5. Das fürstliche Schloß
Von Rechts wegen und der Rangordnung nach hätte ich unter den alten Häusern von Kirchheim zuerst das fürstliche Schloß oder Schlößchen vorführen sollen; aber die Familientraditionen des Klosters haben gar zu heimatlich dahin gewinkt, und dann erfordert es ja bei manchem Aufzug das Zeremoniell, daß das Vornehmste zuletzt kommt.
Von dem Schlosse ist in architektonischer Beziehung nicht viel zu berichten; es hat weder die anmutige Eleganz neuer noch die feierliche Pracht oder den märchenhaften Zauber alter Schlösser. Nur die hohen Kastanien, die schattigen Gänge des Schloßgartens sind von einem poetischen Hauch durchweht. Es zeigt so eine Art von Zopfstil, obwohl seine Erbauung eigentlich noch vor die Zopfzeit fällt. Auch die geschichtlichen Belehrungen über seine Erbauer und Bewohner will ich vaterländischen Chronisten überlassen. Zu der Zeit, aus welcher meine Bilder genommen sind, war es Witwensitz und bewohnt von der Herzogin Franziska, Herzog Karls Witwe, dem Mittelpunkte, der Sonne des Städtchens. Eine müde Sonne war es nun freilich, nahe am Untergehen; gerade darum aber ließ sich's leichter hineinschauen, und kein Auge konnte geblendet, keines verletzt werden von dem höchst bescheidenen Glanze, der sie umgab.
Das Leben dieser Frau gehört der Geschichte Schwabens an, und ihre romantische Jugendgeschichte ist schon vielfach zum Stoff für Dichter und Schriftsteller geworden; darum möge sie hier ruhen. Sie hatte den Glanz ihrer früheren Jahre teuer [171] erkauft mit schweren inneren Kämpfen und – mit Vaterfluch. Ihr Vater war ein alter, ehrenfester Edelmann, dem in sehr gesunkenen Verhältnissen seine ritterliche Ehre der letzte Schild und Trost war. Er hatte es für keinen Flecken dieser Ritterehre gehalten, seine Tochter, als Opfer dieser Verhältnisse, in blühender Jugend einem rohen Gatten hinzugeben; aber daß sie gewagt, selbst ihre Bande zu lösen, daß sie die Freundin ihres Fürsten geworden, noch ehe sie seine Gemahlin ward vor Gott und der Welt, – das konnte er ihr bis in seinen Tod nicht vergeben. Erst nach diesem war es der Mutter vergönnt, ihr geliebtes Kind zu besuchen, und auch sie hatte solches Grauen vor dem Weg, auf dem ihre Tochter zu dieser Höhe gestiegen war, daß sie nie mit den Titeln von ihr sprach, die ihr nun mit Recht zustanden; nie von den Vorrechten ihres hohen Standes, der fürstlichen Equipage und dergleichen Gebrauch machte. Sie kam nie anders als in einer einfachen Mietkutsche zu ihrer Tochter, so daß einmal der Kutscher, als der Herzog mit glänzendem Gefolge vorüberritt, [172] diesem zutraulich zurief: »Euer Durchlaucht, d' Schwieger hab' ich gestern gut heimbracht.«
Doch, wie gesagt, die Jugendgeschichte der Herzogin mit ihren Licht- und Schattenseiten möge hier ruhen. In Kirchheim war sie nur die wohltätige Fee des Städtchens; hier gedachte man ihrer nur als des guten Engels ihres Landes und ihres Gatten, der Gefährtin seines besten Lebensabschnitts; hier verlebte sie im stillen den Rest ihrer Tage, »eine rechte Witwe«, in stetem, treuem Andenken an ihren geliebten Herrn. So wenig ihr aber auch von dem Lärm und Pomp geblieben war, der die Tage ihres Glanzes umgeben, ein Hof mußte dennoch gehalten werden. Die steifen Formen ihrer Zeit waren ihr so sehr zur andern Natur geworden, daß sie sich nimmer ohne diese bewegen konnte; auch mochte es ihr wohltun, sich bis zu ihrem Tode unverändert in der würdevollen Stellung zu erhalten, in der nicht ihr Stolz nur, nein auch ihr innerstes weibliches Gefühl allein wieder seine Befriedigung gefunden hatte. So ging sie nie zu Fuß in das Städtchen; aber sie fuhr täglich aus, gezogen von vier Schimmeln von so ehrwürdigem Alter, daß ihnen die gegenseitige Hilfe wohl zu gönnen war, und die, obgleich sie ihrer vier waren, so sachte trabten, daß der Läufer, der stets dem Wagen vorausging, sich nie außer Atem rennen durfte und ganz fett wurde bei seinem beweglichen Metier.
Selbst die Ergüsse ihrer liebsten Herzensneigungen waren in das Zwangsmieder fürstlicher Würde eingezwängt. So war sie eine große, herzliche Kinderfreundin; nicht aber, daß sie je in ein Haus gekommen wäre, wo sich ein munteres Völkchen tummelte, oder daß sie auf der Straße ein hübsches Kind abgeküßt hätte! Sie ging, wie gesagt, nie zu Fuß aus. Sie ließ die Kleinen zu sich bescheiden, und ein Fest war es für die Kinderwelt, wenn der galonierte Hoflakai in sämtlichen Honoratiorenhäusern die Runde machte, um die Söhne und Töchter ins Schloß einzuladen. Da wurde denn der beste Putz hervorgesucht, um die hoffnungsvolle Jugend nach Kräften hoffähig zu machen. Im Schlosse angekommen, schritten sie in regelrechtem Zug unter ehrfurchtsvollen Schauern durch den langen [173] Korridor und die Vorzimmer bis in das innere Gemach, das ihnen als Inbegriff aller Herrlichkeit erschien, wo die Frau Herzogin im grauseidenen Kleide saß. Sie trug seit ihres Gemahls Tod nie andre als schwarze oder graue Gewänder.
Sie war eine freundliche kleine Frau von anmutigem Benehmen; von den Reizen ihrer Jugend zeigten sich wenige Spuren mehr, nur die blonden Löckchen unter der Witwenhaube trugen noch die schöne Farbe der reichen Flechten, die einst zu den Hauptzierden der jugendlichen Schönheit gehört hatten. Den Kindern war die Hofetikette streng eingeschärft worden, zuerst nach dem Kleid der Dame zu greifen, um es zu küssen, was diese dann eilig durch einen Kuß auf den Mund des kleinen Höflings verhinderte. Nun besah sie sich die Kinder der Reihe nach und sprach mit jedem ein paar freundliche Worte, die jene auswendig wußten: »Ei, wie du gewachsen bist!« – »Ist deine Mutter gesund?« usw. Dann aber gab sie ihrer Kammerfrau einen Wink, auf den diese sich entfernte und ein Kästchen mit vielen Fächern der durchlauchtigen Dame überbrachte. Das war der große Augenblick, auf den sich die Kinder leise mit ahnungsvollem Nicken aufmerksam machten. Nun beschenkte die Fürstin sie der Reihe nach mit allerlei zierlichen Kleinigkeiten: vergoldeten Ringlein, Herzchen zum Anhängen, Ohrglöckchen und dergleichen, die mit verlegen gestammeltem Dank angenommen wurden. Die Hand der Geberin verlieh den an sich unbedeutenden Sachen den höchsten Wert in den Augen der Kinder, die sich sodann nach ehrfurchtsvoller Verbeugung wieder in Reih' und Glied entfernten und der lang' eingedämmten Jugendlust in dem schönen schattigen Schloßgarten freien Lauf ließen. Solche Einladungen erfolgten mehrmals im Jahre, unfehlbar aber um Ostern, wo die etwas reicheren Gaben im Schloßgarten versteckt und von den Kindern aufgesucht wurden.
Sämtliche Frauen des Städtchens wurden von Zeit zu Zeit zur Kaffeevisite geladen. Auch hier ging es ziemlich zeremoniös her. Die Frauen saßen im Kreis um das Sofa der Frau Herzogin und tranken Kaffee aus kleinen Meißner Tassen; [174] die Unterhaltung bestand meist aus durchlauchtigen Fragen und untertänigen Antworten, falls nicht hie und da die Herzogin etwas mehr in Fluß kam, wenn sie von ihrem seligen Herrn erzählte. Endlich erhob sich die Dame mit höflichen Worten zum Zeichen der Entlassung. So ein Galatag war aber eine große Begebenheit; die Großmutter hatte sich eigens dazu ein seidenes Band mit Gold gestickt gekauft und steckte den kolossalen Ring mit des Großvaters Bildnis an, der ihre halbe Hand bedeckte.
Die Männer wurden hin und wieder zur fürstlichen Mittagstafel gezogen. Solche Einladungen waren dem Großvater kein absonderliches Vergnügen. Obgleich er in angestammtem Respekt [175] vor hohen Standespersonen auferzogen war und es ihm nicht einfiel, der Fürstin absichtlich etwas von der schuldigen Ehrerbietung zu entziehen, so konnte er sich doch sein Lebtage in die steifen Hofsitten nicht finden. Seine Formlosigkeit gereichte manchmal dem Hofpersonal zu geheimem Entsetzen, der Durchlaucht aber zu herzlichem Ergötzen. Die Einladungen zum Diner kamen meist spät, und so traf sich's, daß der Großvater einmal vom eigenen Mittagstisch weg sich in den Staatsfrack werfen mußte, um an der Tafel zu erscheinen. Er aß wenig, da die französische Küche ohnehin nicht nach seinem Geschmack war. »Warum speisen Sie so wenig, Herr Klosterhofmeister?« fragte besorgt die Herzogin über die Tafel herüber. »Mag nichts mehr, Euer Durchlaucht, hab' schon daheim Leberknöpf' gegessen.« Ein andermal, als bei einer Morgenaufwartung wie gewöhnlich fremder Wein in kleinen Kelchen gereicht wurde, nahm er keinen an. »Herr Klosterhofmeister, warum trinken Sie nicht?« fragte die höfliche Herrin. »Euer Durchlaucht, die Dinger da sind so klein; ich fürchte, das Kelchle schlupfe mit' nunter!« Von nun an bekam er ein größeres Glas.
Zahlreich waren die adligen Familien, welche diesem Reste eines Hofes nachzogen, von den stattlichen Kavalieren, den ehrwürdigen Hofdamen uralten Geschlechts an bis hinab zu etlichen obskuren gnädigen Frauen, die an hungrigem Vornehmtun den herabgekommenen Raubadel in Spindlers »Juden« noch übertrafen; die von der Wohltätigkeit der Fürstin lebten und vor einem Feste bei Hof acht Tage lang zu flicken hatten. Durch diesen Adel, hohen und niederen, bekam die ganze Geselligkeit des Städtchens einen von andern Städten seiner Größe verschiedenen Anstrich; Teegesellschaften waren damals schon häufig, während man sonst im Land nur Tee trank, wenn man krank war. Die adligen Damen erließen Einladungen zu Soireen, deren Hauptunterhaltung im Spielen bestand, vom L'hombre bis hinab zu Mariage und Hopsen, also daß sogar die liebe Jugend sich mit den ausgedienten Karten und alten Spielmarken vergnügte. Diese Unsitte war nun freilich kein Gewinn für die bürgerlichen Tugenden der [176] Stadt Kirchheim, wurde aber doch mit Maß betrieben. Hatte etwa eine der Hausfrauen einen Gulden verspielt, so war das schon großes Malheur und wurde durch vermehrte Sparsamkeit eingebracht. Habe auch nicht vernommen, daß unter der Jugend dieses Gift nachhaltig gewirkt hätte und daß aus den Stadtkindern von Kirchheim irgend ein rasender Spieler hervorgegangen wäre.
Glänzende Feste, Bälle und dergleichen waren verbannt, wie sich's am Hof einer Witwe ziemt. Die einzige Abwechslung bestand in einer jährlichen Reise auf das Schloß zu S. zum Sommeraufenthalt, in den obenerwähnten Einladungen und abendlichen Spielpartien. So brachte der Hof in recht anständiger Langeweile sein Dasein hin; Winters jedoch erschien meist eine Schauspielergesellschaft, die durch Aufführung Kotzebuescher Lustspiele und Ifflandscher Rührstücke das Publikum von Kirchheim höchlich ergötzte. Einmal verstiegen sie sich bis zum »Donauweibchen«, wo ein ungeheures Stück zusammengeklebtes Zuckerhutpapier, das auf der Bühne hin und her gezogen wurde, das Meer vorstellte.
Die Herrin war äußerst sanften Charakters, freundlich und nachsichtig gegen ihre Umgebung und dankbar für jede »Attention«, die ihr in ihrer einsamen Lage zuteil wurde. Den Schauplatz ihrer glänzenden Vergangenheit hat sie nicht wieder besucht. So schloß sich ein reiches, vielgestaltiges Leben still, beinahe vergessen außerhalb des kleinen Kreises, in dem sich die gute Frau bewegte. Warum ihr nicht vergönnt war, sich an der Seite ihres seligen Herrn zur letzten Ruhe zu legen, weiß ich nicht; sie wurde mit fürstlichem Prunk in der alten Gruft zu Kirchheim beigesetzt, die für sie nach langen, langen Jahren zum erstenmal wieder eröffnet wurde. Das Schloß hat seine Bestimmung beibehalten, ein Sitz für vereinsamte Frauen hohen Standes zu sein, und auch die freundlichen Engel des Wohltuns und der Milde haben fortwährend ihre Heimat dort gefunden.
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