zu dem frohen Handelsherrn, bis zu dem faulenzenden Edelmann, ja hinauf bis zu den glückseligen Lords und bis zu der lächelnden Königin.

[195] Das war der Baum der englischen Glückseligkeit; und wenn ein Arbeiter nach sechs Leidenstagen vielleicht am Samstagabend zu jenem Buchhändler in den Laden trat, um sich für seine letzten Pfennige eine Zeitung zu kaufen, damit er sehen könne, ob sich denn niemand in der ganzen Welt seiner Leiden an nehme, ob niemand den Mut habe, für ihn und seine Kinder aufzutreten, ach, da mochte er auf dem kleinen Bilde, was man um seine Zeitung drehte, da mochte er in jenen zerschmetterten Kadavern nur gar zu bald die Gestalten seiner früheren Freunde wiederfinden, da mochte es ihm mit Schrecken einfallen, daß ihm wahrscheinlich nur eine ähnliche Zukunft bevorstehe, weil die lustigen Handelsherren und die seligen Lords noch so unbekümmert und so zufrieden lächelnd dort oben auf den Zweigen des schönen Baumes sitzen konnten, jenes schönen Baumes, dem das Herzblut, dem der Schweiß eines untergehenden Geschlechtes als Dünger diente.

Es ist ein leichtes Ding, sich des Großen und Schönen in der Welt zu erfreuen, aber man frage nicht nach den Seufzern und Tränen, mit denen es geschaffen wurde!

Bei meinem Aufenthalt in Bradford hatte ich die beste Gelegenheit, die Opfer aufzuzählen, mit denen der reiche Brite seine industrielle Größe erkauft. Manches hatte ich gelesen, was mir eine Idee hierüber geben konnte, aber ich wollte alles mit eigenen Augen sehen, ich wollte noch mehr sehen, als was man auf einem flüchtigen Gange durch die schlechtesten Gassen einer Fabrikstadt zu bemerken pflegt.

Ich schloß mich daher einem schottischen Doktor an, der vom Morgen bis zum Abend in allen Arbeiterhütten herumkriechen mußte. Das war das beste Mittel, um [196] hinter die Kulissen jenes grandiosen Schauspieles zu kommen, dessen kolossale Fülle an Pracht und Reichtum uns nur gar zu oft vergessen läßt, welche Not und welche Verzweiflung den Hintergrund der Bühne ausfüllen.

Eines Abends hatten wir länger als gewöhnlich in einem Wirtshause des untern Stadtteils gesessen, da trat der Wirt zu uns herein und meldete dem Doktor, daß im »Weißen Hause« eine junge Frau eben im Begriff stehe, die Welt mit einem überflüssigen Menschen zu bereichern, der Herr Doktor also aufbrechen und helfen müsse.

Ich begleitete Mac. Die Straßen waren schon leer, nur die Nachtwächter irrten an den Häusern vorüber und untersuchten, ob Türen und Fensterläden auch verschlossen seien. »Allright!« riefen sie und eilten weiter. Am Ende der Gasse blieben sie aber aufmerksam stehen; wir ebenfalls, denn in einer Schnapskneipe schien heftiger Streit unter den Trinkern ausgebrochen zu sein. Flüche, Prügel und Gepolter folgten rasch nacheinander, und ehe wir uns versahen, stürzten ein halbes Dutzend Kerle aus der Haustür. Fünf Mann kehrten laut lachend zurück – der sechste lag vor uns auf dem Straßenpflaster und rührte kein Glied.

Mit Hilfe der Nachtwächter brachten wir den Unglücklichen in das Haus des Doktors, welches gegenüber lag. Der arme Zerschlagene kam bald wieder zur Besinnung und versicherte uns, daß er ganz verteufelte Hiebe davongetragen habe. Dies bezeugte auch eine große Quantität irländisches Blut – unser Patient war nämlich ein Irländer –, welches aus drei Löchern vom Kopf herunter auf die zerrissenen Kleider floß.

[197] Während ihm der Doktor die Haare abschnitt, bemerkte Paddy mit wehmütiger Stimme, daß er eigentlich gar nicht wisse, weshalb er so rechtschaffen durchgeprügelt sei.

»Das hat seine guten Gründe, daß Ihr das nicht wißt!« erwiderte ihm Mac. »Ihr habt heute abend eine gute Portion Whisky aus der Welt geschafft.«

»Und das hat seine guten Gründe, daß ich dies tat!« antwortete der Irländer.

»Und welche?« fuhr der Doktor fort.

»Gar keine Gründe hat es«, seufzte Paddy, »und gar keine Gründe sind ebensogut wie die allerbesten! Aber Tom Holmes sagte, ich wäre ein liederlicher Strick; ich machte 20 Schillinge die Woche und hätte doch nie einen Penny; und meine Frau säße in Leeds, und ich kümmerte mich gar nicht um meine Frau; und das tue ich auch nicht; denn meine Frau verkauft alte Flaschen, und ich kämme Wolle; und wenn sie alte Flaschen verkaufen will, very well. Jeder hat seine Liebhaberei, jeder hat sein eignes Geschäft, jeder tue, was er will, ich kämme Wolle! Nun ist zwar die Frau der größte Komfort für den Mann, und der Mann ist der größte Komfort für die Frau; da es aber von hier bis nach Leeds sieben dicke Meilen sind, so wären sie, Frau, und ich, Mann, eigentlich nicht sehr komfortabel zusammen, wenigstens nur komfortabel in der Entfernung von sieben Meilen; aber wenn sich meine Frau komfortabel fühlt, indem sie alte Flaschen verkauft, und ich mich komfortabel im Wollkämmen fühle, sind wir dann nicht beide komfortabel? Very well, Doktor, das sagte ich auch zu Tom Holmes. ›Tom‹, sagte ich, ›laß meine Frau aus dem Spiele, und was noch viel schlimmer ist, laß das Geld beiseite. Geld sparen kann ich nicht, [198] denn ich habe alle Taschen voll – nämlich voll Löcher; und wer wert ist, Geld zu verdienen, der ist auch wert, Geld auszugeben, und sieh, Tom, ich bin der Meinung, daß das Ausgeben viel erfreulicher ist als das Verdienen, und ich habe mich die ganze Woche mit dem Verdienen geplagt, da stärke ich mich eine Stunde lang mit dem Ausgeben.‹ – O dear me!« schrie der Irländer da plötzlich, denn eben legte ihm der Doktor einige Pflaster auf die Wunden, die dem redseligen Paddy, der mit der Zeit nüchtern wurde, plötzlich sehr weh zu tun schienen.

»Aber Tom«, fuhr er bald fort, »wollte mich gar nicht begreifen; er sagte, wir Irländer wären alle vom gemeinsten Gesindel, wir kämen nur nach England, um wie die Schurken zu leben. Why, Doktor, als wenn das anders möglich wäre. Da komme ich von Tipperary hierher nach England und habe unterwegs zehnmal das Betteln gelernt und finde, daß es mit dem Betteln gar nicht so übel ist; denn geben euch die Leute etwas, da ist es gut; geben sie euch nichts, da lacht ihr sie aus; Spaß auf beiden Seiten, Doktor! Aber ein Mensch kann auch stolz sein, und deshalb kämme ich Wolle. Entweder muß gebettelt werden oder Wolle gekämmt. Wenn ich aber wie ein Schurke lebte, als ich bettelte, lebe ich nicht ebensogut wie ein Schurke, seit ich arbeite? Gewiß! Es ist nur der Unterschied darin, daß ich als Bettler ein Schurke gegen andere bin und als Arbeiter ein Schurke gegen mich selbst. Wenn ich bettle, so ziehe ich durch Faulenzen den Leuten das Geld aus der Tasche, und das ist nicht recht; ich bleibe aber gesund und lustig dabei, und das ist recht. Wenn ich aber arbeite, da verdiene ich mein Brot durch Arbeit, und das ist recht – werde aber ein Krüppel dabei, und das ist nicht recht.

[199] Denn sie lassen einen armen Teufel heutzutage arbeiten, daß ihm Hören und Sehen vergeht; und kommt der Samstag heran, da zahlen sie den Lohn; aber man wird nie glücklich davon, weiß nicht, wie es kommt, und ist man alt – aber man wird nicht mehr alt.«

Da schwieg der Irländer und sah uns mit seinen schwarzen Augen recht ernst und feierlich an.

»Aber halt!« rief er dann plötzlich, »Tom sagte, wir Irländer kämen nur nach England, um wie die Schurken zu leben. Never mind it, Tom! laß sehen.« Da griff Paddy in seine Tasche und dann auf den Kopf: »Löcher, nichts als Löcher!« – »Aber der Doktor braucht etwas für die Pflaster!« bemerkte einer der Nachtwächter.

»Doktor«, fuhr der Irländer fort, »Tom sagte, alle Irländer in England wären Schurken, und das konnte ich nicht vertragen; und da nahm ich alles Geld, was ich hatte; ›Tom‹, sagte ich, ›stolz bin ich, stolz bin ich dreimal auf Tipperary, und hier sind 4 Schillinge und 6 Pence, und das wollen wir vertrinken, Tom, und ich bin kein Schurke!‹ Seht, Doktor, und nun habe ich nichts für die Pflaster, ich wollte, ich hätte mehr!«

Da packten die beiden Nachtwächter den Verwundeten auf und brachten ihn in die Schenke zurück. –

Mac machte sich auf den Weg nach dem »Weißen Hause«.

Seit jenem Abend traf ich manchen Irländer, dem der Kopf entzweigeschlagen wurde, ohne daß er wußte weshalb. Paddy ist der sorgloseste Mann von der Welt. Mit Weib und Kind kommt er oft herüber nach England – in Bradford arbeiten z.B. in den Fabriken mehrere Tausend Irländer –, er denkt, in England Brot und Glück zu finden, und täuscht sich oft nur zu sehr. Ist er unverheiratet, [200] da geht die Sache schon; hat er Familie, da gerät er fast immer, wenigstens im Anfang, in die größte Not. Denn leider weiß ein Irländer nie Haus zu halten, er lebt nur dem Augenblick, und ein folgender Tag ist ihm durchaus gleichgültig. Er tut, was das Herz ihm eingibt. In einer Zeit von zehn Minuten kann er rasen wie ein Löwe und fromm sein wie ein Lamm. Hat er kein Geld, da ist er der zufriedenste Mann bei Kartoffeln und Brot und tröstet sich über sein Schicksal mit den köstlichsten Witzen; ist sein Beutel voll, da wirft er fort, was er hat, und ist nicht lustiger und übermütiger als zur Zeit der schrecklichsten Not. Genial ist er unter allen Verhältnissen. Dunkel scheint ihm vorzuschweben, daß das Mißgeschick des Individuums in dem großen Elend seines Volkes aufgehen müsse. Deshalb keine Klage mehr! Der Humor reißt seine Seele hinweg, er lacht, er weint und weiß nicht weshalb, er stirbt und weiß nicht warum.

Die große Sorglosigkeit des Irländers in England macht ihn natürlich doppelt arm. Die englischen Arbeiter sorgen wenigstens insoweit für die Zukunft, als sie in guten Handelszeiten Kleider und Möbel anschaffen. Aber auch das ist dem Irländer einerlei; er ist damit zufrieden, daß er heute gelebt hat. In Lumpen geht er einher, schmutzig, unheimlich, nur seine Augen strahlen in ewiger Schönheit, und unwillkürlich schrickt man zusammen, wenn sie bald wehmütig-ernst, bald froh und verliebt in die Welt hinausschweifen.

Das »Weiße Haus«, welches ich mit dem Doktor besuchte, liegt in dem älteren Stadtteil, in der Nähe des Kanals, der das Land von Hull nach Liverpool durchschneidet. Es dient allen Unglücklichen als Zufluchtsort, da man für 2 Pence dort sechs Stunden schlafen kann. Es [201] verhält sich damit so: Um 12 Uhr nachts werden aus der Bar, dem zum Rauchen und Trinken eingerichteten Zimmer, alle Stühle und Bänke entfernt. Im Kamine macht man ein tüchtiges Feuer an, fegt die steinerne Flur und legt rings an den Wänden herum Decken und Strohsäcke. Die Gäste, welche nur gekommen sind, um zu trinken und zu rauchen, müssen aufbrechen, und die sich nach Schlaf sehnen, haben für 2Pence das Recht, sich niederzulegen. Das geschieht sans cérémonie. Männer, Weiber und Kinder ziehen ihre Kleider aus, hängen diese über die Bretterwand der Bar und geben sich gewöhnlich alle Mühe, um die verhängnisvollen sechs Stunden so gut wie möglich zu benutzen. Der Wirt ist nämlich sehr exakt in der Zeit und versäumt nicht, gegen Morgen ein allgemeines Poltern zu veranstalten. Jeder, der nicht gutwillig das Lager verläßt oder noch für weitere drei Stunden einen Penny mehr bezahlt, wird dann mit Gewalt beseitigt. Gewöhnlich stellen sich gegen Morgen neue Gäste, namentlich Betrunkene, die sonstwo übriggeblieben sind, zum Schlafen ein und nehmen das noch warme Lager der eben Erstandenen in Beschlag.

In jener Nacht war die Bar fast ganz besetzt. Bei dem Schein des hellen Feuers konnte ich achtzehn Personen zählen; auch mußten noch einige kleine Kinder unter den Decken verborgen sein, denn bisweilen hörte man ein leises Weinen und Wimmern von feinen, zarten Stimmen. Die meisten Gesichter konnte man deutlich unterscheiden; hin und wieder tauchte auch nur ein Kopf voller Haare aus den Decken. Viel Kummer und Not lag da begraben.

Gleich vornan bemerkte ich zwei Mulatten, mit denen ich schon am Tage vorher Bekanntschaft gemacht hatte.

[202] Kräftige Kerle. Sie verkauften Gebete und Bilder, wie viele Hunderte ihresgleichen, die jährlich als Matrosen oder Schiffsjungen nach England herübersegeln, einige Zeit bettelnd das Land durchirren und dann wieder verschwinden. Neben ihnen lag ein langes, hageres Gesicht, auf dem in tiefen Furchen eine lange Leidensgeschichte geschrieben stand. Es gehörte einem Manne, der ungefähr fünfzig Jahre alt war, vielleicht auch erst dreißig. Wer weiß es? Jedenfalls schien er ein Greis an Not und ein Kind an Glückseligkeit zu sein. Sein Arm lag unter dem Nacken eines Weibes, das mit weit offenen Augen unverwandt ins Feuer blickte. Ein kleines Mädchen kauerte zu den Füßen der Mutter in tiefem Schlafe.

Weiter dem Kamine zu hatte sich eine trotzige Gestalt gebettet. Der arme Teufel schien keine Lust zu haben, sich des einzigen, was ihm im Leben treu geblieben, zu entäußern. Im vollen Schmuck seiner Lumpen lag er nämlich auf dem Strohsack, die Hände über dem Kopf gefaltet, in den Mundwinkeln Spott und Hohn, an seiner Seite einen riesigen Stock. Einige gesunde Köpfe, in denen Gin und Ale fortglühten, lagen auf den Säcken der anderen Seite, auch eine kolossale Schönheit, schwarze Haare über einem roten Gesicht. Sie sang noch halb im Schlafe den Refrain eines Gassenhauers, der Bettler am Kamin lachte, der Wirt fluchte – alles war wieder still.

Während ich die Schlafenden besah, hatte sich der Doktor in ein Nebenzimmer verfügt, um einem armen Geschöpfe in der höchsten Not beizustehen. Der Wirt war untröstlich, daß die Geschichte in seinem Hause vorging. Die Frau hatte sich aber standhaft geweigert, das Zimmer zu verlassen, da sie die gräßlichste Angst vor dem Armen- oder Krankenhause hatte. Ich näherte mich [203] der Tür, da kam mir Mac schon lachend entgegen und versicherte, es sei längst alles glücklich vorüber.

Die junge Frau war mit ihrem Manne, einem Fabrikarbeiter, sechs Wochen lang umhergewandert, ohne Arbeit finden zu können. Da kamen sie nach Yorkshire, um sich weiter nach Manchester durchzuschlagen. Das Geld war ihnen schon früh ausgegangen, und nachts suchten sie gewöhnlich in einer Scheuer oder, wenn sie etwas zusammengebettelt hatten, in einer Schenke letzten Ranges Schutz. Eine Nacht, wie mir der Mann versicherte, brachten sie sogar unter der Brücke einer Eisenbahn zu. Beide hatten diese Lebensweise aber dem Aufenthalt im Arbeitshause vorgezogen, vor dem sie sich so sehr fürchteten, daß sie schon der Gedanke daran mit Abscheu erfüllte. Wir werden später sehen weshalb.

Die Leute, welche in Schenken wie in der »Zum Weißen Hause« vegetieren, betteln entweder oder beschäftigen sich mit dem Verkauf kleiner Artikel, die sie von Haus zu Haus tragen. Sie waren genötigt, ihre Wohnungen aufzugeben; bei Tage stehen sie in den Straßen und lauern auf einen Pfennigverdienst. Frau und Kinder suchen sich selbst etwas, und abends sammelt sich die Familie an einem Orte, der zur Schlafstelle vorher auserkoren ist. Die Bettler sind am besten dran. Die Bettelei wird bald ihr Geschäft, sie kennen dann ihre Häuser, ihre Menschen. Die Schotten verstehen sich am besten auf Bettelei, da sie verschlagen und ökonomisch sind; sehr viele von ihnen sollen nach einem mehrjährigen Aufenthalt in England mit einem kleinen Vermögen ins Vaterland zurückkehren und es dort gewöhnlich sehr gut anwenden.

Die Irländer vertrinken, was sie in die Hände bekommen; arm, wie sie kamen, gehen sie zurück. Man hat [204] daher auch in Liverpool die Einrichtung getroffen, daß jeder Sohn der Emerald Isle frei zurück in seine Heimat spediert wird. Die Schotten betteln mit untertäniger Miene, die Irländer mit lachendem Gesicht, die Engländer mit einem Ernst, der durch Mark und Bein geht. Die Hausierer sind größtenteils Schotten; mit einem Sack auf dem Rücken ziehen sie von Ort zu Ort. Engländer tun dies selten. Irländer fast gar nicht. Paddy ist ein schlechter Krämer; höchstens läßt er seine schwarzäugigen Töchter mit Orangen handeln, und die Augen sind meistens schöner als die Orangen. Einmal kam mir auch der Fall vor, daß ein irländischer Junge, etwa acht Jahre alt, zu mir hereintrat und den Vorschlag machte, ich sollte ihm 6 Pence geben, sein Vater sei sehr krank, er wolle mir auch drei schöne Geschichten erzählen. Die Geschichtenerzähler scheinen sich also nicht allein im Orient aufzuhalten. Der Irländer verstand sich prächtig darauf.

Der zurückgekommene Arbeiter befindet sich stets in der allerschlimmsten Lage. Er ist zu stolz, um zu betteln, zu rechtschaffen, um zu stehlen. In vielen Fällen erlaubt es seine Ehre nicht, sich in ein Arbeitshaus einschließen zu lassen; er verkauft, was er hat; hier und da leiht ihm ein Freund eine Kleinigkeit – das hilft nicht mehr; da verläßt er seine Hütte; Frau und Kinder suchen so gut zu leben, wie sie können; er selbst wandert durch die Gassen und wartet, ob ihm der Zufall nicht etwas in die Hände spielt, und am Abend finden wir ihn auf dem Strohsack einer Schenke zwischen Kranken und Trunkenen, zwischen Dieben und Dirnen schlafend sechs Stunden lang für 2 Pence, bis ihn der Wirt aus dem Hause jagt. Und alles das, weil etwa der Handel schlecht geht.

[205] Ich hatte immer gewünscht, die Arbeiter einmal in ihren Wohnungen beobachten zu können. Das wollte aber lange Zeit nicht gelingen. Die Leute sind zu argwöhnisch, namentlich gegen Fremde, und nichts scheuen sie mehr, als wenn man sich um ihre häuslichen Angelegenheiten kümmert. Ein Glas Ale und eine Pfeife tuen indes Wunderdinge, und wenn man beides mit ihnen genossen hat, so werden sie sehr zutraulich. – Der Doktor Mac mußte damals wieder behilflich sein; er brachte mir eine sehr feierliche Miene bei und brauchte mich bei einer Runde durch wenigstens dreißig Arbeiterwohnungen als Gehilfen. Ich muß indes bemerken, daß die Zeit, in der wir diese Besuche machten, eine sehr günstige war. Die Arbeiter der Worsted-Manufakturen waren zwei Jahre lang vollauf beschäftigt gewesen und erfreuten sich eines hohen Lohnes.

Da wir an einem Sonntagmorgen ausgingen, so fanden wir fast alle Familien zu Hause; Männer, Weiber und Kinder; einige noch in den Betten, andere beim Frühstück, viele mit der Zubereitung des Mittagessens beschäftigt und die letzten endlich am Schmause. Die meisten Familien haben eine besondere Wohnung, ein Hausvater, der 18 Schilling die Woche verdient, wohnt nicht leicht mit anderen Familien zusammen. An der Einrichtung der Wohnung kann man fast immer sehen, wieviel Lohn der Arbeiter wöchentlich erhält. Bei 15 Schillingen, was ein sehr mäßiger Lohn ist, bedeckt selten ein Teppich den steinernen Fußboden – nur vor dem Kamine liegt gewöhnlich ein schmaler Lappen –, die Wände sind schmucklos, das ganze Möblement besteht nur aus Tisch, Stuhl und Bett. Bei 20 Schillingen sieht es schon besser aus; auf den Stühlen liegen Kissen, der Teppich, eine in [206] England des Klimas wegen durchaus nötige Sache, ist größer, auf dem Schrank stehen Gläser und Tassen, und an der Stubendecke hängt vielleicht ein Schinken oder eine Speckseite. Bei Leuten, die 30 Schillinge einnehmen, gewahrt man schon einen geregelten Komfort, der sich bis auf kleine Figuren, Tassen und Gläser erstreckt, die das Gesims des Kamines zieren.

Hat ein Vater bereits Kinder, die ebenfalls in Fabriken arbeiten und noch bei ihm wohnen, so ist die Summe des wöchentlichen Lohnes natürlich größer; für Essen und Trinken wird dann besser gesorgt und namentlich am Sonntagmittag etwas Besonderes auf den Tisch gebracht. Bei meinem Besuche fand ich fast überall schönes Weizenbrot zum Frühstück aufgetragen; für den Mittag Beef, Mutton oder Kalbfleisch und einen Krug Ale. Die Kleider der in den Worsted Mills beschäftigten Mädchen waren damals bei weitem besser als die der deutschen Fabrikarbeiterinnen.

Aber ach, all diese kleine Herrlichkeit dauert ja nur, solange der Handel gut geht. Ist es damit zu Ende oder brechen gar Krankheiten oder sonst Unglücksfälle über den Arbeiter herein, da verschwindet bald der Teppich von dem Boden, das Kissen vom Stuhl, der Stuhl selbst und das Bett, und auf dem Tische sucht man vergebens nach Fleisch und Ale. Tausende wandern ins Armenhaus, und die, welche zu stolz sind, sich einschließen zu lassen, und Weib und Kinder nicht aufgeben wollen, stehen in Lumpen an den Straßenecken, damit – der Reiche über sie spotte.

Jawohl, über sie spotte! Denn mehr wie hundertmal hörte ich die sogenannten »respektablen Herren« erklären, die Arbeiter verdienten, geprügelt zu werden, daß [207] es ihnen während einer Handelskrise nicht besser ginge. Die meisten englischen Fabrikanten, welche nach derbem Profit alle schlechten Zeiten glücklich überstehen, verlangen nämlich auch von ihren Arbeitern, daß sie von 20 oder 30 Schillingen ein Erkleckliches zurücklegen, um damit den geringen Lohn einer bösen Handelskonjunktur weniger fühlbar zu machen. Der Arbeiter soll nie Fleisch, Brot oder Ale genießen – er soll wie ein Hund leben, um Handelskonjunkturen zu bestehen!

Aber so sind die meisten englischen Handelsaristokraten. Von offenbarer Schinderei kann natürlich nicht die Rede sein; aber die gesetzlich sanktionierte Scheußlichkeit, jeden Arbeiter als Maschine gebrauchen zu dürfen, ist an der Tagesordnung. Der Durst nach Geld läßt keine menschliche Regung mehr aufkommen; man sucht, die Fäuste des Arbeiters so billig als möglich zu kaufen, und jagt den Kerl zum Tempel hinaus, wenn er nicht länger konveniert. »Wir haben ja keine Verpflichtungen gegen ihn!« – so lautet die ewige Entschuldigung.

Übrigens sind es nicht allein die schlechten Geschäftszeiten, welche den Arbeiter ruinieren, nein, er leidet ebensosehr durch die Willkür seiner Herren und durch die Konkurrenz innerhalb seiner eigenen Klasse sowie namentlich durch jede neue Erfindung, die man macht, um die Hände des Arbeiters durch Maschinen zu ersetzen. Schlechte Geschäftszeiten bleiben natürlich stets die Hauptursache seines Elends, denn sobald der Warenabsatz stockt und es üble Aussichten für die Zukunft unmöglich machen, eine vielleicht schon zu große Produktion noch weiter auszudehnen, fängt man an, täglich einige Stunden weniger zu arbeiten, was eine Verringerung des Lohnes mit sich bringt, und hört endlich ganz [208] zu arbeiten auf, was dann eben keine andere Folge hat, als daß aller und jeder Lohn aufhört und der Arbeiter geradezu auf die Straße geworfen wird, wo man es seinem Scharfsinn überläßt, sich bis zu Beginn einer günstigern Zeit durchzuschlagen.

Durch reine Willkür leidet der Arbeiter insofern, als es dem Fabrikherrn ja ganz freisteht, in seinem Etablissement die lästigsten und infamsten Reglements zu erlassen oder die Löhne selbst in den flottsten Handelszeiten herabzudrücken, sobald er weiß, daß seine Leute aus Mangel an anderweitiger Beschäftigung sich auch unter den billigsten Bedingungen verdingen müssen.

Die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst ist der dritte Grund ihres ewigen Unglücks. Es ist schrecklich, wenn man bedenkt, daß Menschen, welche schon von allen Seiten her gedrückt werden, endlich durch die Not gezwungen auch noch übereinander herfallen müssen, um sich die letzten Brocken aus den Fäusten zu winden. Man hat von dieser Konkurrenz unter den Arbeitern selbst keinen Begriff, wenn man sie nicht mit eigenen Augen sah. Ich erinnere mich noch sehr wohl, daß einst ein Leinengarnspinner seine Preise plötzlich heruntersetzte und dadurch größere Geschäfte zuwegebrachte als alle seine Kollegen. Ich konnte nicht begreifen, wie es diesem Menschen möglich war, sein Garn billiger zu verkaufen als jeder andere. Aus Geldnot tat er es nicht, da er ein sehr reicher Mann war. Da ging ich gegen Abend hinaus in die Felder, und siehe da, es begegneten mir mehrere Hundert Irländer mit Sensen und Hacken auf den Schultern, um nach beendigter Ernte in den Agrikulturdistrikten jetzt in die Fabrikgegenden zu laufen, wo sie sich zu billigeren Löhnen als die bisherigen Arbeiter anboten und natürlich [209] akzeptiert wurden, wenn die alten Arbeiter nicht zu demselben Preise tätig sein wollten.

Es war nur zu deutlich, daß jener Leinengarnspinner den ersten Strom dieser unbeschäftigten Leute erhalten hatte, die Löhne verringern, dadurch billiger fabrizieren und mehr verkaufen konnte als jeder andere.

Welchen Einfluß die Erfindung einer neuen Maschine auf die Arbeiterwelt hat, kann man sich daraus begreiflich machen, daß z.B. in der West Riding von Yorkshire 30000 Menschen allein damit beschäftigt sind, mit der Hand Wolle zu kämmen, die also durch Erfindung einer Maschine, welche diesen Dienst versehen könnte, auf der Stelle außer Brot kommen müssen. Ich führe gerade dies Beispiel an, weil man eben damit umgeht, ein in Sachsen erfundenes System, Wolle durch Maschinen zu kämmen, durch Engländer vervollkommnen zu lassen, so daß fast kein Zweifel mehr ist, daß jene 30.000 Menschen schon in kurzem dasselbe Schicksal haben werden, was seinerzeit den Arbeitern in Manchester durch die Erfindung der Selfactors über den Hals kam.

Die Arbeiter mögen sich daher drehen und wenden, wie sie wollen – nach einer kurzen Zeit der Prosperität geraten sie stets wieder in ihr Elend hinein, in ein Elend, welches, wie es nach jeder Handelskrise z.B. der Fall ist, durch häufigere und gefährlichere Krankheiten Tausende in der Blüte des Lebens hinwegrafft.

Dieses Leiden der englischen Arbeiter ist so fortdauernd, daß man in jeder Zeitung, die sich überhaupt um solche Sachen kümmert, fast jeden Tag auf ein Drama stößt, was sich in dieser oder jener Grafschaft zugetragen hat. Wenn man nämlich eben glaubt, alles Elend müsse sich durch eine allgemeine Besserung des Wollengeschäftes [210] z.B. verlieren, da geht plötzlich in den Baumwolldistrikten, die vielleicht bisher florierten, derselbe Tanz wieder los, der eben in den Wollbezirken endete, und so umgekehrt; und so geht es in allen Branchen, und so geht es von Jahr zu Jahr, und Geschlechter auf Geschlechter gehen zugrunde, um die Wurzeln jenes gewaltigen Baumes zu nähren, auf denen jetzt die Glückseligkeit, vielleicht aber einst auch das Verderben der Reichen wächst.

Es ist rührend, wenn man sieht, wie jene den Arbeiterinteressen gewidmeten Zeitungen nie müde werden, die Leiden jeder Stadt, jedes Dorfes ans Licht zu bringen, wie sie nicht verschmähen, die kleinsten Details jener Ereignisse aufzunehmen, welche doch endlich den Arbeiter zum Bewußtsein und den Besitzenden zur Verzweiflung bringen müssen.

Sunderland, 14. Septbr.


Gestern vergiftete sich hier der Schmied James Pemberton, 32 Jahre alt. Er hatte eine Frau und vier Kinder und konnte seit verflossenem Januar keine Beschäftigung finden. Um während dieser langen Zeit mit seiner Familie leben zu können, verkaufte er zuerst seine Mobilien, dann seine Kleider, so daß bald nichts mehr übrigblieb, woraus ein Pfennig Geld gelöst werden konnte. Seit mehreren Tagen hatten die Leute nichts mehr zu essen, als was sie von den Nachbarn erhielten, die selbst arme Leute waren und nicht viel geben konnten.

Der Hunger brachte Pemberton zur Verzweiflung; er ging und verschaffte sich Gift, um seinem Dasein ein Ende zu machen. Nachdem er eine große Quantität Laudanum zu sich genommen, erzählte er seinem Weibe, was er getan, und versicherte, nur das Elend habe ihn dazu gezwungen.

[211] Die Frau lief zugleich zu den Nachbarn, die einen Arzt und die Behörde herbeiriefen. Mr. Taylor, Relieving-Officer für den Sunderland-Distrikt, fand die Familie Pemberton im schrecklichsten Zustande. Der Mann lag im Todeskampfe auf dem Strohlager in der Ecke des Zimmers ohne irgendeine Bedeckung. Ein alter Stuhl und ein Tisch waren das ganze Möblement. Seine Frau saß neben ihm, halbtot vor Schreck und Hunger. Die Kinder waren am frühen Morgen davongelaufen. Die ärztliche Hilfe kam zu spät. Pemberton starb im Beisein des Relieving-Officer.

(Northern Star)


Im Januar v.J. wurde Thomas Stew, 20 Jahre alt, des Mordes überwiesen und in Liverpool hingerichtet. Dem Kaplan machte er folgendes Geständnis:

»Ich liebte Alice Nolan seit ungefähr vier Monaten. Sie war ein sehr liebenswürdiges Mädchen, und ich dachte, wir würden einst glücklich miteinander leben. Einen Monat vor ihrem Tode versprach ich ihr, sie in Zeit von fünf Wochen zu heiraten; ich konnte aber mein Versprechen nicht halten, da ich in schlechte Gesellschaft geriet und all mein Geld ausgab (6 Schillinge). Da wir also auf Erden nicht leben konnten, so dachte ich, wir würden im Himmel glücklich miteinander sein. Ich lieh ein Messer, um ihr und mir das Leben zu nehmen. Mit diesem Messer in der Tasche ging ich ihr entgegen, wie ich stets zu tun pflegte, wenn Alice von der Arbeit nach Hause zurückkehrte. Als ich sie angetroffen, setzten wir uns auf eine Bank und sprachen miteinander wie manchen Abend vorher. Sie fragte unter anderm: ›Sollen wir uns am Montag bei Sallys treffen?‹ – Ich drückte sie fester an mich. ›Nein!‹ sagte ich, zunächst werden wir uns im[212] Himmel wiedersehen‹ – und durchfuhr mit dem Messer ihren Hals. – ›O mein geliebter Tom!‹ rief sie und stürzte zusammen. Ich ging meines Weges. Vor dem Hause meines Bruders kniete ich nieder und sagte: ›Ich hoffe, daß sie jetzt im Himmel sein wird und daß wir uns dort treffen.‹ Da durchschnitt ich mit dem Messer meinen eigenen Hals. Ich fiel mit dem Kopf gegen die Tür. Die Tür öffnete sich; ich fiel auf die Hausflur. Dort hob mich jemand empor, ich weiß nicht wer. Ich verlor die Sinne. Als ich im Spital erwachte, standen meine beiden Brüder neben mir.«

(Manchester Guardian)


Thomas weinte bitterlich, als man ihn aufs Schafott brachte, denn es hatte ihm jemand versichert, er würde seine Alice sehr wahrscheinlich nicht im Himmel wiedersehen.


Im April 1844 wurde in London eine Frau Mary Furley des Kindesmordes angeklagt. Sie erzählte vor Gericht:

»Als ich in das Bethnal-Green-Arbeitshaus ging, litt mein ältestes Kind an einer bösen Kopfkrankheit. Es wurde ins Spital gebracht und mir nach einiger Zeit zurückgegeben. Da sich das Übel aber aufs neue zeigte, so befahl man, dem Kinde die Haare abzuscheren. Der Barbier, der diese Operation vornahm, war betrunken und schnitt ganze Fetzen Fleisch vom Kopfe des Kindes. Die Wunden wurden sehr schlimm und blieben so für einige Zeit; als sie endlich geheilt waren, bekam das Kind triefende Augen. Auch bedeckte seinen Leib bald von oben bis unten ein häßlicher Ausschlag, welcher gewiß nur dadurch entstand, daß man dem Kinde im Arbeitshause nur hartes Rindfleisch zu essen gab. Ich bat, man solle [213] ihm Hammelfleisch geben, was aber verweigert wurde. Da entschloß ich mich, das Haus zu verlassen, und nachdem ich von den Wächtern ein Darlehen von 6 Schillingen erlangt hatte, ging ich bei meinen Bekannten umher und sammelte noch einige Schillinge dazu. Ich fand dann Beschäftigung bei einem Hemdenfabrikant; da man aber nur 1 3/4 Pence für die Anfertigung eines Hemdes bezahlte und ich bei angestrengtem Fleiße nur drei Stück an einem Tage fertigbrachte, so war ich bald gezwungen, diese Arbeit dranzugeben und mich nach etwas Besserem umzusehen. Ich beschloß daher, für mein weniges Geld Bänder zu kaufen, hieraus Mützen zu nähen, sie wieder zu verkaufen und dadurch einigen Unterhalt für mein Kind zu erwerben. Ich ging aus, um dies zu tun. Als ich aber in einen Kaufladen kam, fand ich, daß mein Geld fort war. Ich habe es entweder verloren, oder es ist mir aus der Tasche gestohlen worden. Dies versetzte mich natürlich in die schrecklichste Betrübnis, denn ich hatte jetzt keinen Freund in der Welt mehr, und es blieb mir nichts anderes übrig, als wieder in das Arbeitshaus zurückzukehren. Vor dem Arbeitshaus hatte ich aber einen solchen Abscheu, daß ich es vorzog, mich lieber samt meinem Kinde ums Leben zu bringen.« Die Gefangene hielt inne bei diesen Worten und sprach so leise, daß man nur noch die Worte hörte: »und ich fiel von den Planken der Werft hinab.«

(The Times)


Das arme Weib stürzte sich nämlich mit ihrem Kinde in eine mit Schlamm und Wasser gefüllte Kloake. Das Kind ertrank, die Mutter wurde gerettet, zum Tode verurteilt, begnadigt und nach Van-Diemens-Land transportiert.

[214] Fälle wie die angeführten, wo es ein Mensch vorzieht, durch Gift statt durch den Hunger zu sterben, wo sich ein junger Mann samt seiner Geliebten umbringt, weil ihm 6 Schillinge (2 Taler) zur Hochzeit fehlen, wo sich eine Mutter mit ihrem Kinde in eine Kloake stürzt, um nicht der »öffentlichen Mildtätigkeit« in die Hände zu fallen – solche Sachen passieren so häufig, daß etwa nur die den Volksinteressen gewidmeten Zeitungen, wie der »Northern Star« z.B., aus wirklichem Anteil davon Notiz nehmen oder Blätter wie der »Manchester Guardian« oder die »Times« nur dann darauf zurückkommen, wenn es ihnen entweder darum zu tun ist, irgendeine leere Spalte ihres großen Formats mit einer Mordgeschichte auszufüllen, oder der Vorfall gerade der Art ist, daß er wie die Geschichte der Mary Furley als Argument gegen das neue Armengesetz gebraucht werden kann.

Bei einer Handelskrisis wäre es indes auch unmöglich, alle Unglücksfälle zur Sprache zu bringen; die Berichterstatter der verschiedenen Grafschaften beschränken sich dann darauf, nur die Totalsumme der Menschen aufzuführen, die infolge des größeren Elendes über die durchschnittliche Totenzahl hinaus in diesem oder jenem Monat umgekommen sind.

Dieses Hinsterben und Verschwinden vieler Menschen infolge einer Geschäftsstockung hat etwas Entsetzliches, etwas Grauenhaftes. Ich erinnere mich noch eines Vorfalls, der in Bradford vor meinen eigenen Augen passierte und den ich deswegen jedenfalls erwähnen will, weil er zeigt, wie der Ruin der Kinder in solchen Zeiten am häufigsten vorkommen muß und gewiß am allerwenigsten bemerkt wird.

[215] Ein junger Arbeiter war infolge des Stillsetzens einer Spinnerei außer Brot gekommen. Fünf Monate lang suchte er vergebens nach Beschäftigung. Alle Mobilien mußten verkauft werden, und zuletzt blieben ihm nur zwei sehr schöne Kinder, zwei Knaben, der eine von 2, der andere von 4 Jahren, und eine Frau, die alles Geld, was sie hin und wieder durch Waschen verdiente, in Schnaps versoff und, wie sich der Mann selbst darüber aussprach, »glücklicherweise« auch endlich gar nicht mehr nach Hause kam.

Der Vater saß daher gewöhnlich mit seinen zwei Söhnen allein am kalten Herde. Endlich findet er Arbeit, aber leider 3 Meilen von der Stadt entfernt. Er konnte seine Wohnung nicht gleich dorthin verlegen, weil er mit der Miete des bisherigen Hauses noch im Rückstand war. Am Morgen um 5 Uhr verließ er daher gewöhnlich seine Kinder und kehrte erst gegen Abend zurück. Die beiden Knaben spielten dann den Tag über auf der Straße vor dem Hause. Eine Woche lang ging dies recht gut. Da erkrankten beide Kinder, und wie mir der Doktor versicherte, infolge der vielen Entbehrungen der letzten Zeit. Es fragte sich nun, ob der junge Mann die kaum erhaltene Arbeit wieder aufgeben sollte, um zu Hause zu bleiben und seine Kinder zu pflegen, oder ob er wie bisher am Morgen hinausgehen sollte, um die beiden Kranken volle vierzehn Stunden ihrem Schicksal zu überlassen. Da doch jedenfalls etwas verdient werden mußte, so zog er das letztere vor, indem er sich auf einige Nachbarn verließ, welche versprochen hatten, sich von Zeit zu Zeit nach den Kindern umzusehen. Dieser Zustand dauerte acht oder zehn Tage lang; die Kinder wurden mit jeder Stunde kränker. Da ging ich mit Mac eines Abends in diese [216] Gegend hinaus; er erzählte mir unterwegs von der Geschichte. Seit dem Beginn der Krankheit, sagte er mir, sei er zweimal täglich hinausgegangen, um den armen Würmern Medizin einzugeben. Das Haus sei immer offen, aber niemand warte den Kindern auf; die Nachbarn schienen sich wenig darum zu kümmern, und alles Kurieren könne nichts helfen; bei dieser Vernachlässigung müßten beide sterben, und es solle ihn sehr wundern, wenn wir das jüngste Kind nicht bereits tot anträfen. Da waren wir an Ort und Stelle. Durch die halboffene Haustür treten wir gleich ins Zimmer. Es war kalt und unfreundlich im Innern. Mac zog seine Schwefelhölzchen hervor und zündete ein Licht an; wir schritten in die Ecke des Raumes, Mac schlug die Bettdecke zurück, und wie er erwartet hatte, war das jüngste der beiden Kinder bereits kalt; das ältere eben im Begriff, seinem Brüderchen in den Tod nachzufolgen.

Mac versicherte mir später, daß solche Ereignisse in seiner Praxis zu den allergewöhnlichsten gehörten. Man kann sich solche Sachen aber sehr gut erklären, wenn man bedenkt, daß in den Fabrikstädten Englands der Wert der Menschen im eigentlichsten Sinne des Wortes mit dem Werte der Kalikos im gleichen Maße steigt und fällt. Stehen die Waren aus Mangel an Vorräten hoch im Preise, da zieht man die Arbeiter heran, um mehr zu produzieren; die Arbeiter bekommen also einen Wert, sie steigen im Preise wie jeder Artikel, den man sucht und nötig hat. Gehen dagegen die Warenpreise niedriger, weil genug Vorräte da sind, da schränkt man die Produktion ein, man entläßt die Arbeiter – die Arbeiter hören auf, ein wertvoller Artikel zu sein, sie fallen ebenfalls im Preise; und hält dies Wertlossein der Arbeiter längere [217] Zeit an, sind sie, mit andern Worten, durch das Aufhören der Löhne längere Zeit, als dies ein Mensch aushalten kann, auf das Hungern angewiesen, da fangen sie eben samt ihren Kindern an zu kränkeln, und wenn sie dann auch gerade nicht Hungers sterben, so verrecken sie doch wenigstens an den Folgen dieser langen Entbehrungen, was im Grunde ein und dasselbe ist.

Daß es weiter gar keine Sensation macht, wenn die Kinder eines Arbeiters sterben wie die Fliegen, das brauche ich wohl nicht zu versichern. Auf der einen Seite sind die Eltern manchmal nur gar zu sehr mit dem Tode ihrer Kinder zufrieden, weil sie dieselben in üblen Zeiten doch nicht zu ernähren wissen, und auf der anderen Seite beruhigen sich die Behörden gern genug bei diesen Sterbefällen, weil ja, um mit dem gelehrten, angebeteten Malthus zu sprechen, die überflüssige Bevölkerung dadurch auf gute Manier aus dem Wege geräumt wird. Übrigens gilt meine Bemerkung, daß die Arbeiter ihre Kinder manchmal gar nicht sehr beweinen, nur für den Fall, daß die Kinder eben noch sehr klein sind. Haben sie schon ein solches Alter erreicht, um in den Spinnereien gebraucht werden zu können, da ist die Sache bei weitem anders. Sie werden dann ein wahrer Segen der Eltern, indem sie zur Erhaltung der letztern beizutragen gezwungen sind. Diese verkehrte Welt, daß die Kinder arbeiten müssen, während die Eltern zu Hause sitzen, ist eine natürliche Folge der allmählich verbesserten Maschinen, die besser durch die gelenken Finger der Jugend als durch die schon steiferen Fäuste des Alters besorgt werden können. Es kommt daher nur gar zu häufig vor, daß man den Hausvater die kleinen Kinder verwahren sieht, während die Mutter mit den schon etwas herangewachsenen Söhnen [218] und Töchtern in der nächsten Spinnerei den Unterhalt der ganzen Familie erwirbt.

Das Verhältnis eines Fabrikanten zu seinem Arbeiter ist in den meisten Fällen so barbarisch, daß es von dem Verhältnis eines Bauers zu seinem Ochsen wenig verschieden ist. In der Tat, die letztern stehen eigentlich in einem innigern Verhältnis wie die erstern. Außer dem Interesse, was der Besitzer eines Ochsen an der augenblicklichen Arbeit dieses Tieres nimmt, muß ihm auch noch an dem körperlichen Wohlsein seines Zugstieres gelegen sein; er muß ihn konservieren, um ihn desto länger ins Joch spannen zu können. Der Fabrikant sieht dagegen in seinem Arbeiter nur eine Maschine, an deren augenblicklicher Benutzung ihm nur gelegen ist und deren Verschleiß ihm deswegen durchaus gleichgültig sein kann, da sie ja jeden Tag anderweitig, und zwar ohne weitere Kosten, zu ersetzen ist. Wenn der Fabrikant von seinen Arbeitern spricht, da redet er auch niemals von Menschen: er tituliert seine Arbeiter schlechtweg »hands«, Hände.

Die Art und Weise, wie mir einst ein Fabrikant von seiner Reise nach Schottland erzählte, wo er sich ein paar Dutzend starke Menschen geholt hatte, war gar nicht von einem Bericht verschieden, den etwa ein Viehhändler von einer gelungenen Expedition nach Friesland geben würde.

Daß die Fabrikanten bisweilen auch noch ganz mittelalterlich in ihrer Umgebung verfahren, mag daraus hervorgehen, daß z.B. ein Worsted-Spinner fast sein ganzes, sehr bedeutendes Etablissement mit eigenen Kindern treiben soll. Der würdige Mann ist Junggeselle und feierte vergangenes Jahr seinen siebzigsten Geburtstag. Ich kann indes diese Geschichte nicht verbürgen; da aber [219] jeder delikate Handel im schlimmsten Falle durch eine wöchentliche Rente von 2 Schilling und 6 Pence an die Mutter eines unehelichen Kindes auf gerichtlichem Wege zu schlichten ist, so ist der Moralität eines reichen, unverheirateten Fabrikanten eben keine sehr strenge Grenze gezogen.

Es gehen in England wirklich oft so schauderhafte Geschichten vor, daß man nicht anders meint, als in der Türkei oder in China zu sein. Das Schrecklichste, was mir indes zu Ohren kam, fiel im November 1845 in Bradford vor. Ich will dies Ereignis erzählen, weil es mehr als alles andere die Schattenseiten englischer Zustände charakterisiert und weil ich die geringsten Details dieser Affäre als wahr verbürgen kann.

In einem Arbeiterviertel in Bradford starb ein sechs Wochen altes Kind und wurde auf dem Kirchhofe innerhalb der Stadt begraben. Die Mutter dieses Kindes war sehr arm, sie begrub ihr Kind, wie es gewöhnlich die armen Leute in England zu tun pflegen. Sie kaufte nämlich für weniges Geld eine kleine Kiste, legte die Leiche hinein und erkundigte sich bei dem Totengräber, ob nicht sonst jemand in der Stadt gestorben sei, der in den nächsten Tagen begraben werde. Da dies der Fall war, so stellte sie sich mit ihrem kleinen Sarge zur bestimmten Zeit ein, und während man die Leiche eines Erwachsenen hinabsenkte, steckte der Totengräber den Sarg mit dem Kinde zu gleicher Zeit in dieselbe Grube. Dies ist eine alte Sitte in England, von der gewöhnlich die ärmsten Leute Gebrauch machen. Ein eigenes Begräbnis kostet nämlich wenigstens 5 Pfund Sterling; die meisten Leute haben dies natürlich nicht aufzuwenden, und die Leichen der Kinder werden dann bei Gelegenheit mitverscharrt, wofür [220] der Totengräber nur 2 Schillinge in Anspruch nimmt. Das Kind jener armen Frau wurde auf dieselbe Weise zu Grabe gebracht. Eine Woche verfloß, und niemand dachte vielleicht daran, daß von dem begrabenen Kinde je wieder die Rede sein würde. Da verbreitet sich plötzlich das Gerücht, man habe das kleine Geschöpf vergiftet; man erzählt noch allerlei sonderbare Nebenumstände; die Geschichte wird in einigen Tagen das allgemeine Gespräch des ganzen Arbeiterviertels, und die Behörde sieht sich zuletzt veranlaßt, die Sache näher zu untersuchen.

Mein Freund Mac erhielt den Auftrag, das Kind wieder ausgraben zu lassen und es zu öffnen.

Dies geschieht. Während er damit beschäftigt ist, erklärt eine alte Frau, die neben der Mutter des toten Kindes wohnte, der Doktor, der das Kind behandelt habe, sei an seinem Tode schuld. Er habe ihm ein solches Brechmittel eingegeben, daß das Kind im eigentlichsten Sinne des Wortes seine ganze Inside von sich gegeben habe und augenblicklich darauf gestorben sei. Man erkundigt sich, wer dieser Doktor ist, und läßt ihn kommen. Er erscheint, und es findet sich, daß er nicht ein privilegierter Doktor, sondern ein Schreiner ist. Nach einem kurzen Verhör ergibt sich, daß er gewöhnlich Särge macht und nebenbei die Leute seiner Nachbarschaft als Arzt behandelt. Der Richter bemerkt ihm, daß dies sehr verdächtig sei, das Kurieren vertrage sich nicht gut mit dem »Särgemachen«.

Der gute Mann fühlt sich sehr beleidigt; er versichert, diese beiden Handwerke schon seit fünfzehn Jahren mit großem Erfolge betrieben zu haben. Man gibt ihm recht, daß es sehr einträglich sein müsse, zuerst die Leute gegen eine hübsche Gratifikation tot zu kurieren und ihnen [221] dann noch die Särge zu machen. Der Schreiner-Doktor wehrt sich mit Händen und Füßen gegen jeden Verdacht. Da ist Mac mit seiner Untersuchung fertig. Es stellt sich heraus, daß man das Kind zwar nicht vergiftet hat, daß die Quantität des auf einmal eingegebenen Brechpulvers aber so groß gewesen ist, um fast einen erwachsenen Menschen in Gefahr zu bringen, geschweige ein krankes, sechs Wochen altes Kind am Leben zu halten. Ein ungebrauchtes, noch im Originalpapier befindliches sehr starkes Pulver macht dies noch gewisser.

Man wirft also die Frage auf, in welcher Weise gegen diesen Schreiner auf gerichtlichem Wege zu verfahren sei; wie in allen Fällen hatte er auch in diesem, nach Anwendung seiner Brechmittel, den Sarg fabriziert. Der Verdacht eines absichtlichen Verbrechens lag also nur zu nahe.

Man debattiert lange Zeit und wird zuletzt darüber einig, daß nicht genug Beweise vorhanden seien, um die Sache zu einer Kriminaluntersuchung bringen zu können. Das einzige, was man tun könne, sei eine Verfolgung des Schreiners, weil er ohne Erlaubnis die Funktionen eines Arztes versehen habe; da aber ein solcher Prozeß wenigstens 300 Pfund Sterling kosten werde und niemand gegenwärtig sei, der die Rolle eines Verfolgers übernehmen wolle, so sei auch kein Angeklagter da, und man müsse sich darauf beschränken, dem questionierten Schreiner streng ins Gewissen zu reden und ihn vor weiterer Ausübung ähnlicher Kuren unter Androhung der härtesten Strafen zu warnen. Dies geschieht, und die Sache ist beendigt. Der Instruktionsrichter entfernt sich, der Schreiner geht ebenfalls nach Hause, und Mac packt die Leiche wieder in den Sarg ein.

[222] Ich frage meine Leser, ob man bei einer solchen Geschichte nicht glauben muß, eher in der Türkei als in England zu sein? Aber ich bin noch lange nicht fertig. Bei seiner Untersuchung findet Mac, daß das Kind so sehr an der Syphilis gelitten hat, daß es dennoch schon in kurzem hätte sterben müssen, wenn es auch nie mit den Brechmitteln des Schreiners in Berührung gekommen wäre. Er untersucht deswegen auch die Mutter des Kindes und findet, daß sie schon seit zwei Jahren an derselben Krankheit leidet. Er erkundigt sich nach ihrem Manne – sie ist unverheiratet, hat aber längere Zeit mit einem Eisenbahnarbeiter gelebt – – dieser Eisenbahnarbeiter wird aufgesucht – er ist vor kurzem an demselben Übel, das er Mutter und Kind mitgeteilt, im Spitale gestorben.

Was soll man zu einem Lande sagen, wo solche Dinge möglich sind, wo sie an der Tagesordnung sind? Jawohl, an der Tagesordnung! Denn in England wundert sich niemand mehr darüber.

Daß Mac mir das ganze Ereignis mit der größesten Gleichgültigkeit erzählte, als ich ihn unmittelbar nach Beendigung seiner Aventüre beim Händewaschen in seinem Zimmer antraf – das verstand sich von selbst. Mac ist ein Doktor. Aber daß die Presse diesen Vorfall kaum mit fünf oder sechs Zeilen erwähnte, das beweist, daß auch noch andere Leute als Doktoren mehr oder weniger zu Barbaren herabgesunken sind. Übrigens lasse ich meinem schottischen Freunde gern Gerechtigkeit widerfahren; ich glaube nicht, daß ich je wieder einen Menschen antreffen werde, der sich mit einem solchen Heroismus und mit einer solchen Ruhe wie Mac unter dem unglücklichsten und verworfensten Volke der Welt herumschlagen wird. Als ich einst mit ihm in das Bradforder Krankenhaus [223] trat, da richteten sich alle alten Weiber in den Betten empor, um ihren Freund zu begrüßen.

Die Mysterien Bradfords kamen wohl nie besser ans Licht als infolge einer Arbeiterversammlung, in der man den Gesundheitszustand der Bewohner zur Sprache brachte. Man wählte einen Ausschuß, der genaue Nachforschungen über diesen Gegenstand anstellen, die gesammelten Tatsachen dem Publikum im allgemeinen, namentlich aber den einflußreichsten Fabrikbesitzern und Kaufleuten mitteilen und endlich Vorschläge machen sollte, wie man einem Übel abhelfen könne, das inmitten einer der lebendigsten und am meisten prosperierenden Industriestädte des Königreichs zu einem solchen Umfang angewachsen ist, daß die gelindeste Schilderung fast übertrieben erscheint.

Der Ausschuß jener Versammlung ging sofort ans Werk. Man teilte die Stadt in gewisse Distrikte und ließ die Einwohner derselben von einer Deputation von jedesmal drei oder vier Personen besuchen, damit man sich genau davon überzeuge, einen wie großen Teil an Annehmlichkeiten des Lebens die heutige hochzivilisierte Welt dem Arbeiter zuerkennt. Wir finden, daß der Ausschuß seinen Auftrag gut vollzogen hat. Er gab einen Bericht über das Resultat seiner Untersuchungen, aus dem wir einige wenige Fälle anführen, um dem Kontinent eine Idee zu geben, wie es mit den Bradforder Arbeitern bestellt ist.

Der Bericht beginnt mit einer »Adresse der Gesundheitskommission, gewählt in einer zahlreichen Versammlung von Wollkämmern, am Montag, 5. Mai 1845«, in der man zuerst seine Freude darüber ausdrückt, daß das Gouvernement beabsichtige, den beklagenswerten Zustand [224] großer Städte vor das Publikum zu bringen, und daß die Arbeiter in Bradford sich verpflichtet fühlten, das Ihrige zu diesem Zwecke beizutragen.

Es heißt dann wörtlich weiter: »Wir haben hier in der Stadt und in der nächsten Umgebung über 10.000 Wollkämmer, die größtenteils gezwungen sind, Werkstatt und Schlafzimmer an einem und demselben Orte zu haben. Die Art ihrer Beschäftigung nötigt sie, über einem Kohlenfeuer zu arbeiten, welches bei Tage fortwährend in ihrem Zimmer brennt und das man auch häufig die Nacht fortglimmen läßt, um die Arbeit am folgenden Morgen desto mehr zu beschleunigen. Die gefährlichsten und tödlichsten Dämpfe verbreiten sich dadurch in dem geschlossenen, schlecht ventilierten Zimmer und werden fortwährend von den Bewohnern eingeatmet, welche unglücklicherweise kein anderes Eigentum haben als ihre Gesundheit und kein Mittel, um ihre Familie zu unterhalten, wenn die Kraft ihres Körpers bald und rasch schwindet und sie endlich den verheerendsten Krankheiten unterliegen. Ein hinreichender Beweis dieser Tatsachen zeigt sich in dem ausgemergelten Aussehen aller Opfer dieser traurigen Zustände, die stets einen frühzeitigen Tod herbeiführen. Sehr groß ist die Zahl der Witwen und Waisen, die von hier in die Welt hinausgestoßen werden.«

Es folgt dann im allgemeinen eine Schilderung der Plätze und Straßen, in denen die Wohnungen der Arbeiter liegen, sowie ein Aufruf an Prediger, Ärzte und andere einflußreiche Leute, dem Bericht einige Aufmerksamkeit zu widmen und die später zu machenden Vorschläge der Arbeiter zu unterstützen.

In der Aufstellung der Details finden wir Straße und [225] Hausnummer eines jeden berichteten Falles verzeichnet; ferner die Zahl der Familienglieder, die Zahl der Zimmer jeder Wohnung, die Zahl der beschäftigten Personen, die Zahl der Frauen und Mädchen sowie die Dimensionen jedes Zimmers und die Art der Stoffe, welche bei der Arbeit benutzt werden.

Aufs Geratewohl nehmen wir das Folgende aus dem Bericht:

Fall Nr. 6. Kanonenstraße. Familie von 11 Personen. 5 weiblichen Geschlechts. 7 arbeiten im Hause, das aus 3 Zimmern besteht. 6 Personen arbeiten im Schlafzimmer. Schlechte Ventilation. Kein Wasserabfluß. Schweinestall: Schmutz.

Fall Nr. 7. Handelsstraße. Außerordentlich ungesund. Unerträgliche Hitze. 3 Männer und 1 Frau arbeiten in einem Schlafzimmer. 2 Personen, Vater und Sohn, wurden vor einiger Zeit infolge des fortglimmenden Kohlenfeuers am Morgen tot gefunden.

Fall Nr. 13. Daselbst. Dies ist ein Keller mit zwei Abteilungen, 3 Fuß niedriger als das Straßenpflaster. Kein Wasserabfluß. Fortwährender Gestank. Asche und Schmutz vor der Türe aufgehäuft. Ein erwachsener Mann erstickte vor kurzem in diesem Keller.

Fall Nr. 15. Daselbst. Eine Frau liegt todkrank im Bett – in demselben Zimmer arbeiten 4 Personen. Das Zimmer ist 3 Fuß unter der Erde.

Fall Nr. 1–5. Mill-Bank, liegt im untern Teile der Stadt, neben einer Kloake, die sich durch das schmutzige Wasser und den Kot, der aus den nahen Fabriken dorthin geschwemmt wird, allmählich bildete. In der ganzen Gegend herrscht durch das stehende Wasser der fürchterlichste Gestank, die verdorbenste Luft. Hier wird in allen [226] Wohnungen über Kohlenfeuern gearbeitet, und die Menschen sind so zusammengedrängt, daß es für 33 Personen nur 7 Betten gibt.

Fall Nr. 16–18. Die Straße wird hier sehr eng, und außer den gefährlichen Dünsten, die aus der Kloake aufsteigen, leiden die Bewohner auch noch dadurch, daß ihre Häuser von beiden Seiten durch sehr hohe Magazine und Fabriken überragt werden, die fast alles Licht fortnehmen. Fast alle Menschen sind hier krank. In diesen 12 Wohnungen halten sich 95 Personen auf. Sie besitzen 23 Zimmer und nur 24 Betten. 4 Personen also für jedes Bett. In Nr. 6 arbeiteten und schliefen Bruder und Schwester, nur ein Zimmer und ein Bett. Die Schwester ist aber neulich ausgezogen – sie ist schwanger.

Fall Nr. 21–25. Dieselben Übelstände wie vorher. 55 Personen in 5 Wohnungen. 9 Betten; also nicht weniger als 6 Personen für ein Bett.

Fall Nr. 28. Ein Kohlenloch. 4 Personen einschließlich einer Frau schlafen dort. Dieses Loch, genau gemessen, ist 3 Fuß breit, liegt 5 Fuß unter der Erde. Dieses Kohlenloch gehört eigentlich noch zur Victoria-Straße.

Fall Nr. 40. White-Abbey. Ein Zimmer, 4 Fuß unter der Erde. In diesem Loch schlafen in einem Bett, das aus Abfall gemacht ist, 1 Mann, 1 Frau und 4 Kinder – alle krank.

Fall Nr. 83. Daselbst. Ein Zimmer, 5 Fuß unter der Erde. Eine Masse Dreck. Ein Mann mit seiner Mutter, seiner Frau und 4 Kindern schlafen in diesem erbärmlichen Loch in einem Bett.

Fall Nr. 109. Wir fanden 4 Personen in einem Zimmer an der Arbeit. Eine kranke Frau lag im Bett – und ein totes Kind. Alles in einem Zimmer.

[227] Fall Nr. 119. Westgate. Dies ist eine schauderhafte Wohnung. 13 Personen liegen zusammen auf zwei Bündeln Stroh, auf einer feuchten Steinflur. 4 unter diesen 13 Personen sind Frauen. Der Schmutz, das Elend und die Unsittlichkeit an diesem Orte sind fürchterlich.

Fall Nr. 121 und 122 gelten für die ungesundesten Wohnungen in Bradford. In ihnen wohnen die ärmsten und verlassensten Arbeiter. Man gibt eine fürchterliche Beschreibung dieses Ortes. Die Unsittlichkeit ist hier an der Tagesordnung. Männer, Frauen, Knaben und Mädchen liegen halbnackt durcheinander.

Diese wenigen Beispiele aus den hunderten, durchaus ähnlichen, welche der Bericht des Ausschusses mitteilt, mögen zeigen, wie es einesteils mit den häuslichen Verhältnissen der Arbeiter aussieht, und zweitens, in welcher Weise, in welcher Form sich der Gesundheitsausschuß seines Auftrages entledigte. Zu besserem Verständnis des Obigen ist nur noch zu bemerken, daß das Wort »Zimmer« nicht durchgängig einen wohnlichen Raum bedeutet, sondern daß man auch Keller und ähnliche mit Steinen gepflasterte Löcher darunter versteht. Ebenso versteht man unter Betten sehr häufig auch einen alten Teppich, der von einer Wand zur andern gespannt ist und gleich einer Hängematte zum Lager dient, ferner Strohsäcke mit einer Decke darüber usw. Wenn man die Zahl aller in dem Bericht angegebenen Personen und Betten zusammenfaßt, so kommt im Durchschnitt stets auf 41/2 Personen ein Bett.

Der Bericht der Wollkämmer machte einige Sensation, namentlich da die einzelnen Personen des Ausschusses als wahrheitsliebende Männer bekannt waren und außerdem die Angabe der Häuser usw. jeden in den Stand [228] setzte, sich von der Richtigkeit der ganzen Darstellung zu überzeugen.

Nachträgliche Forschungen wurden auch vorgenommen und bestätigten nur zu sehr die Richtigkeit des Berichtes.

Gleich nach Veröffentlichung desselben luden die Arbeiter das Publikum Bradfords zu einer Versammlung auf dem Börsensaale ein, um dort in Gemeinschaft mit den Herren Fabrikanten usw. Beschlüsse zu fassen, wie dem vorhandenen Elend abzuhelfen sei. Es hatten sich etwa 70 bis 80 Personen eingefunden. Die Hälfte derselben bestand aus Arbeitern, namentlich aus Wollkämmern, die den Zustand der Wohnungen untersucht hatten. Sie nahmen die eine Seite des Saales ein. Auf der andern bemerkte man Fabrikanten, Händler, Prediger, Doktoren usw.

Zum Präsidenten erwählte man den Dr. Divinitatis Scoresby, zum Sekretär den Chartisten George White. Eine sonderbare Zusammenstellung! – Von dem vornehmen Geistlichen, dem Herrn Scoresby, ist wenig in der Welt bekannt. Von dem Wollkämmer George White weiß man, daß er schon seit zwanzig Jahren ein unermüdlicher Agitator ist. Er hat die Stimme eines Löwen; sein linker Arm ist steif, mit dem rechten gestikuliert er desto besser. Dr. Scoresby berührte in seiner Rede noch einmal den Inhalt des mehrerwähnten Berichts und erklärte sich damit einverstanden, daß es unangenehm sei, den ganzen Tag über einem Kohlenfeuer arbeiten zu müssen, das die vordere Seite des Körpers in hohem Grade erhitzt, während die durch das geöffnete Fenster hereindringende Luft, namentlich zu rauher Jahreszeit, den Rücken des Arbeiters eiskalt erhält.

[229] Er fand es ferner schrecklich, daß der Arbeiter auch meistens die Nacht im Kohlendampfe liegen muß, und hielt es für wünschenswert, daß seine schlechten engen Wohnungen besser und geräumiger gemacht würden, und da es den Doktor Divinitatis sehr unangenehm berührt hatte, daß die Sterblichkeit in Bradford seit einiger Zeit um 5 Prozent größer war als sonst im ganzen Königreich, so wünschte er auch schließlich den Arbeitern für alle ihre Unternehmungen viel Glück und Segen, nahm dann die Zipfel des Frackrocks in die Hände, setzte sich und lächelte.

Die Arbeiter schwiegen – die andere Seite rief ihrem feinen, frohen Geistlichen den lautesten Beifall zu. Es erhob sich dann ein anderer Gentleman, der nach verschiedenen zarten Redensarten, in denen er sich mit den Ansichten des hochwürdigen Dr. Scoresby einverstanden erklärte, sich dahin aussprach, daß es doch wünschenswert sei zu erfahren, aus welchem Grunde die Arbeiter sich mit der fraglichen Gesundheitsangelegenheit befaßt hätten.

Keiner der Anwesenden verstand augenblicklich, was der Herr meinte, und man ersuchte ihn von mehreren Seiten, sich etwas deutlicher auszudrücken. Der Redner wiederholte daher nochmals, daß er zu wissen wünsche, wie man auf den Gedanken gekommen sei, sich für eigene und fremde Leiden so sehr zu interessieren, daß man Berichte abfasse, Versammlungen anberaume usw.

Da der Redner als ein sehr geistreicher und gelehrter Mann bekannt war, so mußte sich den Arbeitern und einigen anderen Leuten bei dieser zweimaligen Schamlosigkeit doch der Gedanke aufdrängen, daß der Wunsch des Redners eben nur aus vollendeter Schamlosigkeit entsprungen [230] sei, daß er zu den Gesellen gehörte, die es gar nicht begreifen können, wie ein Arbeiter so frech sein kann, seine Leiden aufzudecken, sich zu beschweren, ja zu murren!

Es verbreitete sich daher über der Stirn mancher Anwesenden eine kleine Wolke der Verlegenheit, die bald dadurch verscheucht wurde, daß der ehrliche George White seinen wachsenden Zorn unterdrückte und den vornehmen Pinsel in einigen kräftigen, aber höflichen Worten zurechtsetzte. Die Niederträchtigkeit dieses Menschen war indes doch zu eklatant. An der linken Seite des Saales saßen 40 Arbeiter – zur Hälfte bleich und ausgemergelt, Gram in den Zügen, die Verzweiflung in den Augen –, die vielleicht noch die letzte Nacht auf faulem Stroh geschlafen, in dem Kohlenloch der Victoria-Straße – und dieser Pinsel, der ihnen vor der Nase stand, der in jeder Fratze ein Buch Hiob aufgeschlagen sah, konnte noch fragen, wie man auf den Gedanken gekommen sei, die Not von zehn-, vierzig-, fünfzigtausend Menschen in einer Stadt ans Licht heraufzuziehen!

Einige junge Leute wollten sich daher mit den Auseinandersetzungen des Sekretärs auch nicht zufrieden geben, und einer wagte es sogar zu behaupten, daß man hier nichts anderes zu tun habe, als Mittel zur Abhilfe des Elends vorzuschlagen, und da jedenfalls alle zu erwartenden Leistungen der besitzenden Klasse wie alle Erleichterungen des Gouvernements nicht hinreichen würden, die Kloaken auszutrocknen, den Kohlendampf abzuschaffen, die Wohnungen der Arbeiter umzubauen und diese auf Rosen statt auf faules Stroh zu betten, so schlage er vor, den untern, von den arbeitenden Klassen bewohnten Stadtbettel in Brand zu stecken – – – [231] Man hat mir später erzählt, daß ich selbst diesen Vorschlag machte. – Die Lage der Wollkämmer in Bradford ist noch immer dieselbe.

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TextGrid Repository (2012). Weerth, Georg. Skizzen, Feuilletons, Reportagen. Die englischen Arbeiter. Die englischen Arbeiter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-9739-0