Maria Luise Weissmann
Aufsätze

[145] Die Bettina und Goethe
Ein Versuch

Die Vorrede, mit der Bettina von Arnim den »Briefwechsel Goethes mit einem Kinde« einleitet, beginnt mit den Worten: »Dies Buch ist für die Guten und nicht für die Bösen.«

Es liegt eine merkwürdige Verwahrung in diesem Satz, mit dem ein Mensch sich gegen die Mit- und Nachwelt zu sichern sucht. Es liegt die ganze Entschiedenheit eines glücklichen Temperamentes darin, das die Bettina trug, gleichzeitig aber auch Unsicherheit, die eines Fragwürdigen, eines Anfechtbaren sich durchaus bewußt ist. Es liegt eine Spur von schlechtem Gewissen in dieser Ablehnung der »Bösen«, Verzicht auf die Gerechtigkeit, das Maß, das diesem leidenschaftlichen Menschen bis zu seinem Ende fremd blieb. Vielleicht aber hat auch Bettina geahnt, wie schwer es sein würde, dieses Maß an sie zu legen. Sie war vielleicht im Tiefsten aufrichtig genug, sich für die Zukunft den Scharen jener einzuordnen, die allein in ihrer Beziehung zu einem Größeren gewogen werden, die, in das Werk bezogen, allein gewogen werden nach Hemmnis oder Verdienst an diesem Werk. Sie wußte im Innersten vielleicht, daß sie durch Goethe weiterleben würde, nicht durch sich selbst, und daß, weil niemand ihr Leben zu seinem eignen Ursprung verfolgen, niemand dem Gesetz seines Ablaufs würde nachgehen wollen, die Liebe der »Guten« ihr unentbehrlicher sein würde, als die Gerechtigkeit der »Bösen«.

[145] Warum aber sollte man nickt, um dieser Gerechtigkeit willen, in der Neigung und leichten Trauer einer nachdenklichen Stunde versuchen, diesen Beziehungen in umgewandter Folge nachzugehen; nicht auf dem gebotenen Weg Goethe-Bettina, sondern dem unwichtigen anderen: dem zu keiner Vollendung führenden, im Irdischen an kein Ziel gelangenden Weg Bettinas zu Goethe?


Dies ist die Folge ihrer Begegnungen: das junge Mädchen, dreizehnjährig aus klösterlicher Obhut entlassen, wird von dem Bruder Clemens der Dichtung Goethes zugeführt. Es liest; ohne Verständnis zunächst, aber mit einer starken Ergriffenheit der Seele, an der allmählich Fähigkeit zur Aufnahme auch des Kunstwerks reift. Mit zwanzig Jahren liest Bettina zum zweiten Male »Wilhelm Meisters Lehrjahre« – Mignons Gestalt ergreift sie wesensverwandt. Mignons Selbstverzehrung wird ihr das Maß; noch ehe ihr Gefühl an einen Menschen gebunden ist, trägt sie schon in sich die große Weite der Leidenschaft, hat sie schon Grenzen und Bewahrung überwunden. In dieser Zeit einer Hingabe, die doch noch Freiheit ist, wächst sie an allem, was das Leben ihr zubringt, saugt sie in sich, was sie berührt; im gleichen Maße, in dem ihr Geist sich bildet, wendet er sich immer von neuem den Büchern Goethes als unerschöpflicher Quelle zu.

So trifft sie das Schicksal: sie findet bei einem Besuch im Hause der Großmutter Laroche Briefe Goethes, aus denen klar die Innigkeit seiner Beziehung zu Maximiliane, der Mutter Bettinas, sich enthüllt: süßes und heißes Erschrecken, in dem das junge Geschöpf zum ersten Male [146] den Menschen erkennt, den fühlenden, an Menschlichem teilnehmenden, den liebenden Menschen Goethe, der plötzlich nun, wie grenzenlos geahntes Licht im Ausschnitt eines Fensterbogens, hinter der Dichtung sichtbar wird.

Dies ist der entscheidende Augenblick in Bettinas Leben; denn diese Menschwerdung eines bisher in unirdischer Ferne Verehrten vollzieht sich in ihrem Gefühl zugleich mit dem Entschluß, sich dieses Menschlichen zu bemächtigen, um damit des Göttlichen teilhaftig zu werden.

Mit der ihr eigenen Entschlossenheit ebnet Bettina sich den Weg nach Weimar, der über die Mutter Goethes führt. Enge Freundschaft entsteht; für Bettina ist die alte Frau Rat eine einzigartige Quelle der Mitteilung über den Geliebten; für die Mutter wird das Gespräch ein unentbehrliches Labsal, das sie speist mit Stolz und Erinnerung. Sie ist Vermittlerin zwischen dem Sohn und Bettina, Fürsprecherin bis zuletzt, wo allein Bettinas Sorge um sie noch mit Billigung und Dank von Goethe gewogen wird. Es ist nicht ihre Schuld, daß schon der erste an sie gerichtete Brief Bettinas, den sie in herzlichster Absicht nach Weimar schickt, eine klar geäußerte Mißbilligung Goethes zur Folge hat...

Bettina ist nach ihrem ersten Besuch bei Goethe ganz ein-gegangen in das Gefühl ihrer Liebe. »Ein Menschenkind, allein auf einem Fels, von allen Winden umbraust, so war ich, da ich meinen Herrn noch nicht erkannt hatte, nun wend ich mich wie die Sonnenblume nach meinem Gott« – schreibt sie in ihrem ersten Brief. Und weiter spricht sie zu sich mit den zärtlichen Worten des Liebenden: »Mein Kind, mein Herz«... und doch steht schon die [147] große Angst im Hintergrund: »Weh mir, wenn dieses alles nie zur Wahrheit wird –!«

Es ist niemals zur Wahrheit geworden, wenngleich sie zuweilen an ihre Seligkeit glauben darf in Augenblicken, da sie Gedichte von Goethe erhält, darin sie sich, die schweifenden und verwirrten Gedanken ihrer Briefe »in göttlichem Glanze wiedergeboren« findet. »Übersetzungen« nennt Goethe vorsichtig und scherzhaft die beiden Sonette.

Der Briefwechsel geht, von Besuchen Bettinas in Weimar unterbrochen, durch Jahre weiter. Bettinas Briefe werden immer länger, werbender und hingerissener, Goethes Briefe seltener, kürzer und kühler. »Er schreibt so kalt und steif, als ob er sich scheute, eine Leidenschaft in mir zu reizen,« klagt sie Arnim. Erschütternd, dem Kampf, den sie führt, in ihren Briefen beizuwohnen: sie ist kindlich und weise, verliebt und verzichtend, übermütig und voll Demut, geistreich und töricht; sie entwickelt alle Fähigkeiten, die sie in sich findet, sie breitet sich aus und steigert sich, sie rührt in Augenblicken an das Genie, sie reißt sich das Herz aus, um seinen Brand glauben zu machen – freundschaftliche Teilnahme ist das Höchste, das sie erreicht. So verliert sie allmählich Besinnung und Überblick. Sie gleicht einem Menschen, der seit langem ahnt, daß seine Mühe vergeblich ist, und der in einem letzten wohltätigen Taumel den Rest seines seelischen und irdischen Vermögens um ein Unerreichbares verschleudert. Bettina verschleudert so die Freundschaft Goethes im Kampf um seine Liebe. Sie wird aufdringlich, taktlos und muß sich Zurückweisung ihrer Zärtlichkeiten [148] gefallen lassen, mit denen sie vor Dritten ihn überhäuft. Als es dann noch zwischen ihr und Christiane in einer Ausstellung, die sie besuchen, zum öffentlichen Skandal kommt, wendet sich Goethe ab und er tut es nicht ungern. »Ich bin froh, daß ich die Tollhäusler los bin,« schreibt er Christiane. Bettina aber muß, o härtestes Los der Liebe, »ohne Fluch und ohne Segen« von ihm gehen. Übrigens ist sie seit einem Jahr mit Achim von Arnim vermählt. Aber dieses Ereignis bleibt ungespiegelt von ihren Briefen; sie teilt es Goethe geflissentlich auf eine Weise mit, die ihn zu einem Glückwunsch nicht kommen läßt. Und es wird auch diese Ehe keine Erlösung für ihr ungebärdiges Herz.

Nach fünf Jahren versucht sie, zum ersten Male wieder, Goethe zu rufen und sie verstärkt ihre Stimme durch die abgeschiedene seiner Mutter, die ihr Haar, letztes Vermächtnis, Bettinen überließ. Dieser Brief, dem keine Antwort wird, ist ergreifend in seiner bittern Einsicht: »Ich fühl es jetzt wohl, daß es nicht leicht war, mich in meiner Leidenschaftlichkeit zu ertragen.« Beschwörung unendlicher Qual, wenn sie der Stunden gedenkt, wo sie »mit Geistern zu kämpfen hatte, die sie zu ihm hin mahnten,« und denen sie so lange widerstand.

Vier Jahre hält sie noch aus, dann erzwingt sie sich Eintritt bei Goethe, den sie während einer Abendgesellschaft unangemeldet überrascht. Goethe ist alt geworden in diesen neun Jahren, er hat Zähne verloren, seine Lippen sind eingefallen, seine Augen erloschener: er sieht sie nur noch so obenhin, ohne besondere Freude, ohne besondere Abneigung. Aber die unselige Liebe dieser unseligen [149] Bettina saugt aus jeder Berührung mit dem Geliebten neue Kraft; in ihrem Brief, den sie auf diesen Besuch hin schreibt, den sie ein Jahr mit sich herumträgt und endlich doch noch abschickt, in diesem Briefe beschwört sie in einem unendlichen Aufschrei noch einmal die Schönheit dieser Hände, die sie bilden, der Lippen, die Leben in sie hauchen, all die Verheißung, die ihr das Schicksal hätte erfüllen sollen: »Sauge mich auf, verzehr mich, wenn Du mich nicht dulden magst!« –

Ein Denkmal, das die Frankfurter ihrem größten Bürger setzen wollen, gibt ihr eine neue Möglichkeit der Beziehung. Sie entwirft eine Skizze und beginnt zu modellieren: mächtige sitzende Gestalt Goethes mit der Leier, in die eine Psyche (mit Bettinas Zügen) greift. Man könne dem wunderlichen Ding eine Art von Beifall nicht versagen, ein gewisses Lächeln nicht unterdrücken, äußert sich Goethe darüber. Das Denkmal gelangt niemals zur Ausführung. Aber es hat doch wieder die äußere Möglichkeit einer Anknüpfung gegeben. Ein kurzer Aufenthalt in Weimar 1824 auf der Durchreise ergibt ein abendliches Beisammensein, über dem die Stille und Wehmut des Alters ruht und das ohne Mißklang verläuft. Goethe äußert sich später einmal über ihr beruhigteres Wesen: »Du hast gelernt Menschen zu schonen, denn vorher hast Du das niemals gekonnt. Nun mach, daß, wenn ich Dich nach einiger Zeit wiederum sehe, Du abermals was gelernt hast, so kann am Ende noch was draus werden.«

Aber schon diese arme Hoffnung treibt Bettina wieder über die eng gezogene Grenze; noch einmal ruft sie der Weg, auf dem allein sie sich erfüllen könnte. »Küssen, [150] Beten, Versinken, alles hast Du mich gelehrt, und nur in Dir hab ichs begriffen.«

Doch ist im Grund nun auch ihr unüberwindlicher Glaube dahin, weiß sie unwiderlegbar um die Vergeblichkeit ihres Kampfes, ist sie sich selbst zerstört durch die Verneinung des am tiefsten Geliebten. Und Frau, die sie so völlig ist, sucht sie nun die Bejahung, soviel sie möglich ist, und bei allen: sie verstreut ihr Gefühl, sie drängt ihre Gedanken auf, schreibt Briefe an Monarchen; sie übersteigert Talente, sie entfaltet eine Betriebsamkeit, die sie peinlich und unerträglich macht. Mit einem bösen Wort von der leidigen Bremse wendet Goethe sich entschuldigend an Carl August. Vier Jahre später noch eine Notiz in seinem Tagebuch: »Frau von Arnims Zudringlichkeit abgewiesen.« Künftig spricht sie nur noch allein. Keine Antwort kommt mehr auf ihre Briefe, in denen sie ihr Geschick als tragisches und erhabenes preist. Doch ihre Liebe, die so viel phantastische Wege einschlagen mußte, die im Rauschen des Wassers die Stimme des Geliebten betörend vernahm, die seinen Gestalten und seiner Gestalt begegnete im Reif der Winternächte und den Felsen des Spessarts, diese Liebe weiß noch eine letzte Berührung im Geiste zu finden: Bettina schickt ihren ältesten Sohn, der Deutschland nicht verlassen soll, ohne von Goethes Anblick gesegnet zu sein. Und es ist ein gütiges Nachgeben des Schicksals, das so viel verweigerte, daß dieser junge Arnim der letzte Fremde ist, den Goethe bei sich sieht, daß die Zeilen in seinem Stammbuch die letzten sind, die seine Hand geschrieben hat.

[151] Der Brief, den Bettina auf die Nachricht von Goethes Tod schreibt, ist erschreckend. Er ist ein Triumphgesang, ein Geschrei der Erlösung. Es ist ein »glorreicher« Eindruck, den sie empfangen hat. Nichts steht ihr künftig im Weg, niemand wird größeres Anrecht auf ihn haben als sie, ihre Gespräche sind reichlich mit Gegenrede belohnt, keiner Zärtlichkeit kann er die Aufnahme verweigern, die Wirklichkeit bricht nicht mehr in ihre Träume.

So ist endlich ein Ziel erreicht, anders als es gedacht war, doch immerhin ein Ziel. Keine gefährliche Hoffnung zehrt mehr an den Kräften der Seele; Bettina sammelt sich und das Verbliebene. Sie wird, da keine Sehnsucht nach dem Unerreichbaren mehr geht, sich dessen bewußt, was an Erreichbarem ihr geworden ist. Es findet sich genug, um vor der Welt mit Ehre bestehen zu können. Es findet sich sogar so viel, daß es nur eines geringen Vergessens und Verwischens bedarf, um auch ihr selbst noch eine späte Genüge zu bringen. Und so entsteht, da sie inzwischen ihre Briefe aus Goethes Nachlaß zurückerhalten hat, jenes Buch, jener »Briefwechsel mit einem Kinde,« das nur den Guten gehören soll. Es entsteht ihr unter der schreibenden Hand eine Vergangenheit, verklärt und schrankenlos, mit der Erfüllung, die ihr im Leben versagt war. Diesen Briefwechsel mit dem echten (»Bettinas Leben und Briefwechsel mit Goethe«, herausgegeben von Fritz Bergemann im Insel-Verlag) zu vergleichen, ist der ein wenig schmerzliche Einblick in eine Seele, die leidenschaftlich und feinhörig genug war, genau zu erkennen, was gesagt war und was hätte gesagt werden sollen. Und die mit einer großzügigen Retusche das Bild so umgestaltete, [152] wie sie es als ihr Recht und ihren Anspruch empfand. Und dieses Rechtes und dieses Anspruchs wegen hat sie im Eingang die Zweifler mit den Bösen identifiziert. Sie hätte, bei dem angestrengtesten Willen zur Selbsterkenntnis, für jene Umwandlung, die sie vornahm, kaum eine andere Bezeichnung finden können, als vielleicht jene pathetische des Riccaut de la Marlinière, des »corriger la fortune«.

Das Schicksal, das sie getroffen hatte, war ihr bis ins Letzte unbegreiflich. Es sind die peinlichsten und rührendsten Stellen ihrer Briefe, wo sie von Versuchen, sich Goethes Augen als jenen »magischen Eindruck« darzustellen, der sie niemals für ihn gewesen ist, wo sie von diesen Versuchen über Vergleiche mit den Gestalten seiner Romane schließlich zu der naiven Frage kommt, ob sie nicht besser und liebenswürdiger sei als diese alle? Sie war sich der Vorzüge ihrer Klugheit, ihrer geistigen Beweglichkeit, ihrer Eigenart durchaus bewußt. Sie machte das, was ihr von Goethes Dichtung begreiflich war, in einer Leidenschaft sich zu eigen, die sie zu der Überzeugung brachte, niemand könne ihn tiefer verstehen als sie. Und dieses Verstehen wieder erfüllte sie mit Ansprüchen: wenn Goethe lieben konnte, wenn die Urbilder jener rührenden Gestalten – von Lotte, die sie haßte, bis zu Ottilie, die sie tadelte – sein Gefühl erschüttert hatten, warum sah er nicht an ihr das, was von den anderen ihn so sehr ergriff! »Was sind die Reifröcke seiner Jugendliebschaften alle gegen mein dahinschwimmendes Gewand?« schreibt sie seiner Mutter einmal.

Ein anderes Mal beschwört sie den Geliebten, er möge [153] sich nicht an ihr versündigen, indem er sich ein »geschnitzeltes Bild« zur Anbetung mache, »während die Möglichkeit ihm zu handen liege, ein wunderbares Band der Geisterwelt zwischen ihm und ihr zu weben.« Wenn sich auch hier der Irrtum äußert, der all ihren Forderungen zugrunde liegt, der Irrtum nämlich, daß Liebe sich begründen lasse, so scheint das »geschnitzelte Bild« doch ein Vergleich, der nicht ohne tiefere Ahnung ist. An Bettina zu »schnitzeln« war keine Möglichkeit. Man könnte von ihrer Seele sagen, daß sie körperlos gewesen sei, wollte man sie mit der Ottiliens aus den Wahlverwandtschaften vergleichen und der Süße ihrer irdischen Gebundenheit. Bettina lebte in der Erregung, der Emanation ihrer Gefühle; gleichzeitig genoß sie sich in diesen Gefühlen und ihren Sensationen. Sie war ohne Instinkt und übertrieb diese Betrachtung um Goethes willen zu einer beinahe narzissistischen Selbstbespiegelung; sie war ohne Geheimnis vor sich selbst. Goethe aber liebte mit dem Egoismus seines Genies.

Sie hatte außerdem nichts, das Goethe fremd gewesen wäre. Sie hatte viel, aber was sie besaß, war ein geringer Bruchteil des Übermaßes, das der junge Goethe verschwendet hatte, der alte verwarf, soweit es sich nicht in die reine Form fügte, in die er sein Leben gefaßt hielt. Sie suchte ihn auf einem Wege, den er längst verlassen hatte. Was hätte ihm so tief Gekanntes, so weise Überwundenes anderes entlocken können als ein vielleicht gerührtes Lächeln der Erinnerung an Zeiten, in denen, wie er ihr einmal schreibt, er genau so »närrisch« war wie sie? Für seine Gegenwart, die gesättigt war mit der Weisheit [154] der Entsagung und voll der Neigung für die geheimnisvollere Klarheit der Einfalt, für diese Gegenwart lag die Liebe außerhalb einer romantischen Seelenverschmelzung, wie Bettina sie erträumte.


Sie ist nach der Herausgabe des »Briefwechsels« auf dem früher eingeschlagenen Wege weiter gegangen: dem Wege, Menschen zu bezaubern mit der großen Biegsamkeit ihrer Talente. Sie machte weiter reden von sich durch Bilder, die sie zeichnete, Lieder, die sie komponierte, durch Briefe, Widmung und Fürsprache. Sie setzte die Täuschung der Welt fort durch die lange Reihe ihrer Freunde, die sich ablösten, Musiker, Bildhauer, Schriftsteller. Sie schenkte dem Fürsten Pückler Goethes Ring mit der blauen Gemme und widmete ihm den »Briefwechsel mit einem Kinde«. Sie tat alles, um dem einen Erlebnis, das sie gezeichnet hatte, andere anzufügen, bis es eingeglichen schien, in das wechselnde Auf und Ab ihres bewegten Lebens. Ihr Temperament, vom südlichen Blut ihres Vaters beschwingt, hat sich mit Bestimmtheit dazu gefunden, die Rolle (in der auch Goethe in den »Wahlverwandtschaften« als die wenig sympathische Luciane sie dargestellt hat), die Rolle eines Irrwischs also, eines ewig nach Neuem gierigen, unstäten Geschöpfes zu spielen, als sich dem Bewußtsein ihres Unglücks und des Bruches auszuliefern, der durch ihr Leben ging. In dieser Gestalt ist sie denn auch eingegangen in die Überlieferung der Literaturgeschichten, in diesem Sinn hat sie die Nachwelt sich verpflichtet für all die Anregung, die sie gab. In diesem Sinn hat sie aufgelöst, verleugnet, weggelebt, was [155] sie einmal als ihre tiefste Erfüllung ersehnt und Goethe geschrieben hatte: »Ich dürfte fort und fort im Hause herumwandern und keiner wüßte, wer ich wär, und Niemand wüßte, wo ich hingekommen wär, und so vergingen die Jahre und das Leben und in seinem Anblick spiegelte sich mir die ganze Welt, ich bräuchte nichts anderes mehr zu lernen.«


Ob sie am Ende dann geworden war, was sie so lange schien – wer könnte es entscheiden?! Sie starb zu Berlin in der Nacht des neunzehnten Januars, siebenundzwanzig Jahre nach Goethes Tod.

[156]

Gustav Meyrink
Zu seinem sechzigsten Geburtstag
am 19. Januar 1928

Es ist nicht leicht, den Dank, der dem Dichter Gustav Meyrink abzustatten ist, mit dem äußeren Anlaß eines Geburtstages zu verbinden. Es wäre leichter, ließe sich dem Ereignis dieser sechzigsten Wiederkehr eine zeitliche Bedeutung zuerkennen, ließe sich jener biographische Rückblick anstellen, zu dem sonst die Rundung eines so großen Abschnittes Lebens, einer so schmerzlich-unbedingt größeren Hälfte Lebens den Anlaß gibt. Wer aber, dem Meyrinks Gesicht aufging in einem Gespräch oder aufstieg aus einer Seite des »Golem« oder sonst eines Buches, wer wollte ihm gegenüber wagen, diese sechzig Jahre allzu ernst zu nehmen? Was können sie bedeuten für einen Menschen, der, so in der Ewigkeit zu Hause wie Meyrink, mit seinen Gestalten durch Jahrhunderte geht, war, wiederkehrt und sein wird, bedingungslos und überlegen?! Ach, es ist nichts- zu wollen mit diesen sechzig Jahren.... Schweigen wir also von ihnen und reden wir von dem Werk. Reden wir von dem Werk um jener schwebenden Leichtigkeit willen, die von ihm uns überkommt. So seltsam es ist: aus allem Blut und Grauen, das in den meisten dieser Seiten eingefangen ist, bleibt am Schluß eine schwebende Leichtigkeit. Aus der Verkettung des Körperlichen und Seelischen mit aller irdischen Qual steigt für die Erinnerung das Lächeln des Schwerelosen. Man muß nicht unbedingt an den Löwen Alois denken, an Amadeus Knödlseder, den unverbesserlichen Lämmergeier, oder [157] an Tschitrakarna, das vornehme Kamel; auch nicht an diese wundervoll boshafte Verhöhnung Frenssens in den Parodien »Jörn Uhl« und »Hilligenlei«. Oder vielmehr: ja, man erinnere sich ihrer. Man erinnere sich, da doch vom Lächeln die Rede war, auch dieses grasfressenden, gänseblümchenbekränzten Löwen, jenes ältlichen Gemsenfräuleins mit Hornbrille und schottischem Plaid, man erinnere sich all dieser Arabesken des Werkes, in denen ein Feuerwerk von Witz und Hohn sich entlädt. Hohn auf das Bürgerliche in jeder Form: auf das Behagen, die Selbstgefälligkeit, auf die »Moral« des Spießers, im »Wunderhorn« ihm noch besonders und mit Betonung zugeeignet. In den Romanen, vom »Golem« bis zum »Engel vom westlichen Fenster«, in den besten Novellen ist für diesen Hohn kein Platz. Hier existiert das Bürgerliche nicht mehr; es existiert höchstens als die vermeinte Grundlage einer Existenz und wird in seiner Nichtigkeit, noch mehr: in seinem Nichtvorhandensein schon offenbar beim ersten Schritt, den dann ein Mensch vor unsern Augen auf diesem nicht vorhandenen Boden tut. Nichts ist so, wie zu sein es vorgibt, nicht das Alltäglichste, das Vertrauteste: alles verwandelt sich, wird anders und bleibt im Grund doch, wie es war. Meyrink, in der östlichen Mystik zu Hause wie keiner, gleicht etwas jenem indischen Fakir, dem unsere Einbildungskraft so willenlos ausgeliefert ist, daß sie das Unerhörteste unseren Sinnen glaubhaft macht. Mit diesem Unterschied: daß wir nicht wie von einem tollen Traum benommen zur »Wirklichkeit« zurückerwachen; mit diesem Unterschied: daß etwas wie eine schwerelose Heiterkeit in unserm Blut zurückbleibt, Erkenntnis der Einheit aller [158] unserer Begriffe von Schmerz und Freude, Lust und Qual, Irrtum und Wahrheit, Vergangenheit und Zukunft. Es ist nicht die entsagende Weisheit Buddhas und seines Nibbanam; doch es ist eine Ahnung der unlösbaren Verkettung alles Geschehens und seiner letzten Undeutbarkeit, die unser Gewissen entlastet. Die Welt, wie Meyrink sie uns gibt, ist absolut; sie lebt aus der letzten Sekunde der Spannung ihrer Kräfte; sie trägt sich selbst, sie bedarf unseres Zutuns nicht.

Wir lieben, bedrängt von der Entscheidung, beladen mit Verantwortung, gepeinigt von der Züchtigung einer armselig uns begrenzenden Vernunft – wir lieben diese Welt so, wie wir alles lieben, was uns leichter und heimatloser im Irdischen macht. So grüßen wir Gustav Meyrink, der mit seinen Gestalten durch die Jahrhunderte geht, war und sein wird. So daß nichts, gar nichts zu wollen ist mit diesen sechzig Jahren....

[159]

Der Dirigent Etté
[Fragment]

Georg war mit großer Spannung der Einladung Gustavs gefolgt – er hatte, zum Teil aus Sparsamkeit und zum Teil aus seiner inneren Schwerfälligkeit es unterlassen, sich eine Karte zu verschaffen. Nun war er froh und erleichtert, so gleichsam zwangsläufig diesen Menschen sehen zu können, von dessen Ruhm und Talent seine Bekannten sich hingerissen unterhielten.

Etté war kurz und von gedrungenem Körperbau. Er hatte nichts von dem, was Georg das Musikalische eines Gesichtes oder einer Gestalt zu nennen pflegte. Es gehörte für ihn etwas... dazu. Etté hatte ein breiteres heiteres und sehr klares Gesicht unter einer Bürste blonden, an den Schläfen ein wenig gelockten Haares.

Er wandte sich gegen das Publikum und hieß es mit einer umfassenden Bewegung seiner Rechten, zärtlich verlängert durch den Bogen der Geige, willkommen. Dann wandte er sich, in der Bewegung verbleibend und nur das Gesicht aus der Entspannung des Grußes reißend, seinem Orchester zu. Die Musik setzte ein: heftig, bestimmt, sich durchsetzend. »Wie wenn er mit dem Fuße aufstampfte,« dachte Georg, ohne diese Empfindung weiter verfolgen zu wollen.

Aber dann stutzte er. Etté hatte mit dem Fuß gestampft. Er hatte seinen Musikern einen drohenden, bösartigen Blick zugeworfen. Die Musik war unentschieden. Sie erging sich in einigen tastenden Versuchen. Etté hatte den [160] Arm mit dem Bogen auf den Rücken gelegt. Er sah einen Augenblick ins Publikum, wie es schien mit einer fragenden Miene. Dann ging er an der Rampe auf und ab, mit einem uninteressierten und in sich selbst versunkenen Gesicht; er konnte so irgendwo am Strande spazieren gehen, dachte Georg verwundert.

Dann hatte die Musik sich gefunden. Sie nahm einen kleinen und dünnen Faden Melodie auf, den sie verfolgte. Etté hielt inne in seinem Spaziergang und begann in die Ferne zu hören. Die Melodie verzweigte sich und strebte verästelt einer gemeinsamen Spitze entgegen. Der Dirigent riß die Geige ans Kinn und fiel ein, jauchzend, überwältigt, mitgerissen.

»Wie sonderbar,« sagte Georg zu sich selbst, doch kam er nicht dazu über die Art dieses Sonderbaren sich klar zu werden. Etté hatte die Geige schon wieder zur Seite gelegt. Er dirigierte. Er streckte die Arme aus und drehte die Hände. Georg konnte die Musik nicht verstehen. Aber da sah er, wie Etté seine Handgelenke betrachtete. »Er sieht, ob seine Manschettenknöpfe sitzen,« murmelte er vor sich hin. Gustav betrachtete ihn mißbilligend.

Was ist das nur für eine Musik, dachte Georg. Ich verstehe nichts davon, gut. Aber es ist Musik. Etwas geschieht. Töne, Intervalle geschehen....

[161]

Verlornes Ithaka

Die Frau der Gegenwart entstammt einem Geschlecht, das eine unbekannte Vergangenheit hat. Es ist da, nicht wie eine neue Generation da zu sein pflegte, abhängig noch in der Verneinung der früheren, vorgeschoben wie eine Stufe, die mit der Hälfte ihres Gewichtes auf der Grundlage des Aufbaus ruht, – es ist da mit dem plötzlichen Dasein einer Erscheinung, traditionslos wie das Genie und ohne Gewähr für die Zukunft.

Fragwürdig noch für die Gegenwart, dieses Geschlecht, in der beispiellosen Spaltung, mit der die Natur hier vorgegangen ist. Sie hat die eine Hälfte seiner Abkömmlinge auf Kosten der anderen ernährt. Nie ist – jenseits des äußern Zwanges politischer und sozialer Machtverhältnisse – die Spannweite des Menschlichen umfassender gewesen, nie entfernter die geistigen Pole bei einer solchen Nachbarlichkeit im Raum. Frühere Generationen hatten einen gewissen Durchschnitts-Standard sowohl des Geistes als der Konvention; mindestens innerhalb der einzelnen Kaste. Die heutige ist ohne eine ähnliche Gemeinsamkeit; verwandte Lebensbedingungen erzeugen Geschöpfe konträrster Veranlagung und nur die Gesetze der Mode und die Demokratie der Lebensformen verhelfen äußerlich dem Begriff der Generation zu einiger Geltung. Es bedarf keines Beweises dafür, daß das Geschehene, von dem hier die Rede sein soll, daß Kampf und Entscheidung nur über das eine Lager verhängt sind. Das andere [162] hat seine Zelte abgebrochen und führt ein Nomadenleben der Nützlichkeit, wo aller Entschluß, Verweilen und Aufbruch, von dem Ertrag der Weide bestimmt sind. Das vollzieht sich in der Anonymität kleinbürgerlichen Daseins genau wie in dem der Öffentlichkeit verfolgbaren Leben. Der männliche Partner hat hier die Gefährtin, deren Rivalität im Erfolg ihn anspornt, wenn nicht ihr Besitz und ihre Ansprüche ihm die Betätigung seines eignen Erfolges sind. Gemeinsam wie die Ablehnung anderer Vertbegriffe ist beiden das Ideal der »good time«; – Europa hält sie ihnen bereit.


Der Verantwortungslosigkeit der einen Seite steht gegenüber die fast unmäßige Belastung der anderen. Hier ringt die Frau als Geschöpf dieser jungen und traditionslosen Generation um Orientierung, oder, nach ihrer Begabung, um die Gestaltung ihres neuen, noch unverarbeiteten Bewußtseins.

Der Mann als Schöpfer der geistigen Hierarchie hatte die Frau am Pol des Positiven angesiedelt. Wenn er als »Frauenverächter« in ihr eine Verneinung des Geistigen sah, was häufig auf der Grundlage persönlichen Ressentiments beruhte, blieb sie ihm doch das in seiner Sinnenhaftigkeit gesichert beruhende, mindestens für sich selbst eindeutige Geschöpf. Auch die Perversität einer Salome ist im Grund unkompliziert.

Der Mann ohne Zynismus wandte den Begriff des Positiven umfassender an. Er schuf Penelope, um die Schrecken der Odyssee zu bestehn. Er setzte eine Insel der Heimkehr als Ziel in die Unendlichkeit seiner Irrfahrt. Er [163] suchte den Stützpunkt für seine Wege ins Ungewisse und er versicherte sich seiner in der jüngeren und kindlichstandhaften Seele Penelopes.

Die Frau in eben dieser Kindlichkeit ihres Geistes und der Mütterlichkeit ihres Herzens hat diese Rolle durch unermeßliche Zeiten festgehalten. Festgehalten ohne Willen und Bewußtsein: die geistige Überlegenheit einzelner fügte sich, mindestens nach dem Grundsatz der Ausnahme, die eine Regel bestätigt, widerspruchslos dem Mann in seinen Mythos über die geistige Gebundenheit der Frau. Vielleicht sind im Mittelalter einige von ihnen als Hexen verbrannt worden, weil diese Bindung in ihnen brüchig geworden war und die Freizügigkeit ihres Geistes das Un-Heimliche ihrer Existenz nach außen fühlbar machte. Die geistige Kraft der Frau war beschränkt auf das Erlebnis der Religion und wurde damit auf der erwünschten positiven Grundlage festgehalten. Der Mann erhielt sie sich, Verführerin, Trösterin von der Not seines Kampfes, gesichert noch vor ihren eignen Ansprüchen durch die Betonung und das Gewicht der seinen. Noch nach dem Urteil einer jüngsten Vergangenheit ruhten Wert und Bedeutung der Frau in ihrer Übereinstimmung mit den Funktionen der Gattin, Hausfrau und Mutter. Künstlerische Kraft, die nicht aus einem in diesem Sinne positiven Grund schöpfte, fand keine Möglichkeit der Auswirkung. Die Droste rang sich zu Tod im Zwiespalt mit ihrer Glaubensangst, ständischem Vorurteil und dem Freiheitsdrang ihres einsamen und unbändigen Geistes.


Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war der Damm [164] zerbröckelt, stieg Flut um Ithaka: der Mann besaß nicht mehr die Kraft ihrem Einbruch Widerstand zu leisten. Der Schrecken der Weite lag über den Wassern: die Frau wurde der kleinen Insel gewahr, die sie trug. Eine jahrhundertalte Fiktion des Gesicherten, des Gleichgewichtes zerbrach. Die Frau stand dem Einbruch des Negativen in ihre Welt gegenüber. Der Krieg legte schonungslos die Tragik alles Menschlichen bloß, die unversöhnlich blieb. Die Konvention verlor vor ihr den Rest ihrer Gültigkeit, die Frau das Vorrecht ihrer Geltung durch sie. Die Nivellierung schwand: es zeigte sich die Spaltung der Generation.

Der größere Teil entschied sich vor der Erkenntnis der Künstlichkeit seines vergangenen Lebens für die Zuchtlosigkeit seines künftigen. Er zeigte sich dumm, begehrlich und hemmungslos, noch in der Witterung geistiger Werte. Daß er es ohne Maske war, bleibt sein Verdienst, wenn man will. Die Frau dieser Seite ist die Ergänzung des männlichen Partners, jener Gefährten Odysseus', die Kirke verwandelt hat.


Die Frau der andern Seite hat die Einbeziehung in das Fragwürdige, das Problematische alles Menschlichen auf sich genommen mit Anspruch und Haltung der Ebenbürtigen. Es ist nun endlich ihr Recht dabei zu sein. Sie hat sich in kürzester Zeit die wissenschaftliche, technische und künstlerische Grundlage erarbeitet. Sie umschließt in ihrer Gesamtheit jede Äußerung menschlicher Tätigkeit, nicht so sicher basiert wie die des Mannes, tastender noch als aggressiv, aber mit aller Rückwirkung auf die Freiheit [165] ihres geistigen Blickes. Mit dieser Freiheit des geistigen Blickes, zum ersten Male der Sachlichkeit fähig, steht sie dem Leben und sich selbst gegenüber.

Es ist nicht nötig daß das Leben dieser Frau sich von dem früherer Generationen nach außen hin wesentlich unterscheide. Der Vorgang ihrer Verwandlung ist zunächst ein innerlicher; seine äußeren Erscheinungsformen müssen nicht einmal Gradunterschiede dieser Wandlung bedeuten. Die im Berufe stehende Frau muß ihr nicht tiefer unterworfen sein als jene, deren Pflichtenkreis im Häuslichen beruht. Und wie hier eine zu starke Belastung der Arbeitskraft, der notwendig mechanisch gewordene Ablauf eines zu großen Maßes täglicher Pflichten die Frau abstumpft und blicklos für die Weite macht, fehlt unter den Ausübenden der neuzeitlichen Frauenberufe nicht die große Schar derjenigen, die, rasch verbraucht, der Last der Anstrengung erliegt und ohne Verbundenheit und Beziehung zum Allgemeinen die tägliche Fron zu Ende lebt. Die »neue« Frau, wenn wir mit einiger Einseitigkeit für die Folge jene darunter begreifen wollen, die sich durch Widerstandskraft, Begabung oder Gunst der äußeren Lage geistig lebensfähig erhält, diese Frau also kann, an keine Berufsschicht gebunden, als Stenotypistin wie als Künstlerin tätig sein. Sie kann auch ganz ohne Beruf existieren – das Gegenteil wäre der schlimmste Beweis gegen sie. Ausschlaggebend ist allein das verwandelte Gefühl, aus dem sie lebt. Es ist das eines befreiten Körpers und einer offenen Seele.

Der befreite Körper der Frau ermißt wie der des Mannes im Sport seine äußersten Möglichkeiten. Man soll die [166] Bedeutung des Sportes nicht unterschätzen. Er verdirbt nur den niederen Menschen. Der höhere gewinnt aus den Gesetzen seiner Körperlichkeit Erfahrung der Seele. Die Beherrschung des Physischen wird ihm Erkenntnis metaphysischer Zusammenhänge. Die Freude der Frau an der Bewegung, an der bewußten Hingabe des Körpers an Licht und Luft, Sonne und Weite hat ihre letzten Ausläufer in der Mode. Es geht nicht an, sie einseitig erotischer Motive zu verdächtigen.


Die grundsätzliche seelische Wandlung der Frau ist die zur innern Ehrlichkeit. Sie ergab sich als wertvollster Gewinn aus dem Zusammenbruch jener vom Manne gehüteten Konvention. Die neue Frau nährt ihr Persönlichkeitsbewußtsein weder aus ihrer sexuellen Unberührtheit noch ihrer Verständnislosigkeit Problemen von allgemeinmenschlicher Bedeutung gegenüber. Sie wünscht nicht das öffentliche Vorrecht einer anderen Einschätzung als der nach dem Anstand ihrer Gesinnung, nach Arbeitsleistung oder künstlerischer Begabung, jene Beurteilung also, wie sie dem Mann zuteil wird. Freiheit oder Verzicht im Geschlechtlichen haben nur eine persönliche Bedeutung.

Des Gewichtes dieser Bedeutung ist, zuweilen im Mißbrauch der neuen Freiheit, die Frau sich bewußt geworden. Die Kraft des Mannes zum erotischen Erlebnis ist vielfältiger als die der Frau. So birgt auch der Flakesche Begriff des »gentleman« für sie noch Gefahr. Maßgebend ist er vor allem für die Form ihrer Beziehung zum Mann. Die Frau von heute kämpft ritterlicher und offener; sie spielt nicht mehr mit dem Gefühl des Mannes und nicht [167] mit ihrem eigenen. Sie achtet Gefühle höher, seitdem sie weniger zu ihnen verpflichtet ist. Ihre wirtschaftliche Selbständigkeit erleichtert die Unabhängigkeit ihrer Entscheidung. Ihre menschliche Erfahrung weiß um das Protëische alles Gefühls, um die Fragwürdigkeit seiner Dauer; sie erblickt in ihm keine Lebensversicherung mehr. Das ist weniger frivol als vielmehr ein Verzicht auf manche Bequemlichkeit; daß die Frau für sich selbst unzuverlässiger wurde dabei, eine der Gefahren ihrer geistigen Entwicklung. Treue ist eine konservierte Liebe. Der Ehrgeiz, sie immer wieder neu erwecken zu wollen, eine noble und seltene Passion, die sich der Mann zumeist versagt.

Im gleichen Maß, in dem das Gefühl der Frau sich von sozialen und familiären Funktionen emanzipierte, wurde es ziellos und ungebunden. Die Leidenschaft der Frau zur Frau, seit Sappho trächtig mit Untergang, bricht zerstörerisch aus ihrem neuen tragischen Lebensgefühl.


Wie zu allen Zeiten ist die künstlerische Produktion verdichtete Äußerung eines veränderten Bewußtseins. Die künstlerische Gestaltungskraft der Frau wirkte am stärksten auf dem ihr nächsten Gebiet des Tanzes und des Theaters. Ihre Befreiung von der Gebundenheit der Konvention brachte auch die des Tanzes von der Tradition des Balletts. Sie hat den Tanz zur Höhe seines Ursprungs zurückgeführt, zur Ausdrucksform des Kultischen, die er war. Heute ist dieser Kultus entgöttlicht; Zelebration des Menschlichen, seiner seelischen und körperlichen Schwingung in der Unendlichkeit von Zeit und Raum. Auch die [168] Bühne hat sich der Weite geöffnet: der Begriff der Rolle hat von seiner Starrheit verloren, das Persönliche, weniger abgegrenzt, weniger hart umrissen, erscheint nicht mehr im gleichen Maße isoliert, auf sich gestellt, als vielmehr Teil, Variation des allgemeinen Schicksals »Mensch«. Die Frau hat ihren Anteil an dieser Lockerung: sie spielt den Menschen nicht allein im Kampf mit diesem Schicksal, sie spielt ihn darüber hinaus mit dem Bewußtsein der Vergeblichkeit dieses Kampfes, mit Ironie und Pathos, Zärtlichkeit und Trauer dessen, der sich selbst zu sehen lernte. Es war der Frau von heute vorbehalten, nach Hamlet zu greifen, dieser am weitesten zersetzten und einsamsten Gestalt.

Auf dem Gebiet der Kunst, wo das Motorische des Körperlichen geringere Angriffswirkung auf das Seelische hat, in Dichtung, Malerei und Plastik sind Zusammenhänge weniger deutlich. Die Frau ringt wie der Mann um die Gültigkeit ihrer Leistung – ihr eigener Anspruch wie jener der Allgemeinheit steht nicht hinter der Forderung an die Arbeit des Mannes zurück. Strindberg konnte sich noch ereifern über den durch Jahrhunderte »vom Mann gedeckten Tisch«, an dem schmarotzend die Frau sich gütlich tue. Heute sind diese Tische abgegessen. Die Selbständigkeit des Lebenswerkes der Bedeutendsten steht außerhalb eines Zweifels. (Auch dem Mann glückt der Schritt ins Unbegangene nur im Einzelnen, Auserwählten.)


Es ging nicht an, die Frau, einen Menschen also, der den äußersten Nachweis seiner Reife erbracht hatte, von irgendeinem Versuch zur Gestaltung menschlicher Verhältnisse [169] auszuschließen. Es ging nicht an – und es wird nirgends auf die Dauer angehen – die Frau von den Funktionen des Staates fernzuhalten. Trotzdem war – außerhalb Rußlands – der Einbruch der Frau in die Politik unschöpferisch. Das Wahlrecht ist ihr größter Erfolg geblieben. Im übrigen hat sie sich den Parteien des Mannes eingegliedert. Sie leistet gute und gewissenhafte Verwaltungsarbeit – ihr Einfluß auf die Gesetzgebung ist bis heute in keiner Weise sichtbar geworden. Sie fand nicht den Mut, der Staatsraison des Mannes ihren Willen zur Menschlichkeit entgegen zu setzen. Sie war bemüht, für sich den Ausgleich dieses Konfliktes in der Übernahme eines ungeheuern Maßes von sozialer Arbeit zu finden.

Der Begriff der Mütterlichkeit hat durch diese soziale Tätigkeit eine ungemeine Erweiterung erfahren. Gleichzeitig jedoch Beschränkung seiner früheren Ausschließlichkeit: die Frau ist heute Mutter neben ihrer beruflichen Tätigkeit; zumindest nicht mehr unter Verzicht auf Ansprüche ihrer Persönlichkeit. Das Kind dieser Zeit ist einbezogen in Gewinn und Verlust ihrer geistigen Wandlung.


Die Frau der Gegenwart ist die Gefährtin des Mannes, seit sich ihr Geist der männlichen Einsicht geöffnet hat: jener Erkenntnis vom »Gleichnis alles Vergänglichen«. Mit dieser Erkenntnis ist ihr der Boden Ithakas versunken; sie folgt Odysseus in die Unendlichkeit seiner Fahrt. Ihr Körper hat Sturm erfahren, ihr Geist die Weite geatmet: es gibt keine Rückkehr für sie.

[170]

Der Deutsche in der Landschaft

Es hat – aus einem Bund mit den reinsten Vorkämpfern für Würde und Geltung des Dichterischen – sich dem Verlag der Bremer Presse eine große und sehr kenntlich gegen die Zeit begrenzte Aufgabe ergeben. Eine Aufgabe, in Leistung mittlerweile umgewandelt, die aus dieser Zeit emporsteigt als ein Berg Ararat: Beweis und sichere Verheißung ewiger Fundamente.

Hugo von Hofmannsthal hat mit dem »Deutschen Lesebuch« die Reihe der Anthologien eingeleitet, die an das »literarische Gewissen der Nation«, und nicht das literarische allein, sich wenden. Rudolf Borchardt ist dieser »Auswahl deutscher Prosastücke aus dem Jahrhundert 1750–1850« mit seinem »Ewigen Vorrat deutscher Poesie« gefolgt, der unbestechlichen und wohl endgültigen Auslese des Unvergänglichsten in deutscher Lyrik. Rudolf Alexander Schröder hat mit einem gleich empfindsamen Ohr Schillers Gedichte durchgehört und das Unsterbliche zu einem Band versammelt. Und unlängst ist als jüngstes Stück der Reihe und wiederum besorgt von Rudolf Borchardt eine Sammlung »Der Deutsche in der Landschaft« erschienen; Stücke einer, wie Borchardt zu Beginn seines Nachwortes sagt, »durch mehr als hundert Jahr von Deutschen angeschauten und anschaulich gemachten und in Darstellungen aufgebauten Erd- und Länderwelt.«

Man kann die Auswahl von den verschiedensten Blickpunkten aus betrachten: so etwa der historischen Linie folgend, [171] die an der Grenze der klassischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts endet; oder auch jenen fünf Möglichkeiten nachspürend, die Borchardt als die für das menschliche Verhalten zur toten und lebenden Erde wesentlichen zeigt. Einigend über solche Gebundenheiten hinaus, wie schon in der Auswahl des »Vorrats«, ist die Beziehung der einzelnen Stücke zu einem Unsagbaren, »dem Geheimnis der Natur und des Menschen bis zum ewig Verhüllten der Gottheit selbst.« Es tritt, dieses Göttliche, den Leser an in einer immer neuen Form und neuen Verwandlung: ganz groß und beinahe nackt in Goethes »Granit«, diesem Stück Prosa, hart und aus Höchstem und Tiefstem stammend wie das Gestein. Es schwillt aus Herders glühendem Meeres-Gesang, dem so überschwänglichen Versuch aus nichts als aus sich selbst, aus dem verwandten Menschlichen allein, das Weltall zu begreifen. Es hebt sich langsam doch unentrinnlich auf aus jenen minutiösen Betrachtungen des Carl von Martius über die Physiognomie der Pflanzen und der Urwälder Brasiliens, die durch nichts überwältigen als durch ihre völlige Demut. Es rührt uns an, das Unsagbare, noch aus der Nüchternheit jener Berichte über die Wirtschaftlichkeit der Krim, die Peter Simon Pallas der Kaiserin Katharina abstattet und die erfüllt sind von der Fürsorglichkeit eines Urvaters Noah. Tieck sucht Gott im verschwebenden Gewölk seiner »Landschaftsvision«; für Alexander von Humboldt wird der Kampf um den Chimborasso zu einem Kampf mit dem Engel. Heinrich von Kleist beschwört in einer Darstellung Würzburg: Fluß und Mond noch in den dämonischen Kreis seiner Gestalten reißend. Von ihm fortblätternd zu [172] jenen anderen, gelehrten und klassisch sprechenden Offizieren Preußens, Moltke und Roon: – es sei genug, das Unerschöpfliche auch dieses »Vorrats« dargetan zu haben. Die Ausstattung der Bücher der Bremer Presse ist bekannt. Es sei ihr auch an dieser Stelle dankbar bestätigt, daß sie die Erfahrungen aus ihren Handpressendrucken diesen wohlfeilen Büchern zu gute kommen ließ und auf diesem Weg zu einer Form gelangte, die uns nach Reinheit und Notwendigkeit dem Inhalt zu entsprechen scheint.

[173]

Selbstbildnisse
Bemerkungen zu einem Buch

Unsere Zeit hat in den Ansprüchen der Masse wie in denen der Geistigen eine betonte Neigung zum Menschen. Zwar ließ er, Maß alles Gegebenen, sich niemals völlig ausschalten, doch hatte er Geltung vor allem in seiner Eigenschaft als Träger einer religiösen, politischen, geschichtlichen oder kunstgeschichtlichen Entwicklung als des Primären und eigentlich Bedeutsamen. Heute reizt seine Persönlichkeit, das Phänomen seiner Begabung, mehr, als es die Linie des historischen Ablaufs tut. Die Verschiebung des Schwerpunktes hat eine neue Form der Betrachtung gezeitigt: Das Organisatorische tritt darin zurück zugunsten des Anekdotischen, der Episode; sie gibt das neue Bild voll gefährlicher Spannung.

Zweideutig, Gewinn und Verlust, ist das Ergebnis wie alles Ergebnis in einer gelockerten Zeit. Nach der einen Seite hin ist das Persönliche in einen aufdringlichen Vordergrund gerückt. Am Heros reizt das Menschliche und meistens Allzu-Menschliche und schafft erwünschte Annäherung aus einer niederen Gemeinsamkeit. Für die andere Seite steigt aus der Anonymität des Menschlichen erschütternder und größer das Ewige auf, Leistung und Schicksal. Dichter unserer Tage haben, auf wenig Seiten, Gestalt und Ereignis in eine früher ungekannte, oft bis ins Körperliche gehende Faßbarkeit gerückt, Zusammenhänge in einem tieferen Sinne spürbar gemacht und seelisch übermittelt, als es der Wissenschaft je möglich war. Dafür [174] ist natürlich alle Freiheit des »Sehens durch ein Temperament« gegeben; kann eine Willkür den Leser bedrohen, der keine Grenzen gezogen sind, sich jedes Bild und Gleichnis zu machen.

Ernst Benkard hat zwei schöne Bücher herausgegeben: dem »Ewigen Antlitz«, einer Sammlung von Totenmasken aus sechs Jahrhunderten, ist eine Zusammenstellung von Selbstbildnissen vom 15. bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts gefolgt (Verlag Heinrich Keller, Berlin). Beide Bücher sind voll Witterung für das Menschliche innerhalb des Historischen und Künstlerischen. Sie sind dichterisch auf eine zurückhaltende Art, die es zu einer Synthese mit der Wissenschaft kommen läßt. Benkard folgt in beiden Fällen streng der zeitlichen Entwicklung. Aber indem er diese Entwicklung nach allen Seiten, nicht der kunsthistorischen allein, sich auswirken läßt, schafft er die höchst spürbare Atmosphäre einer Zeit und ihrer Menschen; im »Selbstbildnis« die ihrer bedeutendsten künstlerischen Vertreter.

Bei seiner Annäherung an den psychologischen Komplex seines Themas hält Benkard die Ansicht, als sei der Künstler im Selbstbildnis zunächst sein billigstes Modell gewesen, für eine »fable convenue«, die er der Widerlegung für würdig achtet. Dem Leser, der heute nach seinem Buche greift, tut er sicherlich Unrecht damit. Das große Erstaunen liegt anderswo. Der Mensch von heute wird, dem Problem der Selbstdarstellung gegenüber, es für das dem Künstler Nächstliegende und Anziehendste halten. Nicht nur um des Reizes alles Persönlichen willen, dem er so sehr gefügig ist, sondern vor allem, weil ihm die [175] Auseinandersetzung mit sich selbst zur Notwendigkeit geworden ist. Weil große Teile der Kunst für ihn solche Auseinandersetzung bedeuten und weil er darum in der darstellenden Kunst das Selbstbildnis als reinste und ursprünglichste Form einer solchen Auseinandersetzung anzusehen geneigt ist. In der Selbstverständlichkeit der Annahme liegt sein großer, sein größter Irrtum.

Und er beginnt nun unter Benkards Führung den langen Weg, der zu dieser Stufe einer von ihm a priori vorhanden geglaubten menschlichen und künstlerischen Freiheit führt. Benkard hat diesen Weg in verschiedene Strecken eingeteilt: »Unfreiheit« heißt er die erste, etwa zu Raffaels Zeiten endende. Aber auch ihr sind einige Tafeln noch vorgerückt: ein Ausschnitt aus dem »Verlöbnis des Arnolfini« des Jan van Eyck ist die erste. Und hier in diesem Bild, das gleichzeitig voll einer breiten in sich beruhenden Größe und voll einer geistreichen Überlegenheit ist, erleben wir beinahe mit Bestürzung den ersten, gleichsam verheimlichten und zögernden Eintritt des Künstlers in sein Werk. Der Maler hat an der Rückwand des dargestellten Zimmers einen Spiegel angebracht. Eine Tür der unsichtbaren Vorderwand hat sich darin geöffnet: zwei Männer treten ein. Eine zu ihren Häupten angebrachte Signatur besagt, der eine von ihnen sei Jan van Eyck gewesen.

Den zweiten Ansatz zur Selbstdarstellung, beglaubigt durch ein Spruchband, das von ihren Händen sich wegrollt, finden wir in der Gestalt des Fra Filippo Lippi auf der wenig jüngeren »Krönung Mariä« in den Uffizien. Entsprechend der bürgerlichen Funktion eines Trauzeugen [176] des van Eyck im »Verlöbnis des Arnolfini«, dieser Darstellung aus dem mehr zum Soziologischen orientierten nördlichen (französisch-burgundischen) Kulturkreis, tritt in die damals fast ausschließlich religiöse Malerei der italienischen Kunst das Selbstbildnis des Malers als Teilnehmers am religiösen Zeremoniell. In beiden Fällen gleicht das Verhältnis des Künstlers zu sich selbst einer Art Betrachtung aus der Vogelschau, fern jedem egozentrischen oder psychologischen Interesse. Er sieht sich selbst nicht anders denn als Glied, als Mitträger der Struktur seiner Zeit, so sehr dieses Sehen an sich schon das erste Anzeichen einer Lockerung ist. Der Kopf des Fra Filippo Lippi ist rührend in seiner unendlichen Harmlosigkeit, er ist vollkommen von außen gesehen, nichts als das sorgsam wiedergegebene Abbild einer Erscheinungsform, zu der eine innigere Beziehung nicht besteht. Die leibliche und geistige Gebundenheit ist eine absolute: die ungeheure Glaubenskraft des mittelalterlichen Menschen beruhte auf ihr und schon der Begriff des Genies schiene ihr todeswürdige Ketzerei.

Die nächsten Jahrzehnte bringen die verhältnismäßig häufige Wiederkehr von Gestalten der Künstler in der »assistenza« religiöser Darstellungen. Ihre menschliche Existenz sucht Einlaß; das erste Bewußtsein der persönlichen Leistung, erste dunkle Abwehr der Vergänglichkeit machen sich geltend. Gleichzeitig neigen die biblischen Vorgänge sich zum Profanen: die Fresken des Ghirlandajo sind eine Spiegelung des Lebens der florentinischen Gesellschaft – es ist natürlich, daß die Personendarstellung dabei langsam dem Charakter des Porträts sich nähert [177] und dabei auch den Künstler als Mitteilnehmer an diesem Leben einbegreift. Trotzdem bedarf es noch gewisser Übergangsformen, bis die Freiheit zur Selbstdarstellung außerhalb einer Gemeinschaft der »assistenza« gefunden ist: Perugino hat an der Wand eines Pfeilers des Collegio del Cambio zu Perugia ein Bildnis von sich selbst angebracht, als körperhafte Signatur des von ihm ausgemalten Raumes gewissermaßen. Und Pinturicchio hat auf einer Verkündigungsszene an einer Wand hängend ein gerahmtes männliches Bildnis ins Bild gemalt, das sich durch eine Tafel als Selbstporträt ausweist.

Am Ende dieser Epoche steht Raffael und über die Dauer seines Schaffens hinweg stagnierte die Entwicklung des Selbstbildnisses. Für seine Kunst, die nach sphärischen Harmonien ging, die eine maßlose Verklärung war, hatte der Mikrokosmos des Einzelwesens keine Geltung, unabhängig von der Befangenheit der Zeit. Doch ist uns in der »Schule von Athen« ein Doppelbildnis voll des Reizes tiefgründiger Gegensätze überkommen: Antlitz des Raffael, in himmlische Leere lächelnd, und daneben irdischbegehrlich, sinnlich verzehrt, das üppige Gesicht des Giovanni Bazzi, genannt Sodoma.

Die »erste Entfaltung« geschieht in der nördlichen Kunst. Dürer leitet sie ein: als Dreizehnjähriger zieht er den ersten rührenden Umriß seiner kindlichen Erscheinung. So ganz und gar ist Dürer Mensch der Neuzeit, daß er in seinen späteren Selbstbildnissen schon mit dem Wunsch zur Wirkung, zur Steigerung des Physiognomisch-Eindrucksvollen sich gegenübersteht. Er tut es mit der selbstsicheren Überlegenheit des isolierten modernen Menschen, [178] während um ihn der Trieb zur Selbstbetrachtung noch vielfach aus der Abkehr vom Leben und der Bängnis eines nahen Todes keimt: Burgkmair hat ein Doppelbildnis von sich und seiner Frau gemalt, darauf ihnen aus einem Spiegel zwei Totenköpfe entgegenschauen. Er ist ein Jahr nach Vollendung des Bildes gestorben. Andrea del Sarto und Holbein d.J. sind ihrem Angesicht gegenübergetreten, kurz ehe sie der Pest erlagen. Vor diesen Bildnissen ergreift die Magie einer Zwiesprache, die, im Irdischen verstummt, in die Unendlichkeit sich fortsetzt. Der Kopf des Selbstporträts steht auch hier nicht allein, in einem völlig neuen Sinn: er ist gleichzeitig Sehender und Gesehener, zweifach und doch in sich unlösbar vereint. Am tiefsten ergreift Holbeins Porträt: der glänzende Maler des hochmütigen und grausamen Geschlechtes der Tudors, der hier mit einer ungeheuern Gleichgültigkeit sich an- und durchsieht, einer Gleichgültigkeit, die schon etwas von der erhabenen Gleichgültigkeit des Todes in sich trägt.

Benkard fügt an diese Stufe erster Entfaltung die zweite der »Sozialen Emanzipation«. Sie nimmt als Bewegung von Italien aus ihren Ursprung, wenngleich im Norden sich Dürer selbstherrlich aus der Zunft erlöst hat, seine Tracht der Kleidung des Adels angleicht und in den Niederlanden fürstliche Ehren genießt. In Italien bemüht sich Michelangelo um den Nachweis seiner adeligen Abstammung. Der Weg des Künstlers drängt weiter aus der Anonymität; das Bewußtsein der Begnadung, der Einzigartigkeit der Leistung erfüllen ihn mit Anspruch auf die Beachtung und Ehre der Welt. In dieser Epoche der Entwicklung[179] und Übersteigerung persönlichen Geltungsbedürfnisses entstehen Selbstbildnisse Tizians, Velasquez' und Rembrandts in Stil und Haltung der Granden ihrer Zeit. Van Dyck stellt auf dem bekannten Doppelbildnis seine geschmeidige und raffinierte Eleganz mit sehr viel Ironie neben die derbe Krafterscheinung des Grafen Bristol.

Die Bemühung um soziale Geltung wurde gegenstandslos, nachdem für den Künstler die Kluft zwischen den Ständen sich ausgeglichen hatte. Er begann in einem tiefern Sinne sich zu suchen; die Anerkennung seiner Umwelt, die ihn aus ihren sozialen Gesetzen entließ, steigerte in ihm die leidenschaftliche Teilnahme für seinen Sonderfall: das Tragische seiner Existenz, das Schicksalhafte seiner Begabung wurden ihm Anlaß der Betrachtung. Benkard läßt diese Selbstbildnisse des Barock zusammengefaßt in die »Emanzipation des Gefühls« sich folgen. Auf Pomp und Anspruch höfischer Gebärde, Bekenntnis zum leidvollen Schicksal alles Menschlichen: des gealterten Tizian erschütterndes Greisenhaupt, van Dycks und Velasquez' nun so viel schwerere Gesichter. Die erste Ironie, das erste mitleidvolle Lächeln wird lebendig auf den Porträts des Salvatore Rosa, des Lorenzo Lippi. Die beiden hohnvollen Gesichter Rembrandts, zerspringend in Gelächter. Carlo Dolci beschließt die Reihe: er hält neben seinem schwermütigen Antlitz uns ein Blatt mit eben diesem Kopf, verzerrt ins Komische, entgegen. Es ist die erste Karikatur im Selbstbildnis oder der Ansatz dazu: und gerade die große Zurückhaltung, Verzicht auf jede gröbere Übertreibung machen diese Ironie in einer seltenen Weise angreifend und schmerzlich.

[180] Der Überschwang des Barock und seine Ekstatik besänftigen sich in der klassizistischen Richtung, die der Franzose Nicolas Poussin einleitet. Eine geistige und seelische Disziplin schafft »Gleichgewicht und bürgerliche Mitte«. Die niederländische Kunst hat ihre Blütezeit: ihr Realismus, ihre Liebe zum Detail begünstigen die Nüchternheit der Selbstdarstellung eines Frans Hals, eines Gerard Dou, eines Adriaen Brouwer. Wir begegnen noch einmal Rembrandts und Velasquez' gebändigtem Gesicht; wir müssen Rembrandt, der jeden Weg zu Ende ging, noch in der Maske eines gepreßten und grobschlächtigen Handwerkers erleben. In Gerard Terborch hat das Kleinbürgerliche mit seiner Bemühung um Würde und Sicherheit des Auftretens sich ein wenig ins Lächerliche begeben.

Im Frankreich Ludwigs XIV. wird der Künstler, eingeordnet an sich schon ins Bürgerliche, von der äußerst geschickten Verwaltungstechnik ergriffen und dem administrativen System als »Beamter« einverleibt. Es entsteht die »Académie Royale de Peinture«; mit ihr der Begriff der »ästhetischen Autorität«, als deren Vertreter die Künstler sich zu sehen lieben. Aus den Selbstporträts dieser Zeit spricht eine dekorativ aufgebauschte Mittelmäßigkeit, eine gesättigte Selbstzufriedenheit, die kaum ein historisches Interesse erwecken können. Ein Bildnis des Andrea Pozzo, für jene Zeit reaktionär, weil es noch im Übermaß des Barock ausschwingt, zeigt den Künstler sonderbar schräg und beinahe schwindelerregend zwischen Höhe und Tiefe eines Kuppelgewölbes auf einer Balustrade sitzend – erste bewußte Beziehung des Individuums zu der Unendlichkeit des Raumes.

[181] Benkard hat sein Werk über das Selbstbildnis bis zum Beginn des achtzehnten Jahrhunderts geführt. Er hat historische und andere Gründe für seinen »Hiatus« an dieser Stelle, aber er wird es nicht verübeln, wenn wir das Werk jenseits der Kluft, die hier zwischen Abschluß und Beginn einer Entwicklung liegt, von ihm zu unseren Tagen fortgeführt wünschten. Das große Verdienst seiner Darstellung liegt begründet in ihrer Skepsis, einer Skepsis, die auf eine seltene Weise positiv wird. Benkards Behauptungen sind von einer äußersten Vorsicht, häufiger Andeutungen als Feststellungen. Er sieht seinen Gegenstand von allen Seiten, ohne Voreingenommenheit und niemals zugunsten einer Theorie. Er scheut sich nicht, die Situation, wie sie zu Beginn seines Buches sich darstellt, an seinem Ende fragwürdig erscheinen zu lassen. Und so ergibt sich aus einem vielfältigen Hin und Her, aus Strömung und Gegenströmung ein überzeugendes Abbild des Lebens, dieses Lebens, das im Grunde ungreifbar und niemals eindeutig ist.

[182]

Bücher über Rainer Maria Rilke

Die es anging, daß Rilke starb – es hätte alle angehen müssen – die haben in diesen beiden Jahren sich nicht mit seinem Tod vertraut machen können. Sie haben ihn erlitten als einen Verlust, der auf keine Weise auszugleichen oder zu verschmerzen war. Jene auch, denen es nicht beschieden war, von Rilke gekannt zu sein, stehen vor seinem Grab wie Hinterbliebene: stärkster Beweis für Rilkes Dichtertum, daß sie das Werk so wenig trösten kann. Denn immer ist der wahrhafte Dichter, wie überhaupt der schöpferische Mensch, zunächst einmal das Dasein, die Leibwerdung einer tiefen und magisch-wirksamen Kraft. Wo ihre Ausstrahlung erlischt, erlischt auch, uns heute doppelt fühlbar vor allem Gegengewichtigen, ein Vorgang der Beseelung, der Arbeit und Verwandlung am geistigen Gesicht der Zeit.

Von dieser Kraft, die Rilke ausströmte, reden drei Bücher Zeugnis, die ziemlich zu gleicher Zeit erschienen sind. Als erstes die Gedenkrede Stefan Zweigs (Abschied von Rilke, Tübingen, Rainer Wunderlich) in all der Unmittelbarkeit ihres ersten Ausdrucks, mit dem sie uns bezwang, als sie in der Gedächtnisfeier zu Ehren Rilkes im Staatstheater gehalten wurde. Sie rauscht empor als eine Klage um »das Göttliche, das selten erscheint in den Zeiten.« Sie sagt Tiefstes aus über Rilkes Werk, aber sie sagt es demütig wie eine Geige, die nichts sein will als Dienst an einer großen und reinen Musik. Es ist das Erschütternde [183] an dieser Totenklage, daß sie in einem letzten und höchsten Sinne unpersönlich ist: nicht klagt der große Dichter Stefan Zweig hier um den Tod eines Freundes, sondern das Dichterische selbst beweint den Zerfall seines reinsten und edelsten Gefäßes.

Das andere Buch über Rainer Maria Rilke hat die Niobe der Freundschaft, hat Lou Andreas-Salomé geschrieben (Leipzig, Insel-Verlag). Sie hat es geschrieben mit aller Schärfe ihres intuitiven Blickes für Gesetz und Ablauf seelisch-körperlicher Vorgänge und sie hat dieser Begabung Erfahrungen aus einer nahezu dreißigjährigen Freundschaft zur Seite gestellt. So kann es nicht wundernehmen, daß der von ihr »in eine neue Sichtbarkeit« Gebannte den Leser antritt in einer fast erschreckenden Deutlichkeit der Erscheinung. Erschreckend einmal, weil dieses Leben, solange Rilke es lebte, scheu vor aller nahen Sichtbarkeit gehütet blieb, und weil es außerdem so überhäuft von Qualen war, daß er mit einem Schauder »aber die Höllen...« Abschied nahm. Das »katastrophale Element des Schaffens und des Schaffenden« ist noch nie so schonungslos bloßgelegt worden wie in diesem Buch. Der Tasso-Zwiespalt, der »Verzicht auf eigenen Natur-Einklang« reißt zwischen Seele und Leib eine jährlich sich vertiefende Kluft. Die Kunst, die in den Duineser Elegien ins Unsägliche vordringt, gewinnt in Rilke eine Realität, die seinem Menschendasein den »letzten Fußbreit Raum« wegnimmt. Sein Tod erscheint als dieser Sturz ins Bodenlose, als eine letzte, furchtbar zwingende Konsequenz, die sich der Krankheit nur als eines äußeren Anlasses bedient.Gert Buchheit, der junge Pfälzer Dichter, leistet mit [184] seinem Buch einen anerkennenswerten und ehrfürchtigen Dienst am Werke Rilkes (Rascher & Co., Zürich). Er vertritt jene Jugend, die in dem Dichter ihren geistigen Führer sah, aber vor seinem Willen zur Einsamkeit in Schweigen abseits stehen blieb. Es werden nun, nach seinem Tod, langsam ihre Bekenntnisse laut, und dieses Buch ist eines der schönsten. Buchheit hat mit einer bewunderungswürdigen Hingabe alles Beziehungsvolle aufzuspüren, das oft »vor Schwere Wankende« zu stützen und zu deuten sich bemüht. Er bekennt sich in seinem Vorwort zur Einsicht in die Gefahren eines Unterfangens, das seiner Natur nach dahin wirken muß, das »Einzigartig-Einheitliche des Werkes in Begriffe und Stimmungen aufzulösen.« Buchheit hat darin, nach meinem Gefühl, zuweilen ein wenig zu viel getan. Wo aber, wie hier, eine starke Leidenschaft geliebte Züge nachtastete, da hinterläßt sie zuletzt doch eine vertiefte und leuchtende Spur.

[185]

Das Werk Rudolf Alexander Schröders

Das Werk Rudolf Alexander Schröders ist von der edlen Struktur des Kristalls, völlig rein in sich selbst, so wahrhaftigen Seins, daß nur im heilig-klärenden Prozeß des Feuers ein zu ihm selbst Verwandeltes ihm Zuwachs bringen kann. Den Zuwachs, der, dem Kern an Dichte gleich, organisch ihm verschmelzend, unlösbar mit der Urform sich verbindend, sie fortsetzt, steigert, variiert, – niemals aber aus ihr entlassen werden kann. Es ist demnach bei dem Versuch, von einem solchen Werk zu reden, die Linie einer Entwicklung nicht aufweisbar. Seine einzelnen Teile folgen einander, durch keine chronologische Beziehung unter sich verbunden: die Daten ihrer Entstehung sind künstlerisch ohne Belang. Alfred Walter Heymel hat um die Jahrhundertwende die Herausgabe von Dichtungen Schröders als Privatdruck bei der »Insel« veranlaßt; Drucke, die in ihrer Seltenheit heute beinahe unzugänglich geworden sind. Was damals für einen begrenzten Freundeskreis oder in exclusiven Jahrbüchern erschien, begegnet uns heute ab und zu in einer Zeitschrift: in einem Heft des »Inselschiffes« von 1928 etwa Sonette »An die Sixtinische Madonna« – Gedichte, die 1909 das Jahrbuch »Hesperus« gebracht hat. Zwei Jahrzehnte haben diesen Gedichten nichts anhaben können und es gilt zu bedenken, daß sie gefährlicher sein können als zwei Jahrhunderte. Schröders Gedichte stehen zeitlos innerhalb wie außerhalb des Werkes, aber sie sind zugleich voll [186] einer Atmosphäre, die immer noch die unsre ist, die mehr als je die unsre ist; sie sprechen uns auf die persönlichste Weise an, sie haben den Reiz, den tiefgründigen Reiz des neu Gesehenen, des erstmals Dargestellten – sie haben diesen Reiz heute wie sie ihn damals hatten. Sie haben keine Schule gemacht, was, anders ausgedrückt, besagen will, daß die Empfänglichkeit für ihr Besonderes, ihr Einziges uns rein erhalten blieb; das literarische Können der Zeit fand keine Gelegenheit, hier »Technisches« seinem Handgelenk zu assimilieren so wie es, innerhalb seiner begrenzten Möglichkeiten, George und Rilke sich assimilierte. Von dem, was an Schröders Gedichten dieser Gefahr widerstand, wird noch die Rede sein.


Wenn also eine Entwicklung nicht zu verfolgen ist, so muß den beiden ersten Versbüchern, der unter dem Titel »Unmut, ein Buch Gesänge« (1899 im Verlag der Insel bei Schuster und Löffler) erschienenen Sammlung wie auch jener der »Sprüche in Reimen« (1900 gleichfalls im Verlag der Insel bei Schuster und Löffler) doch innerhalb des Werkes eine Sonderstellung eingeräumt werden. Sie halten gleichsam jenen Zustand des Überganges fest, in dem die Grundsubstanz sich ausgeschieden, das Atom sich gebildet hat, unumstößlich schon das Gesetz seiner Gruppierung in sich tragend – es ist der letzte Augenblick des Fließenden, des sich Erzeugenden, des Baustoff-Bildenden. Schon in den Gedichten, die im gleichen Jahr und in den folgenden Jahren in der Zeitschrift »Die Insel« erscheinen, ist dieses sich Bildende Bestand, das Fließende Struktur geworden.

[187] Und damit beginnt die unschätzbare Reihe der Sonette, Oden, Episteln, Elegien, darin der Unmut über die geringe Würde der Welt sich eine reinere Schöpfung formt. Wie allem Leben, das unter großen Gesetzen steht, ergibt sich für Schröder die Einheit von Erkenntnis und Schicksal, der »Daimon« der Griechen. »Sonette zum Andenken an eine Verstorbene« ist ein (1904 erschienener) Band von 364 Sonetten betitelt. Der Tod ist das Maß allen Lebens. Was in Schröders dichterische Welt eingeht, hat vorher seinen Tod bestehen müssen. Leben, gesehen ohne ihn, ist unwirklich, gespenstisch wie ein Ding, das keinen Schatten wirft; es ist frech oder ein frommer Betrug. Diesen Betrug zu verschmähen, hat nichts mit Weltschmerz gemein; es ist die heroische Haltung des Starken, der mit Bewußtsein auf einem verlorenen Posten kämpft: auf einem glaubenlosen vergänglichen Grund für die Fiktion des Ewigen. Das Gesetz der Sittlichkeit erhält seinen tiefen tragischen Wert.

Nicht das allein, was auf Schröders Dichtung eine Zeit hinweisen sollte, die vom Optimismus billiger Moralbegriffe verdrossen, sich der Gesetzlosigkeit ergab und doch, ihrer Gesinnung nach nicht unheroisch, im Gegensatz zu dieser Lässigkeit sich anderswo in eine umso schärfere Zucht genommen hat. Aus dem Aspekt des Todes, der alle Dinge dieser Welt umreißt als ihre Kontur, ergibt sich für Schröders Dichtung jene tiefe Inbrunst des Schauenden, der immer sieht als sähe er mit einem letzten Blick. Dem letzten Blick, dem inniger und leuchtender die Welt sich öffnet. »Der Herbst am Bodensee«, eine Sammlung von Sonetten (von denen 1925 den Druck einer [188] kleinen Auswahl die Bremer Presse der Maximiliangesellschaft anläßlich einer Tagung widmete), ist erfüllt von dieser tieferen Lebensglut, die aus der herbstlichen Nachbarschaft des Todes quillt. Vergänglichkeit eint alles Geschöpf der Natur in einer großen Harmonie: Mensch, Pflanze, Gestirn und den Lauf ihres Schicksals.

Aber nicht nur Quell dieser schwermutvollen Schönheit alles Lebenden ist die Nachbarschaft des Todes, sie ist zugleich Quell einer tiefen, einer heiligen Art von Heiligkeit. »Frei und leicht« schweben die Lieder »An Belinde« (1902), aus Schwermut und Lächeln unlösbar verschlungene Melodie. Ein buntes Seifenblasenspiel aus Witz und Wehmut, bezaubernd graziös, steigen die Gedichte und Erzählungen um »Hama«, das clownhaft-melancholische Pekinghündchen der Titelvignette, empor; – das Wenige, was von Schröders Werk auf dem Weg über die »Zehnte Muse« den Kreis der Adepten durchbrach, die Ballade von »Humsti-Bumsti« etwa oder dem »Schönen Alfred« ist in diesem Band enthalten. – In einer unirdisch dünnen Luft wandeln, »das allerleichteste Gespräch verhandelnd,« schattenhaft seelenlos die Gestalten des »Elysium« (1906), nur schöne leere Gebärde noch, »der Eitelkeiten und der Befleckung bar.« Die tiefe Müdigkeit eines großen Erkennenden, eines Verantwortlichen an der Sinngebung des Lebens, der Schmerz des allzuvielfach Berührbaren haben sich erlöst am sinn- und seelenlosen Wandel jener Unsterblichen, die weder Lust noch Gram berühren kann. – Unverführbar auch der Blick der Sixtinischen Madonna in die weite Leere der Himmel, daraus das Erbarmen des Sohnes wieder den Weg zur Mühsal der Erde antritt.

[189] Auch dem Dichter, dem irdischen Gast im schwerelosen Raum, hat tiefer nur der Abstieg sich vorbereitet: schonungsloser für allen irdischen Zwiespalt hat seinen Blick die Einheit jener Wesenlosen gemacht. Er gleicht, dieser Blick, vor dem der Sehende selbst nun als Gesehener erscheint, der magischen Schwelle, vor der Sein und Erscheinen sich spalten. Das furchtbar doppelgesichtige Antlitz alles Menschlichen ward niemals noch so bis in den Grund durchschaut wie in den Sonetten »Die Zwillingsbrüder« (Privatdruck 1908).

Und wieder, in einem ewigen Gegenspiel der Kräfte, steigt vor dem Zwiespalt der um Erkenntnis Ringenden, durch tausend Spiegelungen ihrer selbst beirrten Seele das »uraltmenschliche Glück« empor, ländlich zu leben und die Gebote der Erde zu halten. »Der Landbau«, eine Elegie als Epistel an Hugo v. Hofmannsthal (1909), preist durch den Wechsel der Jahreszeiten begleitend das enge Geschick des Gesegneten, der »die Götter bedürftig verehrt.« – Die Scholle wächst und wird zum Land der Väter wie sie zum Land der Kinder wird; es wachsen aus der Einsamkeit, der dunkeln Gesetzlosigkeit der Seele Bindung und Pflichten einer menschlichen Gemeinsamkeit gegenüber, einer Gemeinsamkeit, die zum Begriff der Nation sich weitet. Die »Deutschen Oden« (1910) handeln von der Würde der Nation, die immer auch eine Würde des Einzelnen ist – sie sind voll eines prophetischen Kummers einer Zeit gegenüber, die sich in einem Besitz gesichert wähnte, der unsichtbar ihr unter den Händen zerrann. Jede Zeile dieser Oden, vier Jahre vor dem Krieg erschienenen, ist dunkel überhängt von seinem [190] Schatten – rein ist sein Schicksal allein aus seiner innern Notwendigkeit heraus erkannt.

Schröders letzter großer Versband ist, »Widmungen und Opfer« betitelt, 1925 als Druck der Bremer Presse erschienen. Es sind zu einer großen Zusammenkunft Gestalten und Schatten geladen, Mitwandernde einst und Wegbestimmende: solche, von deren Bruderschaft man wieder genesen kann, und jene, die man liebt, »wie man Unsterbliche liebt.« Leben, wie es vom Widerspiel der Kraft getrieben, antithetisch bestimmt, schließlich den ganzen Umkreis des Menschlichen durchlaufen hat, schwillt hier an als eine große Symphonie, aus jenen einzelnen Stimmen zusammenrauschend, »Lust und Zwang in eines schmelzend.« Die strenge Form des Sonettes weicht, wie überströmend von einer ihr unfaßbaren Fülle, der offneren der Ode, der Elegie, dem großen strophischen Gedicht.


So wenig von Schröders Dichtung ausgesagt wäre, mäße man sie allein nach der formalen Leistung, die eine ungeheure, im »geistigen Raum« der deutschen Sprache unvergleichliche ist, – so wenig wäre auch von ihr mitgeteilt, wenn, wie es bisher hier geschehen ist, die Darstellung auf ihren geistig-sittlichen Gehalt sich beschränkte. Denn beides, Geist und Form, sind in Schröders Dichtung im höchsten Sinne eins: der Geist ist Form geworden, die Form ist Geist. Es sei erlaubt, nocheinmal auf das Gleichnis des Eingangs zurückzugreifen: auf das Gesetz des Kristalles, der allein aus der Einheit seiner physikalischen Eigenschaften und seiner Form sich erhält. Schröders Gedichte leben aus einer gleichen reinen Spannung, [191] einer völligen Ausgewogenheit, die sie unberührbar macht. Das Fehlen jeden Epigonentums um sie herum beweist sie, das überall da der großen Leistung sich beigesellt, wo nur ein Gran von Stil, der sich nicht »band«, eine geringe Spur von Übergewicht des Formalen den Einbruch möglich machen. Diese Spannung als Grundgesetz läßt jedem einzelnen Gedicht, jedem einzelnen Zyklus von Gedichten zugleich die Freiheit des für sich allein Bestehenden, nur in sich selbst Gebundenen: Schröders Dichtung umfaßt alle Möglichkeiten sprachlichen Ausdrucks von der fließenden Leichtigkeit des Liedes bis zu der lapidaren Wucht der Sonette, dem orphisch dunkeln Gesang der Oden. In den Gedichten des »Elysium« ist die Sprache, vollkommen durchsichtig und fast karg in ihrer Konstruktion, nahe an die Grenze des Musikalischen herangeführt: ihre episch-logische Bewegung ist auf eine unerklärliche Weise der Wiedergabe eines von allen Fesseln der Kausalität befreiten Zuständlichen dienstbar gemacht.


Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß Schröders formale Begabung in Deutschland ihresgleichen nicht hat und niemals hatte. Es ergibt sich mit Selbstverständlichkeit, daß, wo sie der sprachlichen Nachschöpfung sich zuwendet, sie eine große Vollkommenheit der Leistung erreichen muß. Wo aber dem Künstlerisch-Kritischen so untrennbar das Dichterische verschwistert ist, da wird das Werk der fremden Sprache dem eignen Volk gewonnen wie ein Besitz aus angestammten Rechten. Die deutsche Sprache besitzt so, von Schröder als Eigentum [192] ihr zugebracht, die »Odysse«, Teile der »Ilias«, sie besitzt Oden und Satiren des Horaz als einen lebendigen, zuweilen erstaunlich beziehungsreichen Besitz. Übertragungen von Vergils »Georgika« und den »Eklogen«, Ciceros Gespräch des ältern Cato »Über das Greisenalter« (beide im Verlag der Bremer Presse erschienen) sind betont der Animosität einer gewissen philologischen Strömung gegenübergestellt, die voll einer unfruchtbaren Überheblichkeit die Leistungen der klassischen Latinität allenfalls als pädagogisches Seminar für das Verständnis der Griechen will gelten lassen.

Gleichfalls als Druck der Bremer Presse vor kurzem erschienen ist eine Sammlung Gedichte von Geerten Gossaert, – in Holland, wo Gossaert an der Utrechter Universität lehrt, unter dem mehr als bescheidenen Titel »Experimenten« zusammengefaßt – von Schröder ins Deutsche übertragen. Es bedarf im Grunde nur dieser Tatsache, daß Schröders dichterischer Impuls an Gossaerts Gedichten sich entzündete, um damit schon gesagt zu haben, wie außerordentlich die Strophen Gossaerts sind. Das flämische Sprachgebiet, literarisch so wenig fruchtbar und durch eine Verkettung von Umständen seiner größten Dichtung nur mittelbar teilhaftig, hat in Gossaert den wenigen Lyrikern von Weltgeltung einen Ebenbürtigen zur Seite gestellt. –


Es ist immer das Vorrecht des deutschen Volkes gewesen, seine »Dichter und Denker« nicht zu erkennen. So groß das persönliche Unrecht war, das den Betroffenen damit geschah, rückblickend will uns heute scheinen, als gleiche [193] in früheren Jahrhunderten diese Nicht-Beachtung in etwas auch der Fruchtbarkeit eines überschwänglich keimträchtigen Bodens, reich genug, sich dann und wann in ungenützten Früchten zu vergeuden. Heute ist dieser Boden dürr, daß, was aus ihm gedeiht, in sich eines übergroßen Kampfes um seine Selbstbehauptung bedarf, vor dem die Frage der Wirkung an Bedeutung verloren hat. Der geistige Mensch lebt heute absoluter als je, seine bloße geistige Existenz ist Entscheidung, die einer Teilnahme der Allgemeinheit niemals weniger bedurfte als heute. Niemals bedurfte die Allgemeinheit dieser Entscheidung mehr, als sie ihrer heute bedarf. Und also schiene es auch an der Zeit, Schröders Werk aus seiner bibliophilen Verzauberung zu erlösen, darin als Vorrecht Allzu-Weniger es Vielen vorenthalten bleibt.

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Notes
Erstdruck nach den Handschriften in: Gesammelte Dichtungen. Pasing bei München (Heinrich F. S. Bachmair) 1932. Die Essays erschienen zuerst in verschiedenen Zeitung in oftmals von dritter Hand gekürzter und veränderter Form.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Weissmann, Maria Luise. Aufsätze. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-9B20-8