[7] Morgen, Mittag und Abend

Am Morgen

Als hoch am Himmelsbogen

Des Frühlings Sonne stieg,

Ging hoch mein Herz in Wogen

Und pochte stolzen Sieg.

Mit jedem stillen Triebe

Der Knosp' hab' ich gestrebt,

Und jedes Weh der Liebe

Der Rose durchgelebt.

Rückert.


Ich weiß nicht, ob andre Nationen so reich sind an Sprichwörtern, die mißtrauisch gegen frühes Glück machen, wie wir bedachtsamen Deutschen.

Ein Deutscher war Eulenspiegel, der weinte, wenn's bergab ging, im Gedanken an die nahe Mühe des Bergansteigens.

Morgenrot, Abend Kot. Das erste Gewinnen ist nichts nutz. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Wer zuerst den seidenen Rock verträgt, muß nachher den wollenen tragen. Man muß den Tag nicht vor dem Abend loben. Das sind lauter deutsche Sprichwörter, die uns am Ende wünschen lassen, nur baldmöglichst alles erdenkliche Drangsal durchzumachen, um damit eine Freikarte auf späteres Glück zu gewinnen.

Und doch ist ein heller Morgen so schön; glücklich sein erscheint ein so natürliches Vorrecht der Jugend, daß einem ein trübseliges junges Mädchengesicht wie eine Sünde gegen den Schöpfer vorkommt, und nur ungern möchte man der Jugend das lichte Morgenrot verbittern mit Hinweisungen auf einen trübseligen Abend.

Le ciel s'éclaircit au couchant ist eine tröstliche französische Sentenz; und es ist auch meines Erachtens viel weniger der Abend, für den wir bangen dürfen bei einem hellen Morgen, als der Mittag.

Der Abend hat wieder seine eigene Poesie: die Luft ist [7] kühler, man ist ein wenig müde, leichter zufriedengestellt, man denkt ans Schlafengehen.

Aber der Mittag, der schwüle heiße Mittag, der trockene prosaische, arbeitsvolle Mittag, der ist zu fürchten, und wo ihr morgenhelles Glück sehet, da fragt nicht bedenklich: Wird's auch am Abend noch so aussehen?, fragt lieber: Wie wird wohl der Mittag sein?

Der Mittag ist's, der die rosigen Morgenwölkchen zerstreut, sein unerbittliches Licht macht die Täuschungen der duftigen, oft nebelumhüllten Frühe klar, der Mittag des Lebens zerstört seine Morgenträume. Aber am Mittag gilt's auch, sich mutig durchzuschaffen und zu ringen und, statt sich in die Morgendämmerung zurückzuträumen, lieber vorauszublicken nach der Ruhe des Abends; und wohl dem, der sich durchgerungen hat zu einem klaren, friedevollen Tagesschluß.

Das Amthaus

Ein heller Lebensmorgen und eine fröhliche Jugend war denn auch den Kindern des Amthauses zu Bernheim beschieden und mit ihnen noch vielen, denen es unter dem gastlichen Dache wohl wurde.

Nicht umsonst ist die Gastfreundschaft, die so ganz weltlicher Natur scheint, in der Bibel schon als eine schöne Tugend gepriesen; eine edle Tugend ist sie, denn sie ruht nicht auf der Grundlage praktischen Nutzens, die freie, heitere Gastlichkeit, auch da, wo sie nicht Wohltätigkeit ist, wo sie auf Gegenseitigkeit beruht. Wirte und Gäste würden wohl mehr ersparen, wenn sie hübsch zu Hause blieben; aber ein gastliches Haus gibt unendlich mehr als Essen und Trinken und Herberge; es gibt den Reiz und das Behagen des eigenen Hauses ohne seine Mühen und Sorgen; es gibt den Gästen das erwärmende Gefühl, lieb und willkommen zu sein, auch wo man nicht nötig ist; es gibt guten Mut für die eigene Heimat, und Frische und Kraft zu der Rückkehr ins Alltagsleben.

Man klagt, und das mit Recht, daß die Gastlichkeit in unsern Tagen so im Abnehmen sei.


[8]
Das ist die Not der schweren Zeit,
Das ist die schwere Not der Zeit,
Das ist die schwere Zeit der Not,
Das ist die Zeit der schweren Not.

Sie stellt andre Forderungen und verlangt schwerere Opfer als das fröhliche Geben der Gastlichkeit, das zugleich Genießen ist. Bringt sie immerhin, diese Opfer, mit willigem Herzen! Laßt die Schmäuse und Gastereien, die Spanferkel und Truthühner, die Aufsatztorten und Schmalzgebäcke der guten alten Zeit untergehen und kauft statt dessen Brot für die hungernde Armut! Nehmt, wenn es sein muß, in Gottes Namen Zimmerherrn und Kostfräulein in eure Stuben und verkauft so das Heiligtum eures eigenen Herdes; aber Schande einer Zeit, wo bald der Bruder keinen Raum mehr findet am Tisch seines Bruders; wo Geschwister sich vom Gasthof aus die Aufwartung machen; wo an die Stelle der sorgsamen Hausfrau, des schüchternen Töchterleins, deren freundliches Gesicht die Speisen würzt, der vornehme Oberkellner des Hotels tritt; wo die Enkel derselben Ahnherrn sich nimmer kennen! Wenn es an dem ist, daß man dem Gaste mit Ängstlichkeit die Bissen in den Mund zählen muß, dann laßt uns dem Monsieur Proudhon folgen, die Familie aufheben, die Heimat schließen und die Menschheit in ungeheure Kosthäuser sperren!

Diese Abschweifung über Gastfreundschaft trifft nun das Amthaus nicht; zwar hat man damals auch schon über schlimme Zeiten geklagt, aber es war damit so böse nicht gemeint, und die Frau Amtmännin, die auch für die Armut stets ein Tischchen gedeckt hielt, machte sich gar keine Skrupel aus der gutbesetzten Tafel, mit der sie bei ihren Gästen heitere Gesichter und klägliche Lamentationen über die großen Umstände hervorrief.

Die Tafel allein war es aber nicht, die das Haus so sonnig machte; es war die herzliche, ruhige Freundlichkeit, mit der man jedes willkommen hieß, wenn es nicht gerade am Bügeltage kam; die unbeschränkte Freiheit, mit der man treiben [9] durfte, was man wollte; die unendliche Behaglichkeit und unzerstörbar gute Laune, mit der der Herr des Hauses oben in seinem Lehnstuhl saß, zur Rechten seine Dose, zur Linken die Zeitung, seine Serviette umgebunden; wie er mit freundlichem Blick seine Kinder und Gäste überblickte, je mehr, desto lieber. Viel Worte waren eben seine Sache nicht, auch konnte er niemals die Namen seiner Neffen und Nichten behalten; er war manchmal so schweigsam, daß die junge Welt seiner gänzlich vergaß und sich eifrig in Gespräche vertiefte, bis er einen trockenen Brocken dazwischen warf, der zeigte, daß er alles wohl vernommen und in seiner Weise beurteilt habe.

Der Amtmann, das einzige Kind eines reichen Vaters, hatte in jungen Jahren studiert, aber wenig Geschmack an der Jurisprudenz gefunden. Nach des Vaters Tode hatte er dessen Gut übernommen, zugleich die Schultheißenstelle des Ortes mit dem Ehrentitel Amtmann; er verwaltete Amt und Güter getreulich und guten Mutes und nahm zu der Amtsverwaltung mehr seinen gesunden Menschenverstand als die anstudierten juridischen Kenntnisse zu Hilfe.

Sein ältester Sohn, Karl genannt, wie alle braven Knaben, sollte dereinst das Gut übernehmen und wollte es noch mit einer Bierbrauerei erweitern; der war auf Reisen. Eduard, der jüngste, studierte Theologie: es freute den Vater, daß er Lust zum Studium hatte. Er selbst hatte dazu nicht viel mehr beigetragen, als daß er ihn von seinem achten Jahr an, wo er in die Kostschule kam, bis jetzt, wo er flotter Student war, nach den Ferien jedesmal mit der Ermahnung entließ: »Lern nur brav; man trägt an nichts schwer.« Aber er hatte dem Sohne seine volle Liebe gezeigt, alle Freude und Hoffnung, die er auf ihn setzte, und das wurde diesem ein mächtigerer Sporn und Halt als bogenlange Ermahnungsbriefe.

Am gesuchtesten war das Amthaus als häusliche Bildungsstätte für junge Mädchen, und es war das eine vergnüglichere Lehrzeit als in einer französischen Pension. Die Frau Amtmännin nahm's mit dem Unterricht nicht eben so genau: »Plagen kann ich mich nicht mit dem Mädchenvolk,« meinte [10] sie. »Wenn sie aufmerken, so lernen sie von selbst; passen sie nicht auf, so wird ja doch nichts aus ihnen.«

So zogen denn manche ab, ohne daß sie im Amthause mehr gelernt hätten als Gemüse putzen und Kartoffeln schälen; strebsame Geister drangen bis zum Butterteig, bis zum Geflügel, ja bis zum Schmalzbacken vor, was der höchste Gunstbeweis der Hausfrau war und von Friederike, dem ältesten Töchterlein, meist mit etwas scheelen Augen angesehen wurde. Alle aber ließen sich's in Haus und Garten und Umgegend recht von Herzen wohl sein, und wie die Nachkur bei Bädern, so wirkte die Erinnerung an die fröhliche, freudige Tätigkeit des Amthauses oft nachträglich mehr als der Unterricht selbst.

Ein Sommerabend

An dem schönen, klaren Sommerabend, an dem wir endlich und endlich zum eigentlichen Beginn unsrer Geschichte kommen, saßen zwei Mädchen unter der großen Linde beisammen, in deren Schatten gewöhnlich im Sommer Frühstück und Abendessen eingenommen wurde. Ein schöner Abend war's, und so oft auch schon Geschichten mit schönen Abenden begonnen haben, so wird man nicht umhin können, es zu erwähnen, solange es noch ein leuchtendes Abendrot gibt und einen goldenen Sonnenuntergang. Die Linde stand in voller Blüte und herrlichem Duft; die Blütenblättchen fielen mitunter in die große Milchschüssel, in die eben Mathilde, der neueste Zögling des Amthauses, Brot einbrockte, was zu den Elementen des Unterrichts gehörte. Mathilde war die Tochter einer Jugendfreundin der Amtmännin, die nach beendigten Kursen in der höheren Töchterschule nun Haushaltung und Kochkunst studieren sollte. Minna, die jüngste Tochter des Hauses, Wilhelmine getauft, sonst Mine genannt, war mit Salatlesen beschäftigt; die Gedanken der beiden flogen aber weit, weit hinaus über die prosaische Arbeit, was ihnen in so schöner Abendzeit gar nicht zu verdenken war.

»Es wäre denn doch oft hübsch, wenn man in die Zukunft sehen könnte,« meinte Minna und schüttelte die braunen [11] Locken zurück, die heute, weil es trocken Wetter war, noch schön geringelt das feine, lebensvolle Gesichtchen umgaben; »ich wollte, es begegnete mir einmal eine Zigeunerin, aber eine von den rechten.«

»Ganz unnötig,« sagte Mathilde, eine kräftige, blühende Blondine mit braunen Augen; »mir könnte keine etwas Neues sagen, ich weiß vorher, wie mir's geht.«

[12] »Oh! wie kann das ein Mädchen wissen?« rief Minna. – »Vortrefflich, wenn sie überhaupt weiß, was sie will. Ich kann freilich nicht wissen, ob ich lange lebe oder bald sterbe, oder so was, ob Krieg und Pestilenz kommt und dergleichen; aber ich weiß doch, daß ich nicht heiraten werde.«

»Du?« fragte Minna ungläubig.

»Ja, ich,« sagte Mathilde mit großer Bestimmtheit, »ich will der Welt zeigen, daß ein Mädchen keinen Mann braucht, um glücklich und brauchbar zu sein. Ich will ein Musterexemplar von einer alten Jungfer abgeben! – Was mir allein leid tut, ist, daß ich nicht hunderttausend Gulden habe.« – »So, weiter nichts?« fragte lachend Friederike, die hoch aufgeschürzt mit der umgebundenen Küchenschürze im Geschäftsschritt herbeikam, um die Milchschüssel in Empfang zu nehmen – »na, so kluge Wünsche haben noch andre Leute.«

»Ach, nicht des Besitzes wegen,« sagte Mathilde geringschätzig, »wer wird darauf Wert legen! Nein, nur deshalb möcht' ich reich sein, daß man ganz gewiß wüßte, daß ich nicht heiraten will; daß es noch ein Mädchen gibt, das seinen Wert kennt und sich nicht für eine Null hält, die nur durch vorgesetzte Zahlen Geltung bekommt.«

»Es wäre aber doch auch schön, solchen Reichtum zu teilen mit einem edlen Herzen,« meinte Minna schüchtern. – »Mit einem edlen Herzen!« lachte spöttisch Mathilde, »dem du deine Seele und dein Leben und deinen Besitz zu Füßen legst; das dann dein Vermögen in Verwaltung nimmt und dich betteln läßt um jeden Kreuzer, mit dem du die Haushaltung und die Bedürfnisse des Pascha zu befriedigen hast! Nein, solange die Stellung der Frauen eine so unwürdige ist, werde ich mich nie so weit vergessen. Wenn ich je heiratete, was aber nie geschieht, so dürfte bei uns gar nie die Rede sein von Geld; der Mann müßte mir's heimlich in die Kommode legen, eh' sie leer würde. Gut verwalten wollt' ich's dann schon.«

»Wenn du nur so lange gesund bleibst, bis du soeinen findest,« meinte Friederike, die sich mit großer Sachkenntnis des Salats angenommen hatte, von dem Minna in der Zerstreuung [13] die gelben Blätter auf den Boden, die grünen in die Schüssel gelesen hatte, »und das sag' ich dir, so große Brocken in die Milch darfst du auch einmal nicht machen, wenn du einen Mann hast.« – »Oh, die Männer essen ja gar keine saure Milch,« sagte Mathilde und warf trotzig den Kopf auf, »sie würden sie sehr gern essen, aber ihr Magen erträgt sie nicht, oder sie haben Bier getrunken – das ist für die Frau gut genug; dem Herrn bringt man dann Schinken oder brät ihm einen jungen Hahnen, und die Frau sieht zu und ißt Milch, natürlich! Nein, behüt' mich Gott vor solcher Herabwürdigung!«


»Es singt ein Vogel von fern, von fern:
›Was ich veracht', das hätt' ich gern,‹«

sang halblaut eine ziemlich rauhe Stimme im Hintergrund. Die Mädchen fuhren erschrocken zusammen, man sah aber niemand; nur der Amtmann kam nach einer Weile vom Feld heimwärts und ging an den Mädchen vorbei, ohne sie zu bemerken; der war aber nicht als Sänger bekannt und hatte auch eben nicht, was man ein musikalisches Gesicht heißt.

Das Gespräch aber war dadurch unterbrochen und die Mädchen verschüchtert; Friederike nahm den Salat und rief: »So, ihr großen Geister, bringt die Milchschüssel nach; es ist noch Suppe einzuschneiden!«

Den beiden eilte es damit nicht sehr, es war zu schön da draußen, und sie waren zu glücklich im jungen Gefühl der ewigen Freundschaft, die sie seit vorgestern geschlossen hatten, als daß sie gern in die dumpfe Küche zurückgegangen wären.

»Sieh nur, Friederike, den wundervollen Sonnenuntergang!« rief Minna dieser nach. – »Hab' keine Zeit dazu, sie geht jetzt alle Abend unter!« rief Friederike eifrig und ging hinein. Die Mädchen sahen ihr lachend nach. »Die würde den Mond noch zur Küchenampel machen,« sagte Mathilde; »vielleicht bleibt sie darum glücklicher.« – »Nein, o nein!« rief Minna mit feuchten Augen, »Gott behüte uns vor solchem Glück! Je heller Licht, je tiefer sind freilich die Schatten, aber möchtest du darum immer unter grauem Himmel wohnen? [14] Auch das Leid hat gewiß seine tiefe Schönheit.« – »Mag sein, wir wollen's aber abwarten; rufen wir's nicht herbei!« meinte Mathilde.

In dem Augenblick ließen sich fröhliche Stimmen hören. Bruder Eduard und zwei Vettern, beide elternlos, die sich hier im Amthaus, ihrer zweiten Heimat, zusammenfanden, kamen von einem Ausflug in der Nachbarschaft zurück. »Nun, guten Abend!« rief Eduard. »So fleißig? Sorgt nur für etwas Gutes, wir sind hungrig!« – »Hungrig!« sagte Mathilde ironisch, »das ist also der einzige Gedanke, den ihr von einem so herrlichen Waldgang nach Hause bringt!« – »Nun, nun, nicht gleich wieder satirisch!« rief Vetter Otto. »Das leere Körbchen zur Seite zeigt doch, daß die Damen auch nicht allein von Himmelsluft und Blütenduft gelebt haben. Wilhelm ist schuldig, daß wir so hungrig und müde sind, er hat uns um ein paar Schafe im ganzen Walde herumgejagt. Wir, Eduard und ich, stellten nämlich im Walde in der Erinnerung an unsre Knabenzeit eine Hetzjagd dramatisch dar; da wurde eine Schafherde von unserm Jagdruf und Herabspringen dermaßen erschreckt, daß sie nach allen Seiten auseinander rannten und Phylax, der treue Hund, sie nimmer zusammenbrachte. Nun nötigte uns Wilhelm, der redliche Vikar, die Lämmlein in allen Büschen zusammenzusuchen; er schloß sich dann dem biederen Schäfer an und hörte ein Privatissimum über Stallfütterung und Schafraude; da ist's denn kein Wunder, wenn wir prosaisch geworden sind.«

»Wir haben aber doch an euch gedacht«, sagte Eduard, »und ein Programm für morgen gemacht: Morgens eine Wasserfahrt auf die grüne Insel mit Musik und Gesang, mittags Familientafel, nachmittags Kaffee im Walde, abends Hausball.«

Eben kam Friederike mit Milchtöpfen im Sturmschritt, wies Minna, die reuig über ihre Vergeßlichkeit ihr Hilfe anbot, trocken zurück und rührte, unbewegt von Ottos und Eduards Späßen, die Milch mit einer stummen, entschlossenen Tatkraft an, die ein schwerer Vorwurf für die zwei saumseligen Mädchen sein sollte.

[15] Die Abendtafel wurde gedeckt; zu Mathildens innerem Mißfallen wurde den Herren Schinken und Salat vorgesetzt, während die Damen sich mit Milch begnügten; es versöhnte sie nicht, daß man ihr, als dem Gaste, auch anbot; sie trauerte nicht um sich, nur um ihr mißhandeltes Geschlecht.

Das Programm auf morgen wurde dem Papa vorgelegt und die Wasserfahrt vorderhand genehmigt. Auch die Mutter hatte nichts dagegen, wenn man Pfarrers Emma dazu einlade. Friedrike aber, die überall Schwierigkeiten fand, wußte, daß der Kahn keine Sitze mehr hatte.

»Tut nichts, wir legen ein Brett querüber,« sagte Eduard. – »Und morgen früh sollten die Nudeln gewellt werden,« warf Friederike wieder ein, »wobei Mathilde helfen will; wir haben schon drei Tage auf sie gewartet, es muß nun sein; übermorgen kommt der Herr Oberamtmann.« – »Nun, diesmal muß dann eben die Gret noch einmal helfen,« beruhigte die gute Mutter, »ich und die Mägde werden mit den Zurüstungen allein fertig, du kannst wohl mitgehen, Rikchen.« – »Ich? Gewiß nicht,« sagte diese entschlossen, »ich weiß, wieviel es noch zu tun gibt. Und tanzen dürft ihr ja gar nicht, in dem Saal muß morgen schon der Tisch gedeckt werden.«

»Nur ruhig, Jungfer Schwierigkeit!« rief Eduard. »Wir putzen ihn selbst wieder.« – »Das nicht, aber wir,« versicherte Minna, »und wir decken ihn dann übermorgen in aller Frühe, es fehlt gewiß nicht!« – »Nun ja, in Gottes Namen, wir wollen sehen,« meinte die Mutter, während Friederike kopfschüttelnd den Tisch abräumte.

»Wie lange bleibt denn der Herr Oberamtmann hier?« fragte Otto. »Sein Geschäft dauert wenigstens drei Tage,« sagte der Vater; »ich habe morgen noch die Hände voll zu tun, bis ich alles vorbereite.«

»O weh, drei Tage mit so einem Pascha!« seufzte Eduard. – »Nun, ein so grimmiger Pascha ist er nicht,« beruhigte ihn die Mutter, »es ist ja nimmer der Alte. Dieser ist noch ledig und eigentlich ein junger Herr, wenn er gleich nicht so aussieht; er macht gerade nicht viel.« – »Nur Rauch,« lachte [16] Minna, »das wäre einer für dich, Mathilde, und deine Ideen von Chevalerie!« – »Pfui, Mädchen, wer wird so ungescheit sprechen,« zankte die Mutter, »so kleine dumme Mädchen wie ihr, und der Herr Oberamtmann!«

»Wie wir?« und Mathilde warf wieder trotzig den Kopf in die Höhe.

»Aber wie wird sich unser poetischer Nordstern mit dieser Beamtenprosa vertragen, Eduard?« fragte Vetter Otto. »Gar nicht,« lachte Eduard, »wir setzen den Oberamtmann zwischen Papa und Wilhelm, letzterer kann ihn dann über entlassene Strafgefangene unterhalten, und den Nordstern lassen wir den Mädchen.« – »Was für einen Nordstern?« fragte der Amtmann, der indes in der Zeitung gelesen hatte, seine Brille hinaufschiebend.

»Ach, ich vergaß, Onkel,« sagte entschuldigend Otto, »dich zu fragen, ob es dir nicht unangenehm ist, wenn unser Freund, der Dichter Arwed Nordstern, dein gastliches Haus auf einige Tage besucht.« – »Nordstern? Woher?« – »Aus Welsburg, nicht allzuweit von hier.« – »Nordstern? Ist mir keiner des Namens daselbst bekannt.« – »Ach,« sagte Otto, mit einiger Verlegenheit, »sein eigentlicher Name ist Haberstock; da er aber unter dem Namen Nordstern schreibt, so hört er sich lieber mit diesem nennen.«

»Na hör, ich hab' meinetwegen nichts gegen deinen Herrn Haberstock, hab' schon allerhand Kostgänger gehabt; aber was den verstellten Namen betrifft, damit bleibt mir vom Leibe, wenn vollends der Oberamtmann da ist, das könnt' eine schöne Geschichte geben. Was studiert der Haberstock?« – »Eigentlich Kamerale, aber seit sein poetisches Talent erwacht ist, widmet er sich mehr allgemeinen Studien.«

»Gefällt mir nicht,« meinte kopfschüttelnd der Onkel; »habe noch niemals von einem poetischen Kameralverwalter gehört.« – »Der wird auch kein Kameralverwalter, Onkel, darauf kannst du dich verlassen, der macht seine Karriere! Und ein Redner ist er! Solltest hören, was der famose Reden auf unsrer Kneipe hält! Ja, Onkel, der wird noch von sich reden machen!«

»Soll mir lieb sein,« sagte der Onkel phlegmatisch und schloß damit die Unterhaltung.

[17]

Der Überfall

Recht goldig klar war der nächste Morgen, und Minna, die gar wohl im Hause angreifen konnte, wenn es einmal über sie kam, hatte fröhlich singend das Frühstück besorgt, etwas kalten Küchenvorrat für die Seereise gerüstet, der Mutter bei den ungeheuren Anstalten für den Herrn Oberamtmann geholfen und harrte bereits reisefertig im Hut mit wehenden Bändern am Rande des Flusses, zu dem ein Pfad aus dem Garten führte, wo Eduard und Otto emsig mit der Zurüstung des Kahnes beschäftigt waren; Friederike in Hauskleid und Küchenschürze stand hinter dem Nudelbrett, würgte und wellte mit verzweifelter Entschlossenheit.

»Ein göttlicher Morgen!« rief Mathilde zu ihr herein. – »Ach ja, es ist schade, daß wir nicht heut die Wäsche haben!« entgegnete Friederike.

»Gehst du nicht mit, Bäschen?« fragte Vetter Wilhelm unter der Küchentüre. »Gewiß nicht,« sagte sie etwas patzig, »das wäre mir unmöglich, bei solchem Geschäft Schiff zu fahren!« Wilhelm suchte vergeblich sie zu bereden und eilte endlich hinab, wo das schon segelfertige Schiff eben von den Mädchen noch mit Blumen bekränzt wurde.

Eduard brachte Pfarrers fünfzehnjährige Emma her bei, die glühend rot vor Freude und Verlegenheit sich ins Schiff führen ließ, um ihren Platz neben den Mädchen einzunehmen. Vater und Mutter sahen wohlgefällig lächelnd zu, wie hübsch sich die junge Gesellschaft in dem bekränzten Kahn gruppierte, – da keuchte atemlos der alte Amtsbüttel herbei, sein entsetzliches Gesicht ließ das Schlimmste fürchten, noch ehe er imstande war, ein Wort hervorzubringen. »Der Herr Oberamtmann!« stieß er endlich hervor, als er zu Atem kam. – »Was, wie, wo?« schrie der Amtmann, diesmal auch außer Fassung, und packte den Alten am Rockkragen.

»Heut! Eben angefahren! Der Schreiber hat's falsche Datum gesetzt!« Und die Mutter sah von weitem Friederike allerlei verzweifelte telegraphische Zeichen machen und bemerkte, daß [18] [20]der Herr Oberamtmann in höchst eigener Person auf die Gesellschaft zuschritt.

Eduard und Otto hatten große Lust, schleunig mit dem Schifflein in See zu stechen und so allen Wirren zu entfliehen; Minnas Tochterherz ließ aber nicht zu, daß sie die Mutter in solch kritischer Lage verließ. Sie sprang wieder ans Land, eben als der Oberamtmann, die Pfeife im Munde, langsam vom Hause herabspazierend am Ufer ankam.

Es war soweit ein stattlicher Herr, der Herr Oberamtmann, vorn in den Dreißigen, noch jung für die hohe Staffel im Leben, die er bereits erstiegen, nur etwas zu umfangreich für seine Jugend. Der Amtmann war allerdings durch seine Ankunft in schweren Schrecken versetzt, faßte sich aber bald wieder; der Fehler des Schreibers war ja nicht der seinige.

»Ja, was tun wir, Herr Oberamtmann? Meine Vorarbeit zu Ihrer heutigen Verhandlung könnte ich etwa den Vormittag zu Ende bringen, aber früher können Sie nichts vornehmen. Wenn sich der Herr Oberamtmann sonst unterhalten könnten? ...« Dieser hatte, wie es schien, mit einigem Wohlgefallen den bekränzten Kahn, das jugendliche Schiffsvolk betrachtet, obwohl er das durch nichts ausdrückte als durch gelindere Rauchwölkchen, die er aus der Pfeife blies. »Weiß wirklich nicht, ob Sie Liebhaber von Wasserfahrten sind?« fragte der Amtmann zum Entsetzen seiner Frau, der das wie eine ganz freche Zumutung vorkam. »Hab's noch nie versucht, wäre nicht abgeneigt,« ließ sich zum Schrecken der jungen Gesellschaft der Oberamtmann vernehmen, »ist das Brett fest?« – »Wir haben starke eichene Dielen!« bemerkte mit geheimer Ironie der Amtmann, »geh, Eduard, hol eine herunter!« So mußte es denn sein; die Diele ward auf den Kahn gelegt, ihre Festigkeit probiert; die Frau Amtmännin hatte einstweilen in aller Eile den Mundvorrat noch reichlich vermehrt, namentlich mit einigen vielversprechenden Flaschen, was die jungen Leute wieder in etwas versöhnte mit dem aufgedrungenen Passagier, und hatte in lauterem Respekt ihren roten Schal, vierfach zusammengelegt, auf die Diele [20] gebreitet, um den Sitz weicher zu machen, zu Mathildens großer Empörung.

Endlich war der Kahn segelfertig; der Oberamtmann hatte sich etwas schwerfällig niedergelassen, Eduard und Otto, die sich insgeheim schämten, daß sie sich von dem Philister so verblüffen ließen, stimmten das allbekannte Schifferlied an, und die Barke stach in See.


»Du Land der süßen Wonne,
O Heimat, lebe wohl!«

klangen die frischen jungen Stimmen herüber; die Mama vergaß einen Augenblick Respekt und Schrecken und Gastmahl in der Freude über den lieblichen Anblick, und der Amtmann lachte herzlich, als er den schwerfälligen Oberamtmann mit seinem Meerschaum unter den schlanken jungen Gestalten sitzen sah. »Der ist gut versorgt,« lachte er, »jetzt muß ich aber ans Geschäft. Wenn sie mir nur nicht meinen Oberamtmann über Bord werfen; er war ihnen grausig ungeschickt!« – »Ich mußte nur staunen über deine Keckheit,« sprach die Frau; »du fürchtest auch gar niemand, du würdest den Kaiser von China spazieren schicken.« – »Närrchen,« sagte lächelnd der Amtmann, »die Zeiten sind vorbei, wo ein Beamter so ein ungeheures Tier war, wir lassen ihm deshalb doch nichts abgehen.«

Friederike erschien wieder, ihre junge Stirn in die bedenklichsten Matronenfalten gelegt: »Zu Nudeln ist's jetzt natürlich zu spät, ich denke: gebackene Suppe; der Schinken ist am Feuer und der Backofen angezündet.« Eilig folgte die Amtmännin ihrer umsichtigen Tochter, und der Amtmann ging in seine Schreibstube.

Die Wasserfahrt

Minna hatte allen Ernstes der Mutter und Schwester zum Beistand dableiben wollen; aber die gute Mutter gönnte ihr die Freude gar zu wohl und hätte auch nicht passend gefunden, die jungen Leute allein fortzulassen, ohne das verbindende Mittelglied einer Schwester. Der Gesang und die herrliche [21] Morgenluft, die wehenden Pappeln und Weiden der grünen Ufer, die frische, helle Flut, auf der sie hinglitten, wirkten mit all ihrem Zauber auf Minna; sie vergaß den gegenwärtigen Oberamtmann, die verlassene Küche, alles ging unter in dem reinen, süßen Gefühl des jungen Lebens; und nur die Tagträume, die flüchtigen Kinder, die da leben von Morgenluft und Blütenduft, von Sternenglanz und Mondenlicht, wurden wach und umschwebten sie mit leisen Schwingen.

Es war wirklich viel, wenn man den Oberamtmann vergessen konnte, denn er saß recht breit auf seiner Diele, den Damen gerade gegenüber; er sah ganz behaglich und wohlhäbig aus, beurkundete auch seinen ritterlichen Sinn dadurch, daß er den Rauch seiner Pfeife möglichst auf die Seite blies. Ja, er ging noch weiter: als er bemerkte, wie eng die Damen saßen, so daß Emma beinahe in Gefahr war hinabzugleiten, so deutete er, gegen sie gewandt, auf den leeren Raum neben sich und sagte: »Gefällig? Platz nehmen?« Unter heimlichem Kichern schoben die Mädchen die schüchterne Emma hinüber, die eigentlich jetzt erst aus lauter Verlegenheit nur halb saß und gar nicht aus dem Erröten herauskam, daneben aber doch in der Stille sich freute, bis sie diese wichtige Begebenheit und unerhörte Aufmerksamkeit, die ihr widerfahren, der Mutter daheim mitteilen konnte.

Vetter Wilhelm half überall auf dem Schiffe, wo zu helfen war, besonders seinem Bäschen Minna, die seine Aufmerksamkeit kühl aufnahm, löste abwechselnd die zwei Ruderer ab und bewies sich viel ausdauernder als diese; auch sang er einen guten Baß, der dem Gesang wohl anstand, der sich mehr und mehr belebte. All die hübschen alten und neuen Schifferlieder wurden angestimmt: »Das Schiff streicht durch die Wellen« – »Das Wasser rauscht« – man glaubte sogar den Oberamtmann leise im Takt mitbrummen zu hören. Man fuhr durch unbekanntere Gegenden des Flusses, wo er, von dichten Weidengebüschen eingefaßt, stiller hinzieht, wo das Schiff zwischen den glänzenden Blättern der Seerosen durchglitt und die Vöglein verwundert verstummten vor dem nie [22] gehörten menschlichen Gesang. Minna schloß sachte die Augen und gab sich dem süßen träumerischen Reiz des Augenblicks hin. Da weckte Mathilde sie unsanft aus den lieblichen Träumen, indem sie sie in die Seite stieß und ihr zuraunte: »Du, das ist doch unausstehlich!« – »Was?« – »Nun, jetzt hat er noch nichts als die vier Worte gesprochen.« – »Wer?« – »Ach, euer dummer Oberamtmann.« – »Nun, so laß ihn schweigen, wenn's ihm Freude macht.« – »Nein, es ist unerträglich, und er ist ja noch gar nicht so alt, um sich so von allen Gesetzen des Anstandes dispensieren zu dürfen! Könnte er denn nicht mit der armen Emma ein paar Worte reden?« – »Ei, die Emma ist in sich hinein vergnügt ...« – »Hol über!« [23] rief's vom Ufer drüben, und verwundert sah die ganze Gesellschaft auf. Dort, wo das Ufer wieder lichter geworden, stand eine schlanke Jünglingsgestalt in schwarzem Samtrock, mit fliegenden Haaren. »Ah, da ist er!« riefen Eduard und Otto. – »Wer?« fragte sogar der Oberamtmann. »Unser Freund, Arwed Nordstern, ein junger Dichter,« beschied ihn Otto kurz, und sie stießen eilig hinüber, ohne auf die kurz ausgestoßenen dichten Rauchwolken zu achten, in denen der Herr Oberamtmann sein allerhöchstes Mißbehagen ausdrückte über diesen unerhofften Zuwachs.

»Aber woher kommst denn du in aller Welt?« fragten die Studenten den Nordstern, der leicht vom Ufer in das Schiff gesprungen war, ohne das Anlanden zu erwarten. »Ich kam im Amthause an, bald nachdem ihr abgefahren waret,« berichtete dieser; »die Dame vom Hause war so gütig, mir den nächsten Weg zu weisen, auf dem ich euch einholen könnte, und da bin ich!«

»Mein Freund Arwed Nordstern,« begann nun Otto trotz des Verbotes des Amtmanns die Vorstellung: »Meine Cousine Minna Reinfeld, Fräulein Mathilde Berg, Fräulein Emma Müller, Herr Oberamtmann« – »Fürst,« ergänzte dieser kurz angebunden. »Und nun, mein Lieber, du hast, wie ich sehe, die Gitarre bei dir, das soll unsern Gesang beleben, wir sind bald am Ziele.« – »Auf dem Meer bin ich geboren,« stimmten sie wieder an, und unter den wohlvertrauten Klängen flog, mit frischer Kraft gelenkt, das Schifflein der grünen Insel zu, die das Ziel der Fahrt war.

Die Herren legten an und halfen galant den Damen ans Ufer, der Oberamtmann stieg mit einiger Beschwerde selbst heraus; die Mundvorräte wurden ausgeladen, wobei Mathilde bemerkte, daß Eduard eine leere Flasche in die Fluten warf, die er und Otto heimlich hinter dem Rücken des Oberamtmanns ausgetrunken.

»Sahst du, wie widerwärtig er sich bei der Vorstellung benahm?« flüsterte Mathilde wieder zu Minna. »Er ist doch wahrhaftig nicht der große Mogul! Und jetzt hat er sich den [24] bequemsten Platz auf einem Baumstumpf ausgesucht, ohne ihn uns anzubieten; nein, so unkultiviert ist mir noch niemand vorgekommen.«

Minna hatte ganz andres zu denken als an den unkultivierten Oberamtmann: hatte sie doch heute zum erstenmal einen Dichter gesehen, einen rechten, lebendigen Dichter! Und dazu noch einen mit schönen schwarzen Augen und dunklen Haaren, die um eine edle bleiche Stirne flatterten:


Wie das Laub von Trauerweiden
Um die bleiche Marmortafel
Über den begrabnen Freuden.

[25] Und er ließ sich an ihrer Seite nieder und trank aus dem Glase, aus dem sie genippt, und sprach so wunderschön über den Zauber eines solchen Morgens, und auf Eduards Bitte erhob er sich und trug sein neuestes Gedicht vor, das Tränen in die jungen Augen trieb. Arwed war der Held der Stunde, und der Oberamtmann gänzlich vergessen, obwohl er nicht ganz ohne Wohlgefallen zu der malerischen Gruppe hinüberdampfte: die Mädchen, in ihren weiten hellfarbigen Gewändern auf den Rasen hingegossen, die jungen Leute mit den oft gehobenen Gläsern, und vollends Arweds malerische Gestalt mit der Gitarre.

Der Oberamtmann selbst saß auf einem Baumstumpf wie der österreichische Beobachter und wäre am Ende fast um Speise und Trank gekommen, die doch großenteils um seinetwillen waren mitgegeben worden, wenn nicht Wilhelm, der heute gar wenig Gehör bei seinem Bäschen fand, sich seiner angenommen hätte.

Man hatte geschmaust und beschloß nun, einzeln kleine Entdeckungsreisen auf der Insel zu machen und sich Blumen zu suchen. Minna und Mathilde gingen zusammen. »Nein, ich bitte dich, jetzt bleibt der Klotz sitzen,« begann die aufgebrachte Mathilde wieder, »und hast du nicht gesehen, wie er alles behielt, was man ihm gab, ohne an uns zu denken?« – »Nun, warum sollte er nicht?« – »Nein, ihr Landmädchen seid doch gar zu demütig und haltet nicht auf die Würde unsres Geschlechts!« – »Ach, die hängt nicht am Anbieten eines Tellers!« – »Die hängt an allem!« eiferte Mathilde immer heftiger, »gerade diese Kleinigkeiten sind es, die die Frau erheben oder allmählich unterdrücken. Ich glaube, du würdest wie Ottilie in den Wahlverwandtschaften den Herren aufheben, was ihnen zu Boden gefallen!« – »Warum nicht, wenn mir's gerade näher liegt als ihnen?« – »Nein, du hast viel zu wenig Haltung, ich wollte einmal einen solchen Pascha in die Kur nehmen!« – »So nimm!« – »Ja, ja, ich wollt' ihm die Meinung sagen, ich wollt' ihn lehren, galant zu sein!«

Da durchbrach Arwed das leichte Gebüsch: »Erlauben Sie [26] nicht, daß ich mich Ihrer Expedition anschließe? Ich glaube, daß wir dort in dem dichteren Gehölz die schönsten Blumen finden.« Wilhelm, der seither gutmütig eine einseitige Unterhaltung mit dem Oberamtmann geführt, kam eben mit einem Strauß schöner Anemonen; als er aber sein Bäschen bereits am Arm des jungen Dichters sah, trat er bescheiden zurück.

Mathilde wollte nach Emma sehen, und Minna, verlegen, mit dem interessanten Gast allein zu bleiben, lud den Vetter ein, mitzugehen. Da ging denn der gute Wilhelm voran auf den ungebahnten Pfaden, die das fröhliche junge Paar einschlug, bog die Zweige zurück und räumte die Dornen weg, die ihnen im Wege waren, und als er einmal zurückblickte und sah, mit welch strahlendem Ausdruck Minna ihr Gesicht in eifrigem Gespräch zu Nordstern erhob, da flog ein trauriges Lächeln über das seine.

»Der Herr Oberamtmann wollen abfahren!« schrie Eduard mit einer Löwenstimme über die Insel hin. Minna fuhr zusammen: »Ach, ich vergaß ganz ... und die gute Mutter daheim und Friederike, die sich so abmüht!« – »Oh, lassen Sie keinen Mißlaut den reinen Klang dieses Morgens stören!« bat Arwed, »das ist Sünde.« – »Aber wenn ich eine Pflicht versäume?« sagte schüchtern Minna. – »Pflicht!« rief Arwed. »Pflicht ist, unser Leben auszuleben, rein und schön und voll und ganz; die Stunde zu genießen, die Freude in uns zu saugen mit allen Fühlfäden unsres Wesens und uns die Prosa fernzuhalten; es gibt immer noch Erdwürmer genug, die mit Lust im Staube wühlen: der Adler fliege in die Lüfte, der Schmetterling schwebe über Blumen! Ist es auch Bestimmung der Rose, daß sie Öl aus sich pressen läßt?« – »Aber es ist Bestimmung des Blütenbaums, daß er Frucht bringt,« warf Wilhelm ein. – »Nun ja, dazu ist's Zeit, wenn die Blüte abgefallen ist!« rief Arwed, »indes:


Vivez, aimez, c'est la sagesse,
Hors le plaisir et la tendresse
Tout est mensonge et vanité!«

[27] Indes hatten sie das Ufer erreicht, wo das Schiff bereits wieder segelfertig war. Mathilde flüsterte Minna noch in höchster Empörung die neue Untat des Oberamtmanns zu, daß er sich nur ohne weiteres wieder ins Schiff gesetzt und dadurch das Zeichen zum Aufbruch gegeben habe, ohne sie, die Damen, nur im mindesten um ihre Meinung zu fragen.

Minna hatte nicht Zeit, ihre Entrüstung zu äußern; sie setzte sich, Arwed mit der Gitarre zu ihren Füßen. Der Oberamtmann wandte sich fragend an ihn: »Musikus?« – »Literat, mein Herr, und Studierender im Augenblick,« sagte Arwed, glühend rot, in aufbegehrendem Ton.

»Hab' nichts dagegen,« lautete des Oberamtmanns trockene Antwort, nach der er wieder in sein Schweigen versank und ziemlich starke Rauchwolken von sich blies.

Das Schiff ging nun stromabwärts leicht und leise, die Ruderer hatten es nur zu lenken und überließen sich behaglich hingestreckt der Ruhe; man sang noch: »Ein Schifflein ziehet leise,« dann verstummte allmählich der Gesang, die Schiffer schliefen ein, der Oberamtmann doste. Emma saß wieder ganz in sich vergnügt, Eduard hatte sie um ihr Sträußchen gebeten und hatte es jetzt ins Knopfloch gesteckt; darüber errötete sie nun einmal übers andre, so oft ihr's einfiel, und besann sich, ob sie auch recht getan, es ihm zu geben, und ob sie das auch daheim der Mutter sagen solle. Wilhelm blieb wach und lenkte das Schifflein, wo es drohte aus dem Geleis zu kommen; Minna vermied gern seinen Blick, der ihr heute so traurig vorkam, und vertiefte sich in eifrige Gespräche mit Arwed.

Plötzlich fuhr Mathilde, die indes still dagesessen, hastig auf und faßte den Oberamtmann beim Arm, mit dem Ruf: »Sie fallen ja ins Wasser!« Wirklich war er in seinem Schläfchen nahe daran gewesen, das Übergewicht zu bekommen und über Bord zu stürzen. Etwas ärgerlich richtete er sich auf, setzte sich wieder fester und brummte: »Dumme Anstalt!« Gegen Fräulein Mathilde aber lüftete er den Hut und sagte in einem Tone, den man ihm nicht zugetraut hätte: »Sehr verbunden.«

Das Land war erreicht, nur für die Minderzahl der Passagiere [28] zu früh; man stieg aus, und es ereignete sich dabei zu männiglichem Erstaunen, daß der Oberamtmann Mathilden die Hand bot, freilich, als sie eben ausgeglitten und beinahe gefallen wäre. Dann aber schritt er, unbekümmert um die Gesellschaft, dem Hause zu; Emma ließ es mit großer Verlegenheit geschehen, daß Eduard sie nach Hause begleitete, nur weil sie zu schüchtern war, es abzulehnen; Minna eilte, so schnell sie konnte, dem Hause zu und suchte durch doppelte Geschäftigkeit ihre lange Versäumnis gut zu machen, wobei sie von Friederike, die im vollsten Feuer stand, etwas schnöde zurückgewiesen wurde.

Der Waldgang

Das improvisierte Gastmahl machte der Frau Amtmännin und Friederike alle Ehre, auch die Unterhaltung war lebendig, und der neue Gast wurde mit der gemütlichen Höflichkeit des Hauses in den Kreis aufgenommen; nur der Amtmann brachte ihn dadurch etwas außer Fassung, daß er ihn beharrlich »Herr Haberstock« anredete und sich, da er in Welsburg bekannt war, in ausführliche Erörterungen über die Familie Haberstock und mehrere alte Haberstöcke mit ihm einließ.

Der Oberamtmann war nichts weniger als ein Polizeispion und froh, wenn man ihn außeramtlich mit Amtsgeschäften in Ruhe ließ; bei dieser Namensveränderung wandte er aber doch ein aufmerksames Ohr hinüber und fragte: »Haberstock?«

»Allerdings Herr Kameralis Studiosus Haberstock aus Welsburg,« stellte der Amtmann förmlich vor und fügte halblaut gegen den Oberamtmann entschuldigend bei: »Der Name Nordstern ist nur so eine Art von Cerevisname oder Unnamen, wie sich die jungen Leute als zum Spaß geben.« – »Hab' nichts dagegen,« sagte der Oberamtmann; selbst Minna nahm den Namenwechsel nicht zu hoch auf, ihr war er ein Nordstern und ein Südstern, ein Morgen- und Abendstern geworden, ein Stern, der allenthalben an ihrem Himmel stand.

Die Tafel war aufgehoben, der Kaffee unter der Linde getrunken, der Oberamtmann hatte auf dem Sofa der Visitenstube [29] ein ruhigeres Schläfchen gemacht als auf dem trügerischen Element und sich dann mit dem Amtmann aufs Rathaus begeben. Die Jugend trat den Waldspaziergang an, zu dem sich diesmal auf eifriges Zureden der Mutter auch Friederike bewegen ließ, nicht ohne ein umfangreiches Strickzeug, leinene Socken mit zweierlei Garn, in die Tasche zu stecken.


»Zum Wald, zum Wald! da steht mein Sinn –«


wurde nun angestimmt, und die grüne Dämmerung, mit ihren lockenden Pfaden, mit ihrem Wehen und Rauschen, mit den fernen blauen Bergen, die sich zwischen die hohen Eichen stehlen, mit all ihrem vielbesprochenen und vielbesungenen und doch so unergründlichen Zauber, nahm sie auf.

Sie suchten die letzten Maiblumen und die ersten Erdbeeren; sie banden Kränze von jungem Eichenlaub und entdeckten heimliche und unheimliche Plätzchen und Verstecke; nur die arme Mathilde ließ heute das Gefühl der beleidigten Würde ihres Geschlechtes nicht zum reinen Genuß der Gegenwart kommen. »Nun bitte ich dich, wie war's denn möglich; nach einem solchen Dejeuner noch so zu essen wie dieser Oberamtmann, und immer wieder zuerst genommen!« – »Aber so gönne ihm doch, wenn's ihm schmeckt!«

»Nein, und die Umstände, die ihr mit ihm macht! Ein Oberamtmann ist ja gar nichts so Großes! Mein Vater war doch Medizinalrat, das ist immerhin noch mehr, und es ist uns noch nie eingefallen, darauf Ansprüche zu begründen.« – »Ich weiß aber wirklich nicht, was du auf den armen Oberamtmann hast; er ist ein harmloser Mann und guter Beamter, und du hast ihm dazu noch heute das Leben gerettet! Und als du diesen Mittag den Tisch verlassen, sah er dir noch nach und sagte zu der Mutter: ›Artiges Frauenzimmer!‹ das ist vom Oberamtmann schon unerhört.« – »In der Tat, ihr seid doch recht bescheiden!« sagte Mathilde mit einigem Erröten. »Nun freilich, was das Essen betrifft, so hat der Nordstern für einen Dichter auch einen recht gesunden Appetit gezeigt.«

[30] »Das habe ich nicht bemerkt, bin auch nicht gewöhnt, unsern Gästen die Bissen in den Mund zu zählen,« sagte Minna höchlich pikiert. – »Nun, nun, Minchen, sei zufrieden! Wir wollen darüber nicht unsern ersten Streit bekommen; schau, da geht dein Nordstern auf!«

Während Minna und Arwed sich Kränze von Eichenlaub flochten, saß Friederike auf einer Steinbank und strickte so eifrig, als bedürfte heute noch jemand besagter leinenen Socken, um seine Heimat zu erreichen. Der gute Wilhelm leistete ihr Gesellschaft. »Hättest du denn nicht Lust, Rikchen, auch ein wenig tiefer in den Wald zu gehen?« fragte er sie. »Ach nein, es kommt mir unnötig vor, wir sind ja durch den Wald heraufgekommen, und hier ist mir's schön genug.«

»Gewiß, aber vielleicht finden wir noch einige Maiblumen.« – »Oh, [31] man wird von den Bettelkindern so mit Sträußen überlaufen, ich wüßte nicht wohin mit neuen!«

»Sieh, wie hübsch!« rief Wilhelm, als Arwed und Minna mit Eichenlaubkränzen den grünen Pfad herabkamen; auch Emma erschien hoch errötet mit einem Kranz um ihren Strohhut, und Eduard trug nach Jägerart einen Zweig an der Mütze; Mathilde hatte mit Otto ein notgedrungenes Bündnis geschlossen und sarkastische Bemerkungen über die anwesenden Paare und den abwesenden Oberamtmann ausgetauscht; auch sie hatte einen Kranz um ihre blonden Haare nicht verschmäht. »Nun müssen wir uns doch auch bekränzen,« meinte Wilhelm, eifrig Eichenlaub pflückend. – »Ich danke, um den Kopf tue ich keinen Kranz,« sagte Friederike trocken, »die Leute halten uns ja für Narren, wenn wir so heimgehen.«

»Immerhin!« rief Arwed, »eine Stunde glücklicher Narrheit ist ein ganzes, langes, vernünftiges Leben wert!«

Friederike ließ sich denn doch noch bewegen, ein Sträußchen anzustecken, packte dann eifrigst ihr Strickzeug zusammen und erklärte, sie müsse heim, die andern könnten tun, was sie wollten.

Die Paare setzten sich in Bewegung; die Gitarre hatte Arwed daheim gelassen, deklamierte aber dafür ein Waldlied, eigene Dichtung, mit dem Kehrreim:


»O du grüne Nacht, du heimliche Nacht,
O du süße, du herrliche Waldespracht!
Ich trage mein tiefes, unendliches Leid
In deine stillheilige Einsamkeit.«

Mathilde, die heute recht bösartig sein konnte, unterbrach ihn nach einer Strophe: »Aber, Herr Nordstern, worin besteht denn eigentlich Ihr tiefes Leid? Sie haben uns ja erst diesen Morgen gesungen:


Die Erd' ist eine Schale
Von grünem Edelstein,
Draus schlürf' ich froh das Leben,
Den glüh'nden Feuerwein!«

[32] Ein zorniger Blick traf sie, dessen man Minnas sanfte Augen nicht fähig gehalten hätte; Arwed aber ließ sich nicht niederschlagen und erwiderte der Spötterin aus dem Stegreif:


»Was ist des Dichters Freude?
Nur eine schimmernde Träne.
Was ist des Dichters Leide?
Ach, nur ein seliges Sehnen.«

»Hat einen Buchstaben zu viel,« flüsterte die boshafte Mathilde, der Minna beinahe die Freundschaft aufgekündet hätte.

Man näherte sich indes dem Amthause. Die Bauern, die dem kleinen Zuge begegneten, sahen etwas verwundert auf die bekränzten Paare; ein kleines Mädchen fragte zu Minnas tiefem Erröten: »Mutter, ist dehs a Hauzig?« 1 Weshalb Friederike darauf bestand, daß sie die Kränze ablegen müßten. Vergeblich! Otto raubte ihr das Strickzeug, spießte es auf seinen Stock und trug es im Triumphe voran, als Zeichen, wie er sagte, daß auch solide Leute nachkommen. Beleidigt darüber, machte sie sich trotz alles Widerstands von der Gesellschaft los und stand bereits Kotelette klopfend in der Küche, als die andern singend zum Hause einzogen; nur der gutmütige Wilhelm war ihr nachgeeilt und hatte ihr das Strickzeug ausgeliefert.

Der Hausball war natürlich unstatthaft, und der inhaltreiche Tag endete mit einem Souper en famille ohne weiteres Ereignis, als daß der Oberamtmann Mathilden eine Platte mit Waffeln angeboten, notabene, nachdem er sich selbst zuvor genommen hatte, und daß er einigemal, namentlich mit Wilhelm, etliche Worte mehr gesprochen hatte, als seine gewöhnliche Redensart: »Hab' nichts dagegen.«

Das Ständchen

Es war schon ziemlich spät in der Nacht. Minna war darauf bestanden, Friederike in der Küche zu helfen, bis sie beide zusammen zu Bette gehen konnten. Friederike war mit der [33] Mahnung: »Lösch gleich das Licht!« alsbald in gesunden Schlaf gesunken, Minna aber war noch so wach! Sie öffnete das Fenster und sah in die helle Mondnacht hinaus – da legte sich leise Mathildens Hand auf ihre Schulter, die aus ihrem Stübchen daneben herübergekommen war. »Bist du böse, Minchen?« fragte sie gutmütig. – »Ich? O nein, warum denn?« – »Nun, weil ich deinen Nordstern so angegriffen.« – »Ach, gewiß nicht, aber es tat mir doch weh, daß du ...« in Minnas Augen glänzten Tränen. – »Aber Kind, Kind!« sagte Mathilde, lächelnd mit dem Finger drohend, »du wirst doch nicht so töricht sein und auf einem Regenbogen deinen Weg durchs Leben machen wollen!«

»O geh,« sagte Minna, jetzt in Tränen ausbrechend, »wer denkt denn an so etwas! Er ist mir ja fremd und ganz, ganz gleichgültig – aber es tut mir nur weh, daß auch du das Schöne und Ideale herabziehen willst ...« – »Ganz, ganz gleichgültig, Minchen?« fragte Mathilde.

Minna konnte nicht antworten; drunten aus der nächtlichen Stille tönte der leise Klang einer Gitarre, eine schöne männliche Stimme begann in etwas gedämpftem Ton zu singen:


»O gib vom weichen Pfühle
Träumend ein halb Gehör!
Bei meinem Saitenspiele
Schlafe! Was willst du mehr!«

Beim ersten Klang waren die Mädchen unwillkürlich ans Fenster geeilt, da lehnte im Schatten eine schlanke, edle Gestalt mit der Gitarre im Arm. Minna zog sich leise zurück, sie kniete nieder an dem Stuhl am Fenster, um nicht gesehen zu werden, und barg ihr Gesicht in die Hände; aber Mathilde konnte sehen, wie ihre Brust sich hob und senkte in heftiger Bewegung, wie sie die glänzenden Augen hie und da erhob, um besser zu lauschen; es war ja das erste Mal!


»Bei meinem Saitenspiele
Segnet der Sterne Heer ...«

[34] begann der Sänger wieder. Da streckte ein Stockwerk weiter unten der Herr Amtmann seinen Kopf in der weißen Nachtmütze aus dem Fenster: »Darf keine Musik da drunten gemacht werden! Schickt sich nicht.«

Plötzlich erstarb der Ton, und man hörte nur das leise Geräusch eines sachte Abziehenden. Mathilde lachte herzlich über die Unterbrechung, Minna erhob langsam ihr glühendes Gesicht und sagte leise: »Aber du solltest nicht lachen, du mußt dich morgen entschuldigen.« – »Ich! warum?« – »Nun, es [35] hat doch dir gegolten,« sagte Minna noch verlegener. – »Mir! O du dummes Kind, wie magst du so lügen, und weißt doch so gewiß, wem es galt! Steck immerhin den Kopf in den Busch, man sieht dich doch!« – »Ach nein, aber es wäre mir doch gar zu unangenehm, wenn es ja sonst jemand gehört hätte! Und der Papa! Meinst du, Arwed habe es wohl übelgenommen?« – »Ach nein, deinen Vater kennt ja jedermann.« – »Vielleicht hat er auch nur zufällig da unten noch gesungen,« meinte Minna. – »Ganz zufällig,« lachte Mathilde und küßte ihre heißen Wangen: »Gute Nacht, Minchen!


Schlummre süß,
Träume dir ein Paradies!«

Mathilde hatte ihr Licht schon gelöscht und war am Einschlafen, da flüsterte ihr noch eine leise, leise Stimme ins Ohr: »Meinst du, es habe mir gegolten?«, und sie fühlte Tränen an ihrer Wange; aber ehe sie sich aufrichten konnte, war Minna hinübergeschlüpft, um schlummerlos seligere Träume zu träumen, als der süßeste Schlaf bringen kann.

So schloß ein Tag, – ein sonnenheller Tag. Wie manchen Baum sehen wir in voller Blüte! Der Herbst muß zeigen, ob die Blüte eine gesunde war.

Nach drei Jahren

Mathilde an Minna


Liebste Minna!

Ihr habt immer behauptet, ich komme nie in Verlegenheit, und Ihr habt mir damit sehr unrecht getan, denn gerade jetzt bin ich in der allergrößten Verlegenheit, wie ich Dir eine Neuigkeit mitteilen soll, die Du doch erfahren mußt. Nun, ich sehe aber auch gar nicht ein, warum mich's verlegen machen soll, habe ich doch auch ein Recht, zu tun, was ich will, so gut wie andre Leute. Also, jetzt sag' ich's gerade heraus, und Du brauchst Dich gar nicht zu wundern, hörst Du's! Seit gestern abend bin ich Braut mit dem Regierungsrat Fürst, nun ja, [36] mit Eurem Herrn Oberamtmann vor drei Jahren. So, jetzt weißt Du's, und am Ende überrascht Dich's nicht einmal.

Wie es eigentlich gekommen, das ist schwer zu sagen, ich weiß es selbst nicht so recht. Du weißt ja, daß er als Regierungsrat hierher befördert wurde und daß der Zufall es fügte, daß er sich in demselben Hause einmietete, wo wir wohnten. Er wußte natürlich nichts davon; als ich ihm aber einige Tage nach seiner Ankunft im Hausgange begegnete, erkannte er mich zu meiner Verwunderung und sagte mit einer kurzen Verbeugung: »Fräulein Berg? Schon mal das Vergnügen ...« Du weißt, das ist schon viel von ihm.

Er machte der Mutter einen Anstandsbesuch, und da er sehr solid lebt und viel zu Hause ist, so kam er noch manches Mal, meist nach Tisch zum Kaffee. Du weißt, er spricht nie viel, und ich kann nicht ertragen, wenn nichts gesprochen wird; so habe ich denn vielleicht manchmal unnötig viel geredet. Das erste Mal rauchte er nicht bei uns, sah aber so unbehaglich aus, daß ich das nächste Mal fast froh war, als er seine Pfeife herauszog und die Mutter fragte: »Geniert's nicht?« Es war zwar unartig, daß er mich nicht auch gefragt, aber, was wollt' ich machen! Es freute mich doch zu sehen, wie es ihm nun behaglich wurde, und man sagt mir, daß der Tabakrauch gut für meine Blumenstöcke sei.

Nun, daß ich's kurz mache, wie ich einmal heimkam, sagte mir die Mutter, daß der Regierungsrat bei ihr um mich geworben (ich wäre gar zu gern dabei gewesen, da muß er doch mehr als drei Worte gesprochen haben!), und morgen wolle er kommen und meine Antwort holen. Ich fiel wie aus den Wolken. Die Mutter wünschte, daß ich Ja sage, denn er ist sehr geschickt (und auch gescheit und gebildet, ich versichere Dich, obgleich er so wenig spricht), aber sie ließ mir ganz freie Wahl. Nun, zuerst wollt' ich gar nicht, dann wollt' ich mich besinnen, aber lange, recht lange; das Warten würde ihm gar nichts schaden. Dann beschloß ich endlich, ihn doch am nächsten Tage kommen zu lassen; aber nur, um ihm all meine Bedenken wegen seiner Schweigsamkeit, seines Mangels an chevalereskem [37] Benehmen, überhaupt meinen Zweifel, ob er echte, wahre Liebe für mich empfinde, auseinanderzusetzen; das Jawort, wenn ich mich je dazu entschlösse, wollt' ich ihm noch recht sauer machen!

Wie er nun am nächsten Tage die Treppe heraufkam, versteckte ich mich und war erst auf Zureden der Mutter zu bewegen, hineinzugehen. Da saß er mit der Pfeife, die legte er aber beiseite, das war schon viel von ihm, nicht wahr? Ich erwartete mit klopfendem Herzen, er werde nun seine Werbung bei mir selbst anbringen, und ich gestehe, ich war recht begierig, wie er das machen würde. Er aber sprach kein Wort, er sah mich nur an, als ob er von mir eine Erklärung erwarte, und als ich schwieg, fragte er endlich: »Mutter gesprochen?« Nun konnte ich's doch nicht ignorieren; ich sagte also, daß ich durch die Mutter von seinem ehrenvollen Antrag wisse, daß ich aber fürchte, unsere Naturen stimmen nicht zusammen ... »Gerade,« warf er ein. – Daß ich fürchte, es sei nicht tiefe, innige Liebe, die ihn zu mir führe ... – »Was sonst?« fragte er. Das machte mich etwas verlegen – und daß ich fürchte, er verstehe und achte die tieferen Herzensbedürfnisse, die zarteren Rechte und Ansprüche meines Geschlechtes nicht genug ... ich verwickelte mich wirklich ein wenig; es brachte mich so aus der Fassung, daß er auch kein einziges Wort erwiderte. Als ich still blieb, stand er langsam auf und fragte: »Also nein?« Ich versichere Dich, Minna, er sah dabei recht traurig aus; da dauerte er mich doch, und ich sagte etwas vorschnell in meinem Mitleid: »Nun, das nicht gerade.« – »Ja?« fragte er und bot mir die Hand hin. Nun, verachte mich nicht, Minchen, ich gab ihm die meinige, und ehe ich wußte wie, stand ich als seine Braut vor der Mutter. Es ärgert mich jetzt noch, daß ich's ihm nicht ein bißchen schwerer gemacht, und daß er mich eigentlich erschwiegen hat, nicht errungen; aber ich kann nichts mehr ändern, es ist geschehen, und ich versichere Dich, er fühlt sich sehr glücklich, wenn man's ihm auch kaum anmerkt. Ich fürchte, daß ich ihn noch ein wenig verwöhne, aber das gibt sich mit der Zeit; als Braut muß man doch sachte tun mit Reformen. Die Pfeife bin ich nun schon gewöhnt, ich kann mir Ludwig gar nicht mehr [38] ohne sie denken. Denke, er spricht schon von Hochzeit; rüste nur den Brautjungfernstaat.

Deine Herzensangelegenheit, meine arme, liebe Minna, habe ich nicht vergessen. Ludwig muß mir versprechen, für Deinen Arwed ein kleines Amt aufzufinden, das er ohne das leidige Examen erlangen kann, da Dein Vater nun eben darauf besteht, Deine Zukunft auf festeren Boden als die Schwingen eines Pegasus zu gründen. Ludwig, der sich's selbst mit seinen Studien sauer werden ließ, denkt zwar etwas streng und reell, und ich weiß noch nicht, wie ich's ihm beibringe, aber ich sorge gewiß dafür. Da ich nun einmal meine goldne Freiheit verscherzt, kann ich nichts Besseres tun, als mich in der Gefangenschaft glücklich fühlen, und dann darfst Du, meine Liebe, auch nicht unglücklich sein.

Und nun lebe wohl, beklage mich nicht zu sehr; ich schicke mich außerordentlich in mein Los; um nicht zu viel auf einmal zu sagen, unterschreibe ich mich inzwischen

Deine zufriedene Mathilde.


Noch eins! Bitte Friederike, mir eine Sammlung erprobter Kochrezepte, hauptsächlich zur Bereitung von Braten und Ragouts zu schicken. Ludwig ißt alle Sonntag abend mit uns, da möcht' ich doch einige Abwechslung in unser gewöhnlich so einfaches Souper bringen.

[39]

Fünf Jahre später

Minna an Mathilde


Endlich am Ziele! Endlich darf ich Dich, wenn auch nicht mehr als Brautjungfer, so doch als ehrbare Brautfrau, als meine liebe teilnehmende Gefährtin zu meiner Hochzeit einladen. Wir wollen sie am zwölften Juni feiern, acht Jahre nach jenem sonnigen Tage, wo wir uns zum erstenmal gesehen. Acht Jahre! Ach, sie dünken mir nicht lauter einzelne Tage, wie dem Erzvater Jakob seine sieben, es sind lange, schwere Jahre darunter.

Ich bin so müde von dem sauren Wege, den wir zu durchlaufen hatten, daß ich mich noch nicht recht des Zieles freuen kann, und ich muß mir die schönen ersten Zeiten recht lebendig zurückrufen, um meines Glückes wieder froh zu werden. Jene Wasserfahrt, weißt Du's, Liebe, und das erste Ständchen? Oh, es kamen noch schöne Stunden nach diesen: Im Walde, im Garten, selige Überraschungen, wo er oft rasch angesprengt kam auf seinem schäumenden Roß; wo er mich suchte auf meinen lieben einsamen Gängen, und wo in der Laube zum erstenmal unsre Herzen Worte fanden. – Du weißt ja längst schon alles. Es war so einzig schön bis zu dem Augenblick, wo ich mich dem Vater entdeckte und dieser von Arwed ernste Rechenschaft forderte, worauf er die Zukunft seines Kindes gründen wolle. Ach, wir hatten so glückselig im Augenblick gelebt, und Sorge für die Zukunft ist so gar nicht unsre Sache!

Und dann kamen die langen, trüben Zeiten, der schmerzliche Kampf zwischen Liebe und Pflicht. Oh, es ist ein schweres Gefühl, zu lieben ohne Elternsegen, das erste Leid, den ersten Zwiespalt in eine bis dahin so friedliche und frohe Heimat zu bringen! Und wie peinlich war mir wieder die Sorge, mit diesen Forderungen an eine solide Existenz ein Bleigewicht an Arweds hochstrebende Talente zu hängen, so oft mich auch der Vater versicherte: Wenn etwas Rechtes in ihm ist, so muß es herauskommen dir zuliebe. Dann der Zweifel an dem Geliebten [40] selbst, an dem Ernst seiner Liebe, die geheime Furcht, mit der ich seine Worte, seine Blicke beobachtete, ob sich kein leiser Überdruß darin zeige! O Mathilde, Arwed muß mir unendlich viel Liebe und Treue erweisen, er muß mich auf den Händen tragen durchs Leben, um mir alles zu vergüten, was ich für ihn gelitten!

Vor zwei Jahren, am Sterbebett der Mutter, bot ich den Eltern an, meiner Liebe zu entsagen; die gute, ach, die zu gute Mutter nahm mein Opfer nicht an. »Du sollst nicht in der Bewegung des Augenblicks deine Wünsche hingeben,« sagte sie; »bitte Arwed, daß er dir Vater und Mutter sein soll, und versprich du mir, daß du glücklich mit ihm sein willst; meinen Segen sollst du haben, liebes Kind, von hier und von dort.« Die gute Mutter! – Kann man auch versprechen, daß man glücklich sein wolle?

Doch warum mich quälen mit dem, was nun vorüber ist? Wir sind ja im Hafen, und wir werden so glücklich sein! Gewiß, gewiß, Arwed wird mir alles, alles ersetzen! Eine selige Stunde für jede Träne hat er mir verheißen. Es ist ein bescheidenes Los, das uns gefallen, aber:


»Ein Herz nur, ach, und eine Hütte!«


mehr haben wir ja nie gewünscht. Die Bedienstung, um die sich Arwed mir zuliebe bemühte und die uns die Güte Deines Mannes verschafft, reicht gewiß für alles Nötige, und einmal bahnt sich Arweds Talent sicher noch den Weg; hat er doch die Herausgabe seiner Gedichte erlangt, wenn auch zunächst noch mit Opfern; und eine Rezension von seinem Freunde Woldemar ist recht günstig. Er dichtet, Dir im Vertrauen gesagt, an einem großen Epos: Otto der Ruhmlose; das muß unser Glück begründen, wenn es vollendet ist.

Wir haben eine allerliebste Wohnung in einem Garten gemietet, etwas teuer und entlegen; aber die Heimat muß uns ja alles sein, darum richte ich mich auch in der Einrichtung ganz nach Arweds Wünschen. Eine schöne, harmonische Umgebung ist für einen Dichter Bedürfnis, daran kann ich nicht [41] sparen, nachher wollen wir denn schon recht einfach leben. Eine kleine Reise wollen wir uns auch nicht versagen; ich bin so lange nur in Gedanken gereist, und Arwed möchte mir gerne die schönen Stellen zeigen, wo er zuerst erfaßt wurde vom Hauch der Poesie. Nur wenige Wochen in die Schweiz, ehe wir uns einspinnen in unsre Hütte und Arwed auf die Kanzlei muß; – trostloser Gedanke!

Wilhelm, dem guten Vetter Wilhelm, haben wir zunächst für des Vaters Nachgiebigkeit zu danken. Es ist ein treues Herz, so oft wir auch über seine Philisterhaftigkeit gelacht haben. Es hätte ihn nur ein Wort von seiner Liebe, die ich so wohl erraten, bei dem Vater gekostet, so hätte es mir schlimmes Spiel gemacht, denn des Vaters Wünsche waren unschwer zu erraten; aber die gute Seele hätte lieber dem Vater weisgemacht, er verabscheue mich, nur um mir nichts zu erschweren. Ich glaube, er ist aus purer Güte noch imstande und wirbt um Friederike, die, soweit ihr Herz nicht im Küchendampf aufgegangen ist, ein sichtliches Interesse an ihm nimmt.

Was diese mir in den letzten Jahren mit ihrem nüchternen Gutachten, ihrer Geringschätzung Arweds zuleide getan hat, das vergütet sie jetzt durch ihre umsichtige Sorge für Aussteuer, Hochzeit und dergleichen, wiewohl es lauter Wettrennen mit Hindernissen sind.

Also komm gewiß, wenn es Dein gestrenger Herr erlaubt; ihn selbst einzuladen, hätte ich nicht den Mut, da unsre Hochzeit nicht zu den Weltereignissen gehört, die ihn bewegen könnten, einen Tag Urlaub zu nehmen.

Komm, meine Liebe, und bringe mir die Erinnerung der alten Tage mit und mein junges, hoffnungsreiches Herz! Oh, zweifle nicht, daß ich mich glücklich, überglücklich fühle! Aber Liebste, wenn ich nimmer leben sollte, bis Deine Lina erwachsen ist, so sag ihr als Vermächtnis ihrer Pate, sie solle nie, nie ein Glück erzwingen wollen gegen der Eltern Willen. Lebe wohl, zum letztenmal

Deine Minna Reinfeld.

[42] Friederike an Eduard

Lieber Eduard!

Obgleich Du ja bald zu Minens Hochzeit hierher kommst, so meint der Vater doch, ich solle Dir vorher noch mitteilen, daß ich seit gestern mit unserm Vetter Wilhelm, der, wie Du weißt, Pfarrer in Wallburg ist, versprochen bin. Ich bin recht glücklich, einen so rechtschaffenen Mann zu bekommen, auch der Vater ist sehr vergnügt darüber. Die nahe Verwandtschaft hat uns einiges Bedenken gemacht, aber Du weißt, daß Wilhelms Mutter ja nur eine Halbschwester von unserm Vater war. Auch ist in Wallburg Wassermangel, was ich gar nicht leicht nehme; aber Wilhelm meint, man werde einen Brunnen im Pfarrhof graben können; ich denke, die Kosten übernimmt die Herrschaft.

Mit der Hochzeit eilt es natürlich nicht, ich sehe noch gar nicht hinaus, wie wir mit den Sachen der Mine fertig werden, da alles auf mir allein liegt. Du könntest vielleicht einen Kalbsschlegel zur Hochzeit bestellen, ein Schwein schlachten wir selbst.

Mine ist für gar nichts, ich weiß nicht, was die für eine Hausfrau geben soll; sie schreibt die schönsten Briefe in einer Stube so voll Grust, daß ein Reiter samt dem Pferd darin verloren gehen könnte; ich muß allein für alles sorgen.

Nun behüte Dich Gott; Wilhelm grüßt Dich recht schön als seinen neuen Schwager; schicke Deine Waschkiste nimmer vor der Hochzeit, ich halte die große Wäsche nachher.

Wir grüßen Dich alle.

Deine treue Schwester Friederike.


N. S.

Die verwitwete Frau Pfarrer Müllerin kann dem Vater die Haushaltung führen, wenn ich nimmer daheim bin.

[43]

Am Mittag

Wenn der letzten Sterne bleicher Schimmer
Deiner Jugend schwindend Bild erhellt,
Blickst du schmerzlich scheidend auf die Trümmer
Deiner schönen, früh zerstörten Welt:
Ach, wo seid ihr, lieb gewordne Träume?
Klagend schallt der Ruf in öde Räume.
Andre Pflichten gibt es als beklagen,
Wie die Rose deines Glücks verblüht;
Weißt du nicht, daß nach den Rosentagen
Erst der segensreiche Herbst erglüht?
Nicht die Blüt', die Frucht ist Ziel des Lebens,
Dahin alle Kräfte deines Strebens!

Nach Feuchtersleben.

Eine Rundreise

Abermals sind acht Jahre vergangen seit der Zeit, wo diese Briefe geschrieben wurden, und wir werfen zuerst einen Blick in das Pfarrhaus zu Wallburg, wo Wilhelm, der Pfarrer, eben im Begriff ist, eine kleine Reise anzutreten. Sein gutes, treuherziges Gesicht hat sich wenig verändert in der langen Zeit seit jener Wasserfahrt, es ist noch so gut hineinzusehen wie damals, und einen ernsten Ausdruck hat es immer gehabt.

Wilhelm ist reisefertig und schreitet mit verhaltener Ungeduld in der Stube auf und ab; endlich ruft er in die Küche: »Aber liebes Kind, bekomme ich den Kaffee nimmer? Du weißt, ich möchte gern noch in der Kühle fortkommen.«

Frau Friederike erschien in einem reinlichen, wenn auch durchaus nicht kleidsamen Morgenhabit. »Du mußt in der Tat noch warten,« sagte sie in etwas ärgerlichem Ton, »so ist's, wenn man nicht nach allem selbst sieht; da hat das dumme Ding, die Röse, gestern den Kaffeesatz nicht abgekocht, nun muß ich das zuvor tun, ehe ich den Kaffee machen kann.«

[44] »Aber hättest du denn nicht dies eine Mal reines Wasser nehmen können und etwas mehr Kaffee?« – »Ach, das verstehst du nicht. Ordnung muß sein, und man braucht, weiß Gott, Kaffee genug das ganze Jahr, seit auch die Wäscherinnen noch Mittagskaffee verlangen; das ginge mir ab, noch puren Kaffee zu kochen, warum nicht gar auch ohne Zichorie!«

Wilhelm faßte sich in Geduld und begann wieder: »Hör, Liebe, ich weiß nicht, wie ich Minna antreffe, ihren Briefen nach ist sie oft leidend; ich glaube, ein Landaufenthalt würde ihr gewiß gut tun; ich denke, ich lade sie auf einige Wochen ein.«

»Oh, wo denkst du hin? Das wäre jetzt sehr ungeschickt.« – »Es ist deine einzige Schwester,« sagte Wilhelm mit verstärkter Stimme, »der wir eine Erholung bieten können und die in acht Jahren ein einzig Mal bei uns war; sollte unser Haus keinen Raum mehr für sie haben?« – »Nun, so mach doch nicht gleich so einen Lärm! Sie kann ja meinetwegen wohl kommen. Solang' du fort bist, lasse ich das Haus putzen, dann will ich Lichter ziehen und Seife machen und danach die große Wäsche halten; dann muß ich das große Geschäft mit den Betten vornehmen – nach dem, nun ja, da könnte sie kommen. Es kommt dann freilich ganz ungeschickt in die Ernte, und lieber wäre mir's, sie käme ohne Kinder; denn du wirst sehen, die sind imstande und steigen mit den Füßen auf das Sofa!« – »Nun, wir wollen's wagen,« lächelte Wilhelm, »eine so gute Hausfrau wie du findet immer Mittel und Wege.« – »Ja, es ist wahr,« sagte Friederike geschmeichelt, »ich habe darin schon etwas geleistet, wenn ich nur an den Unfug mit Gästen denke, früher bei uns daheim; kein Wunder, daß sich mit der Mutter Tod die große Einbuße herausstellte.« – »Es sind viele Herzen froh geworden bei dem Unfug,« sagte Wilhelm mit weichem Ton, »und der Segen Gottes über einem gastlichen Hause besteht nicht in Geld allein.« – »Ja, aber ohne die unnötige Gastlichkeit hätte Mine nicht die dumme Heirat gemacht,« warf Friederike ein. Darauf wußte Wilhelm nichts zu erwidern.

Bis die Frau nach dem verspäteten Kaffee sah, ging er in die Kinderstube hinüber; die zwei Kleinsten lagen noch im [45] Schlaf, er erquickte sein Herz an den köstlichen Bildern. Das älteste Töchterchen, nach der Großmutter Dorothee genannt, war schon auf und streckte ihm die Ärmchen entgegen: »Bist du doch noch da, Vater? Ich hatte so Angst, du gehest ohne Abschied!« – »Nein, mein Herzchen,« sagte er und drückte das Köpfchen an sich und sah ihr in die tiefen blauen Augen, »zieh dich nur an, mein Kind, du darfst mich begleiten.« Während sie eilig sich wusch, sah er sich um im Zimmer; da war alles in guter Ordnung, die Betten der Kinder so rein, die Kleidchen hübsch beisammen. »Ein gutes Weib ist sie doch,« dachte er, wieder versöhnt, »und deine Seele soll nicht darben,« fügte er in Gedanken hinzu, wenn er seines Kindes Augen begegnete, das nun eilig sein Kleidchen überwarf und ihm hinüberfolgte.

»Aber wie unnötig, Dorchen, daß du schon auf bist,« schalt die Mutter, »ich kann dich unmöglich jetzt flechten, warum bleibst du doch nicht drüben?« – »Laß diesmal gut sein, Mutter,« bat Wilhelm, »begleite du mich ein Stück Wegs mit den Kindern!« – »Begleiten, ich, was fällt dir ein! Ich weiß ja gar nicht wo anfangen vor Geschäft, ich noch spazieren gehen! Und Dorle kann auch nicht, sie macht ihr Kleid abscheulich in dem nassen Grase.«

»Auch begleiten!« schrie der kleine Karl und sprang halbgekleidet herüber. »Um Gottes willen!« rief die Mutter, [46] »springt der Bube strümpfig herüber! Zerreißt ihr mir nicht ohne das schon Strümpfe genug? Gleich wieder ins Bett!«

Mit Mühe erkämpfte der Vater die Erlaubnis zur Begleitung für die Kleinen. Während er seinen Kaffee trank, von dem für das kleine Volk reichliche Bissen abfielen, zählte die Frau noch unendliche Schwierigkeiten auf, die sich vor seine beabsichtigte Reise türmten. »Wie's geht mit Kasualien, das weiß ich gar nicht. Der Vikar von Seeberg kann höchstens die Predigt übernehmen, mit dem Braunberger ist's gar nichts. Und die alte Sailerin und des Schneiders Ähne sollen beide ganz elend sein, die sind imstand und sterben gerade, solang' du fort bist! Du könntest noch ihre Lebensläufe schreiben und mir dalassen, damit kommt ein Fremder doch nicht zustande.« – »Gar zu fürsorglich,« sagte lächelnd Wilhelm, indem er seine Reisetasche überwarf und die bedenkliche Frau herzlich umarmte; »wir wollen die Leute doch nicht begraben, ehe sie gestorben sind. Behüt' dich Gott, liebes Weib! Das Haus gut zu hüten, darf ich dich nicht erst bitten, schaff dich nicht so ab, daß du mir hübsch gesund bleibst!« – »Ja, du hast gut reden,« sagte sie, indem etwas wie Bewegung durch den nüchternen, trockenen Ausdruck ihres Gesichtes ging. »Komm gesund wieder, aber nicht gar zu bald! Vor Mittwoch bin ich nicht fertig mit Putzen; und gib mir nicht so viel unnötiges Geld aus und laß nirgends schwarze Wäsche zurück. Vier Paar Socken hast du bei dir und zwei reine Hemden, außer denen auf dem Leib, und drei Sacktücher.« – »Und herzliche Grüße an die Deinigen, nicht wahr?«

»Natürlich, das versteht sich von selbst. Bring mir aber keine Gäste mit, ehe ich's vorher weiß!«

Noch ein guter, herzlicher Ehemannskuß, und Wilhelm zog seiner Wege, froh und recht erstaunt, daß er doch endlich in der Tat fortgekommen war. Die Kinder trippelten fröhlich nebenher, Dorchen hatte das Brüderchen angekleidet. Sie wollten ganz bei Papa bleiben, und es brauchte lange Unterhandlungen und vielfache Zugeständnisse und Versprechungen, bis sie sich bewegen ließen, umzukehren. Karl ließ sich mit einem [47] Endchen von der Wurst bestechen, die der Vater als Reiseproviant bei sich hatte; die kleine Dorothee aber, ein gar weichherziges Kind, hing in Tränen zerflossen an seinem Halse, und er sah sie noch, als er sich umwandte, schluchzend an dem grünen Rain sitzen, wo er die Kinder verlassen, bis sie sich endlich erhob und sorgsam ihre und Karls Kleidchen abstäubte, die vom Sitzen etwas schmutzig geworden. »Sie hat der Mutter Pünktlichkeit, und ein warmes, weiches, offenes Herz dabei,« sagte sich der Vater mit stiller Freude.

Und wie er so weiter schritt in der tauigen Frische und die duftige Ferne vor ihm lag, da erschien ihm auch die Heimat, von der er geschieden, in rosigerem Licht, und der leichte Morgenwind nahm manches weg, was im Alltagsleben seine Seele oft drückte. »Und ein gutes Weib ist sie doch,« wiederholte er sich in Gedanken, »eine treue sorgsame Mutter, eine emsige Hausfrau. Daß sie über der Sorge und Mühe des Werktages nie zum Sabbatfrieden in ihrem Herzen kam; daß sie ihre Seele nie geöffnet hat für die schöne, reiche Gotteswelt – das ist ja ihr Unglück, um das man sie beklagen muß und sie tragen mit doppelter Liebe. Und wer weiß,« fügte er getröstet hinzu, »welchen Einfluß später [48] die Kinder auf sie haben! Wie oft hat eine Mutter durch die Kinder schätzen und lieben gelernt, was sie ihr Leben lang gering geachtet! Es freut sie jetzt schon, obgleich sie's nicht merken läßt, wenn die Dorothee so hübsch und ausdrucksvoll die Gedichte hersagt, die sie bei mir gelernt; – ja, ja, wir können noch allerlei erleben.«

Immer heiterer ward er beim Weiterschreiten, so leichtfertig sogar, daß er bei der Erinnerung an einen Betrug fröhlich auflachte. »Es war freilich nicht recht,« fuhr er schmunzelnd in seinem stillen Selbstgespräch fort, »daß ich ihr die zwei Louisdor von der fremden Dame auf dem Schloß unterschlagen habe; das gute Weib freut sich über so etwas viel mehr als ich und war sehr verwundert, daß das Kleidchen für Marie die ganze Belohnung sein sollte für eine so vornehme Trauung. Das Geld wäre nun lange in der Sparkasse; aber sie wird aufschauen, wenn sie von der Residenz aus einen Samthut erhält, noch schöner als der der Pfarrerin von Seeberg; freilich wird sie schelten, aber ich weiß doch, daß sie's heimlich freut, nicht wegen des Putzes, den sie ja so selten braucht, aber es tut ihr wohl, zeigen zu können, daß ihr Mann sie in Ehren hält.«

In solchen Zwiegesprächen, die ihm das Leben wieder leicht machten und die Heimat lieb, und in freundlichen Unterredungen mit Vorübergehenden, mochte es nun ein altes Weib oder ein kleiner Junge, ein Bauer oder ein Handelsjude sein, hatte Wilhelm gegen Abend das erste Ziel der Rundreise erreicht, die er nach unendlichen Schwierigkeiten endlich durchgesetzt: das Haus seines Schwiegervaters.

Das Amthaus

Es war nicht das alte Amthaus mehr, und obgleich es Wilhelm schon manchmal besucht hatte, seit er sein Weib daraus heimgeführt, so konnte er sich doch nie ohne Schmerz in die veränderte Umgebung finden. Das stattliche alte Wohnhaus, mit seinem weiten Flur und den künstlich verschnörkelten Verzierungen über Portal und Fenstern, war nicht mehr da; nicht mehr der Sitz unter der Linde und der hübsche Blumengarten, [49] aus dem der Weg in den grasigen Baumgarten, an den Fluß führte. Der gereiste Sohn hatte das alte Haus abgebrochen und eine neue stattliche Brauerei mit Wohngelaß errichtet. Um das Haus hörte man nun das Klopfen der Küfer, das Getöse der Brauknechte. Die Linde hatte der alte Herr noch gerettet, aber der Sitz war weg, es lagen nur Faßdauben und Arbeitsgerät darunter; der Grasgarten, dessen Obstbäume für abgängig erklärt worden waren, war in einen Hopfengarten umgewandelt; die alte trauliche Laube war zerfallen und diente nur noch zur Aufbewahrung von Hacken, Rechen und Gießkannen, und zu dem neuerbauten Gartenhause mit grünem Ziegeldach konnten die Freunde des alten Hauses kein Herz fassen.

Den alten Herrn traf Wilhelm hinter dem Hause auf der Bank des kleinen Gemüsegärtchens, das allein so ziemlich noch seine frühere Gestalt bewahrt hatte. Er war sehr gealtert und sah gar müde aus; ein herzliches Lächeln aber flog über sein Gesicht, als er den werten Gast begrüßte. »Du freust mich, so oft du kommst,« rief er ihm entgegen, »dein Gesicht ist noch aus der guten alten Zeit. Wenn ich dich sehe, so meine ich allemal, meine Alte müsse nachkommen.« – »Wie geht's, Papa?« – »Schlecht, schlecht, das heißt mit mir, bin ein alter Mann, tauge zu nichts mehr; wollte, ich wäre bei meiner Alten.« – »Aber Sie haben gewiß nicht zu klagen über Ihre Kinder?« – »Behüte, nein, tät' mich versündigen, wenn ich's wollt', respektieren mich und versorgen mich; aber sie brauchen mich nicht, und da sitzt's, Wilhelm, da sitzt's. Die Frau Söhnerin, Respekt vor ihr, sie ist eine fleißige Frau und eine gescheite, und mein Karl darf's weder hören noch fühlen, daß das Anwesen da mit ihrem Geld gebaut ist; aber die ausländischen Bräuche, Junge, und das fremdländische Geschwätz, das bringt mich noch unter den Boden. Und die Freunde, die ins Haus kommen, sind Geschäftsfreunde, und der Tisch ist gedeckt für Geschäftsleute, und am Sonntag fahren die jungen Leute hinaus, statt daß da sonst mein Haus offen war für gute Freunde. Ich will nicht klagen, aber ich bin ein alter Mann und tauge nichts mehr.« – [50] »Wenn Sie vielleicht länger im Besitz des Hauses und im Amt geblieben wären?« – »Ging nicht mehr. Habe zwar im Frieden gehaust mit der Frau Pfarrerin nach meiner Alten Tod und Rikchens Wegzug; aber du weißt ja, ich habe lieber vergnügte Gesichter als blanke Taler gesehen und war wohl gar zu sorglos. Da stand ich denn vor meinen Kindern als schlechter Haushalter, und das hat mich daniedergeschlagen für immer. Dann kam der Karl heim mit der neuen Weisheit und der jungen reichen Braut, so dacht' ich, ist das beste, du ziehst dich zurück. Will nicht klagen, aber 's ist nicht das alte Leben mehr.«

»Wir haben hier keine bleibende Statt, aber die zukünftige suchen wir,« sagte Wilhelm mit sanftem Ernst. – »Hast recht, Junge, und das ist der Fleck, wo ich noch viel zu lernen habe; habe darum auch verstehen lernen, warum der Herr mich alten Storren noch so allein dastehen läßt. Will's Gott, so ist's noch [51] nicht zu spät ... Wie geht's Rikchen; warum kommt sie nicht mit dir?« – »Sie ist gar zu geschäftig, sie findet keine Zeit,« sagte Wilhelm etwas verlegen. – »Keine Zeit für ihren alten Vater; so ist's seit acht Jahren. Weiß Gott, wo das Mädchen das wuhlige Wesen her hat; meine Alte war doch auch fleißig wie wenige, aber es ward auch andern noch wohl daneben und ihr selbst mit. Ich glaube, wir haben selbst gar zu viel Wert auf des Mädchens frühe Häuslichkeit gelegt, besonders ich, weil mir die Mine allezeit zu überschwenglich war.« – »Wie geht es Minna?« fragte Wilhelm fast schüchtern. – »Ach, da frag mich lieber gar nicht! Ich höre meist nur von ihnen, wenn sie in Geldverlegenheiten sind, das ist freilich, leider Gottes, oft genug, daneben wenig Frieden und wenig Liebe. Ja, Wilhelm, dazumal hatte der Alte recht gehabt. Nun, geschehen ist geschehen!«

»Eduard und Emma, die sind mir ein Labsal, so oft ich an sie denke; der Leichtfuß hat Glück gehabt, daß er ein so liebes Weib gefunden, wenn sie auch nicht viel hat. Da kann man sehen, was es ist um ein Gericht Kraut mit Liebe; das ist ein Haus, in dem die Sonne nicht untergeht.«

Da kam eben Karl, der neue Herr des Gutes, herbei, um den Schwager zu begrüßen. Wilhelm verbrachte den Abend und die Nacht in der alten Heimat so viel fröhlicher Herzen, aber daheim fühlte er sich nicht mehr hier. Die Visitenstube der Frau Schwägerin war so schön aufgeputzt, so ungebraucht und so wenig einladend wie die seiner Frau daheim, nur daß hier ein großer Reichtum von Silbergeschirr zur Schau stand; desto mehr Spuren rücksichtslosen Gebrauchs zeigten die andern Räume. – Er flüchtete sich in die Zimmer des alten Herrn, da stand noch das gute alte zusammengesessene Sofa mit Kattunüberzug und der runde eichene Tisch, der je nach Bedürfnis ins Unendliche verlängert werden konnte; er dachte der alten Tage, wo sie in lustigem Pfänderspiel darum gesessen waren, und ein anmutiges Gesichtchen, das ihm einst das lieblichste auf Erden geschienen, blickte wieder zu ihm herüber aus den braunen aufgelösten Locken. Es war vorüber, und er faßte sich ein männlich Herz und dachte des Segens der Gegenwart.

[52]

Der Haushalt einer würdevollen Frau

Am andern Morgen zog er weiter. »Nun, wohin geht denn die Reise?« fragte der alte Herr, der ihn ein Stück Wegs begleitete. »Nach S., ich will zunächst bei der Frau Oberregierungsrätin einsprechen, und dann unsre Minna besuchen.« – »Geh mit Gott, mein guter Wilhelm! Es wird ihr wohl tun.«

Er traf Mathilde, die Frau Oberregierungsrätin, in einem recht ansehnlichen, gut eingerichteten Hause, wenn es auch etwas von der Heimatlosigkeit der meisten Stadtwohnungen hatte. Sie empfing den alten Jugendfreund mit herzlicher Freude und stellte ihm mit mütterlichem Stolz ihr aufblühendes Töchterlein Lina vor; die Söhne waren im Gymnasium. »Und wie geht's denn Ihnen, lieber Wilhelm, gut, recht gut? – was macht unser Rikchen? – immer geschäftig, immer rastlos?« – »Ja wohl,« erwiderte Wilhelm heiter, »sie ist ein emsiges Hausmütterchen und fast immer gesund, und wir haben drei prächtige Kinder. – Es gibt Leute, die wir um keinen Preis der Welt einen Schatten in unserm häuslichen Glück ahnen ließen.« – »Nun, das freut mich, wir wollen recht von den alten Zeiten plaudern. Lina, sorge für ein Glas Wein!« – »Von dem roten?« fragte Lina flüsternd. – »Nein, nein, den muß man für den Vater allein aufheben; laß lieber holen!«

»Linchen, Liebe,« rief sie der abgehenden Tochter nach, »rüste doch zuvor des Vaters Sachen! Der Herr Pfarrer nimmt's nicht übel. Sie wissen,« sagte sie entschuldigend zu diesem, »Geschäftsmänner lieben alles zu bestimmten Stunden; mein Mann nimmt gegen vier Uhr ein kleines Gouté ein, das rüste ich gewöhnlich, eh' er kommt.« Innerlich lächelnd bemerkte Wilhelm, mit welcher Ängstlichkeit sie den Zurüstungen des Töchterleins zusah, die den Tisch deckte; kalten Braten, huilière, Brotkörbchen und Salzfaß nebst einem Kuvert auflegte, wie sorgsam sie nachhalf, bis alles in Ordnung war. »Nun aber sorge auch für unsern lieben Gast! Sie entschuldigen gewiß,« sagte sie nochmals zu diesem, »mein Mann ist immer so sehr beschäftigt, da ist es ihm Bedürfnis, sich etwas [53] zu erfrischen.« Der Gast wurde auch versorgt und saß wieder in traulichem Gespräch bei der Hausfrau, als die Hausklingel tönte. »Geschwind, Linchen,« rief sie halblaut mit einiger Ängstlichkeit, »sieh nach, ob das Gangfenster nicht offen ist! Du weißt, das ärgert den Vater, und stelle deinen Stickrahmen ins Kabinett, der Vater liebt solche Arbeiten nicht, und die Scheuerfrau soll lieber etwas beiseite gehen, bis der Vater fort ist; weißt ja, daß er sie nicht recht leiden kann, und doch mußte ich diesmal eine nehmen.« Der gebietende Herr trat ein, noch ehe alle Befehle hatten ausgeführt werden können. Er war in seiner Art so wohl erhalten wie seine Frau, nur noch etwas gerundeter als bei jener Wasserfahrt. Den Gast, den ihm seine Frau vorstellte, begrüßte er sehr höflich, wenn auch etwas steif. »Eine Meldung hier?« fragte er. – »Nein, Herr Oberregierungsrat, wir sind vorderhand noch zufrieden, meine Frau würde einen Umzug sehr schwer nehmen; meine Reise hat nur den Zweck, Verwandte und alte Bekannte zu besuchen.« – »Schön, schön,« sagte der Hausherr, wirklich freundlich, nun er sah, daß seine Protektion und Verwendung nicht beansprucht wurde, »haben ganz recht.« Wilhelm mußte sich zu ihm setzen, der Hausherr wurde in seiner Weise ganz herzlich und ließ sich von dem Pfarrer unterhalten. Er hätte gewiß seiner Oberregierungsratswürde gern vergessen, wenn ihm dies möglich gewesen wäre; ja er schenkte ihm zuletzt von seinem eigenen roten Wein ein und bot ihm von seinem Braten an statt der Wurst, die ihm Lina vorgesetzt hatte, über welchen Edelmut sich die Mutter und Lina gerührte und verwunderte Blicke zuwarfen.

Das »Gouté« war beendigt, und an dem Oberregierungsrat zeigten sich einige Zeichen von Unbehagen, er stand auf und ging etlichemal aus und ein. »Lieber Wilhelm,« sagte Mathilde, etwas verlegen, »Sie nehmen gewiß den Abend mit mir vorlieb; mein Mann hat seinen Klub, eine geschlossene Gesellschaft, wo er gewohnt ist seine Abende zuzubringen, er würde wohl sehr gern ...« – »Bitte, liebe Frau Mathilde, machen Sie nicht so viele Umstände mit einem alten Bekannten,« [54] sagte lächelnd Wilhelm, es versteht sich von selbst, daß Ihr Gemahl seine Tagesordnung nicht ändert; ich wollte mich ohnehin empfehlen, um Minna noch aufzusuchen und einige kleine Geschäfte zu besorgen.« – »Ach, die arme Minna! Die können Sie heut nimmer aufsuchen; sie wohnen jetzt in Hasental, eine halbe Stunde von hier, und Sie tun besser, sie erst morgen zu besuchen; auf Gäste sind sie kaum eingerichtet. Bleiben Sie bei uns! Ich habe so viel in unserm lieben Amthause gelernt, daß ich der Residenzsitte zum Trotze ein hübsches Gastzimmerchen eingerichtet habe, und Fürst hat da gar nichts dawider.«

Wilhelm nahm die Einladung an; eben ertönte aus der Nebenstube ein etwas gebieterischer Ruf: »Frau!« Mathilde flog zu ihrem Gebieter, um Hut, Stock, Handschuhe, alle erdenklichen Sachen zum Ausgang herbeizuholen. Der Oberregierungsrat wiederholte sogar die Einladung seiner Frau und empfahl sich.

Wilhelm verlebte den Abend recht behaglich im Kreis der [55] kleinen Familie, die sich nach und nach einfand und in der er nur den Vater vermißte. »Ich darf nicht erst fragen, ob Sie in angenehmen Verhältnissen hier leben,« sagte er zu Mathilde, als sie zusammen ausgingen, um die Geschenke für Friederike und die Kinder zu kaufen. »Sie haben natürlich auch ansprechenden Umgang?«

»O ja, das heißt, ich gehe nicht eben viel aus; Fürst liebt mich anzutreffen, wenn er nach Hause kommt, und wenn er auswärts ist, so ist es ihm auch lieb, wenn er mich zu Hause weiß.«

»Lesen Sie noch gern?« – »O ja, doch ist mein Mann kein besonderer Freund davon, er sieht lieber, wenn ich mich häuslich beschäftige.« Sie bemerkte Wilhelms unterdrücktes Lächeln und sagte, plötzlich rot werdend: »Oh, ich weiß, Sie denken an damals und an meinen Mädchenübermut; nun ja, die Zeiten sind anders, und ich könnte kaum sagen, wie es so gekommen; ich glaube, mein Mann hat mich mit lauter Stillschweigen erzogen. Aber er ist ein so braver Mann, ein so vorzüglicher und rechtlicher Beamter und ein so guter Vater, da kann ich ja wohl des lieben Friedens wegen seinen kleinen Eigenheiten nachgeben ...«

»Ei,« sprach Wilhelm lächelnd, »warum sich so viel Mühe geben, zu entschuldigen, daß Sie eine gehorsame Frau sind? Mag sein, daß Sie den Herrn Gemahl etwas verwöhnen, aber das ist ein liebenswürdiger Fehler von seiten der Frau.« – »Und Sie denken gewiß nicht, daß ich mich herabwürdige?« fragte sie mit einiger Ängstlichkeit. – »Gewiß nicht, ich habe im Selbstvergessen nie eine Herabwürdigung gefunden; nur eins, liebe Frau Mathilde, wenn Sie einem Pfarrer ein bißchen Predigen zugute halten wollen ...« – »Und das wäre?« – »Sind Sie in Ihrer Nachgiebigkeit immer auch ganz wahr? Wollen Sie nicht, vielleicht aus Liebe zum Frieden, nur den Schein des Gehorsams retten?« Mathilde wurde dunkelrot. »Sehen Sie,« begann sie zögernd, »es gibt solche Eigenheiten, in denen sich die Männer durchaus nicht vernünftig berichten lassen, da ist dann ein bißchen Frauenlist gewiß nicht Unwahrheit.« [56] Wilhelm schüttelte den Kopf: »Ich habe nie etwas auf die unschuldige List gehalten; es kann sein, daß durch solche unschuldige List hie und da ein Verhältnis ungestörter bleibt, edler aber bleibt es gewiß in Wahrheit und Klarheit auch im kleinsten.«

Mathilde ließ das Gespräch fallen, das sie sehr nachdenklich machte.

Die Hausfrau war am andern Morgen schon früh wach; auch noch eine löbliche Erinnerung ans alte Amthaus. »Lina,« hörte Wilhelm sie sagen, »schick doch den Kleinen mit der Geldschachtel zum Vater, ich habe keinen Heller mehr.« – »Aber, Mama, warum hast du's ihm nicht selbst gesagt, ehe er in sein Zimmer ging?« – »Du weißt ja, wie verdrießlich er wird, wenn man Geld fordert! Ich kann unmöglich schon wieder verlangen.«

»Aber so sag ihm doch, Mama, wozu wir's gebraucht haben! Es ist ja natürlich, daß keins mehr da ist.«

»Weißt wohl, daß mir der Vater keine Rechnung durchsieht, er pruttelt nur ins allgemeine; mach nur und schick den Alfred hinauf, über den wird er nicht ärgerlich.« – »Mama, wenn ich einmal heirate, so mußt du mir einen großen Sack voll Geld mitgeben, daß ich von meinem Mann keines fordern darf, sonst heirate ich gar nicht.«

»Einfältiges Kind!« sagte lachend die Mutter, »das ist vom Vater nicht schlimm gemeint.« – »O tempora,« lächelte Wilhelm für sich. Die Kasse mußte aber gefüllt worden sein, denn der Frühstückstisch war sehr anständig besetzt; auch war der Herr Oberregierungsrat in guter Laune und verabschiedete sich ganz herzlich von Wilhelm, bemerkte sogar nach seinem Abschied gegen seine Frau: »Recht vernünftiger Mann, habe gar nichts gegen einen ordentlichen Pfarrer; im Gegenteil.«

Und Wilhelm schritt dem weitern Ziel seiner Reise, dem Aufenthalt Minnas zu, den ihm Mathilde bezeichnete.

Eine Dichterehe

Es war zum erstenmal in all der langen Zeit, daß Wilhelm Minna in ihrem eigenen Hause aufsuchte. Sie hatten sich bisweilen [57] bei dem Vater getroffen, und zu einer weitern Reise war er bei den unendlichen Schwierigkeiten, die seine Frau bei jedem Gedanken daran auftürmte, noch nie gekommen. In tiefen Gedanken schritt er dem freundlich gelegenen Dörfchen zu, wohin sich Minnas Gatte mit seiner Familie zurückgezogen hatte, um wohlfeifer zu wohnen.


»Ein Herz nur, ach, und eine Hütte!«


dachte er, als er durch ein Gärtchen, dessen übergraste Beete wenig Spuren einer pflegenden Hand zeigten, in das Häuschen ging, das nun die Heimat seiner alten Liebe war. Das Zimmer, in das er zuerst eintrat, war leer, ein hübsches Zimmer an sich, die Fenster gingen ins Grüne, die Sonne schien hell herein, und man hörte die Vöglein singen; aber trotz verschiedener Gegenstände, die ursprünglich einer zierlichen und eleganten Einrichtung angehörten, sah es ziemlich heruntergekommen aus. Der Überzug der Möbel, der einst in buntem Blumenflor geprangt, war verblichen und zerschlissen, hie und da mit Stecknadeln zusammen geheftet; eine Blumenlampe mit einem längst verdorrten, kümmerlichen Pflänzchen hing an der Decke, Lithophanien an zersprungenen Fensterscheiben, an dem gestickten Ofenschirm hing schmutzige Wäsche. – Wilhelm fand nirgends einen Punkt, auf dem das Auge ausruhen konnte. – Da ging eine Seitentür auf, und eine Frau in höchst nachlässiger Morgenkleidung trat ein und blieb verwundert vor ihm stehen. Es war Minna. »Grüß' dich Gott, liebe Minna!« sagte er herzlich. – »Du bist's, Wilhelm?« Es zog eine tiefe Röte über ihr Gesicht. »Ach, ich bin noch gar nicht recht angekleidet, die Kinder kosten mich so viel Zeit; – und du willst uns einmal besuchen? Grüß' dich Gott.« Es lag etwas Gedrücktes in ihrem Ton. Auch Wilhelm fühlte sich gedrückt und verlegen, er fragte nach ihren Kindern. »Wo die Großen sich herumtreiben, weiß ich wirklich nicht; da ist mein Kleines,« und aus dem Nebenzimmer, dessen Türe sie eilig hinter sich schloß, brachte sie ein hübsches kleines Mädchen, dessen Schmutz man aber nicht ansah, daß seine Toilette heute schon Zeit [58] gekostet; es brauchte für Wilhelm einige Überwindung, es zu küssen. »Und ihr lebt jetzt hier, ganz auf dem Lande?« fragte er, immer noch verlegen, welche Saite er anschlagen dürfe. – »Das heißt, ich lebe hier,« sagte Minna, »Arwed hat, wie du weißt, ein kleines Amt bei der Bibliothek, das ihn einige Stunden in der Stadt hält, die übrige Zeit bringt er dort zu seiner Erholung zu.«

[59] »Ich las kürzlich, daß sein Epos bald erscheinen wird.« – »Oh, das läßt er immer von Zeit zu Zeit durch einen seiner Freunde ankündigen; ob es je fertig wird, weiß Gott: an Stoff zu dem ›Tatenlosen‹ sollte es nicht fehlen.« Wilhelm tat das Herz weh, eine Frau in diesem Tone von ihrem Gatten sprechen zu hören. Minna verschwand, um sich umzukleiden und Wilhelm für eine Erfrischung zu sorgen, was sehr geraume Zeit brauchte; inzwischen kamen die zwei älteren Kinder, ein Knabe und ein Mädchen in ziemlich verwahrlostem Zustand, um sich Brot zu holen. »Mußt du nicht in die Schule, mein Junge?« fragte Wilhelm den siebenjährigen Knaben, sein Patchen. – »Ja, Wilhelm, 's ist zehn Uhr!« schrie das kleine Mädchen. »Und was willst du denn einmal werden, kleiner Bursch?« – »Ein Schuster,« sagte die wiedereintretende Mutter, »denn er lernt nichts und kann nichts als Schuhe zerreißen.« – »Ein Dichter!« rief der Kleine. – »Lieber ein Kesselflicker,« sagte halblaut die Mutter. Wilhelm sah sie traurig an.

»Rikchen wollte natürlich nicht mitkommen?« sagte Minna, nachdem die Kleinen abgezogen waren; »wenn sie einmal den Entschluß faßt, so muß ich dich auch um Vorankündigung bitten, um putzen und scheuern zu lassen, die fiele sonst in Ohnmacht in meinem kleinen Wesen.« – »Könnte sein,« dachte Wilhelm bei sich und sagte lächelnd: »Ja, ja, sie ist die alte sorgsame Martha, und mir unbegreiflich, was sie immer noch zu putzen und räumen findet, wo längst alles rein ist.« – »Ach, um so sauber zu halten, da gehört Zeit dazu und Raum und ein zufriedenes Herz!« – »Vielleicht auch umgekehrt,« sagte Wilhelm leichthin, »es gehört eine gewisse Harmonie der äußern Umgebung dazu, um das Herz zufrieden zu erhalten.« Minna wurde rot und schwieg. Wilhelm sprach von dem Vater, von Mathilde und dem ergötzlichen Wechsel ihrer stolzen Ansichten über Frauenwürde.

»Ach, die hat gut sich unterordnen,« warf Minna ein, »ihr Mann ist ein rechter Mann, wenn sie ihn auch ganz unnötigerweise zum Pascha verwöhnt hat; das sind ja im ganzen Kleinigkeiten, sie hat doch Grund, zufrieden zu sein.« Wilhelm [60] schwieg wieder, das Gespräch wollte nicht fließen, – es lag eine Wolke zwischen den beiden, die ihnen immer drückender wurde. Endlich brach Minna das Schweigen: »Wilhelm, dir, gerade dir wollt' ich am tiefsten verhüllen, was ich nun dir zuerst sagen muß: Wilhelm, ich bin eine unglückliche Frau!« und sie brach in ein leidenschaftliches Weinen aus. »Sag mir nicht, daß es mein eigener Wille gewesen sei!« fuhr sie heftig auf, als er sprechen wollte. »Du machst mich wahnsinnig, wenn du das tust. O mein Gott, wie hat er mich getäuscht! Ich glaubte einen Stern zu wählen, der für alle Zeiten hoch über dem Wechsel des Alltagslebens stehen werde; jetzt – ist's ein Lichtlein, das kümmerlich ringen muß, über dem Sumpf zu bleiben. Wie habe ich gelitten um seinetwillen! Meine schöne Jugend, mein freundliches Vaterhaus hat mir diese unselige Liebe getrübt und verdüstert, und wie hat er's vergolten! Sag nichts zu seiner Entschuldigung,« fiel sie wieder Wilhelm in die Rede, »du kannst ja gar nicht alles wissen. Ach, wie habe ich ihn geliebt; wie willig war ich, jedes Los mit ihm zu teilen! Da hatte er zuerst das Amt; das war nötig, uns zu ernähren. Hätte er nicht schon mir zulieb die kleine Last gern auf sich nehmen sollen? Statt dessen mußte ich Tag für Tag seine Klagen hören über dies lästige Joch, das seinen Geist hemme und niederdrücke; zu seiner Erfrischung und Belebung hielt er allerlei Genüsse für nötig, Konzerte, Theater, kleine Reisen. Zuerst teilten wir sie; als die Mittel nimmer zureichten, da war ich gut zum Daheimsitzen, er, natürlich er mußte doch noch etwas tun für seinen Geist; – die Früchte dieser kostbaren Aussaat lassen noch auf sich warten. Während er mir am Ende den harmlosesten geselligen Genuß, selbst die unschuldige Freude der Lektüre mißgönnte, machte er die fabelhaftesten Ansprüche an Bedienung, an häuslichen Komfort und würdigte mich zur Magd herab, er wurde immer fremder in seinem eigenen Hause ...«

»Und du hast das Deine getan, um seine Heimat lieb zu machen?« fragte Wilhelm.

»Ich hätte freilich,« erwiderte Minna errötend, »wenn er [61] gewesen wäre, wie er sollte! So konnte ich auch nicht immer wie ein Engel sein, wenn er nur nach Hause kam, um zu tadeln, und Lust und Mut vergeht einem, alles zierlich zu halten, wenn doch nicht viel Freude dabei ist. Zuletzt kam er auf den großen Entschluß, alle Fesseln von sich zu werfen: ›Die Muse will freie Diener!‹ rief er, ›dann erst reicht sie ihren vollen Kranz.‹ Ja, das war eine Freiheit! Mit seinen Geisteskindern bei Verlegern hausieren gehen, wie ein Krämer mit verlegener Ware; Poesien zu arbeiten auf Bestellung, wie ein Handwerker; sich tagelang abmühen um glückliche Gedanken, und dabei Not und Sorge –

Und statt daß er mich getröstet hätte und mich beklagt um das Geschick, in das er mich geführt, statt daß er mir mit zehnfacher Liebe vergütet hätte, was ich zu tragen hatte, mußte ich noch seine üble Laune tragen, sollte ich noch das Rad halten, das bergab rollte!

Nun hat ihm Mathildens Mann wieder das Bibliothekämtchen verschafft, – aber uns ist nicht mehr zu helfen.« Sie schwieg erschöpft und stützte ihr Gesicht in die Hände.

»Aber, liebe Minna,« begann nun Wilhelm, »du sagst, Arwed habe dich getäuscht; hast du nicht dich selbst getäuscht? Er hat sich nicht anders gegeben, als er war, als praktischer Mann ist er keinem von uns je erschienen. Hast du ihn geliebt, sein innerstes Wesen, ihn selbst ganz und gar, oder nur seine jugendliche Erscheinung, das aufblühende Talent, das du wie er und alle seine Freunde vielleicht für bedeutender hieltest, als es war? Bist du ihm vorangegangen in Hingebung und Aufopferung? Hast du ihn aufgerichtet in Liebe und Treue, wenn seinem verwöhnten Sinn die Last eines prosaischen Berufs schwer wurde? Hast du ihm Entbehrungen leicht gemacht, indem du selbst sie freudig auf dich nahmest? Hast du ihm die bescheidene Heimat freundlich gemacht und traulich? – Oh, liebe Minna, es ist ein schlimmes Rechnen, wenn man nur der eigenen Opfer denkt und nicht der eigenen Schuld!«

Ins Innerste getroffen, senkte Minna das Haupt. »Du verlangst viel«, sagte sie endlich finster, »und verwechselst die [62] Rollen: das schwache Weib willst du zur Stütze des Mannes machen, der ihr Halt sein sollte.« – »Wo die reichste Liebe, da ist die größte Kraft,« sagte Wilhelm zuversichtlich, »und ist es von der Frau zu viel verlangt, wenn wir die reichste Liebeskraft von ihr erwarten?«

Minna schüttelte traurig den Kopf: »Du kannst recht haben; aber bei uns ist es zu spät, und von Arwed ist gar nichts zu erwarten, Wilhelm, – er glaubt nichts, er ist kein Christ.« – »Und du glaubst?« fragte Wilhelm bedeutsam. – »Ich, o was hätte denn ich in diesem elenden Leben, wenn ich nicht die Hoffnung auf ein besseres hätte! Die glänzenden Worte von einem Hauch des ewigen Geistes durch die ganze Schöpfung, der Glaube ›der sterbenden Blume‹, den mir Arwed in den Tagen unseres Liebesfrühlings gepredigt, haben mich nicht lange getäuscht, – in der Zeit des Jammers und der Sorge nahm ich meine Zuflucht zu dem Gott meiner Mutter; ich gehe in die Kirche, ich lese in meiner Bibel, ich bete mit meinen Kindern; – Arwed hat dazu nur ein mitleidiges Lächeln!«

»Du glaubst?« wiederholte Wilhelm langsam und nachdrücklich. »Und was hast du getan, deinem Gatten deinen Glauben lieb und ehrwürdig zu machen? Hast du ihm gezeigt, welch ein seliger Glaube das sein müsse, der dich geduldig mache im Leid, sanft gegen Unrecht, freudig in Entbehrung, treu im Kleinen? Hast du ihn die edelste Frucht des Glaubens ahnen lassen, den sanften und stillen Sinn, der köstlich ist vor Gott? Liebe Minna, wenn er solchen Glauben bei dir gesehen hat, und hat ihn verworfen, dann, aber dann erst wollen wir die Hoffnung aufgeben.«

Minna schwieg lange in schmerzlichem Weinen. »O Wilhelm,« sagte sie endlich, »wen habe ich verworfen in kindischem Übermut? – oh, wenn es anders gekommen wäre!« Und sie sah ihn an mit den schönen, blauen Augen, die einst seiner Jugend Morgenstern gewesen, und ein Abglanz des alten Frühlings flog über die frühgewelkte Gestalt. Aber Wilhelms Herz blieb fest, und sein Auge ruhte mit ernster brüderlicher Liebe auf dem ihren. – »Liebe Minna, denen, die Gott lieben, müssen [63] alle Dinge zum Besten dienen.« – »Ja, alles was Gott schickt,« sagte sie wieder mit Bitterkeit, »mein Schicksal ist eigene Wahl, ich muß liegen, wie ich mich gebettet.« – »Dein Weg kann dir zum Himmelsweg werden, und ob du ihn auch eingeschlagen in eigener Betörung, er wird es, wenn du das rechte Licht darauf suchest,« sagte Wilhelm mit Nachdruck; »deine Ehe hat Gottes Segen geweiht, deines Mannes Seele wird Gott von dir fordern, wenn du nicht getan, was an dir ist, sie zu ihm zu führen. O liebe Minna,« und er faßte fest ihre Hände in den seinen, »du bist noch jung, du bist reich begabt; ein langes Leben liegt vor dir, vielleicht kein glückliches, aber ein geheiligtes, ein friedevolles, wenn du willst, gewiß, gewiß. Und du hast Kinder. Willst du in ihre jungen Seelen das Gift der Lieblosigkeit, der Mutlosigkeit, eines tatlosen Verzagens träufeln? Willst du sie nicht erziehen, wenn auch durch Sorge und Entbehrung, zu einem frommen, frischen Leben?«

»Ach, Wilhelm, wenn du mir immer nahe wärest, mich aufzurichten und zu halten! Sieh, niemand, solange ich lebe, hat mir die Stütze eines starken, lebendigen Glaubens geboten.«

»Die stärkste, mächtigste Stütze ist dir nahe, jeden Augenblick: ein immer offenes Herz, das dir nicht nur Halt und Aufrichtung, das dir Kraft und Leben selbst ist, Kraft auch fürs Kleinste, liebe Minna!«

»Oh, du weißt nicht, wie oft man an diese Pforte vergeblich pochen kann! Ich bin wohl noch nicht würdig dazu.«

»Unwürdigkeit schließt nicht aus, nur Unredlichkeit. Wenn wir so oft verlangen nach menschlichem Rat, nach menschlicher Leitung, liebes Herz, so ist's manchmal nur, weil Menschen uns beurteilen, wie wir uns geben, und weil wir fühlen, daß Gott uns sieht, wie wir sind

»Und doch muß ich das Weib glücklich preisen, die dem Gatten nur folgen darf, sicher, dann den rechten Pfad zu gehen. – Wilhelm, weiß Friederike, was sie an dir hat?« frug Minna ihn plötzlich mit der Rücksichtslosigkeit des Unglücks. – »Ich weiß nicht,« sagte lächelnd Wilhelm; »wenn sie mich nicht verwöhnt durch zu große Verehrung, so ist das umso besser für mich.«

[64] »Du aber hast nicht gewählt wie ich, vermessen, nach eigenem Sinn, du hast aus Güte und Edelmut ein Wesen gewählt, das unter dir steht, – bist du nun glücklich?«

»Ich weiß nicht,« sagte Wilhelm zögernd, »ob meine Wahl so edel war, wie du meinst, ob sie nach Gottes Willen war. Ich hatte eine liebe Hoffnung begraben. Ich sah, wie dich dein poetischer Sinn zu einer raschen unbedachten Wahl getrieben; ich wollte es mit der Prosa versuchen, hielt vielleicht häusliche Fertigkeiten für häusliche Tugenden, und vergaß über der fleißigen Hand nach der lebendigen Seele zu forschen. Wo eine Wahl nach Gottes Willen ist, da gibt er die tiefe, rechte Herzensfreudigkeit dazu, und wo diese sich nicht findet, da ist die Wahl eigenmächtig, sei es nun Neigung, oder Berechnung, oder Überlegung, was sie bestimmt hat. – Das aber war einmal gesprochen und nicht wieder,« sagte Wilhelm sich aufraffend mit großem Ernst. »Es ist nicht an uns, zu grübeln, wie wir auf unsern Pfad gekommen sind, sondern zu suchen, daß er uns zum Himmelspfad werde, und das können wir finden mit Gottes Hilfe. Wir sind beide reich gesegnet, liebe Minna, mit lieben Kindern; und um das Herz, dem wir Liebe und Treue geschworen bis zum Grabe, müssen wir ringen und werben, bis es uns und dem Herrn zu eigen gehört. Noch so jung, eine so hohe Aufgabe vor dir, und schon so müde! Hast du vergessen, daß du deiner sterbenden Mutter versprochen, glücklich zu sein?«

»Du spottest meiner! Läßt sich das versprechen?« – »Versprechen leichter als halten: hast du es je versucht?« Minna schlug die Augen nieder und schwieg.

»Wir wollen's noch einmal versuchen, liebes Herz,« sagte Wilhelm in heiterem Ton, »jedes auf seinem Weg und jedes in seiner Weise, und wenn wir uns wieder begegnen, wollen wir sehen, wer's am besten gelernt hat.«

Es war nahe an Mittag, und Minna fiel ein, daß ihr Mann zu Tische komme; auch hatte sie seit lange nicht für einen Gast zu sorgen gehabt, seit den ersten Zeiten ihrer Ehe, wo ihr Haus jungen Künstlern, Literaten und Schauspielern offen gewesen [65] war. Sie eilte geschäftig in die Küche, und das Gastmahl schien wirklich höchst umständlicher Beratung zu bedürfen.

Wilhelm unterhielt sich mit der kleinen Antonie, die übrigens ein scheues, wenig aufgewecktes Kind schien. »Freust du dich, bis der Vater heimkommt?« fragte er sie. Die Kleine schüttelte den Kopf. »Er bringt mir nichts mit,« sagte sie, »und er ist auch oft bös und zankt.« – »Aber die Mutter zankt nicht?« – »Nein, die Mutter liest,« sagte sie kurz und bündig, »sieh, da schiebt sie die Bücher hin.« Und sie zeigte Wilhelm hinter den Kissen des Sofas versteckt ein Buch, einen sehr zerlesenen Roman aus der Leihbibliothek. »Geschwind, versteck's wieder, der Vater kommt!« rief die Kleine so hastig, daß Wilhelm instinktmäßig das Buch schnell versteckte und rot und verlegen, als hätte er selbst etwas Verbotenes getan, dem eintretenden Arwed entgegenging.

Es war nun freilich nicht mehr der jugendlich schöne Nordstern, wie er damals am grünen Ufer aufgegangen war; doch war seine äußere Erscheinung vorteilhafter als die Minnas; seine Kleidung war neben einer gewissen poetischen Nachlässigkeit gewählt und sorgfältig, seine ganze Haltung hatte noch den Stempel natürlicher Vornehmheit, der ihn immer ausgezeichnet; aber seine Gestalt war abgemagert, seine eingefallenen Wangen zeigten eine gefährliche Röte und sein Auge einen stechenden Glanz.

Er begrüßte den unerwarteten Gast zuerst etwas kühl und verlegen; aber Wilhelms offener Herzlichkeit konnte niemand lange widerstehen, auch tat dieser sein Möglichstes, den Wirt in lebhaftem Gespräch zu erhalten, um dessen ungeduldige Blicke von der Küchentür abzulenken und Minna Zeit zu ihren Anstalten zu gönnen.

Endlich wurde angerichtet; es brauchte gar lange, bis das Essen in Gang kam, da Minna wohl zehnmal aufspringen mußte, um wieder ein vergessenes Tischgerät zu holen und zu suchen, und sich alle Augenblicke in äußerster Ratlosigkeit fragte: »Wo habe ich nur den Schlüssel zum Weißzeugkasten?« – »Arwed, sitzest du nicht auf der Serviette?« – »Christine, seh[66] Sie doch, ob nicht ein Kinderlöffel im Bettchen geblieben ist?« Arwed schien dabei wie auf Kohlen zu sitzen, und seine nervöse Gereiztheit gab sich mit halben Worten oder Gebärden kund, was das Mittagessen nicht gerade zu einem Göttermahl machte, obwohl Minnas Küche zeigte, daß auch sie eine Tochter des alten gastlichen Amthauses sei. Sie nahm aber heute die unfreundlichen Mienen und knurrigen Seitenbemerkungen ihres Mannes mit so viel Sanftmut auf, daß dieser allmählich entwaffnet wurde und sie in der Stille mit einiger Verwunderung zu betrachten schien.

Nach Tisch lud Arwed den Gast zu einem Spaziergang auf die nahegelegene Höhe ein. Minna zog vor, daheim zu bleiben; sie hätte so gern ihrem alten Freund, dem Gatten ihrer überpünktlichen Schwester, ihre Wohnung etwas freundlicher und mehr geordnet gezeigt, als er sie am Morgen getroffen.

Wilhelm fühlte, daß auch Arwed das Herz voll hatte, und es war ihm etwas bange auf seine Ergießung. Es ist eine schöne Sache um eine Vertrauen erweckende Natur, aber es hat sein Beschwerliches, der Vertraute von jedermann zu sein. Arwed begann mit seinen vereitelten Hoffnungen, seinen fehlgeschlagenen Plänen; er war natürlich ein Märtyrer der Gesellschaft, ein Opfer eines herzlosen Zeitalters. »Und alles wäre vielleicht anders geworden in einer andern Häuslichkeit!« brach er dann endlich aus. »Unbeengt von dem Druck häuslicher Unbequemlichkeiten, von den Sorgen und Schikanen des Alltaglebens hätte mein Geist sich freier entfaltet. Wie anders dacht' ich mir dies einst so anmutige Geschöpf als Frau: meine lebende Muse, das Licht meiner trüben Stunden, den freundlichen Genius, der die Steinchen kleinlicher Mühseligkeit aus meinem Pfade räume, daß ich frei und sicher zum höchsten Ziele voranschreiten könnte! Statt dessen ein schwaches, selbstsüchtiges Wesen, die mir das kleinste Opfer, das sie mir je gebracht, zehnfach fühlbar macht; die in der Zeit des Mißgeschicks, wo sie mir Trost und Erheiterung sein sollte, wehrlos klagend am Wege liegen bleibt; bei jeder kleinen Erholung, die ich mir gönne, ängstlich danach hascht, auch sich ihren Teil [67] Genuß zu sichern; eine nachlässige, zerstreute Hausfrau, die mich nötigt, an die erbärmlichsten Details zu denken, wenn ich nicht darüber stolpern will; eine Mutter, die über einem interessanten Roman Haus und Kinder vergißt, die ihre gerühmte Frömmigkeit mit nichts als mit Kirchgehen betätigt, wenn sie anders so fertig wird, daß ihr der Kirchgang möglich ist: – oh, meine jungen Träume!«

Es ist unbeschreiblich traurig, zwei Herzen, die eins sein sollten gegen eine Welt, sich in solchen Klagen spalten zu hören: und [68] Wilhelms Lage war hier schwieriger. Verschiedene Geschlechter üben leichter Einfluß aufeinander; wo es einen Tadel gilt oder eine Ermahnung, da muß Mann gegen Mann oder Frau gegen Frau unendlich vorsichtig sein, um nicht zu verletzen.

Mit einer Bußpredigt, die bei Minna weichen Boden fand, wäre er hier schlecht angekommen. Er rief nur Arweds männliche Kraft auf, seinen Schutz, sein Mitleid für das verwöhnte Kind einer sonnigen Heimat, das für ihn die Freuden der Heimat und seinen ungetrübten Frühling hingegeben; er rief ihm den Tag zurück, an dem er Minnas Herz im Sturm genommen, schilderte ihm die begeisterte Liebe, mit der sie an seinem Bilde gehangen, und wußte so in seiner Seele eine Ahnung seiner eigenen Verpflichtung zu wecken, dies schwache Wesen zu schützen und zu stützen, eine Pflicht, die ihm seither, wie es schien, noch gar wenig zu Sinne gekommen war. Es ist eine leidige Sache in der Ehe, wenn jedes sich hinsetzt, erwartungsvoll, daß das andre es nun glücklich machen soll; es kann auf diese Weise gar leicht kommen, daß beide allein und unbeglückt sitzen bleiben.

Mit noch größerer Schonung wies er ihn auf mehr Eifer und Freude für seinen prosaischen Lebensberuf hin: »Wer weiß, die Muse ist eine launige Frau, die sich entzieht, wo man zu feurig um sie wirbt, und sich naht, wo man sie nicht zu suchen scheint; vielleicht, wenn du dich fester ansiedeln, dich behaglicher fühlen würdest im nüchternen Geschäftsleben, die Poesie käme ungesucht.«

»Du magst wohl recht haben,« entgegnete Arwed sanfter, als Wilhelm gehofft, »ich glaube, es ist nicht so schwer, sich in der Philisterei zurecht zu finden, wenn man sich nur die andern Gedanken ein wenig aus dem Kopfe schlagen kann. Oh, es kommen mir oft ganz leidige Gedanken, bei Nacht, wenn mich der verwünschte Husten nicht schlafen läßt, Gedanken, ob ich nicht besser getan, hinter dem Aktentisch zu bleiben und meine Gedichte im Pult zu lassen. Oh, ein verfehltes Leben!« Nach einer Weile fuhr er heiterer fort: »Wenn ich mich recht ernstlich hinter die langweilige Geschichte mache, habe ich vielleicht Aussicht [69] auf Vorrücken, eine sicherere Verbesserung, als wenn mein ›Tatenloser‹ gedruckt wird; und das wäre so nötig! Oh, das Geld, dieser verwünschte, schadenfrohe Dämon, den ich mein Leben lang mit äußerster Verachtung behandelt, wie bitter hat er sich gerächt!« – »Das ist so seine Art,« lächelte Wilhelm, »er will herrschen oder beherrscht sein.«

Während Wilhelm Arwed erheiterte durch Erinnerungen aus der Jugendzeit und die anmutige Lage des Dörfchens bewunderte, erreichten sie das Haus wieder. Minna und das Dienstmädchen hatten mit namenloser Anstrengung die zerfallene Laube des Hausgärtchens geräumt und ein Tischchen dort hergerichtet, auf dem sie den Kaffee anbot. Diese Anordnung erheiterte Arwed noch mehr; wenige Ehen sind so verknöchert, daß nicht Mahnungen aus der Frühlingszeit ihrer Liebe wieder einen Funken wärmeren Gefühls hervorlockten. Ein Frühlingstag, wie lange nicht mehr, ging über dem freudlosen Hause auf, und es waren nicht nur vertrocknete Blüten der Vergangenheit, die in den beiden Herzen auflebten, es waren auch Keime einer besseren Saat für die Zukunft.

Wilhelm wollte noch vor Abend zur Stadt zurück, um von dort leichter nach Eduards Wohnort zu kommen, wo er seine Reise schließen wollte. Arwed rüstete sich, ihn zu begleiten; Minna näherte sich dem Gatten, eben als Wilhelm mit den Kindern beschäftigt war, etwas schüchtern und verlegen, und gab ihm das Buch, das sie hinter dem Sofakissen vorgezogen hatte: »Wolltest du das nicht gleich der Leihbibliothek zurückgeben?« fragte sie leise. »Ich will keine Fortsetzung.« – »Und du hast wieder angefangen mit der verwünschten Leihbibliothek?« fragte derDichter Arwed Nordstern ungehalten. »Ich will aber aufhören,« sagte sie mit gesenkten Blicken, »darum habe ich dir das Buch gegeben.« Demut und Offenheit sind unwiderstehliche Waffen für ein Gemüt, in dem noch ein edler Funken lebt; Wilhelm war ungeheuer eifrig, die Bildchen zu betrachten, die ihm die Kinder zeigten, um die kleine Versöhnungszene nicht zu sehen, die über dem beschmutzten Leihbibliotheksroman geschlossen wurde.

[70] Er sah Minna noch einen Augenblick an. »Trage Sorge für deinen Mann, liebe Minna,« flüsterte er, »was du ihm erweisen kannst an Liebe und Treue, das tue bald! Du weißt nicht, wie lange du Zeit findest.« Erschreckt sah ihn Minna an und blickte auf ihren eben eintretenden Gatten; nie zuvor war ihr sein gesunkenes Aussehen aufgefallen, es war so allmählich gekommen! Ach, und sie hatte ihn so lange nicht mehr mit den scharfsehenden Augen besorgter Liebe betrachtet!

Wilhelm fühlte, daß ihr ein Stich in die Seele ging, aber er hatte ihr das Wehe nicht ersparen können.

Wehmütig und doch nicht ohne Hoffnung auf bessere Tage schied er von ihr.

[71]

Ein glückliches Pfarrhaus

»'s Letzt ist's Best!« lautet ein schwäbisches Sprichwort, das nicht allenthalben anwendbar ist. Auf Wilhelms Reise aber paßte es gut: das Pfarrhaus in Bergzimmern, mit dem er seine Familienreise schloß, mußte ihm den freundlichsten Eindruck zurücklassen, wie Kindern, denen man den klugen Rat gibt: »Iß zuerst dein Brot und nachher den Kuchen, so meinst du, du habest lauter Kuchen gegessen.« Ein schönes Pfarrhaus war es eben nicht, und die Einrichtung war mehr als einfach, aber Blumen und Sonnenschein genug, und das geschäftige, glückselige Pfarrfrauchen, die immer noch so oft errötete wie vor sechzehn Jahren, war Blume und Sonnenschein zugleich, wenn auch längst keine Frühlingsblume mehr.

Es war eine alte und doch wieder eine nagelneue Liebe, die Eduard vor drei Jahren, als er endlich zu Amt und Brot gekommen war, zu der stillen Emma geführt. In Emmas Herzen war sein Bild seit jenem Morgen unverdrängt geblieben; aber es war eine so gar stille Liebe, die sie nicht sich selbst und nicht einmal Gott bekannte. Von Eduard können wir nun nicht dasselbe rühmen; bei jener Wasserfahrt war die schüchterne kindische Emma nur ein Gegenstand seiner Protektion, und er hatte sie höchstens einmal mit dem Gedanken beehrt, das könne später ein nettes Mädchen geben. Gar manche liebliche Gestalt, manch blonde und braune Schönheit war indes seinem beweglichen Herzen gefährlich geworden, und doch kehrte allmählich immer wieder ihr sanftes Bild in seiner stillen Jungfräulichkeit, eine verschlossene Knospe, in seinen Träumen wieder, und als am Ende all die glänzenden Erscheinungen vorübergezogen waren, da fand er, daß dies jungfräuliche Bild geblieben. Als aber Emmas Mutter nach ihres Gatten Tode seines Vaters Haushalt übernahm, kam diese zu entfernten Verwandten, und Eduard dachte ihrer selten mehr.

Als er aber nun endlich und endlich, dem Schwabenalter nahe, zum Ziele gekommen war und die Pfarre in Bergzimmern dringend einer Frau Pfarrerin bedurfte, da fiel ihm [72] unter allen Töchtern des Landes eben doch wieder die schüchterne Emma ein, die nun in der alten Heimat mit ihrer Mutter lebte, vom Leben vergessen, wie sie dachte, in anspruchsloser Heiterkeit. Und er fand sie wieder, nicht mehr in erster Jugend, aber in unverwelkter Lieblichkeit, fast unberührt von der Zeit; die verschlossene Knospe öffnete sich ihm, und er fand, daß sie sein Bild gehegt hatte, fast ohne es zu wissen, daß sie aber in der langen Zeit der Einsamkeit nicht ein krankhaftes Schmachten und Sehnen genährt hatte, sondern sich geschmückt wie die Blume des Tales, auf die nur der blaue Himmel niederschaut, in keuscher Lieblichkeit mit sanftem und stillem Geiste.

Emma war's wie ein Traum, als Eduard, der stattliche junge Pfarrherr, um sie warb, und ihre erste Antwort war der schüchterne Einwurf: »Ich bin eben zu alt.« Daß sie jung geblieben sei in ihrer mädchenhaften Anmut, in der frischen Gesundheit eines reinen Herzens, das wollte sie nicht glauben; aber sie fühlte es allmählich an dem Gefühl jungen Glückes, das ihre Seele überströmte.

Noch jetzt hätte die Pfarrfrau von Bergzimmern, die doch schon die Dreißig überschritten hatte, sich für ein Mädchen geben können, wenn man sie jemals ohne eins ihrer zwei Kinder gesehen hätte, den kleinen Martin an der Schürze, das niedliche Julchen auf den Armen. Das waren ein Paar wunderbare Kinder! Der Martin, obgleich erst zwei Jahre alt, sagte schon so erstaunliche Dinge; er nannte den Mond einen lieben Gottskopf oder nahm des Papas Pfeife in den Mund und sagte: »ich Papa«, daß seine Mutter immer den Vater und verstohlen den Gast ansehen mußte, ob sie es auch gehört. Seine Reden und Taten gaben noch lange Gesprächsstoff, nachdem er zu Bette gebracht war. Und das Julchen! Gewiß und wahrhaftig, sie hatte schon mit vierzehn Tagen gelächelt, die Wartefrau konnte es bezeugen, und die Art, wie sie jetzt schon mit ihren Händchen krabselte und wie sie nach Farben sah und wie sie der Mutter Stimme kannte, die war weit über ihr Alter und berechtigte zu den schönsten Hoffnungen, den kühnsten Erwartungen.

[73] Viel zu tun hatte Frau Emma, erstaunlich viel, sie entschuldigte sich immer damit und meinte, sie verstehe wohl noch nicht, es einzurichten; aber hell und freundlich und ordentlich wie ihre Zimmer war ihre ganze Erscheinung, und sie war so glückselig und dankbar für ihr ganzes Dasein, daß niemand je den Eindruck bekam, daß ihr etwas sauer geschehe. Ein recht gesprächiges Pfarrfrauchen war aus dem stillen Mädchen geworden, und niemand hätte geglaubt, daß sie bei ihrer Schüchternheit ein so gutes, sicheres Hausregiment führen könnte.

Wilhelm sonnte und labte sich recht an diesem fröhlichen Hausstand; er ergötzte sich an der immer neuen Überraschung Eduards über die Vorzüge seiner Frau, an dem bescheidenen [74] Selbstgefühl, mit dem er diese Vorzüge als sein besonderes Verdienst wegen seiner guten Wahl in Anspruch nahm; er bewunderte gehörig die seltenen Talente der Kleinen und empfahl sich durch einen Hampelmann, eine Trompete und eine Kinderklapper, die fast den Rest seiner Reisekasse erschöpften, vollständig in die Gunst der Mutter und der Kinder und schritt dann getrost und fröhlich seiner Heimat zu.

»Und ich will glücklich sein, mein Haus soll mir freundlich werden, und meine Kinder sollen sich ihrer Heimat freuen lernen,« war der Endbeschluß, den er nach Hause zurücktrug; »keine Liebe, keine Geduld und Treue soll mir zu viel sein, die Blumen zu pflegen, die unter Küchengewächs zu ersticken drohen.«

Und seine Arbeit war nicht vergeblich. Was der Vater allein nicht vermochte, das gelang allmählich dem jungen, frischen Lebenshauch, der mit den Kindern das allzunüchterne Haus durchströmte und der mit fröhlichen Klängen das knarrende Räderwerk eines allzu geordneten Haushalts übertönte.

Die Schule des Lebens

Es ist ein alter pädagogischer Streit, ob das Lernen gleich anfangs als ernste Arbeit oder ob es zuerst nur spielend betrieben werden soll. Ich denke, die Schule des Lebens könnte uns einen Wink darüber geben. Selten fängt sie frühe schon mit ernsten Lektionen an; für den aber, der die ersten leichteren Lektionen nicht verstehen will, ist das Muß nachher umso bitterer.

Minna war sich sehr spät erst bewußt worden, daß es Ernst sei mit der Schule des Lebens, und darum wurde ihr die verspätete Lehrzeit auch eine sehr schwere. Es ist so leicht, einen raschen Entschluß zu gänzlicher Besserung und Lebensänderung zu fassen, so unendlich schwer, ihn durchzuführen, namentlich wenn die Besserung am kleinsten beginnen muß und wenn die äußeren Verhältnisse dieselben bleiben.

Dazu kommt die eigentümliche falsche Scheu, die sich einer sichtbaren Besserung schämt, weil darin zugleich eine Demütigung, [75] ein Eingestehen der früheren Schuld oder Versäumnis liegt.

Wenn nicht Wilhelms letzte Hindeutung auf ihres Mannes untergrabene Gesundheit einen Stachel in ihre Seele geworfen hätte, den sie nicht wieder los wurde, sie wäre vielleicht nach einigen Versuchen wieder mutlos ins alte Gleis zurückgekehrt und darin versunken. Aber der Gedanke »vielleicht zum letztenmal«, der sie nun bei allem begleitete, was auf ihren Gatten Bezug hatte, hielt sie aufrecht und trieb sie immer wieder zur einzigen Quelle der Kraft, wenn sie ihre Schwachheit fühlte.

Zunächst also galt es die Aufgabe, den Mann der Heimat zu gewinnen, ihm das eigene Haus lieb zu machen. Mit tiefer Beschämung empfand sie den Vorwurf der Unordentlichkeit aus Wilhelms Worten, den bittersten, wenn er der Frau von einem Manne gemacht wird. Sie war sich doch bewußt, daß sie immer Sinn fürs Schöne, Freude am Zierlichen gehabt; warum doch war's ihr nie gelungen, was sie so hübsch zu ordnen verstand, auch geordnet zu erhalten? – Bei näherem Nachdenken kam sie darauf, daß es ihre Zerstreutheit vor allem war, die sie die häuslichen Kleinigkeiten achtlos verwahrlosen ließ, die eine stete, stille Aufmerksamkeit fordern.

Die Romane, das Nippen und Schlürfen an unterhaltender Lektüre, das so leicht zum Berauschen wird, trugen wohl die erste Schuld. Der Leihbibliothek hatte sie entsagt und blieb standhaft dabei; sie setzte sich Stunden fest, wo sie sich überhaupt das Lesen noch gestattete. Aber gar oft, wenn ihr beim Ordnen des Zimmers eines ihrer alten Bücher in die Hand fiel, fing sie an zu blättern und blätterte, bis viele kostbare Viertelstunden verstrichen und ihre Sinne und ihre Gedanken weit weg von der kleinen Alltagspflicht geflogen waren.

Zu dem kam die gereizte Laune ihres Mannes, die oft eben ausbrach, wenn sie gewiß glaubte, alles aufs beste getan zu haben, die ihr allen Mut wieder nahm und ihr die bittern Tränen in die Augen trieb. – Sie verzagte an sich, an aller Möglichkeit, daß es bei ihnen je besser werden könne, – bis [76] ihr endlich der Gedanke kam, ihren Gatten selbst zum Vertrauten und Gehilfen bei dem Werk der Änderung zu machen.

Ach, sie waren eines freundlichen, vertrauten Verkehrs so entwöhnt, daß sich lange nicht die rechte Stunde zu einem offenen, herzlichen Wort finden wollte.

Da kam Arweds Geburtstag. Gesegnet seinen diese häuslichen Feste, die in das vertrocknetste Herz und Haus doch je und je wieder ein frisches Brünnlein der Freude und Liebe leiten! Minna hatte in all diesen Jahren auch des Gatten Geburtstag begangen; aber die schönen Handarbeiten, die sie aus eigener Liebhaberei dazu verfertigt, waren in den letzten Jahren kühl aufgenommen worden, und der Dichter Arwed hatte einige Worte über verdorbene Zeit und hinausgeworfenes Geld fallen lassen. So dachte sie sich diesmal eine andere Überraschung aus, die sehr begünstigt wurde durch eine kleine Reise, die er in Geschäften der Bibliothek unternehmen mußte.

Arweds Zimmer war ein jahrelanger Zankapfel gewesen, bis zuletzt der Streit ohne Friedenschluß beiseite gelegt worden war. Er hatte großen Wert auf die hübsche Einrichtung dieses Zimmers, auf seine Bewahrung vor häuslichem Gerümpel gelegt. In der ersten Zeit war das sonnige Oberstübchen auch wirklich das zierlichste und ordentlichste im Hause geblieben.

Es war auch noch hübsch gewesen, als Minna mit dem ersten Kinde sich manchmal beim Vater oben zum Besuche einfand und den Kleinen auf dem Boden spielen ließ. Als aber der Kinder dreie wurden, welche die Mutter, wenn sie nichts mit ihnen anzufangen wußte, in des Vaters Stube sperrte, wo sie die Prachtbände seiner Bibliothek herumwarfen, mit den andern Büchern Häuser bauten und Manuskripte zerrissen, da verbat sich Arwed ernstlich solch kindliches Zutrauen. Je launischer aber in spätern Tagen seine Muse wurde, je unergiebiger die Stunden seiner Einsamkeit, desto kürzer und seltener war er zu Hause zu finden, und desto mehr wurde das Heiligtum der Dichterstube zum Abstellwinkel mißbraucht für alles, was unten der Frau im Wege stand.

[77] Nun aber wurde oben gelüftet und gescheuert; Minna opferte ein Paar werte Ohrgehänge aus ihrer Mädchenzeit, um neue, freundliche Tapeten zu erschwingen; mit Efeugewinden und wohlfeilen Topfpflanzen wurde es hübscher, als es je zuvor war, her gestellt, und die kleine Antonie zeigte einen für die Mutter überraschenden Ordnungssinn, wie sie mit ihren kleinen Händchen mitangriff.

Arwed kam am Abend vor dem Geburtstag spät nach Hause, etwas frischer und heiterer als sonst; die kleine Reise hatte ihm gut getan. Seinen Geburtstag wollte er aber eigentlich lieber vergessen; es ist so ein Jahrestag auch stets ein Mahntag an unbezahlte Schulden, an unerfüllte Vorsätze, an getäuschte Erwartungen. Er war gewöhnt, wegen der letzteren Gott und die Welt in seinen Gedanken anzuklagen; diesmal aber ließ der Ankläger in der eigenen Brust sich lauter hören als sonst.

Minna war vor ihm aufgestanden, – eine ungewöhnliche Erscheinung; im Wohnzimmer, das frisch gelüftet und aufgeräumt war, war das Frühstück üppiger als gewöhnlich angeordnet, – er suchte Frau und Kinder, die fröhlichen Stimmen leiteten ihn nach oben. Er öffnete die Tür, – durch die hellen Fenster zwischen weißen Gardinen fiel der Schein der Morgensonne, die Schatten der hohen Bäume des Grasgartens spielten auf den hellen Wänden, leichte Efeuranken schlangen sich um die Fenster, – es war ihm, als ob sein Dichterfrühling ihn noch einmal begrüßte, obschon die Bäume draußen bereits an den Herbst mahnten. – Und die Kinder standen im festlichen Schmuck, Wilhelm deklamierte ihm mit militärischem Anstand ein Gedicht –


Ach, er erkannt' es wieder
Sein eignes erstes Lied!

und hinter den Kindern stand sein Weib, die Liebe seiner Jugend: keine Klage auf den Lippen, keinen stillen Vorwurf im Blick, nur einen Strahl der alten Liebe und eine tiefe innerliche Wehmut. Oh, es liegt eine wunderbare Heilkraft in der Luft des eigenen Hauses, wenn ein Hauch von oben darein [78] weht! So einfache Mittel können genügen, um tiefe und schlimme Schäden zu heilen.

Ein Vorwurf, der ihn früher mit tiefer Bitterkeit erfüllt, wenn er ihn aus seines Weibes Worten durchzufühlen geglaubt, der Vorwurf, wie wenig er bis jetzt seine Pflicht als Haupt und Stütze seines Hauses erfüllt; wie er ein schlechter Hausvater gewesen; wie er nach dem Schatten des Ruhms gehascht, statt in Treue und Selbstverleugnung sein Haus zu gründen, trat jetzt klar und unabweisbar vor seine Seele, und [79] mit den Worten der alten Liebe strömten auch die einer heftigen, rückhaltlosen Selbstanklage über seine Lippen.

Es ist so schwer, demütig und selbstlos zu sein, wo uns Egoismus und Selbstsucht entgegentreten; es wird so leicht gegenüber der Liebe und Demut. Auch Minna fand nun Worte für ihre Reue: all ihre Vorsätze, das ganze Gefühl ihrer Schwachheit legte sie in sein Herz nieder und bat ihn, ihr zu helfen, wo sie wieder wanke, und zum erstenmal hörte sie auch aus seinem Munde die Hinweisung auf eine Kraft, die in unserer Schwachheit mächtig ist. – Sie verlebten den Tag in einem Gefühl des Friedens und der Seligkeit, der alle bangen Ahnungen Minnas zur Ruhe wiegte. Nur wenn Arwed sich in Plänen und Entwürfen für die Zukunft erging, die sich nun ganz anders gestalten sollte, wenngleich er sie nimmer auf die Schwingen des Pegasus bauen wollte, – dann ward ihr wieder bange ums Herz, und sie blickte mit stiller Sorge in seine glänzenden Augen.

Arwed war es Ernst mit dem Bessermachen, und er bestätigte dies dadurch, daß er nicht verschmähte, am Kleinen und bescheiden anzufangen, um das Los seiner Familie zu verbessern. Er vertraute seine Lage dem Oberbibliothekar, der sie freilich längst gekannt, und erhielt mit seiner Hilfe Lehrstunden in deutscher Sprache und Literatur in angesehenen Familien. Was er zuerst als mühsame Pflicht übernommen, weckte eine Lust und Freude an der Sache in ihm, die er nie geahnt; bald wurden seine Stunden gesucht, sie wurden Mode, und die interessante Persönlichkeit des Dichters, vereint mit seiner blühenden Darstellungsgabe, machten ihn zu einer Art von Löwen des Tages; ein Erfolg, der sein häusliches Glück, seine männliche Tüchtigkeit wieder von andrer Seite bedenklicher hätte gefährden können als zuvor Sorge und Not, wenn nicht eben der gute Geist des eigenen Hauses und die Erinnerung an frühere Täuschungen mächtig entgegengewirkt hätten.

Minnas Aufgabe wurde ihr schwerer. Bei ihr bedurfte es nicht einer entschiedenen Tat, nur eines täglichen, stündlichen Kampfes mit eingewurzelten Gewohnheiten, kleiner Opfer, [80] die niemand bemerkte und niemand anerkannte, eben weil sie sich eigentlich von selbst verstanden.

Es wäre für eine gewissenhafte und aufmerksame Hausfrau leicht gewesen, ein hübsch eingerichtetes Hauswesen in guter Ordnung zu erhalten; für die reuige Frau war es unendlich schwer, das herabgekommene mit spärlichen Mitteln wieder aufzubringen.

Aber Arwed hatte in seiner eigenen Reue, in seiner Selbstverleugnung den guten Willen seines Weibes und seine Pflicht, hier zu helfen, verstehen gelernt. Er sparte nicht den freundlichen Dank fürs Kleine, dasgute Wort, das der Frau so wohl tut und das selbst bei guten Männern oft eine so seltene Ware ist, weil sie eben meinen, das verstehe sich alles von selbst, und nicht begreifen, daß auch die vernünftigste Frau immer noch ein bißchen Kind bleibt. So richtete sie sich auf an seiner Liebe, und das Gute ist ja, Gott sei Dank, in keinem Herzen eine ausländische Pflanze, die künstlich von außen ernährt werden müßte; sie hat heimatlichen Grund und Boden in unserer eigenen Seele, und Himmelsluft und Himmelslicht zu ihrem Wachstum bleibt nicht aus.

Arwed rückte in seinem Amte vor; dies und seine Lehrstunden, aus denen bald Vorlesungen würden, bestimmten ihn, den Landaufenthalt zu verlassen; er und Minna widerstanden glücklich den Gefahren des Residenzlebens. Arwed wollte keine geselligen Genüsse, die seine Frau nicht teilen konnte, und bald war ihm seine eigene Stube, die nun wirklich ein unentweihtes Heiligtum blieb, wieder doppelt lieb. Wilhelm hatte richtig prophezeit: nun er nimmer bedrängt war von äußerer Not, nimmer gespalten von widerstrebenden Gefühlen und Bestrebungen, nimmer geärgert durch eine unerquickliche Häuslichkeit, stellte sich die Muse ungesucht wieder ein, und wenn er auch keine kühnen Hoffnungen mehr auf ihre Gaben baute, so sagte er sich doch oft im stillen mit stolzer Freude: »Und es war kein Traum.«

Auch seine Gesundheit schien zu erstarken, und Minna wiegte sich in frohen Hoffnungen einer schönen Zukunft, – aber es [81] sollte nicht so sein. Zwei Jahre fast ungetrübten Glückes waren ihnen gegönnt; bald nach dem zweiten Jahrestag jenes segensreichen Geburtstags fingen Husten und Brustbeschwerden bei Arwed an, sich stärker zu regen. Minna pflegte ihn unermüdet mit höchster Treue, er selbst war gar nicht bekümmert über seine Krankheit; er hoffte auf den Frühling, – auf eine Badekur im Sommer, – auf eine Traubenkur im Herbst. Minna hatte bald die Hoffnung aufgegeben; sie nahm jeden Tag seines Besitzes als ein Gnadengeschenk, sie suchte jeden so reich zu machen an Liebe und Treue, wie sie konnte, – in die Zukunft blickte sie nicht.

Arwed hatte Unterricht und Vorlesungen aufgeben müssen, bald konnte er auch sein Bibliothekamt nimmer versehen; es hatte noch nicht gereicht, in den kurzen Tagen des Wohlergehens einen Notpfennig zu sammeln: so drohte die Not aufs neue hereinzubrechen. Jetzt erst lernte Minna, was aufopfernde Liebe vermag, und sie dankte Gott tausendmal für die guten Tage, in denen ihre neugewonnene Kraft hatte erstarken können, ehe sie so schwere Proben zu bestehen hatte. Jetzt lernte sie klaglos entbehren, um die Bedürfnisse und Wünsche des Kranken zu befriedigen, heiter sein, wo ihr Herz blutete, arbeiten um Erwerb, wo ihre Kraft nimmer für das Nötigste zu reichen schien; – aber sie erfuhr auch den vollen Segen solcher Hingebung, einen Frieden mitten im tiefsten Leid, wie ihn kein Glück der Erde gibt, einen Vorschmack der Zeit, wo kein Leid und keine Trennung mehr ist.

Freilich kamen auch unsäglich schwere Stunden, wo der Kranke von einem Nichts gereizt und verstimmt wurde, wo all ihre Opfer vergeblich und ihre Liebe unverstanden schienen; – aber sie hielt aus und verlor nicht den Glauben an die Sonne, auch wo sie tagelang umwölkt war.

Für die armen Kinder war der Wechsel, der freilich allmählich kam, ein gar trauriger. Sie hatten sich so fröhlich gesonnt in dem wiederaufgegangenen Glück der Heimat; sie hatten so kurz erst erfahren, wie ein anderes es ist um eine treue Mutter als um eine solche, die nur eben ihre Kinder ankleidet und [82] füttert und dann laufen läßt; für die das beste Kind das ist, das ihr am wenigsten in den Weg kommt; sie hatten, wenn auch unbewußt, doch mit innigem Wohlgefühl empfunden, welch kräftigenden, belebenden Einfluß das Vaterauge, die Vatersorge auf eine Kinderseele hat, und nun legten sich allmählich wieder so trübe Schatten auf die neugewonnene Heimat!

Aber es war doch besser als zuvor. Sie hatten, jung wie sie waren, in der kurzen Zeit gelernt, sich als lebendige Glieder des Hauses, nicht als zufällige Anwüchse zu fühlen; so waren sie auch jetzt nicht störend, und die frühe Schule des Leides wurde ihnen zum Segen.

Wilhelm war entschieden des Vaters Liebling; es kamen selten so schlimme Tage, wo er nicht in der Krankenstube willkommen gewesen wäre. Wenn er des Vaters Lieder deklamierte, wenn er seine selbstgebildeten kindlichen Reime vortrug, in die sich hie und da ein Funken höherer Poesie einstahl, den er da und dort aufgehascht, da sah Arwed mit seinem alten sanguinischen Sinn schon auf des Sohnes Stirn den Lorbeer, den er nicht errungen. Merkwürdig war, daß der Junge ein ebenso großer Liebling seines prosaischen Großvaters und Onkel Karls war, bei denen er alle Ferien zubrachte, und daß diese versicherten, er gebe einmal einen kapitalen Landwirt, er sei nicht vom Vieh und vom Acker wegzubringen. Antonie, das älteste Töchterlein, glitt nur leise durch die Krankenstube, glücklich, wo sie etwas ordnen, dem Vater etwas bringen und helfen durfte; das kleine Klärchen, das war wie der klare Sonnenstrahl an einem trüben Herbsttag, nicht kräftig genug, die welkenden Pflanzen wieder zu beleben, aber lieblich genug, um auch den hinsterbenden wohlzutun und ihnen noch für Augenblicke den Glanz der frischen Blüte zu geben. Alle aber lernten in diesen Tagen frühe, unbewußt, der Liebe ein Opfer zu bringen und die Sternlein zu finden auch in der dunkelsten Nacht.

Der alte Amtmann hatte sich noch der bessern Tage seines Kindes freuen dürfen, er hatte ihre Sorge geteilt, als sie mit dem kranken Mann einige Wochen in der alten Heimat zugebracht; aber er starb, ehe sie das tiefste Weh erfahren, und [83] als Minna im Spätherbst ihres Arweds müde Augen zudrückte, da stand sie allein mit ihren drei Kindern, mit dem kleinen Teil, der ihr noch am Vatererbe zukam, verwaist, verwitwet und doch getrost.

Sie war wunderbar gefaßt und stark, sie hatte an des Gatten Krankenbett ein unvergängliches Kleinod gefunden. Nicht nur die alte Liebe war ihnen neu geboren worden, schöner und reicher als in ihren Frühlingstagen; sie hatten ihre Herzen vereinen gelernt im Quell aller Liebe, und ihr Scheiden war keine Trennung.

Mutig nahm sie den Kampf mit dem Leben auf. Es war kein leichter, obwohl die Liebe ihrer Geschwister sie treulich unterstützte, und die Kraft, die sie im Gefühle ihres tiefsten Leides getragen, drohte oft ihr zu sinken in den ruhigern Zeiten, wo das Leben mit seinen Forderungen den gewaltigen Schmerz mehr zurückdrängte. Aber Gott hat ihr durchgeholfen.

Abendsonnenschein

Mir gefällt der Herbst, der klare,

Weil er spät vom frühen Jahre

Bringt den milden Widerglanz,

Weil er flicht für greise Haare

Einen Jugendliederkranz.

Mir gefällt der Herbst, der klare,

Weil er bringt zu Markt als Ware

Frucht, die flücht'ge Blüte war,

Daß man für den Winter spare,

Was der Sommer heiß gebar.

Rückert.


Die Zeit ging vorüber auch über diesen Häusern und Herzen, sie pflückte Rosen und sie nahm Dornen. Das Gewicht des Lebens würde uns erdrücken, wenn wir immer nur Schritt für Schritt gehen, nur Augenblick um Augenblick tragen und erwägen müßten, wenn es nicht Höhepunkte gäbe, auf denen auch der mühsamste Weg mit Ruhe überblickt werden kann; wo der Anblick seiner Krümmungen und Abhänge selbst zum Genuß wird, im Gefühl, daß sie überwunden sind und daß sie ja doch zum Ziele geführt haben.

Ein solcher Höhepunkt war denn auch ein fröhliches Familienfest, [84] das auf der Stätte des alten Amthauses zu Bernheim gefeiert wurde.

Der alte Herr hatte sich lange schon zur letzten Ruhe gelegt, auch die Frau Karls, des Gutsbesitzers, war gestorben. Der kinderlose Witwer hatte Minna gebeten, sich seines Haushalts anzunehmen, und ihr so die alte Heimat geöffnet.

Nur schüchtern hatte Minna diese Aufgabe übernommen, obgleich sie der materiellen Mühen und Arbeiten des Haushalts enthoben war; sie war mißtrauisch in ihr Talent als Haushälterin, und nach ihren Lebenserfahrungen zog es sie mehr zur Ruhe und Stille als zur Leitung eines so großen, geräuschvollen Hauswesens. Aber sie hatte gelernt, keine Pflicht mehr für unmöglich zu halten. Ein Juwel, wenn auch ein höchst ungeschliffenes, von einer alten Hausmagd, die, als Erbstück des alten Amthauses, in ihr noch dessen Tochter respektierte, und das häusliche Talent ihres erwachsenden Töchterleins erleichterten ihr, was ihr so schwer geschienen, und sie war dem Hause des Bruders eine sorgsamere und umsichtigere Verwalterin geworden als zu Anfang ihrem eigenen. Brauerei und Landwirtschaft standen in blühendem Gedeihen; aber wie sich sein zeitlicher Besitz überreichlich gemehrt, war allmählich in Karl, dem nüchternen Mann der Arbeit und des Erwerbs, das Bedürfnis nach Verwandtenliebe, nach Familienfreude und häuslichem Glück erwacht; er freute sich seiner Neffen und Nichten wie eigener Kinder und ließ sie gern gewähren, so daß der neue Bau versprach, etwas von der Gemütlichkeit des alten Amthauses wiederzugewinnen.

Karl wollte nun, da er sich mehr nach Ruhe sehnte, sein Geschäft teilen und heute in feierlichem Akt die Gutsverwaltung seinem Lieblingsneffen Wilhelm, dem ältesten Sohn Minnas, übergeben, der zugleich seine Verlobung mit dem jüngsten Töchterlein Onkel Wilhelms und Tante Friederikens feierte. Als zweites Brautpaar schmückte die Familientafel Antonie, Minnas Tochter, mit einem Sohne des ehemaligen Herrn Oberregierungsrats, jetzt Staatsrats von Fürst.

Antonie hatte den langen Saal des Hauses, der sonst nur [85] zum Hopfentrocknen benützt worden, mit Blumen und Laubgewinden zur schönsten Festhalle geschmückt; mit Jubel wurden auf dem Hofe die Ankommenden empfangen, und bald ordneten sich an zwei ansehnlichen Tafeln alle, die einst in einem so kleinen Schiffchen Raum gefunden.

Zu oberst an der Tafel thronte, wie billig, der Herr Staatsrat, jetzt ein alter Herr, im Gehen etwas beschwerlich keuchend, aber sitzend gar ansehnlich, mit den zwei Ordenskreuzen auf seinem stattlichen Bauch. Er sah äußerst wohlwollend und behäbig drein, was allgemeine Bewunderung und Rührung erregte. Auch erzählte Frau Mathilde, eine recht wohlerhaltene Matrone, ihrem Tischnachbar, dem Onkel Karl, wie ihr Mann, seit er pensioniert sei und Enkel habe, so viel für seine Familie lebe und nun erst die gemütlichen Seiten seines Wesens offenbare, die man ihm gar nicht ansehe.

Dem Staatsrat zur Rechten, sehr geschmeichelt durch diesen Ehrenplatz, saß Frau Friederike, in einer etwas hoch aufgedonnerten Staatshaube, mit der sie Wilhelm bei der Konfirmation ihres jüngsten Kindes überrascht hatte und die sie sich durch keine Einwendung ihrer Töchter hatte absprechen lassen: – »sie war noch so schön erhalten und hatte einmal so viel gekostet!« Mit herzlichem Vergnügen blickte sie auf das junge Paar und vertraute Vetter Otto, der bei ihr saß, flüsternd an: wie sie nie geglaubt hätte, daß ein so tüchtiger, brauchbarer Mensch wie der Wilhelm von so unpraktischen Eltern herkommen könnte. »Und wenn man sieht, wie gut er den Landbau versteht und die Leute in Ordnung hält, so dächte kein Mensch, daß er daneben die schönsten Verse macht,« fügte sie mit einigem Wohlgefallen hinzu, »ganz im geheimen, meine Marie hat mir's anvertraut; ich glaube, das einfältige Dinglein freut sich darüber noch mehr als über das Glück, das er durch Karls Gut macht. Aber ich muß der Mine nachsagen, daß sie sich in spätern Jahren erst noch über Verhoffen gut gemacht hat; und ihre Kinder sind alle brav: die Antonie gibt eine ganze Frau, und Staatsrats werden nicht bereuen, daß sie die Heirat zugegeben haben.«

[86][88]

Otto hörte diesem Erguß mit großem Vergnügen zu; er war neugebackener Medizinalrat, seine hübsche Frau, Lina, die älteste Tochter Mathildens, hatte er vor zwölf Jahren schon heimgeführt, und Mathilde war sehr erfreut, einen Tochtermann in derselben Würde zu sehen, die ihr Papa selig bekleidet hatte.

Eduard und Emma hatte man zusammensitzen lassen müssen. Emma hätte man fast jetzt noch für die ältere Schwester ihrer Kinder halten können; sie errötete über und über, als der Herr Staatsrat sie höchstselbst an jene Wasserfahrt erinnerte, wo sie aus Schüchternheit fast ins Wasser gefallen war.

Minna saß neben Wilhelm und ließ ihre Augen, die schon viel geweint, ausruhen auf den vielen fröhlichen Gesichtern, den alten Freunden und Genossen ihrer jungen Tage, auf den jugendlichen Gestalten, denen die Zukunft gehörte. Sie war frühe gealtert, und ihre eingesunkenen Züge trugen kaum mehr eine Spur der frühern Lieblichkeit; aber es lag ein Friede darüber, wie ihn ihre jüngste, fröhlichste Zeit nicht gekannt.

Vertraulich, wie mit einem Bruder, erging sie sich mit Wilhelm in Erinnerung an die Vergangenheit, an den heitern Mädchenfrühling und an die Tage des Irrtums und des schweren Leides, die ihm gefolgt waren. »Gott segne dich, Wilhelm, für jenen Besuch vor sechzehn Jahren und für all deine Worte! Mit jenem Tag brach der kurze Sonnenschein unsrer Ehe an. Du hast meinem armen Arwed nie gehuldigt und geschmeichelt wie andre, die den Dichter nachher verhöhnten; aber du hast das Edle und Gute in ihm gekannt und geweckt, als sein eigen Weib nimmer daran glaubte. Ach, daß jene Zeit des Friedens und der Liebe, wo wir miteinander und füreinander gearbeitet und getragen haben, so kurz war! Es war alles zu spät.«

»Nicht zu spät!« tröstete sie Wilhelm. »Du hast den Kampf des Lebens ritterlich aufgenommen, Arwed hat dich gesegnet mit seinem letzten Hauch, und du hast deine Kinder gewonnen für ein gesundes, tätiges Leben.«

»Ja, Gott sei Dank,« lächelte Minna unter Tränen; »wie hätte ich je geglaubt, noch als so reiche und glückliche Mutter [88] hier einzuziehen! Und auch bei euch hat sich alles so freundlich gefügt, unser Rikchen wird ja ganz poetisch im Glück ihrer Kinder. Meine Antonie hat wahrhaftig etwas vom wirtschaftlichen Geiste der Tante geerbt; sie meistert selbst hie und da ihre Mama ein wenig und gibt ein kapitales Hausmütterchen. Und unsre Kinder sind nun eines.«

Aber drüben an der Jugendtafel ging's so geräuschvoll her, daß man sich nicht lange irgendwelchen Erinnerungen und Betrachtungen hingeben konnte. Da war ein buntes Gemisch, und so oft auch Onkel Eduard das junge Volk in genealogische Ordnung bringen wollte, sie waren immer wieder durcheinander. Da war die Familie des Staatsrats: der Assessor, der Bräutigam Antoniens, Lina, die Frau Medizinalrätin, nebst einigen jungen Sprößlingen (der älteste Sohn des Staatsrats hatte leider nach Amerika abgeschoben werden müssen, allwo er sich aber bereits gefaßt und dem Papa ein Kistchen echte Havanna zugesandt hatte), Alfred, der damals bei dem Vater Geld holen gemußt, und zwei stattliche Töchter. Die feinste, lieblichste Blume des Kranzes, aber auch die zarteste, war Klärchen, Minnas jüngste Tochter, in der die jugendliche Anmut der Mutter wieder aufblühte, vergeistigt durch einen Hauch von der Poesie des Vaters, aber sie schien kaum für die Erde geschaffen. Wilhelms Familie dagegen war stattlich und kräftig nachgewachsen; Dorchen, die älteste Tochter, zeigte gleich große Talente zur guten Hausfrau wie zur fürsorglichen Tante, aber viel mehr Humor als ihre Mama.

Eduards Ältester hatte leider die glänzenden Hoffnungen nicht erfüllt, die seine frühen Talente erweckt hatten: nach verschiedenen vergeblichen Versuchen mit Landexamen usw. hatte ihn endlich sein Vater der ehrsamen Buchbinderzunft einverleibt; als solcher versprach er aber ein ganzer Mann zu werden, überraschte auch die Gesellschaft mit allerliebsten kleinen Fabrikaten seiner geschickten Hand und erfreute alle mit seinem guten, treuherzigen Wesen.

Die beiden Brautpaare wetteiferten in bräutlicher Glückseligkeit. Der Assessor, der einige Anlage zu der Paschamiene [89] des Papas hatte, wollte doch nicht hinter der zärtlichen Aufmerksamkeit Wilhelms des zweiten zurückbleiben, und sie wurden von der übrigen Jugend vielfach geneckt.

Es wäre wirklich mühsam, alle persönlich aufzuführen: es waren unter andern noch ein Vikar, ein Referendar, etliche Studenten und ein Apothekerlehrling vorhanden, und da diese Jünglinge und Jungfrauen zu großem Teil aus Pietät wieder die Namen ihrer Tanten und Onkel trugen, da ein Wilhelm, Eduard und Otto, eine junge Minna, Emma, Mathilde und Frieda unter ihnen war, so gab das ein so fröhliches Durcheinander, so drollige Verwechslungen zwischen Jungen und Alten, daß man nimmer wußte, wo einem der Kopf stand, und zuletzt nur noch der Staatsrat wie ein »Meerfels unbewegt« in dem lustigen Getriebe sitzen blieb.

Onkel Karl rief zur Ordnung und hielt eine Rede, die in ihrer Art recht schön war, nur blieb er etlichemal darin stecken, und Onkel Wilhelm mußte mit seiner ernstesten Pfarrmiene die kichernde Jugend im Zaum halten. Dann aber ließ er zu Friederikens gelindem Entsetzen Champagner springen zum ersten Toast: »Das alte Amthaus hoch!« Nun aber brach ein frohes Getümmel los, gegen das der frühere Lärm nur Äolsharfenlaut gewesen. Mit der Familie des Staatsrats, die teilweise den andern noch etwas fern gestanden, wurde allgemeines Schmollis getrunken; Eduards Buchbinder stieß klingend an mit den sehr eleganten jüngsten Töchtern Mathildens, und Friederike fiel nicht in Ohnmacht, als ihr Jüngster, der Mediziner, dem Staatsrat mit gefülltem Champagnerkelch ein Schmollis anbot, auf das dieser gutwillig einging und auf die übliche Formel: »Sei mein Freund und leih mir einen Dubel!« einen wirklichen Sechsbätzner herauszog.

Der Staatsrat brachte der Wasserfahrt ein Hoch aus, und ein Toast folgte dem andern; niemand wußte mehr, was und wen er leben ließ, und die Dienerschaft blieb mit offenen Mäulern unter der Türe stehen, zweifelhaft, ob nicht sämtliche Herrschaften toll geworden.

Endlich legte sich das Getümmel ein wenig, auch den wildesten [90] tat Stille wohl, und die ernstere Miene, mit der Onkel Wilhelm sich erhob und um Gehör bat, wenn er nach den fröhlichen Sprüchen seine Gefühle in die Worte eines Liedes zusammenfaßte, begegnete keinem Kichern mehr. So schloß er denn die heitere Tafel mit den alten Liedesworten:


»Oft denkt der Mensch in seinem Mut,
Dies oder jenes sei ihm gut,
Und ist doch weit gefehlet;
Oft sieht er auch für schädlich an,
Was ihm dein Rat erwählet.
Gott aber geht gerade fort
Auf seinen weisen Wegen;
Er geht und bringt uns in den Port,
Da Sturm und Wind sich legen.
Hernachmals, wenn das Werk geschehn,
Da kann der Mensch alsdann erst sehn,
Was der, so ihn regieret,
In seinem Rat geführet.«

Die Gläser hatten ausgeklungen, die Träne im Auge der Ältern und Ernstern paßte besser als Champagnerschaum zu diesem Toast; die Tafel war aufgehoben, und jung und alt zog paarweise in fröhlichem Zuge in den Garten.

Fußnoten

1 Hochzeit.

[92] Die Verschmähte

»Die Liebe suchet nicht das Ihre.« 1. Kor. 13.


Und wäre mir kein Freudenkranz erlaubt,

So wollt' ich mich anstatt des Kranzes schmücken

Mit dem Gefühl, auf ein geliebtes Haupt

Mit sanfter Hand den Kranz des Glücks zu drücken.

Rückert.

Die kleine Luise

Wenn junge Fräulein aus der Stadt, die das Pfarrleben nur aus Voß' Luise und aus ihren eigenen Illusionen kannten, hie und da einen Nachmittagspaziergang in das Pfarrhaus zu W. machten, wenn sie in der Gartenlaube Kaffee tranken und frische Butter genossen, so fühlten sie sich so recht durchdrungen vom Frieden des Landlebens und priesen Luise, das Pfarrtöchterlein, glücklich, daß sie immer an diesem freundlichen Aufenthalt, dem Staub und Gezänk der Städte fern, verweilen durfte. Luise sah sie dann wohl etwas verwundert aus ihren freundlichen Augen an und besann sich, ob wohl diesen jungen Mädchen, die nur für ihre Ausbildung und für ihr Vergnügen lebten, der Tausch auch in die Länge gefallen würde. Sie selbst kam sich dann recht undankbar vor, daß sie dies gepriesene Glück bis jetzt nicht höher geschätzt hatte, und griff noch viel frischer und unverdrossener ihre mannigfaltigen Pflichten an, von denen die Fräulein wohl gar keine Vorstellung hatten.

Luise war das älteste Kind des Pfarrers und hatte ihre Mutter kaum gekannt. Ihr Vater war so angegriffen worden von dem Tode seiner Frau, daß er es für seine Pflicht hielt, als Hausvater, der sich den Seinen erhalten müsse, so viel als möglich für seine Erholung und Zerstreuung zu tun. Die Aufsicht über den verwaisten Haushalt hatte Jungfer Dore, eine entfernte Verwandte des Pfarrers, übernommen; eine zänkische Person, die Luise spinnen und stricken lehrte und der im [92] übrigen sie und die zwei kleinen Brüder überall im Wege waren. Die Kinder bemerkten auch oft gar bedenkliche Zustände an ihr, zumal wenn sie Kellergeschäfte besorgt hatte; sie zogen sich dann scheu in eine Ecke des Zimmers oder des Gartens zurück. Luise machte ihnen Berge von Sand und Nestchen von Heu, oder sie tummelte sich mit ihnen auf dem Rasenplatz des alten Kirchhofes. Die Kinder wurden nicht geplagt, sie hatten nicht Mangel zu leiden; aber der Druck, der auf einer freudlosen Heimat liegt, senkte sich schwer auf ihre jungen Seelen.

Da kam Tante Jette, eine entfernt wohnende Schwester des Pfarrers, zum Besuch und entdeckte mit Entsetzen die unordentliche Wirtschaft der Jungfer Dore. »Christian,« sagte sie dem Pfarrer mit Entschiedenheit, »es hilft alles nichts: du mußt wieder heiraten, dein Haus und deine Kinder gehen zu Grund.« – »Ich glaube es selbst,« sagte dieser ergeben; »ich habe lange schon gemerkt, daß es nicht recht im Hause zugeht, und aus lauter Verdruß und Mitleid mit den armen Kindern mochte ich gar nicht mehr daheim bleiben. Wenn du mir ein taugliches Frauenzimmer weißt ...«

Die Tante blieb vorderhand da; Jungfer Dore wurde entlassen, was den Kindern nicht leid tat, obgleich sie von der heulenden Zärtlichkeit überrascht waren, mit der sie beim Abschied sie umarmte. Sie wurden gründlich gewaschen und bekamen neue Kleider, und bei jeder vorkommenden Unart pflegte die Tante zu seufzen: »Aber um Gottes willen, was wird dazu eine Stiefmutter sagen!«

Eines Tages wurden Haus und Kinder besonders schön geputzt, Gugelhopfen gebacken und der Kaffee viel heller als gewöhnlich geröstet. Die Tante ermahnte die Kinder, sich ordentlich aufzuführen: »Es kommen Besuche; da müßt ihr hübsch freundlich und artig sein, und wenn ein Fräulein mit euch redet, so seid nur nicht so dumm schüchtern. Ihr dürft auch ein Späßchen machen und zu ihr sagen: ›Sei du unser Mütterlein!‹ Das wird sie freuen, und ich geb' euch dann nachher Kuchen.« – »Aber unsre Mutter ist ja tot,« meinte Luise; [93] »und Stiefmütter sind bös,« sagte der kecke Fritz. – »Schweig, naseweiser Bube!« schalt die Tante. »Ihr dürft ja froh sein, wenn der Vater wieder eine brave Mutter für euch bringt! Theodor ist gewiß artig und kann ganz nett Mutter sagen zu dem Fräulein, das bin ich gewiß.«

Nun, die Besuche kamen. Es war eine Bekannte der Tante, eine wohlhabende Kaufmannswitwe der nahen Stadt und ihre Tochter, eine sehr stattliche, elegante Dame von etwa achtundzwanzig Jahren. Die Mama sah sich recht gehörig in allen Räumen des Hauses um und ließ sich beim Kaffee von der Tante alle Zehent- und sonstigen Verhältnisse der Pfarrei gründlich auseinandersetzen; der Pfarrer unterhielt sich mit der Tochter, die trotz der großen Sicherheit ihres Benehmens doch hier etwas verlegen schien und sich zuletzt zu den Kindern wandte, die von Luisen beaufsichtigt an einem Kindertischchen in der Ecke saßen. »Die Kleine hat schöne blaue Augen,« sagte Fräulein Amalie, als sie Luisens stillem, aufmerksamem Blick begegnete, »und sieht verständig aus;« – »und recht gutmütig,« fügte ihre Mama hinzu. – »Das sind alle drei,« bestätigte die Tante, »das ist in unsrer Familie.« Fritz verstand dunkel die bedeutungsvollen Blicke der Tante, und ihrer Ermahnungen zur Zutraulichkeit eingedenk, zeigte er Amalien sein Bilderbuch und fragte: »Gelt, das ist schön?« – »Jawohl, ihr habt viel schöne Sachen,« sagte Amalie. – »So bleib du eben da und sei unser Mütterlein!« stieß Theodor ziemlich überraschend heraus und blickte dann triumphierend nach der Tante und nach dem Kuchen. Amalie wurde rot, Tante und Mama stießen sich an. »Wie wunderbar,« meinte die letztere. – »Sichtbar Gottes Finger,« sagte die Tante.

Nun wurde noch ein Spaziergang durch den Garten gemacht, bei dem die Kinder entbehrlich waren; Theodor rühmte sich sehr seiner Heldentat, und Fritz sah etwas neidisch auf das größere Stück Kuchen, das er zum Lohn dafür erhalten; Luise aber machte sich in ihrem sechsjährigen Köpfchen ihre eigenen stillen Gedanken.

Nicht gar lange nach diesem Besuch wurden wieder festliche [94] Anstalten im Pfarrhaus getroffen, nicht nur Gugelhopfen, sogar Biskuit und Zimtsterne gebacken. Das Fräulein kam wieder, viel schöner geputzt als damals, und der Pfarrer stellte sie den Kindern als seine Braut und ihre künftige Mutter vor. Sie brachte Luisen, die seither noch Trauer um die Mutter getragen hatte, ein Rosakleidchen mit, den Knaben Trommel und Gewehr, und küßte die Kinder; die Tante sagte ihnen, daß es ein großes Glück für sie sei, eine so gute Mutter zu bekommen, und es war eine Freude und Herrlichkeit.

Als nun bald darauf die Hochzeit gefeiert wurde, als man die alten geweißten Zimmer tapezierte und die neue Mutter mit vielen neuen und schönen Sachen einzog, da ging es der kleinen Luise eigen. Sie mußte viel mehr an die verstorbene Mutter denken als zuvor: wie sie an dem Arbeitstischchen am [95] Fenster gesessen, die Kinder auf Schemeln zu ihren Füßen; wie man sie am letzten Tag noch zu ihr gebracht, wo sie so bleich auf ihrem Bett gelegen war und ihnen nur stumm die Hand gegeben hatte, und wie sie nachher mit dem toten Brüderlein im Arm ganz unter Blumen im Sarge gelegen. Sie konnte darüber mit niemand sprechen, konnte auch nicht sagen, wie es ihr weh tat, als man das alte runde Tischchen der Mutter in eine obere Kammer trug und dafür einen eleganten Arbeitstisch mit gedrehten Füßen ans Fenster stellte. Aber sie war ein Kind und freute sich auch wieder wie ein Kind an allem Neuen: an den tapezierten Zimmern, den schönen Möbeln und auch an der neuen Mutter.

Gar zu viel konnten sie nun diese freilich nicht genießen; die junge Frau versicherte den Pfarrer mit angenehmer Heiterkeit, daß sie nicht aufs Land gezogen sei, um daheim einzurosten: da wurden denn kleine Reisen zu Verwandten und zahlreiche Besuche in der Nachbarschaft gemacht und erwidert. Die Kinder hatten gar nichts dagegen, da stets etwas Gutes für sie dabei abfiel und sie auch zu Anfang öfters mitgenommen wurden; auch erbaute sich jedermann an der Zärtlichkeit der jungen Stiefmutter gegen die Kinder, namentlich gegen Theodor, der gar ein netter Junge war. Mit der Zeit wurde es freilich lästig, die Kinder mitzuschleppen; auch bekam Theodor einen Ausschlag um den Mund, mit dem man ihn nicht gut sehen lassen konnte. Man ließ ihn daheim und die andern ihm zur Gesellschaft.

So saß denn Luise wieder mit den Brüderlein zusammen im Grasgarten oder in der Zimmerecke, tröstete den ungeduldigen Theodor, den die Mama nicht mehr gern bei sich hatte, weil ihr sein Aussehen Ekel einflößte, und erzählte den beiden Geschichtchen, – sie war wie ein kleines Mütterlein mit den Brüdern, noch ehe sie sieben Jahre alt war.

Da kam zu großem Jubel der Kinder ein neues Schwesterchen zum Vorschein. Die Wärterin aus der Stadt, die angekommen war, ließ die kleinen Bursche aber nicht ins Wochenzimmer; nur Luise durfte dableiben, das Schwesterlein wiegen, [96] der Mutter die Fliegen wehren, die kleinen Hemdchen vom Trockenplatz holen, sie machte sich gar brauchbar, die kleine Luise; aber die Brüder seufzten unaufhörlich nach ihr und kamen in sehr verwilderten Zustand.

Die Mama war wieder auf und lebte ihrer Erholung; Luise führte das Kind im Wägelchen in den Grasgarten, lachte und sang ihm vor, wenn es weinen wollte, und auch die kleinen Zigeuner von Brüdern ließen sich wieder blicken. Die Mama fand es entsetzlich, daß es auf dem Dorf keine Kleinkinderschule gebe, wo man so unmüßige Bursche aufheben könne. Als nun im nächsten Jahr der Abwechslung halber ein neues Brüderlein gekommen war, da fand sie es unumgänglich nötig, die Buben in einem guten Kosthause unterzubringen, wo sie unter beständiger Aufsicht seien. Der Pfarrer meinte, sie seien doch noch gar zu jung; aber die Frau sagte mit großer Bestimmtheit: »Ich habe Mutterpflichten für diese Kinder übernommen und muß für ihr Bestes sorgen, auch wo es Opfer kostet. Du siehst, ich lasse Luise nicht von mir und wollte gern das Äußerste tun; aber alles ist mir leider nicht möglich, meine armen Kleinen haben doch auch einiges Anrecht an mein Mutterherz.« Die Frau blickte mit nassen Augen auf die zwei armen Kleinen, die eben von Luise und dem Kindermädchen zur Ruhe gebracht und gehätschelt wurden, und der Pfarrer willigte seufzend ein.

Die Pfarrerin wurde eine wahre Löwin von Mutterliebe für die zwei Knaben, sie ließ Schneider und Nähterinnen kommen, um ihre allerdings sehr verwahrloste Garderobe herzustellen: gesunde, neue Stücke auf Knie und Ellbogen, die den verblichenen Gewändern wieder ihre Jugendschöne vortäuschten. Sie ließ sich nicht nehmen, die Knaben selbst zu der Frau Präzeptorin zu bringen, die sie in Kost nehmen sollte; sie gab dieser geplagten Frau, die achtzehn Kostgänger neben sechs eigenen Kindern auf mütterlichem Herzen tragen sollte, die allerumständlichste Anweisung, wie der Charakter und die Garderobe ihrer Kinder zu behandeln seien; sie empfahl sie ihr zehnfach zu bester Aufsicht und Pflege und wurde[97] über ihre eigene Muttertreue so gerührt, daß sie Tränen vergoß. Dem Pfarrer wurde das Herz gar schwer, als er die armen kleinen Bursche in fremdem Hause zurücklassen mußte; aber er erfuhr auf dem Heimwege noch so viele und gründliche Beweise von der mütterlichen Fürsorge seiner Frau für die Knaben, daß es seine eigene Schuld war, wenn er nicht gehörig glücklich und dankbar wurde.

Luise war daheim geblieben mit der Kindsmagd bei den kleinen Geschwistern; sie lehrte gerade Gabrielchen gehen und hatte unbeschreibliche Freude an ihr; aber das Kissen des kleinen Bruno, in das sie ihr Köpfchen barg, wurde naß von den vielen heißen Tränen, die sie den Brüdern nachweinte.

Es brauchte nicht viele Jahre, bis auch diese Lücke im Pfarrhaus wieder ausgefüllt wurde; das Mittelalter und die Römer- und Griechenzeit mußten Namen für den jungen Nachwuchs liefern: eine Gabriele, Kornelia und Adelgunde, ein Bruno, Artur und Tuisko füllten allmählich alle Räume des Pfarrhauses, und es gab kaum in den Ferien und bei den jeweiligen Tauffesten mehr Raum für Fritz und Theodor, die sich mit der neuen Bevölkerung gar nicht mehr zurecht fanden und, wenn sie einmal wieder zum Besuch nach Hause kamen, Luisen beim Eintritt am Ärmel zupften und leise fragten: »Du, ist wieder eins da?«

Die große Luise

Luise, die wußte Bescheid unter der neuen Geschwisterschar, die kleine Luise, die allmählich groß geworden war, sie wußte nicht wie; und die Geschwister alle kannten Luise und riefen Luise und plagten Luise viel mehr als die Mutter, die, »obgleich sie am liebsten immer daheim geblieben wäre«, es doch um ihrer Kinder willen für heilige Pflicht hielt, sich nicht verrosten zu lassen, und darum häufig kleinere Ausflüge und größere Reisen machte.

Der Vater hatte seine Herzensfreude an Luise, und oft traten ihm Tränen in die Augen, wenn er so das kleine Mütterchen [98] unter den Geschwistern sah, wie sie das Kleinste auf dem Arm hielt, dem Größern Steinchen zum Spielen gab, den andern erzählte, für die fernen Brüder sorgte und dachte und keines vergaß als sich selbst. Über ihre Erziehung war er nicht so ganz beruhigt. Es hatte schwer gehalten, ihr nur zum regelmäßigen Besuche der Dorfschule zu verhelfen, und seit sie konfirmiert worden, war gar nichts mehr für ihre Ausbildung geschehen. Er hatte einigemal die Absicht, sie in eine auswärtige Bildungsanstalt zu bringen oder ihr wenigstens Musikunterricht bei dem Dorfschullehrer geben zu lassen; aber seine Frau bewies ihm in einer schönen Rede, wie die häusliche Wirksamkeit Luisens eigentümliches Element und allein ihrem Charakter angemessen sei; was den Musikunterricht betreffe, so müsse das ein rechter sein oder gar keiner; – es war kein großer Zweifel hier, daß für das letztere entschieden wurde. Man hatte sie zu der alten Nähterin gesetzt, die als stehender Gast im Pfarrhause das Weißzeug der Kinder im Stand halten mußte, und sie war ohne besondere Anleitung allmählich von den geringsten bis zu den feinsten Nähtereien aufgestiegen; je blöder die Augen der alten Kathrine wurden und je gröber ihre Stiche, desto feiner und geschickter lernte Luise ihre Nadel führen. Ebenso hatte sie der Schneiderin, welche die Mutter aus der Stadt kommen ließ, ihre Geheimnisse abgelernt, und sie betrachtete mit gerechtem Stolz die Schwesterlein, deren zierliche Kleidung ihr Werk war, denen zulieb sie sogar alle Eitelkeit der Putzläden studierte, wenn sie je einmal zur Stadt kam, um die dort gesehenen Herrlichkeiten auf wohlfeile Weise nachzuahmen.

Um aber doch auch für die geistige Bildung der Stieftochter zu sorgen, ordnete die Pfarrerin an, daß nachts, wenn endlich die Gabrielen, Adelgunden, Tuiskos und so weiter zur Ruhe gebracht waren, bildende Werke vorgelesen wurden. Es war recht schön; aber die gute Luise, die seit ihrem elften Jahr nicht mehr wußte, was ungestörte Nachtruhe sei, war meist so müde, daß sie bald fest eingeschlafen war und selbst bei den klassischen Stellen nicht erwachte.

[99] »Du siehst das gute Kind,« sagte die Pfarrerin mitleidig lächelnd; »wie lächerlich wäre es, ihr eine Bildung aufzudrängen, für die sie nicht Sinn und Bedürfnis hat! Ich habe es immer für die erste Mutterpflicht gehalten, jedes Kind nach seiner Individualität zu behandeln. Luise, meine Liebe!« rief sie mit erhobener Stimme, »ich glaubte, du wolltest noch den Butterteig auf morgen rüsten.« Luise erhob sich eilig und beschämt von ihrem Schläfchen und machte sich emsig an die Arbeit. »Siehst du?« sagte die Mutter leise und triumphierend zu dem Mann; »so etwas erhält sie munter, das ist nach ihrem Sinn!« Die Mama las für sich in dem bildenden Werke, bis sie, erbaut über sich selbst und ihre individuelle Erziehungsweise, zur Ruhe ging, während Luise noch bis tief in die Nacht emsig waltete im Hause und sich dann neben die kleine schreiende Adelgunde legte, um sie zur Ruhe zu bringen.

Man bewunderte allgemein, wie gut sich die Pfarrerin konservierte, wie sie immer noch Zeit und Frische für den geselligen Verkehr behielt. Auch wurde das gute Verhältnis zu der Stieftochter sehr gerühmt; man hörte hier nichts von Zank und Streit, nichts von unterdrücktem Ärger und Übelwollen, es ging alles in der größten Freundlichkeit: »Liebe Luise, besorge doch den Kaffee! Meine Liebe, du wirst dich wohl der Kleinen annehmen müssen!« usw., und wenn die Pfarrerin eine Landpartie mit ihren Gästen machte, so zog es Luise meist vor, daheim zu bleiben. Die Pfarrerin bemerkte dann freundlich gegen ihre Gäste: »Man muß sie gewähren lassen; sie ist ganz für den engsten Kreis der Häuslichkeit geschaffen.«

Und recht wohlgefällig nahm sie dann die Komplimente über die gelungene Erziehung der Stieftochter hin und bemerkte bescheiden: »Die Kleine selbst hat es mir wirklich erleichtert und vergilt mir jetzt die Mühe, die es mich gekostet, sie nach ihrer Individualität zu behandeln.«

Und Luise? – war sie ein willenloses Opferlamm oder die stille Dulderin eines freudlosen Daseins? Keins von beiden. Sie war noch gar nie dazu gekommen, sich ihrer Ansprüche ans Leben bewußt zu werden; sie dachte nur ihrer Pflichten, [100] denen sie nach ihrem demütigen Sinn so wenig genügte, und bat Gott von einem Tag zum andern um die Kraft, ihr Tagewerk besser vollbringen zu können. Von früher Kindheit an für andre bemüht, hatte sie fast unbewußt die schwere Kunst gelernt, die viele durch ein ganzes langes Menschenleben nicht lernen und nicht lernen wollen: die Kunst, sich selbst zu vergessen. Der beste Panzer gegen die Stacheln fremder Selbstsucht ist ein selbstloses Gemüt. Was andre als Last von sich wegschoben und auf ihre Schultern legten, das übernahm sie freudig als Zeichen ehrenden Vertrauens.

Ihr Leben war nicht freudlos; sie freute sich des Gedeihens der Geschwister, ihrer Zuneigung und Anhänglichkeit, besonders der unbeschreiblichen Liebe der ältern Brüder, denen sie immer das Nächste und Liebste auf Erden blieb; sie freute sich des Gartens, der ausschließlich ihrer Sorge übergeben war, ihrer Nelken und Monatrosen; unbewußt freilich, sie schrieb keine Reflexionen darüber in ihr Tagebuch; aber sie empfand den Segen dieser Freude in der ungebrochenen Kraft und Frische, mit der sie ihr mühevolles Tagewerk vollbrachte.


Bruno und Artur hatten längst das Alter erreicht, in dem Theodor und Fritz das Elternhaus verlassen hatten; die Mutter aber fand, daß es für ihre Individualität besser sei, sie zu Hause zu behalten, auch hätte es doch des Pfarrers Kasse kaum aufwenden können, für alle Söhne Kostgelder zu bezahlen. Da nun auch für Gabrielens und Kornelias aufkeimende Fähigkeiten der Unterricht des Dorfschullehrers nimmer zureichend befunden wurde, hielt es die Mutter für das beste, einen Vikar anzunehmen, der den Unterricht der Kinder gemeinsam mit dem Papa übernehme. »Wir haben zu große Opfer für unsre älteren Kinder gebracht,« sagte sie mit edler Selbstverleugnung; »ich muß suchen, die Erziehung meiner eigenen Kinder weniger kostspielig zu bestreiten, ich habe mich immer bestrebt, meine Mutterpflichten zu erfüllen.« Und sie schwieg wieder mit stiller Rührung über sich selbst.

[101]

Der Vikar

Herr Lehner, der Vikar, kam, ein junger Mann von kräftiger Gestalt, der Pfarrerin aber viel zu unkultiviert in Kleidung und Aussehen, und fatal durch die Pfeife, deren Rohr nebst Quästchen unter allen Lebensumständen aus seiner Rocktasche hervorsah, wenn sie nicht in seinem Munde dampfte. Aber er war ein guter Prediger, hatte schöne Sprachkenntnisse, eine gutmütige Weise, die Kinder an sich zu gewöhnen, und war recht frisch und unverdrossen zu den verschiedenen Leistungen, die ihm aufgetragen wurden.

Er war armer Leute Kind, hatte eine entbehrungsvolle, freudenarme Jugend verlebt, und seine ärmliche Heimat, in der leider auch die Armut zum Zankapfel geworden, stand in grellem Gegensatz zu den erwachenden Bedürfnissen äußeren Behagens und Wohlstands, die unzertrennlich von erweiterter Geistesbildung sind.

Da war es ihm denn unendlich wohl, aus der schmutzigen Schusterstube, aus den kasernenartigen Räumen des Seminars in ein hübsches, wohleingerichtetes Pfarrhaus zu kommen; und das bescheidene Vikariatsstübchen, das aus einer alten Rumpelkammer hergestellt und mit alten Inventarstücken verschiedener Zeitalter möbliert war, dünkte ihn der Inbegriff von Behaglichkeit.

Die stattliche, schöngeputzte Frau Pfarrerin imponierte ihm ungemein, und er war ein gläubiger und bewundernder Zuhörer, als sie ihn ihre Verdienste als Mutter im allgemeinen und als Stiefmutter insbesondere allmählich erraten ließ. Luise, deren schlichte Gestalt neben der ansehnlichen, wohlkonservierten Mama kaum bemerkt wurde, die zum Mittagessen immer zu spät mit hochgeröteten Wangen aus der Küche kam und meist keine Suppe mehr und nur noch erkaltetes Gemüse fand, die nach dem Abendessen sogleich wieder verschwand, um die kleineren Geschwister zu Bette zu bringen und den größeren Gesellschaft zu leisten, wenn sie sich fürchteten, – beachtete er anfangs kaum. Er kannte sie aus der Mutter [102] Schilderung, die sich freute, einen neuen Zeugen ihrer Vortrefflichkeit zu haben, und die sich mit der Pfeife versöhnte, die den Vikar zu einem so geduldigen Zuhörer machte, als ein »gutes einfaches Geschöpf von höchst bescheidenen Gaben, nur für den engsten Kreis der Häuslichkeit geschaffen«, und er dachte, sie scheine dazu wirklich recht gut und brauchbar.

Nun traf es sich aber, daß es die Frau Pfarrerin um ihrer jetzt erwachsenen Kinder willen immer mehr für Pflicht hielt, die geselligen Kreise der Nachbarschaft zu besuchen; es gab kleine, allwöchentliche Pfarrkränze in den Häusern, größere allmonatliche in einem Gasthofe der Umgegend; auf dem Jahrmarkt war es unumgänglich nötig, Einkäufe fürs Haus selbst zu machen, die wichtigeren freilich mußte man auf der Weihnachtsmesse der Residenz besorgen; – dann war die Frau Dekanin eine sehr artige Frau und höchst empfindlich, wenn man sie nicht oft besuchte; Doktors endlich, vor denen durfte sie sich nimmer sehen lassen, wenn sie nicht bald auf einen Tag zu ihnen kam, und mit Oberamtmanns konnte es die tödlichste Feindschaft geben, wenn man nicht Gabriele und Kornelia zu ihrer Alwina und Rosalie brachte! Die gute Frau Pfarrerin erlag fast unter der Last ihrer geselligen Verpflichtungen und seufzte schwer, solange ihr Luise Schal, Hut und Sonnenschirm herbeitrug; wie gern wäre sie heute daheim geblieben!

Luise genoß dieses Glück des Daheimbleibens reichlich. »Es [103] ist jetzt schade – wenn heute nicht die Wäsche wäre, so hättest du wohl mit können,« meinte die Mutter; oder hieß es: »Willst du nicht auch mit, Luise? Ich fürchte aber, Tuisko, der arme Schelm, läßt dich nicht fort; er ist so eigen, wenn ihm etwas fehlt, und so an dich gewöhnt.«

Luise fand das ganz natürlich und ließ sie beruhigt ziehen, sie hatte genug aufzuräumen nach den Abgehenden; es tat ihr wohl, wenn es stiller wurde und wenn sie ihre Geschäfte allein besorgen konnte, ohne die beständigen Anweisungen und Bemerkungen, mit denen die Pfarrerin ihre Hausfrauen- und Mutterwürde retten wollte. Auch war es ihr nur möglich, ruhig an einer Arbeit zu bleiben, wenn sie allein blieb. Da nun auch der Pfarrer meistens seine Frau begleitete und dem Vikar als Beweis seines Vertrauens Haus und Amt übergab, traf es sich gar manchmal, daß dieser und Luise mit einigen der Kinder allein zu Hause waren. Er fühlte sich in ihrer Gesellschaft viel behaglicher als in der der Frau Pfarrerin; dort wurde er es allmählich müde, beständig den Zuhörer zu machen, der nur hie und da ein Zeichen der Aufmerksamkeit oder ein Murmeln der Anerkennung von sich geben durfte.

Luise hörte ihm zu, wenn er je zuweilen den Nachmittagskaffee mit ihr trank oder sich mit seiner Pfeife in die Nähe des runden Nähtischchens setzte, das sie für sich in einer bescheidenen Ecke wieder aufgestellt hatte, und es war wunderbar, wie er ihralles erzählen konnte: seine verkümmerte Kindheit, das Elend und den Unfrieden seines Vaterhauses, die sparsamen Genüsse seiner Studienjahre, – und wenn dann ihre blauen Augen so mit dem Ausdruck tiefer Teilnahme, innigen Verstehens auf ihm ruhten, so fand er, daß sie wirklich recht schön seien, auch ihr Gesicht angenehm, nur etwas zu blühend. Luise, die in Anwesenheit der Mutter fast stumm war und der sich erst in der Einsamkeit die Zunge löste, wußte nichts zu klagen; sie fand nur Grund zum Dank in ihrer Vergangenheit, aber sie konnte hier zum erstenmal den dämmernden Erinnerungen an ihre selige Mutter Worte geben. Auch Lehner hatte seine Mutter früh verloren, nur ihr sanftes, blasses Gesicht [104] schwebte ihm in dunkler Erinnerung noch vor. Freilich, wenn er dann seiner zänkischen, neidischen Stiefmutter gedachte, wie vielen Grund fand dagegen Luise, ihr Geschick zu preisen: sie hatte nie Härte von der zweiten Mutter erfahren! Lehner hatte so seine eigenen Gedanken darüber, als ihm allmählich die Augen aufgingen über die Art, wie die Mama die Individualität der Stieftochter benützte; aber er hütete sich, ihren glücklichen Glauben zu trüben.

Sehr ungestört blieben freilich solche Mitteilungen nicht, wenn nicht hie und da zufällig das ganze Heer auswärts war. Da zupfte einmal Gabriele am Rock: »Luise, schneid auch das Puppenkleid!« Dann kam Bruno: »Luise, stich mir ein Heft ein!« Artur verlangte eine Schnur zu seinem Drachen, und Adelgunde hatte ihr Taschentuch verloren; die Magd wußte nicht, welches Beet sie umschoren sollte, und ein paar Dorfmädchen [105] baten um Blumen zu einer Hochzeitsfeier. »Luise!« – »Jungfer Luise!« tönte es allenthalben und überall.

Und allenthalben und überall gab sie Antwort und Auskunft und Beistand mit unermüdeter Geduld, mit unzerstörbar guter Laune. Wenn der Vikar, wütend über die endlosen Störungen, eben im Begriff war, wenigstens unter die unmüßige Kinderschar mit einem kleinen Donnerwetter zu fahren, so sah Luise ihn gutmütig lachend an und meinte: »Nun, wollen wir sehen, was es das nächste Mal gibt.« – »Aber wie können Sie nur geduldig bleiben bei dieser ewigen Plage?« – »Ei,« lächelte sie, »es steht nirgends geschrieben, daß es gerade mein Beruf sei, zu nähen und stillzusitzen; ich muß ja froh sein, daß so viele Leute etwas von mir wollen.«

Und Luisens unübertreffliches Talent, die Liebhabereien und Bedürfnisse von jedermann zu erraten! Nur einmal hatte sie bemerkt, daß er den Schnittlauch auf der Suppe mit dem Löffel etwas beiseite geschoben, und von diesem Tage an wurde er nimmer auf die Suppe gestreut, sondern besonders auf einem Tellerchen gegeben. Wie sie seinen Geburtstag erraten, blieb ihm ein Rätsel; aber es konnte nicht Zufall sein, daß gerade an diesem Tage lauter Leibgerichte gekocht waren und die Kinder ihm frische Blumen aufs Zimmer brachten. Er hätte dies nun freilich auf Rechnung eines besonderen Interesses für sich schreiben können; aber er hörte zufällig an einem Sonntagmorgen die Hausmagd verwundert fragen: »Aber Jungfer Luise, warum ziehen Sie sich nicht in die Kirche an? Ich kann ja heute nachmittag darein gehen.« Luise erwiderte freundlich: »Nein, Christine, heute ist dein Geburtstag, da gehst du in Ruhe zur Kirche; nachmittags erlaubt die Mutter, daß du deine Eltern besuchst.« – »Ach, du lieber Gott!« rief die gerührte Magd, »hab' ja selbst kaum gewußt, daß mein Geburtstag ist, und hat sein Lebtag noch niemand daran gedacht; woher wissen denn Sie's?« Da hörte denn der geschmeichelte Vikar, daß Luise solche zarte Aufmerksamkeit nicht nur für ihn allein hatte.

So ferne von Absichtlichkeit und Koketterie auch Luisens [106] einfaches Wesen war, ein aufmerksamer Beobachter hätte doch zugeben müssen, daß sie nun alles, was sie immer getan, noch viel williger, heiterer, frischer tat als zuvor: ein Geist stiller Freudigkeit beseelte all ihr Tun und Wirken, der dem Werte ihrer treuen Pflichterfüllung den Reiz der Liebenswürdigkeit beifügte. Das war nicht Gefallsucht, es war wohl kaum schon ein aufkeimendes wärmeres Gefühl für den Vikar; es war zunächst nur die unbewußte Empfindung, daß zum erstenmal ein teilnehmendes Auge auf ihr ruhte, daß ihre kleinen Opfer, ihre emsige Sorge um andre verstanden und anerkannt wurden, – es war die Sonnenwärme der Sympathie, die all den Blüten ihrer stillen Seele mit einemmal Duft und Farbe gab.

Und diese selbstlose Luise, die noch nicht wußte und ahnte, woher ihr diese ungewohnte Freudigkeit kam, ertappte sich doch hie und da auf selbstsüchtigen, vermessenen Gedanken, wie sie sie nie zuvor gehegt: Gedanken an eine eigene Heimat, etwas stiller, einfacher vielleicht als ihr Vaterhaus, eine Heimat, in der sie die Herrin war und die sie nach ihrem Sinn gestalten durfte; an ein Herz sogar, das ihr eigen gehörte, das sich bekümmerte, wenn sie litt, sich freute, wenn sie froh war; aber sie scheute sich, diesen Träumen Gestalt zu geben, und konnte bisweilen, wenn sie einen Augenblick still gesessen, auffahren und mit einer ihr fremden Hast eine Arbeit vornehmen. Auch schlief sie nie ein, wenn abends der Vikar vorlas, und der Vater hatte sie zu seinem unaussprechlichen Erstaunen schon in seinem Zimmer ertappt, wie sie eifrig im Konversationslexikon nachschlug, um einigen Lücken ihres Wissens nachzuhelfen.

Der Vikar, eine sachliche Natur, hing nicht so lange unbewußten Eindrücken nach. Gar bald, nachdem sich ihm der Gedanke aufgedrängt: »Das gäbe eine gute Frau,« fragte er sich weiter: »Warum nichtmeine Frau?«, und die Sache schien ihm mit jedem Tag mehr einleuchtend. Freilich, er hatte noch nicht lange die Universität verlassen, und die Aussichten auf Anstellung lagen in weiter Ferne; aber Luise war ja erst neunzehn, und konnten sie nicht einen Patronatsdienst erhalten? Er [107] war von Hause aus arm und Luise nicht reich; aber er hatte ja oft gehört, daß eine häusliche Frau ein Kapital sei, und wer konnte häuslicher sein als Luise? Auch schien ihm ein Einkommen von dreihundert oder gar fünfhundert Gulden eine gar schöne Sache, und er wußte noch nicht recht, wie man es nur angreifen sollte, das aufzubrauchen. Luise allein konnte er ohne Erröten in sein armes Vaterhaus führen; – kurz, er fand immer mehr, daß Luise die einzig mögliche Frau für ihn auf der Erde sei, und er beschloß, einmal die wichtige Frage bei ihr zu wagen.

Aber das war nicht so leicht getan; und was konnte er ihr bieten, um ein Jawort zu hoffen? Ein solches Kleinod von einem Mädchen, die brauchte nicht zehn Jahre lang auf einen armen Vikar zu warten; der reiche Pfarrer von Lengsfeld, ein Witwer mit nur zwei Kindern, hatte sich gegen ihn selbst schon sehr beifällig über »dieses höchst brauchbare, tätige Frauenzimmer« ausgesprochen; sogar der Oberamtsrichter, der zur Entrüstung der ganzen Umgegend noch ledig war, hatte nach einem längeren Besuch im Pfarrhause geäußert: er glaube, mit einer so anspruchslosen, aufmerksamen Person wäre man am Ende für alte und kranke Tage besser beraten als mit einer glänzenden Partie. Wie viele lockendere Aussichten für Luise!

Wenn er nur gewiß gewußt hätte, ob sie ihn ein wenig lieb habe! Gut und freundlich und aufmerksam war sie gegen jedermann; er mußte noch ein besonderes Zeichen abwarten.

Verlobung

Es war ein schwüler Tag im Mai, als der Vikar zu einer Krankenkommunion auf die ziemlich entlegene Filiale gehen mußte. Luise hatte ihm durch Bruno einen Regenschirm nachgeschickt, da gewiß ein Gewitter komme; aber mit männlichem Mute hatte er den Schirm verschmäht und zurückgeschickt. Dieser Trotz rächte sich; auf dem Heimweg überraschte ihn das Gewitter, und furchtbare Regengüsse durchnäßten ihn; schaudernd [108] vor Frost und Nässe in der abgekühlten Abendluft eilte er heimwärts, die Pfarrkutsche begegnete ihm; sollte Luise sie ihm entgegenschicken? Ach nein, Herr und Frau Pfarrerin waren ja in der Stadt bei dem Abschiedschmaus eines abziehenden Beamten: denen galt die Kutsche, nicht ihm. Endlich erreichte er das Haus, – keine freundliche Seele, die ihn empfangen hätte! Luise hatte wohl genug zu tun gehabt, bis sie Schal und Tücher in den Wagen gerichtet, und mußte jetzt für die heimkehrenden Eltern sorgen. Etwas verstimmt und verbittert stieg er in sein Stübchen. Da war ihm, als ob auf dem dunklen Gang eine Gestalt an ihm vorbei die Treppe hinabschlüpfte, er erkannte sie nicht. Er trat ins Stübchen, dessen Fenster er offen gelassen hatte; sie waren sorgfältig verschlossen, die Bücher weggeräumt, die vom einschlagenden Regen hätten naß werden können; auf dem Tischchen an seinem Bette dampfte einladend ein duftender Tee. Nun, das war ja prächtig. Er eilte, sich unter die Decke zu stecken, das Bett war angenehm durchwärmt: eine Wärmpfanne! Nein, das war gar zu rührend, daran zu denken! Kaum konnte er vor Rührung den Tee trinken, erwärmt an Seele und Leib schlief er unter den angenehmsten Empfindungen ein. Die Bettpfanne leuchtete noch in seinen Träumen als aufgehende Morgensonne seines Glücks.

Er mußte noch gewiß sein, ob er diese zarte Fürsorge auch wirklich Luise verdanke. Als sie am folgenden Tag endlich zu Tische kam, lenkte er die Rede auf das gestrige Gewitter: »Sie sind auch naß geworden, Herr Vikar?« fragte der Pfarrer. – »So ziemlich,« entgegnete er; »aber ich habe mich herrlich erholt; ich trank köstlichen Tee und wurde durch die sorglichste Aufmerksamkeit überrascht.« Er wagte verstohlen nach Luise hinzusehen – nein, die Röte, die konnte nicht vom Küchenfeuer kommen!

Er war so hingenommen von seinen eigenen Gedanken, daß er kaum des Pfarrers Erwiderung und eine etwas spitze Zwischenrede der Frau vernahm. Noch im Gehen hörte er aber auf der Treppe, wie die Pfarrerin in ziemlich scharfem [109] Tone zu Luise sagte: »Ich muß sagen, meine Liebe, daß ich es nicht gern habe, wenn andre Leute über meinen Tee verfügen; auch halte ich für Pflicht, dich aufmerksam zu machen ...« Auf was? verstand er nimmer, da eben die Kinder aus dem Zimmer kamen; aber nachmittags beim Kaffee traf er Luise, die er noch nie anders als heiter gesehen, mit rotgeweinten Augen; er fand nicht wie sonst seine Tasse am gewohnten Platz und die Fidibusse dabei, sie schenkte schweigend auf einem Nebentischchen ein und verschwand wieder. »Ist Fräulein Luise unwohl?« fragte er besorgt. – »O nein, sie hängt die Kindswasch auf,« sagte die Mutter kurz. Das arme Kind, sollte sie seinetwillen noch leiden!

In diesen Gedanken geriet er statt in seine Stube ganz zufällig in den Grasgarten, wo die besagte Kindswäsche aufgehängt wurde. Tuisko und Adelgunde saßen im Gras und spielten mit Waschklammern, riefen daneben Schwester Luise jede Minute wieder von der Arbeit ab; sie aber war so vertieft in ihr Geschäft und in ihre Gedanken, daß sie den Vikar nicht bemerkte, bis er dicht bei ihr stand. »So fleißig, Fräulein Luise?« – »Ein wenig,« sagte sie, ohne ihn anzublicken. »Ich habe Ihnen noch nicht einmal gedankt.« – »Oh, ich bitte,« sagte sie, unfähig ihre Tränen zurückzuhalten, »ich habe ja das nämliche schon für unsre alte Nachbarin getan, wenn sie naß nach Hause kam.« – »Also nicht mir zulieb?« sagte er traurig und faßte ihre Hand. Keine Antwort. »Und dürfte ich nie hoffen, eine so treue Fürsorge für mein ganzes Leben zu genießen?« Abermals keine Antwort, aber ein halber, schüchterner Blick. »Ach, ich weiß wohl, ich kann Ihnen so wenig bieten; ich bin arm, ohne Familie, allein.« Jetzt leuchtete Luisens Auge auf, und ihr gesenktes Haupt erhob sich: er war arm, er fühlte sich allein, er bedurfte ihrer!

»Ich bin nicht schön, so einfach erzogen, so wenig gebildet,« sagte sie leise. – »Sie sind das allerbeste Mädchen, das ich je gekannt habe, und ein Segen für einen Mann!« rief feurig der Vikar. Es wurden nicht viele Worte mehr gewechselt, aber Blicke, die mehr sagten. Und die Vögel sangen, und der Apfelbaum[110] streute seine Blüten auf die beiden, die da standen und sich glückselig in die Augen schauten, und Luise fragte sich wie im Traum, womit denn sie solche Seligkeit verdient habe.

»Und nun zum Vater!« rief Lehner, der sich in diesem Augenblick zu allem stark fühlte, »und um seinen Segen gebeten!« – »Ach nein,« flüsterte Luise, die plötzlich wieder zu der Wirklichkeit erwachte, »wer sollte die Wäsche aufhängen? Ich bitte, gehen Sie; wenn man uns so hier sähe!« Man hatte sie aber gesehen; das kleine Volk nämlich, das sie in ihrer Seligkeit [111] ganz vergessen hatten. Adelgunde war hinaufgeeilt und der kleine Tuisko nachgequaddelt, so schnell es seine krummen Beinchen erlaubten, und sie hatten verkündet, daß der Herr Vikar Schwester Luise geküßt habe. Das gab große Bewegung ins Haus, und es war ein Glück, daß bald nach dieser entsetzlichen Kunde der Vikar selbst kam, und da er an dem Kichern und Köpfezusammenstrecken der naseweisen kleinen Kreaturen bald merkte, daß sie seine Untat verraten, hielt er es fürs beste, seine Werbung schnell vorzubringen, so geschickt oder ungeschickt, wie er konnte.

Der Pfarrer war nicht so sehr überrascht, desto mehr die Pfarrerin, die in Wahrheit nie an eine mögliche Verheiratung Luisens gedacht hatte; sie schien ihr, wie sie sich ausdrückte, »so ganz zur liebevollen Gehilfin für ihre jüngeren Geschwister geschaffen«. Unter sotanen Umständen war aber nichts zu tun, als den elterlichen Segen zu erteilen, was der Vater mit tiefer Rührung, die Mama mit viel mütterlichem Anstand tat. Es wurde sogar in den nächsten Tagen eine Art Verlobungsmahl gehalten, wobei Luise nur schmerzlich Fritz und Theodor vermißte, die man natürlich nicht aus der Lehre und aus dem theologischen Seminar berufen konnte. Wer noch nicht gewußt hatte, wie groß die Verdienste der Frau Pfarrerin um ihre Stiefkinder seien, der konnte es an diesem Abend recht gründlich erfahren.


Luise lebte noch wie in einem seligen Traum und wußte nicht, wie sie genug ihr demütiges und dankbares Herz zeigen sollte für all diese unverdiente Liebe und Güte. Sie war nun für eine Weile der Mittelpunkt des Hauses; ihr brachte man Glückwünsche dar; sie mußte mit Besuche machen, um den Bräutigam den Verwandten zu zeigen! Es war ihr eigentlich recht wohl, als die gewandte Mama die Sachen ins alte Geleise gebracht hatte und ihr vergönnt war, wieder in den Hintergrund zu treten.

Es blieb alles wie zuvor; sie blieb daheim, sie kochte, nähte, flickte, besorgte Haus und Geschwister, – und doch wie so viel [112] anders! Was für ein goldener Hauch lag auf dieser Alltagswelt! Wie fühlte sie bis zum innersten Herzensgrund das Auge, das mit Liebe und Beifall ihren Schritten folgte! Sie meinte gar nicht genug tun zu können, um zu zeigen, daß sie nicht übermütig sei in ihrem Glück, und um der Heimat, der sie nun doch nicht mehr so ganz eigen gehörte, noch alle ihre Liebe und Treue zuzuwenden. Die Mutter hätte gar nicht nötig gehabt, so oft ihre Zuversicht auszudrücken, daß Luise ihre kindlichen Pflichten nicht versäumen und die Opfer ihrer Eltern nicht mit Undank vergelten werde. Ein halbes Stündchen im Garten verplaudert, ein kleiner Abendspaziergang, ein verstohlener Gruß und Blick beim Begegnen den Tag über, ein Händedruck unter dem Tisch, das waren alle bräutlichen Genüsse, die sie sich gestatten durften; aber für Luisens genügsames Herz war es eine Welt von Seligkeit.

Und die Zukunftspläne, die goldenen Träume, mit welchen sie die Nachtstunden kürzte, in denen sie noch feinen Flachs zu ihrer Aussteuer spann! Ein eigenes Pfarrhaus mit einem Blumengärtchen vor den Fenstern, wo sie allein, ganz allein für den geliebten Mann leben und sorgen, wo sie frei und ungehemmt als Mutter einer Gemeinde sein schönes Amt teilen durfte; – sie malte sich die Abende, wo sie ihn im traulichen, warmen Stübchen empfangen würde, Schlafrock und Pantoffeln am warmen Ofen bereit, und sein Pfeifchen angezündet; die Gänge an seiner Seite durchs Dorf, die stillen Stunden, wo er ihrer Unwissenheit freundlich nach helfen würde, – oh, ein Leben voll Frieden und Freude! Die Einrichtung des Pfarrhauses besprachen sie zusammen: es mußte freilich alles viel einfacher werden als im elterlichen Haus, dem die Stiefmutter einen städtischen Anstrich gegeben hatte und wo man beim Eintritt ungewiß war, ob man in ein Porzellan- und Glaswarenlager oder in eine Pfarrstube trete; aber doch recht traulich, recht hübsch. Gardinen hielt der Vikar für unnötig wegen des Rauchens, aber darauf bestand Luise: »Das ist so gemütlich, ich will sie schon oft genug waschen.« Dafür bildete sich aber der Vikar große Stücke ein auf einen Doktor Luther, [113] den er als künftige Wandverzierung bereits erworben hatte; er hatte noch Pläne auf eine Katharina von Bora und eine mater amabilis; er hielt es für sehr nötig, etwas in Kunstwerken aufzuwenden, da an Tapeten natürlich nicht zu denken war.

Wann diese rosigen Pläne ins Leben treten sollten, das war freilich noch nicht abzusehen, und »die weite Aussicht« war das einzige Bedenken aller Bekannten gegen diese Verbindung; aber die Jugend ist hoffnungsreich, und ein Patronatsdienst blieb stets der letzte Rettungsanker.


So bescheiden auch das Paar seines bräutlichen Glückes genoß, so fanden es die Eltern doch in die Länge nicht passend, daß der Bräutigam Hausgenosse blieb. Die Mutter meinte, Luise könne sich ungestörter auf ihre häuslichen Pflichten vorbereiten, wenn er entfernt sei, und Luise fügte sich willig in die Trennung; war doch das Dorf, wo der Vikar eine andre Stelle bekam, kaum drei Stunden entfernt.

Da kam er denn manch liebes Mal zum Besuch herüber, und es war ein neues Glück für Luise, wenn sie ihn von ihrem Fenster aus weit übers Feld herschreiten sah oder wenn er sie unvermutet bei einer häuslichen Arbeit überraschte. Und wenn sie ihn abends begleiten durfte bis zu dem Weidengebüsch und sie dann noch still beisammensaßen, alles so ruhig umher und so friedevoll, und von der Zeit sprachen, wo sie nicht mehr Abschied nehmen müßten, gar nicht mehr – oh, das alles war auch so schön und gut!

Die Mutter hielt es für unnötig und nicht passend, daß Luise mit Lehner die arme Hütte seines Vaters besuchte: »Man könnte ja die Leute herkommen lassen;« – aber Luise ließ sich nicht davon abhalten.

Eine traurige Heimat! Sie meinte dem Geliebten mit zehnfältiger Liebe einbringen zu müssen, was er hier so lange entbehrt. Die keifende Stiefmutter war tot, der Schuster leidend und elend, ein kümmerlicher Knabe und ein verwahrlostes Mädchen, – alles verdorben, vernachlässigt, trübselig.

Luise kam in die düstere Hütte wie der Sonnenschein, aber [114] nicht wie ein greller, der das Elend erst deutlich zeigt, nur wie ein mildes Frühlicht. So natürlich, so einfach gab sie den Geschwistern die Hand, setzte sich zu dem Vater und ließ sich seine Leiden erzählen; so bescheiden erteilte sie der Schwester guten Rat, wie sie des Vaters Leiden erleichtern könne, und ermutigte den Bruder, den Betrieb des vernachlässigten Handwerks doch zu versuchen. Lehner selbst erschien seine Heimat und Kindespflicht wieder in ganz andrem Lichte, und hätte er Luise nie geliebt, er hätte sie jetzt liebgewinnen müssen. Zu den Zukunftsplänen gehörte von nun an auch ein Oberstübchen für den alten Vater. »Du wirst sehen,« sagte Lehner heiter, »er erholt sich bei uns wieder so weit, daß er selbst unsern Hausbedarf verfertigt; damit er sparen wir sehr viel, Schuhe sind auf dem Lande eine große Ausgabe! Und Katharine nehmen wir natürlich auch zu uns, dann brauche ich keine Magd; wir arbeiten alles zusammen, es soll ihr gewiß nicht schwer werden. Der Christian, der muß freilich hinaus, um was Rechtes zu lernen, wenn er ein wenig erstarkt ist; ich denke, der arme Junge hält sich gewiß gut, wenn er weiß, daß er eine freundliche Heimat hat, wo man für ihn sorgt.«

Daheim wagte Luise zum erstenmal den Vater um ein kleines Taschengeld zu bitten, und sie fand von nun an immer Mittel und Wege, den kranken Vater oder die Katharine mit einer kleinen Gabe zu erfreuen.

Hoffen und Harren

Der Pfarrer in der Nähe starb, und Lehner kam in eine entlegenere Gegend. Die Besuche wurden gar selten, aber dafür kamen Briefe: wieder eine neue und ganz unerhörte Glückseligkeit für Luisen, die noch nie einen Briefwechsel angeknüpft hatte. Ursel, die alte Bötin mit ihrer ungeheuren Ledertasche, war ihr nun die holdseligste Erscheinung von der Welt; es wurde ihr manchmal möglich, in lauen Sommernächten aus dem Haus zu schlüpfen und über den alten Kirchhof hinaus der Ursel entgegenzugehen, wenn sie von der Stadt kam. [115] Wenn diese dann mit gutmütigem Brummen: »Wurd et so pressiera« den gewünschten Brief fand, – mit welchem inneren Jubel schob ihn dann Luise ins Täschchen und flog nach Haus und stahl sich in das Stübchen, das sie mit den Kleinen teilte, und küßte diese in ihrer Herzensfreude und las bei dem Sparlicht, das ihr gestattet war, die geliebten Zeilen!

Ihr selbst, die just keine geübte Briefstellerin war, machte es freilich einiges Drangsal, bis sie die Antwort zustande gebracht; sie versuchte wohl hie und da ein Wort auf der Schiefertafel, bis es orthographisch richtig aussah, oder fragte heimlich Gabriele um Rat, die unter Anleitung eines neu angestellten Hauslehrers gute Fortschritte machte; – aber allmählich lernte sie leichter und freier ihr liebendes Herz im Briefe ausdrücken, und sie war so glücklich, so dankbar für diese neue Freudenquelle.

Die Leinwand war gesponnen und gebleicht; die Mutter hatte auch Luisen auf ihr Bitten von den Leinwandvorräten der verstorbenen Mutter übergeben, obgleich sie es für höchst vorzeitig hielt, und Luise, die ja so leicht einige Nachtstunden opfern konnte, seit die kleinen Geschwister ruhig schliefen, sah mit stiller Freude ihren kleinen Vorrat sich mehren und überraschte den Bräutigam bei seinen seltenen Besuchen immer wieder mit neuem Zuwachs.

Lehner hatte ihr einmal den Magisterzettel mitgebracht; auf dem strich sie gar pünktlich die Angestellten aus und zählte und zählte, wieviel Namen noch vor dem einen lieben stünden, der einst der ihrige werden sollte; ach, es waren noch viele, gar viele. Luise, die sanfte liebevolle Luise ertappte sich einst mit Schrecken auf einer gottlosen Regung von Freude, als der Vater bei Lesung der Zeitung ausrief: »Was? drei Pfarrer gestorben!« Für minder gottlos hielt sie den freundschaftlichen Wunsch, daß alle alten müden Pfarrherrn sich alsbald zur Ruhe setzen möchten, um jungen Vikaren Platz zu machen.


Es verging ein Jahr ums andre, Lehner zog landauf und ab, wenn irgendwo ein Patronats- oder Gemeindedienst erledigt [116] wurde – – immer vergeblich. Alte Pfarrer, gleichfalls längst Verlobte, ehemalige Hofmeister des Gutsherrn, gewandte, elegante, junge Leute in Glacés, liefen ihm den Rang ab; immer kleinlauter kehrte er von solch vergeblichen Feldzügen zurück, immer aber fand er Luisen trostvoll und hoffnungsreich.

Gabriele und Kornelia, ein paar schnippische, gewandte Backfische, waren in eine Pension gebracht worden, »aus mütterlicher Fürsorge für Luise«, wie die Frau Pfarrerin ihren Freunden im Vertrauen sagte, »damit ihre aufblühende Schönheit nicht Luisens verblühendes Aussehen zu sehr hervorhebe«. Theodor war bereits Vikar beim Vater und Fritz als Kaufmannskommis auf Reisen, Bruno auf der Universität, Artur im Gymnasium, – Luise saß noch immer am runden Tischchen und nähte an der Aussteuer, wenn eben nichts für Mama und Schwestern und Brüder zu arbeiten war, und sah auf den Weg, den die alte Bötin heraufkommen mußte. Sie flog ihr nicht mehr nächtlicherweile entgegen, wäre auch gar manchmal vergeblich gegangen; denn wenn nicht eben eine Meldung im Gange war, so wußte August nicht viel zu schreiben. »Es bleibt ja beim alten bei uns,« meinte er; »du weißt schon lange alles, was ich dir schreiben könnte.« Ach, sie hätte es so gar gern noch einmal gelesen, – doch blieb sie guten Mutes und unverdrossen.

Gabriele und Kornelia kehrten aus der Pension zurück mit feiner Bildung und neuen Stickmustern und machten Aufsehen in der Nachbarstadt. Es dauerte nicht lange, so war Gabriele die Braut des jungen praktischen Arztes daselbst mit Anwartschaft auf die Oberamtsarztstelle; Luise half das Haus bekränzen zur Verlobungsfeier und kochte das Festmahl; was von ihren verfertigten Aussteuervorräten fein und tauglich genug erfunden wurde, das nahm man für Gabriele, die bald Hochzeit feiern sollte: »Du hast ja Zeit, Luischen, neues anzufertigen!« Sie lächelte gutmütig und fing von neuem an, doch meinte sie oft selbst, die Stiche flögen nimmer so rasch wie das erste Mal.


[117] Der Pfarrer starb, und Luise mußte das Vaterhaus verlassen: den Apfelbaum, unter dem sie sich verlobt, das Fenster, von dem aus sie so manchmal den Bräutigam kommen gesehen, die Stätte, ach, wo sie ein Recht hatte, daheim zu sein!

Luise und ihre Brüder bezogen ein höchst bescheidenes Erbteil, die Stiefmutter aber war durch Erbschaften von Mutter und Tanten sehr wohlhabend. »Ihren Kindern zulieb, um ihre Erziehung passend zu vollenden,« beschloß sie das Opfer zu bringen, in die Residenz zu ziehen, »obgleich sie selbst die Stille des Landlebens weit vorgezogen hätte.«

»Du bleibst natürlich vorderhand bei uns,« sagte sie gnädig zu Luise, »wir müssen eben sehen, wie wir's mit dem Raum machen; sind freilich jetzt Mädchen genug.« Diese fühlte erst bei solchen gutgemeinten Worten mit tiefem Weh, daß sie kein Heimatrecht mehr habe. Doch faßte sie sich wieder und meinte, wenn die Mutter erlaube, wollte sie sich nach einer Stelle umsehen, da nun ja Kornelia und Adelgunde erwachsen zu Hause seien. Großmütig gab dies die Mutter nicht zu, zumal da bei Gabrielen, die längst Hochzeit gefeiert, ein Wochenbett in Aussicht stand und ein junger Vetter, ein vielgereister, gewandter Kaufmann, Absichten auf die aufblühende Adelgunde zeigte, wo es dann wieder eine Aussteuer zu fertigen gab.

Lehner war in den Tagen der Trauer der Familie treulich und teilnehmend zur Seite gestanden. Es tat ihm sehr weh, daß er Luise jetzt keine Heimat bieten könne, und er meinte, er dürfe nun doch auch beginnen, sich um Staatsdienste zu melden.

Ach, aber der Magisterzettel zeigte noch lange Reihen von Vormännern, und obgleich Luise sich bereit erklärte, ihm auf die rauhe Alb oder sogar aufs öde Hardfeld zu folgen, so war doch selbst bei den bescheidensten Meldungen keine Spur von Hoffnung.

Theodor war nun auswärts Vikar; der Schwager stand ihm gutmütig mit seiner Erfahrung bei im neuen Amt, Luise freute sich dessen von Herzen; aber als sie einmal, wie Lehner ihre Anwesenheit nicht bemerkte, diesen zum Bruder arglos sagen hörte: »Hör, nimm dich doch in acht, da so viel Töchter im Hause sind;[118] zu frühe Brautschaften taugen nichts!« – da zog sich schmerzlich ihr Herz zusammen, und ein leiser Stachel blieb in ihrer Seele.

Lehner wurde als Amtsverweser in eine entferntere Gegend berufen; er meldete sich dringlich und unaufhörlich, fast um jeden aufgehenden Dienst, so daß er beim Konsistorium fast sprichwörtlich wurde und es bei Sitzungen ein allgemeines Gelächter gab, so oft der Präsident sein Meldungsgesuch mit den phlegmatisch ausgesprochenen Worten beiseite legte: »Wird warten können.«

Luise pflegte Gabrielen im Wochenbett, nähte Adelgundens Aussteuer und Brautkleid und begleitete sie zum Altar. Bei Gabrielens Hochzeit war sie noch als weißgekleidete Brautjungfer mitgegangen, bei Adelgunde meinte die Mutter, ein dunkles Kleid sei für sie tauglicher.

Der alte Schuster war gestorben, noch ehe er das Ruhestübchen im Hause des Sohnes erlebt; Katharine, deren sich Luise, soweit es ihr immer möglich war, treulich angenommen, war in Diensten, und der Christian auf der Wanderschaft. Lehner schrieb mit neuer Hoffnung: die Schwester eines Oberkonsistorialrats, eine Frau Geheime Oberfinanzrätin, war mit ihrer Tochter, einem kränklichen Fräulein, in das Dorf gekommen, wo er Amtsverweser war, um Landluft und Kuhstallausdünstung zu genießen; er wurde oft zu den Damen berufen, um dem Fräulein Trost zuzusprechen, vorzulesen usw. Die Frau Geheime Oberfinanzrätin war sehr dankbar, sehr gütig und verbindlich gegen ihn und hatte ihm Fürsprache bei ihrem Bruder zugesichert; die Pfarrei Kaltennest war frei mit fünfhundert Gulden festem Gehalt und beweglichem Holzeinkommen, da konnte es nicht fehlen. In Luisens Herzen ging's auf wie Sonnenschein: »Immerhin nach Kaltennest! Ich will es schon warm und heimisch machen.«

Scheiden und Meiden

Es war Luisens Geburtstag. Man hatte eben nicht große Notiz davon genommen, doch hatte die Mutter sie glücklich gemacht durch das Geschenk einer eisernen Herdschaufel und [119] eines Bügeleisens, die sie zufällig in einer Auktion erstanden; das war ihr lieber als Rosenstöcke, waren es doch Vorboten der nahen eigenen Heimat! Sie dankte Gott, daß sie indes nicht entbehrlich gewesen auf der Welt.

Gabriele und Adelgunde stritten sich um ihre treue umsichtige Hilfe bei neuen Aussichten auf Mutterfreude. Kornelia aber vertraute ihr, daß sie vielleicht bald Braut sein würde: der junge Regimentsquartiermeister gehe nicht umsonst so oft am Fenster vorbei: »Da gibt's genug für dich zu tun, Luischen, darfst nicht bälder Frau Pfarrerin werden!« Auch die auswärtigen Brüder richteten alle Wünsche, die sie wegen moderner Hemden, neuen Halsbinden usw. hatten, nur an Luise. Ein gichtkranker Onkel der Mutter, der, selbst von seiner Haushälterin geplagt, nun seinerseits alle Welt plagte, hatte Luisens unübertreffliches Talent der Verträglichkeit entdeckt und berief sie gar manchmal zu seinem Beistand. Nein, sie war nicht überflüssig, aber sie blickte doch mit geduldiger Sehnsucht, mit inniger Freude nach dem nahen Friedensport, der sich ihr in Kaltennest auftat.

Es war ihr Geburtstag. Mutter und Schwestern waren auf die Messe gegangen, sie war allein. Sie hatte sich Lehners Briefe geholt, neun Geburtstagsbriefe waren darunter, sie las sie durch vom ersten bis zum letzten. Ihre Augen hatten etwas gelitten von den langen Nachtarbeiten; zu sehr feinen Nähtereien oder Buchstaben bediente sie sich verstohlenerweise einer Brille, aber Lehner hatte dies nie gesehen. Der erste[120] Brief war vier Blätter lang, die spätern wurden allmählich kürzer, der letzte vom vorigen Jahr enthielt nur eine Seite, »aber umso herzlicher,« meinte Luise. Er lautete:

Liebe Luise!

Ich wünsche Dir von Herzen Glück zu Deinem Geburtstag. Du hast ihn nun schon manches Mal allein gefeiert, ich hoffe, den nächsten begehen wir zusammen. Mit der Meldung um Gabelheim oder Birkenbach kann es kaum fehlen. Ich hätte Dir so gern auch eine kleine Freude gemacht, aber man kann hier gar nichts haben, und ich weiß wirklich nicht, was Du brauchen kannst. Ich bin so sehr gedrängt von Amtsgeschäften und muß schließen. Wenn es möglich ist, besuche ich Dich in der Heuvakanz; da dies nicht mehr lange ansteht, so erspare ich alles aufs Mündliche. In treuer Liebe

Dein Lehner.


So gar herzlich kam er ihr beim Durchlesen nicht mehr vor; »aber er ist doch gut gemeint,« tröstete sie sich, »Worte tun's nicht.«

Heute war noch kein Brief gekommen, und sie lauschte mit klopfendem Herzen, ob die Hausklingel nicht töne. Sie erhob sinnend den Blick; sie sah auf keinen grünen Weg mehr, der ihr den Liebsten oder seine Grüße brachte; aber über die zahllosen Hausdächer und Kamine sah sie im Geiste hinaus auf ein kleines Gärtchen – ein solches mußte doch selbst in Kaltennest sein –, auf ein Pfarrhaus, wie klein und bescheiden es immer sein möchte; und sie fühlte sich nicht weniger glücklich, wenn auch ruhiger, als an dem ersten Geburtstag, der ihr die warmen mündlichen Wünsche des Geliebten gebracht.

Die Klingel tönte, sie sprang hinaus, dem Briefträger zu öffnen, und – fuhr mit einem Freudenschrei zurück; er war es ja selbst, der Liebste, groß und lang, ganz elegant in schwarzem Meldungsfrack, der unverändert jeder Tyrannei der Mode trotzte; sie führte ihn ins Zimmer, sie bewirtete ihn mit allem, was sie hatte, und fand im Vorbeigehen Gelegenheit, die [121] fatale Brille nebst den Briefen im Nähkörbchen zu verstecken. In ihrer Geschäftigkeit merkte sie nicht, wie auffallend still und kühl Lehner war.

»Und wie steht's mit Kaltennest?« fragte sie endlich schüchtern, als sie an seiner Seite saß.

»Nichts ist's,« brach August ärgerlich aus, »der Gugenberger hat's! Der uralte Kandidat, der schon wegen dummer Streiche suspendiert und abgesetzt und was alles war. ›Er habe sich gefaßt,‹ meinte der Herr Präsident, ›da dürfe man ihm den Weg zur Rückkehr nicht verschließen, und er habe eine arme Mutter.‹ Überhaupt waren trotz der Empfehlung die Herren gar nicht gnädig; sie zeigten mir auf dem Magisterzettel, wie viele noch vor mir stehen, machten mir bemerklich, wie unangenehm man sich durch solche unendliche Zudringlichkeit mache und wie ein unverständig eingegangener Brautstand noch kein Recht auf vorzeitige Bedienstung begründe.« Lehner ging heftig im Zimmer auf und ab, Luise zerdrückte eine Träne; sie wagte nicht zu sprechen, aus Furcht, sie werde dann in Weinen ausbrechen.

Die Mutter kam mit den Schwestern; sie begrüßte den Herrn Tochtermann und hörte mit Bedauern den Bericht seines Mißlingens, den er ihr in aller Kürze gab. Lehner ward auffallend still und zerstreut, Luisens Geburtstag hatte er noch gar nicht erwähnt; er brach nachmittags bald auf, er müsse noch den Abend einige Stunden gehen, um am nächsten Morgen nach Hause zu kommen. Luise schickte sich an, ihn zu begleiten, wie sie immer getan. Sie gingen schweigsam durch den schönen Schloßgarten. Luise, die sich von seinem Schweigen gedrückt fühlte, wollte ihm scherzend erzählen, wie sie einmal beim Eingang in den Garten geweint, weil sie auf dem Anschlag am Tor fälschlich gelesen: »Vikare und Hunde 1 dürfen nicht in die Anlagen,« das sei ihr doch gar zu hart vorgekommen; – aber sie wagte es nicht, als sie in sein finsteres Gesicht gesehen.

[122] Sie setzten sich auf eine abgelegene Bank; alles stand wunderschön in Grün und Blüte, geputzte Kinder suchten Veilchen auf dem Rasen, Vögel zwitscherten und sangen, aber Luise konnte sich nicht freuen wie sonst; es war ihr, als hinge eine schwere Wolke über ihr.

»Liebe Luise,« begann Lehner, »ich habe noch mit dir zu reden, und ich weiß gewiß, daß wir uns verstehen werden.« Er fühlte nicht, wie sie zitterte bei diesem Eingang. »Unsre Hoffnung ist aufs neue fehlgeschlagen und wieder in ungewisse Ferne gerückt: du trittst heute dein einunddreißigstes Jahr an ...« – »Das dreißigste,« warf sie leise ein. – »Nun ja, das dreißigste legst du zurück und trittst das einunddreißigste an,« sagte er etwas ärgerlich – es war diese Jahresrechnung eine schwache Seite von ihm – »das tut nichts zur Sache. Es tut mir leid, daß ich dich um so manches schöne Jugendjahr durch vergebliches Warten gebracht. Mit deinen häuslichen Vorzügen könntest du gewiß jetzt noch eine passende Partie machen, wenn du nicht an mich gebunden wärest. Auch ich könnte ruhiger meinem Beruf vorstehen und eine endliche Entscheidung abwarten, wenn ich nicht immer durch den Gedanken gedrückt wäre, daß du an mich gebunden und zu diesem endlosen Warten, diesen zahllosen Enttäuschungen verurteilt bist. Da halte ich es als redlicher Mann für Pflicht, dir dein Wort zurückzugeben. [123] Ich überlasse es aber gänzlich deiner Ansicht.« Er erschrak vor dem Blick voll unsäglichen Wehs, vor dem todbleichen Angesicht, das Luise langsam zu ihm erhob. »Wenn es dir wehe tut, Luise, wenn du glaubst, ich habe selbstsüchtige Beweggründe,« sprach er hastig, »so lassen wir's immerhin beim alten; ich meine es nicht böse, ich dachte nur, es sei besser für dich und für mich ...« Da erhob sich Luisens weibliches Gefühl, sie wollte nicht seine Treue und Liebe als eine Gabe des Mitleides annehmen. »Du hast wohl recht,« sagte sie sanft und ruhig, »wenn du glaubst, es sei so besser, so tue es in Gottes Namen; – ich wollte es dir selbst vorschlagen,« setzte sie leise und zögernd hinzu; es war vielleicht ihre erste Unwahrheit.

»Siehst du?« rief er wieder lebhafter, »so haben wir einen Gedanken gehabt; es ist freilich sehr schmerzlich, aber wenn wir ruhiger geworden sind, so werden wir beide einsehen, daß es das beste war. Wir waren eben gar jung und unbesonnen, als wir den Schritt eingingen.« – »Du wirst gehen müssen, es wird spät,« sagte Luise nach einer langen, stummen Pause, »leb wohl, Gott behüte dich und segne dich!« – »Ich habe wirklich alle Eile,« sagte er hastig. – »Lebe wohl, August,« sagte sie wieder, »Gott sei mit dir!«

Er ging, kehrte sich aber noch einmal um: »Nicht wahr, du glaubst mir gewiß, daß ich es aus Rücksicht für dein Bestes getan?« Luise nickte mit sanftem Lächeln. »Und«, sagte er nochmals zurückkehrend, »wenn ich dir oder den Brüdern einen Freundschaftsdienst tun kann, nicht wahr, dann zählst du auf mich?« – »Gewiß,« sagte sie wieder und gab ihm die Hand.

Er ging und sagte im Gehen oft und wiederholt vor sich hin: »Es war gewiß das beste, es ist nur, bis es überwunden ist; so ein langes Herumziehen hätte uns beide noch unter den Boden gebracht.«

Er ging, und mit ihm ging Luisens Freude und Lebensglück, die Liebe und die Hoffnung langer Jahre. So blieb sie sitzen, wo er sie verlassen, lange, lange unbeweglich; sie weinte nicht, sie schluchzte nicht, ihr mattes Auge sah auf den Weg, [124] auf dem er fortgegangen, und nur leise Tränen flossen nieder auf ihre zusammengelegten Hände. Die Sonne sank nieder zwischen den blühenden Bäumen, die Vögel sangen und zwitscherten; süßer Duft stieg aus Blumen und Gesträuchen, die Kinder hüpften heimwärts; geputzte Damen zogen den Hauptweg hinab, junge Mädchen, die sich etwa ein hochwichtiges Geheimnis zu vertrauen hatten, gingen an der einsamen Bank vorüber und sahen mit verstohlener Neugierde auf das schmerzverzogene Gesicht. Nicht eine Seele ahnte, welch kummerschweres Herz unter diesem goldenen Abendhimmel schlug, welch heißer Kampf hier lautlos gekämpft wurde.

Er war gewonnen. Langsam erhob sich Luise, leise, leise sagte sie vor sich hin die Worte:


[125]
»Dein' ewig Treu' und Gnade,
O Vater, siehet recht,
Was gut sei oder schade
Dem sterblichen Geschlecht.«

Und langsam ging sie ihren Weg zurück durch den stiller gewordenen Garten, und niemand, selbst Gott im Himmel nicht, hat eine Klage von ihr gehört.

Männertreue

Mehr als ein Jahr war vergangen seit jenem Abend im Schloßgarten. Der Pfarrverweser hatte lange Zeit sich und dem Konsistorium Ruhe gegönnt von Meldungen. Er ging gern und viel in Gesellschaft, er fühlte sich wirklich leichter und freier, seit er des ewigen Wechsels von Hoffnung und Enttäuschung enthoben war; er sagte sich oft und viel und bewies auch dem jungen Rektor der Nachbarstadt, seinem vertrauten Freunde, der ihm eigentlich zu der Auflösung des Verhältnisses geraten hatte, daß diese Lösung wirklich das allerbeste und vernünftigste gewesen sei; aber ein leiser Wurm saß doch in seinem Innern, dessen Nagen er zu Zeiten fühlte. »Nun, wenn ich endlich doch einen Dienst bekomme, so kann ich ja immer noch tun, was ich will,« war der letzte Trost, mit dem er dies Nagen beschwichtigte. Er hörte, es gehe Luise gut; sie hatte jetzt drei verheiratete Schwestern, bei denen sie sehr gesucht war, »und daheim hat sie's dann auch angenehmer,« tröstete er sich, »wenn nicht so viele Mädchen mehr da sind.«

Da wurde die Pfarrei Tannhausen erledigt. Einmal wollte er es doch wieder versuchen; er meldete sich, ohne die Sache näher zu betreiben. »Du Glücksvogel!« verkündete ihm der Rektor, nachdem er selbst die Meldung fast vergessen hatte, »nun hast du noch etwas Gutes abgewartet! Das ist ja eine allerliebste Anfangspfarrei, nicht weit von der Residenz, ein ganz neues Haus, prächtiger Garten, kleine Gemeinde, du könntest dir's nicht schöner malen!«

Also endlich! Lehner hatte selbst nicht geglaubt, daß er sich [126] noch freuen könne, am Ziele zu sein. Er ward allgemein beneidet, und der Oberkonsistorialrat, bei dem er sich dankend einstellte, meinte gnädig lächelnd: »Ja, sehen Sie, wir gewähren lieber auf ruhige Bitten, als auf solch unablässiges Drängen.«

Und nun wäre es ja Zeit gewesen, noch zu tun, was er wollte, und sein altes Wort zu lösen. Luise lebte nicht mehr in der Residenz; sie war mit der Mutter in die Garnisonsstadt gezogen, wohin Kornelias Regimentsquartiermeister versetzt worden war, und lieh von dort aus je nach Bedürfnis den Schwestern, die nun auch noch durch zwei Schwägerinnen vermehrt worden waren, ihren Beistand. Vor dem Rektor durfte er den Gedanken gar nicht laut werden lassen, seine alte Liebe wieder heimzuführen; der erklärte es ohne weitere Motivierung für »baren Unsinn«; nur eine lautlose Stimme in seinem Innern führte doch eine andre Sprache als der Rektor.

Aber neben die verblühte Gestalt seiner alternden Braut mit ihren treuen blauen Augen, ihrem guten hausbackenen Gesicht und ihrer einfachen Gestalt stellte sich ein andres, jugendliches Bild, das er je und je schon in wachen Träumen gesehen: ein feines Gesichtchen, von zarter Röte angehaucht, geistvolle dunkle Augen ausdrucksvoll auf ihn geheftet, von unnachahmlicher Grazie in all ihren Worten und Bewegungen – das leidende Fräulein, dem er vorgelesen, Adele, die Tochter der Frau Geheimen Oberfinanzrätin.

»Wie einfältig,« schalt er sich selbst wieder, »die würde wohl einen vierunddreißigjährigen Pfarrer nehmen! – und wie würde die aufs Dorf passen?« Aber dennoch gedachte er wieder und wieder ihres freundlichen, verbindlichen Wesens und der Vorliebe, die sie immer fürs Landleben gezeigt hatte.

»Nun, einen Besuch muß ich jedenfalls dort machen,« beschloß er; »ich glaube doch, daß ich der Mama zum Teil meine Anstellung zu danken habe; dann kann ich ja immer noch tun, was ich will.«

Der alte Meldungsfrack tat's freilich nimmer zu diesem Besuch, der Kleiderhändler lieferte einen Löwenfrack von glänzendem [127] Schwarz. Mit einigem Herzklopfen zog er die Klingel des stattlichen Hauses; er traf Mutter und Tochter zu Hause, Adele blühender, als sie damals vom Dorfe geschieden war, das Bad im vorigen Sommer hatte ihr so gut getan. Man gratulierte ihm und freute sich über sein Glück, und als er von seiner bescheidenen Zukunft sprach, da sprach sich Adele mit so vielem Feuer über den Reiz und die Poesie des Landlebens aus, daß ihm ganz warm ums Herz wurde und seine kühnsten Hoffnungen wuchsen.

Die Frau Rätin lud ihn auf den Abend zum Tee; ganz berauscht von dieser Güte, von der aristokratischen Atmosphäre, die Adele, das liebliche Wesen, umgab, brachte er die Zwischenzeit im Schloßgarten zu, vermied aber die Bank, auf der er damals mit Luise gesessen; er vermied am Ende seine eigenen Gedanken und trieb sich lieber an den Fenstern der Buch- und Kunstläden herum, bis die Teestunde seiner Meinung nach schlug.

Er kam etwas zu früh, die Mutter war noch ausgegangen; Adele saß allein an dem kleinen, zierlich gedeckten Teetisch. Das Gespräch kam wieder auf ihren Landaufenthalt, auf ihre Neigung zur Einfachheit und Stille überhaupt; es wurde immer lebendiger, immer wärmer, – und ehe die beiden wußten wie, hatte Lehner eine kühne Frage gewagt und eine süße Antwort erhalten, und die Mama traf zu ihrer höchsten Überraschung bei der Nachhausekunft eine erkaltete Teemaschine und ein seliges Paar.

Das kam ihr sehr unerwartet, sie hatte den gesetzten Pfarramtsverweser für eine ganz ungefährliche Person gehalten und andre Erwartungen für ihre junge, schöne Tochter gehegt. Nun aber war es geschehen, Adelens romantische Ideen hatten ihre Pläne überflügelt, und sie war nicht von Stein, hielt auch am Ende den Sperling in der Hand für sicherer als einen Fasan auf dem Dache. Sie erteilte den mütterlichen Segen in sehr herablassender Weise und mit der Voraussetzung, »daß Lehner das Opfer, das ihm ihre Tochter bringe, mit der aufmerksamsten Rücksicht für ihr feinbesaitetes Gemüt und ihre zarte Gesundheit vergelten werde«.

[128] Die Gemeinde des Amtsverwesers mußte sich bis zu seinem Abzug meist ohne Hirten behelfen, er hatte gar zu oft Geschäfte in der Residenz; auch mußte das neue Pfarrhaus nach Angabe der Schwiegermama durchaus tapeziert und der Garten neu angelegt werden. Sämtliche Ersparnisse seiner Amtsverweserzeit wurden dafür und für neue Garderobe aufgewandt: er mußte sich doch in der angesehenen Familie anständig präsentieren. Auch wußte die Schwiegermama immer gar viele Kleinigkeiten, womit er der Kleinen Freude machen würde: Odeurs, Figürchen auf ihren Nipptisch, auch einmal eine Uhr, was für eine pünktliche Pfarrerin unumgänglich nötig sei. Es war ihm immer wie ein Traum, wenn er die üppigen Anstalten für die künftige Einrichtung sah, wenn er neben seiner schönen Braut auf dem weichen Diwan saß, oder wenn er mit ihr ausging und ihren zarten Arm mit reichen Spangen geschmückt in dem seinen hielt und das Rascheln ihres seidenen Kleides hörte; – aber in den Schloßgarten ging er nicht gern spazieren.

Ein einsam Herz

Zehn Jahre waren vergangen seit jenem Abend, wo Luise allein geblieben war im Schloßgarten, allein auf der Welt. Sie lebte nicht mehr bei der Stiefmutter, die zu einer ihrer jüngern Töchter gezogen war: ein Legat des alten Onkels sicherte ihr eine bescheidene Unabhängigkeit, und sie wohnte nun bei Bruder Theodor, der seit einigen Jahren auch in den Hafen einer Pfarrei eingelaufen war.

Also doch in einem Pfarrhaus! Sie war dankbar dafür, und wenn sie auch die Verwaltung von Haus und Garten der rüstigen jungen Schwägerin überlassen mußte, so hatte sie doch im Dorfe ihren stillen Wirkungskreis, und der Bruder nannte sie im Scherz den Herrn Unterpfarrer.

Die Zeit und das Leid waren schonend über ihre Züge hingegangen, die Geduld hatte sich nach den schönen Worten des alten Liedes an ihr bewährt:


[129]
Als wie ein schönes Licht,
Davon, wer an ihm hanget,
Mit Gottes Hilf' erlanget
Ein fröhlich Angesicht.

Sie war nicht unterlegen unter der Wucht ihres Leides, und ehe sie angefangen, das Schicksal und den Geliebten ihrer Jugend anzuklagen um die zerstörte Saat ihrer Freuden und Hoffnungen, hatte sie ernste Rechnung gehalten mit ihrem eigenen Herzen. Was war es, das ihr jetzt die Stunden so lang und schwer machte, die Gegenwart freudlos und die Zukunft öde? was sie alle Abend wünschen ließ, einzuschlafen und nimmer aufzuwachen? War sie nicht nach wie vor das Kind des ewigen Vaters, dessen Tagewerk sie zu vollbringen hatte auf Erden, der ihr einen Trost gegeben hatte und eine selige Hoffnung? Was hatte ihr indessen die Mühe so leicht gemacht und die Arbeit so süß? War es der Aufblick zum Herrn der Ernte oder der Hinblick auf irdische Liebe und irdisches Glück? Sie erkannte die milde Vaterhand, die sie zu sich ziehen wollte, und haderte nicht mehr über den Weg, der sie zum rechten Ziel führen mußte; sie lernte sagen aus tiefstem Herzen:


Du bist's, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Daß wir den Himmel schauen –
Darum so klag' ich nicht.

Vor acht Jahren, als die Hochzeit Lehners in der Residenz gefeiert wurde, hatte sie eine Freundin dort besucht und in einer verborgenen Ecke der Kirche der Trauung zugesehen.

Sie sah zum erstenmal wieder ihre erste und einzige Liebe, Lehners kräftige männliche Gestalt, und an ihn gelehnt die schlanke zarte Braut in schneeweißen Gewändern, in silbergesticktem Schleier und Myrtenkranz.

Sie blickte ruhig hin zum Altare mit ihren stillen Augen, die Hände gefaltet. Kein innigeres Gebet um Segen für die Vermählten ist zum Himmel gestiegen als aus ihrer Seele, und [130] [132]keines aus der Versammlung ist mit ruhigerem, friedevollerem Herzen nach Hause gekehrt als die einsame Luise.

So war sie denn keine schmerzumflossene Niobe; sie war die alte heitere Luise, fröhlich, gutmütig und selbstvergessen, dankbar für all die schönen Tage, die Gott sie hatte erleben lassen, die Hilfe aller Hilfsbedürftigen, die liebe, wenn auch oft mißbrauchte Tante der zwei kleinen Neffen.

Luise saß auch einmal wieder an dem runden Nähtischchen der seligen Mutter, das ihr mehr zu erzählen hatte als alle magnetisierten und klopfenden Tische: von den alten Tagen, wo sie als junges Mädchen dies werte Erbstück glückselig aus der Rumpelkammer geholt; wo später August mit seinem Pfeifchen neben ihr gesessen; wo sie aufblickend ihn hatte von fern durch die Kornfelder schreiten sehen; wo sie, an diesem Tischchen, in den Stunden stiller Arbeit allmählich er kennen gelernt hatte, daß Gott Gedanken des Friedens und nicht des Leides über sie gehabt, – oh, es war ein kostbares Tischchen, samt seinem Fachwerk mit Faden und Bändern und alten Knöpfen von verschiedener Gestalt und der runden Nadelbüchse von Buchsbaum, die ihr August einmal von dem Jahrmarkt mitgebracht!

Der kleine Gustav Adolf, der älteste Sohn und künftige Stammhalter des Geschlechts, kam die Treppe heraufgeklettert und rief: »Tante Uis!« und brachte ihr, stolz über seine Wichtigkeit, einen Brief. Das war eben nichts Seltenes. Luise, obgleich auch jetzt noch nicht stark im Briefschreiben, erhielt zuzeiten Briefe von allen Seiten, je nachdem irgendwo in der Familie eine Krankheit eingekehrt war, eine Kindtaufe, ein Umzug oder eine Reise der Hausfrau bevorstand, und man wußte unten fast gewiß, daß Tante Luise unmittelbar nach Empfang eines Briefes auf den Boden stieg, um ihren alten Lederkoffer hervorzusuchen und auszustäuben, und der Bruder pflegte sie mit der Frage zu empfangen: »Nun, wo ist's diesmal los?« Warum aber bewegte sie dieser Brief in so ganz andrer Weise? Warum stieg ihr das Blut in die Wangen und klopfte ihr Herz und zitterte ihre Hand so heftig, daß sie ihn [132] kaum öffnen konnte? Gustav Adolf, nachdem er vergeblich auf einen Botenlohn oder wenigstens auf Anerkennung von der zerstreuten Tante gewartet, war wieder hinabgeklettert und hatte sie verklagt: »Tante so bös, nix geben, nix g'sagt.« Etwas beunruhigt stieg der Bruder hinauf, um nach dem Inhalt des Briefes zu fragen. Luise hatte sich wieder gefaßt und bereits den Lederkoffer auf den Platz geschafft; der Brief lag offen auf dem Tischchen, und sie gab ihn mit tiefem Erröten dem Bruder zu lesen, während sie sich zu tun machte. Theodor las:

Liebe Luise!
Meine teure Freundin!

Ich habe kein Recht zu diesem Brief und der Bitte, die er enthält, als den Glauben an Ihre selbstvergessene Güte, die ich einst so vielfach erfahren.

Sie wissen, daß ich seit acht Jahren verheiratet bin. Meine liebe Frau, immer von zarter Gesundheit, ist seit einem halben Jahre ganz bettlägerig; meine Kinder sind ohne Mutter, mein Haus ohne Aufsicht, meine Frau ohne rechte Pflege. Wir haben es vielfach mit bezahlter Hilfe versucht, es geht nicht; und, liebe Luise, ich muß ganz offen gegen Sie sein, es ist auch fast unmöglich für unsre Verhältnisse. Da wage ich denn die Frage an Sie: Könnten, wollten Sie uns in dieser äußersten Not beistehen? Ich frage nicht, ob Sie vergeben haben, aber ich frage, ob Sie so weit vergessen können. O Luise! Leidenszeiten, wie ich sie schon durchlebt, sind strenge Richter vergangener Tage! Doch, ich will hier nichts als meine Bitte aussprechen, meine Frage wiederholen: Können, wollen Sie uns beistehen?

Ich will vom künftigen Sonntag an jeden Abend auf der Post zu K. nachsehen, ob Sie nicht da sind: ich kann nicht erwarten, daß Sie kommen, ich wage kaum, es zu hoffen, aber – ich glaube es.

In inniger Hochachtung

August Lehner.


[133] »Und du willst gehen?« fragte heftig der Bruder. »Zu dem, der dich um deine Jugend und dein Lebensglück gebracht, und dem du jetzt gut genug bist zur Krankenwärterin und Haushälterin?« – »Ich will gehen zu denen, die meiner bedürfen,« sagte Luise sanft; »du weißt ja, wie ich über das Vergangene denke; und wenn er mir je Leides getan hat, soll ich Gott nicht danken, der mir vergönnt, ihm Liebes zu tun?« Luise blieb fest, trotz dem Widerspruch des Bruders und den Bedenken der Schwägerin, die sie kopfschüttelnd ziehen lassen mußten, mit dem Schlußurteil: »Man kann auch gar zu gut sein.«

Wiedersehen

Der Abend dämmerte bereits, als Luise vor dem Posthause zu K. abstieg, wo der Pfarrer von Hochbronn bereits ihrer harrte – das erste Wiedersehen seit jener Trennung. Lehner war es gar beklommen zumute, aber Luise bot ihm freundlich die Hand und sagte treuherzig: »Da bin ich denn, und es soll mich freuen, wenn ich euch von Nutzen sein kann.« Nachdem sie für Abladung des Koffers gesorgt und ihre große Tasche an den Arm gehängt hatte, machte sie sich mit dem Pfarrer auf den Weg und bemühte sich, seine Befangenheit zu zerstreuen: »Sie sind nicht mehr in Tannhausen?« – »Ach, nein, nach dem Tode meiner Frau Schwiegermutter hätte es Adele zu sehr angegriffen, noch in der Nähe der Residenz zu sein; auch hielt man die Luft nicht für gut, und – meine Ausgaben nötigten mich, auf einen einträglicheren Dienst zu sehen.« – »Was fehlt denn eigentlich Ihrer Frau?« Mit dieser Frage Luisens war ein Gesprächsthema angeschlagen, das reichlich vorhielt bis zum Pfarrhause. Er erzählte, wie Adele immer nervenschwach gewesen, wie es ihr von den Nerven aufs Herz und vom Herzen wieder in die Glieder und von da auf die Brust gezogen sei; wie die Badereisen in den letzten Jahren ihren Zustand nur immer verschlimmert hätten, und wie sie jetzt so über alle Begriffe angegriffen sei, daß die kleinste Aufregung die heftigsten Krämpfe bringen könne, und dazu die [134] Haushaltung, den Garten, die Kinder mit ihrer Unruhe und unbrauchbare oder eigenwillige Mägde! »Oh, es ist oft ein Elend, von dem Sie keinen Begriff haben.«

»Nun, das wird mit Gottes Hilfe auch wieder besser; wir müssen nur der armen Frau nicht mit häuslichen Sorgen das Herz schwer machen und selbst guten Mut behalten.« – »Ach, wenn ich mich zusammennehme und heiter scheine, so sagt sie, ich sei gleichgültig, und klage ich, so weint sie und wünscht sich den Tod! Aber sie ist bei alledem die beste Frau der Welt, nur der angegriffene Zustand ...«

Sie hatten das Haus erreicht. Es war ein schönes, stattliches Haus, das Pfarrhaus zu Hochbronn, im Mondschein, der die vernachlässigte Umgebung nicht so erkennen ließ wie das Sonnenlicht, und als der Pfarrer die Klingel zog, um die als Fremde einzuführen in sein Haus, die einst so vertrauensvoll ihre Hand in die seine gelegt hatte zum Gang durchs Leben, da durchzuckte wohl beide ein seltsames Gefühl. Zum erstenmal wagte er Luise anzusehen, das helle Mondlicht fiel auf ihre Züge; sie aber blickte ihn an mit einem so klaren, ruhigen Blick, so voll von Frieden und Vergebung, daß dieser Blick ihm die Tiefen eines Herzens zeigte, das über den Stürmen steht und die Welt überwunden hat.

Die Magd kam herab, öffnete das Haus und stellte dem Pfarrer, ehe er die Treppe betrat, Stiefelknecht und Pantoffeln hin. »Meine Frau greift es so an, das Knarren der Stiefel auf der Treppe zu hören,« sagte er entschuldigend zu Luise. – »Aber die Bauern?« fragte diese unwillkürlich. – »Wer vom Dorf ein Anliegen an mich hat, den empfange ich im Schulhaus,« sagte er etwas verlegen.

Die Frau durfte heute nimmer beunruhigt werden mit der Kunde von Luisens Ankunft; Luise genoß den Rest angebrannter Suppe, den die Magd noch warm gehalten hatte, und ließ sich ihr Schlafgemach zeigen. Das Gastzimmer schien längst als Rumpelkammer zu dienen; das Gastbett war ordentlich aufgemacht, nur befand sich unter der Matratze eine Ablage für schmutzige Wäsche; Luise hatte bis tief in die Nacht[135] zu tun, bis sie nur das Zimmer einigermaßen wohnlich geordnet, und poetische Gemüter mögen ihr verzeihen, daß in dieser ersten Nacht unter dem Dach des Hauses, das ihre Heimat hätte werden sollen, die Prosa der Gegenwart mächtiger wurde in ihr als die Poesie der Vergangenheit und daß ihre Gedanken beim Einschlafen sich mehr um künftige Veränderungen im Hauswesen drehten als um begrabene Träume.

Ein Wirkungskreis

Am nächsten Morgen ging sie zeitig in die Küche hinab und fand dort den Pfarrer geschäftig hin und her trippelnd, während er mit dem Schweif seines langen Schlafrocks Zwiebel- und Eierschalen und sonstigen Kehricht, mit dem der Küchenboden bedeckt war, nach sich schleppte; eine stämmige Köchin, wild, wie es schien, über den ungehörigen Eingriff in ihre Rechte, warf ganze Arme voll Scheiter in ein loderndes Feuer, auf dem der Kaffee überkochte, während der Pfarrer mühselig daneben ein kleines Feuerchen auf einer Kohlenschüssel anblies. »Aber was machen Sie da?« fragte Luise verwundert. – »Ach, nur Adelens Moosschokolade,« sagte er, etwas beschämt; »es war indes jeden Morgen der Jammer, daß sie nicht gut bereitet sei, da wollt' ich's selbst einmal versuchen.« – »Nun, das überlassen Sie jetzt mir,« sagte sie, das Feuerchen anblasend, »und gehen ruhig auf Ihre Studierstube. Nicht wahr, wir leiden nicht gern Herren in der Küche?« sagte sie lächelnd zur Köchin hinüber, die, durch diese Vertraulichkeit schon gewonnen, ihren Kaffee in etwas ruhigerer Weise besorgte.

Eben war die Schokolade fertig, als aus einer Hinterstube ein vielstimmiges Geschrei ertönte: »Mine, wo sind meine Schuhe?« – »Ich finde meine Strümpfe nicht!« – »Ich muß andre Hosen haben!« – »Der Otto will aufstehen!« – »Hab' ich die Kindsmagd ins Dorf schicken müssen um Milch,« brummte die Köchin, »jetzt schreien sie gleich alle zusammen! Könnt ihr nicht warten, ihr Racker?« Luise winkte lächelnd den[136] Pfarrer zurück, der soeben mit kläglicher Miene zu Hilfe kommen wollte, und ging hinüber in die Kinderstube, die weder fürs Auge noch für den Geruchsinn anziehend war. Da wälzten sich vier kleine Kreaturen von sieben bis zu zwei Jahren in verschiedenen Stellungen und sehr unreinlichem Nachtzeug auf dem Boden oder im Bett herum, stritten und schrien: »Mich muß man zuerst anziehen!« – »Nein, mich!« – »Meine Schuhe sind ja zerrissen!« Und so fort. Die Erscheinung einer Fremden machte einigen Eindruck, und sie ließen sich lautlos eins ums andre von Luise waschen, kämmen und ankleiden, soweit dies mit höchst mangelhaften Hilfsmitteln überhaupt möglich war. Es war ein unerhörter Vorgang, daß sie noch vor dem Frühstück angekleidet wurden, und sie starrten bald einander, bald die fremde Frau an, die so emsig und rasch an das schwierige Werk ihrer Reinigung ging.

Der Pfarrer war indes noch in Verlegenheit gewesen, wie er Adele von der Ankunft der neuen Hausgenossin benachrichtigen solle, ohne sie zu sehr anzugreifen. Die isländische Moosschokolade bahnte den Weg dazu. »Wer hat sie diesmal gemacht? Die schmeckt nun doch einmal, wie sie soll,« sagte die Kranke, als sie ihr gebracht worden. – »Luise Stein, die ich ja hierher gebeten zu deiner Unterstützung, kam gestern abend und hat sie zu machen versucht.« – »So, das ist gut, ich möchte sie bald sehen.« Es war der Kranken auf dies Sehen bang, wie auf alles, was einem Ereignis glich; aber Luisens anspruchs- und geräuschlose Weise, die herzliche Teilnahme, die ihr die Tränen ins Auge trieb, als sie die junge Frau so krank und abgezehrt auf dem Lager fand, die sie nur einmal gesehen in der Blüte der Jugend und des Glückes, beruhigten diese leicht, und Luise saß bald an ihrem Bette und ordnete ihr die Kissen und reichte ihr den Trank, als hätte sie immer da gesessen. Als nun der Vater draußen beim Frühstück, das in der Studierstube genossen werden mußte, damit die Mutter den Kinderlärm nicht hörte, die Kinder gewaschen und gekleidet vorfand und zum erstenmal keinen Streit zu schlichten hatte, weil alle noch von dem unerhörten Ereignis mit der fremden [137] Frau, die sie gewaschen hatte, verblüfft waren, da dämmerte es ihm seit lange wieder wie das Morgenrot einer besseren Zukunft.

Es war sehr schwierig, dieses Morgenrot heraufzuführen. Luise stieß allenthalben auf solche Berge von Hindernissen, Kammern voll angehäuften unnennbaren Gerümpels, Schränke voll ungeflickter Wäsche; im Besuchzimmer Motten in den eleganten Möbeln, gestickte Vorhänge von Mäusen zerfressen; in den andern Zimmern kein einziges wohlerhaltenes Stück. Der Garten war eine Art von Tiergarten, in dem Katzen und Hunde, Hühner und Gänse freien Spielraum hatten und den die Magd der Bequemlichkeit halber beinahe ganz mit Salat angebaut hatte, an dem sich Herr und Kinder fast krank essen mußten.

Des Pfarrers Studierstube diente bei schlechtem Wetter zur Kinderstube, um der kranken Frau den Lärm ferne zu halten; seine Pfeifen waren ins Gartenhaus verbannt, weil die Frau nicht einmal das Dasein einer Pfeife im Haus ertragen konnte; Schuhe und Speisereste wurden in ein und demselben Kasten verwahrt; – es überstieg Luisens Begriffe, und sie glaubte der Aufgabe erliegen zu müssen.

Sie erlag aber nicht. Sie griff mit frischem Mut an, nicht im Sturm, nur leise und allmählich, aber rastlos und unablässig. Sie drückte über keine ihrer Entdeckungen Verwunderung [138] aus; sie fragte nur die Köchin, ob es ihr nicht etwa so auch passend vorkomme, und ließ sie teilnehmen an jeder Neuerung. »Es ist eine rechte Jungfer,« gab selbst diese zu; »ja, es ist gut mit ihr arbeiten,« gestand auch die Stubenmagd.

Und die Kinder hingen an ihr mit einer Liebe, wie sie sie nimmer erfahren, seit man ihre kleinen Brüder fortgeführt, und folgten ihrem Wink, und der Pfarrer schaute sie so dankbar an, und die Kranke, die nichts ahnte von den Gebirgen, die Luise überstiegen, wenn sie so harmlos zufrieden sich zu ihr setzte, lächelte ihr entgegen, so oft sie ins Zimmer trat. – Luise betete oft, Gott möge ihr ein demütiges Herz erhalten, daß sie sich nicht überhebe, weil ihr so viel anvertraut sei, und sie hatte gar nicht Zeit, an vergangenes Leid zu denken.

Innere Mission

Adele fühlte ihren wohltätigen Einfluß nur allmählich, unsichtbar wie frische gesunde Luft. Sie war so einfach gebildet, diese Luise, ihre Gedanken bewegten sich so im Kreis des Gewöhnlichen; sie schien die reine einfache Gutmütigkeit mit etwas gesundem Hausverstand, und doch lag oft in ihren einfachen Worten eine Tiefe und ein Ernst, die Adele hier etwas ahnen ließen, was sie mit all ihrer Bildung, ihren zarten und schönen Gefühlen bis jetzt noch nicht gefunden hatte: ein Herz, das Frieden geschlossen hatte mit sich und seinem Gott.

Luise schlief bei den Kindern; der kleine Otto, der äußerst schwächlich war, schlief noch sehr unruhig; die erste Hälfte der Nacht aber, wo die Kinder meist ruhig lagen, brachte sie bei der Kranken zu. »Ach, Luise, nicht wahr, ich bin recht wunderlich?« fragte seufzend Adele in einer Nacht, wo Luise sie bald hoch, bald nieder gebettet; ihr bald frisches Wasser, bald warmen Tee gebracht; bald die Lampe gelöscht, bald sie wieder angezündet hatte. »Du weißt ja, daß es mir Freude macht, dir etwas nütze zu sein,« sprach beruhigend Luise. – »Ach [139] nein, du mußt mich nicht auch verwöhnen, wie alle Welt getan. Du hast mir's nie gesagt, und doch ist mir's erst eingefallen, seit du da bist, wie unnötig ich euch plage, wie viel ich an mich selbst denke; gewiß, ich will noch anders werden.« – »Du bist krank, liebe Adele.« – »Oh, ich weiß, wenn du auch krank wärest, du würdest doch anders sein an meiner Stelle. Siehst du, ich war nie recht gesund, und so lang' sie lebte, sorgte meine arme gute Mutter fortwährend, mir jedes Steinchen aus dem Wege zu räumen, und sie brachte es so weit, daß mir ein Sandkorn weh tat; ich war das beste Geschöpf von der Welt und gönnte jedermann alles Gute, nur solange mir selbst nichts abging.

An Bällen konnte ich nicht teilnehmen; so oft die Mutter meinte: man müsse mir armem Tropf doch zu einem bißchen Vergnügen verhelfen, mußte ich es nachher mit wochenlangem Kranksein büßen; da suchte man denn alles Erdenkliche auf, was mir sonst Freude machen könnte: Bücher waren mir das liebste. Oh, wie lebte ich mich ein in diese Welt der Poesie, und mit wie reizenden Farben malte ich mir besonders das Landleben aus! Da lernte ich Lehner kennen ...«

»Hast du ihn lieb gehabt?«

»Nun, weißt du,« sagte Adele errötend, »ich lernte ihn auf dem Lande kennen, da war es eine so große Wohltat, daß er mir vorlas; aber ich hätte doch nicht daran gedacht, je seine Frau zu werden, er war ja sechzehn Jahre älter als ich! Aber als er nach Tannhausen kam, da erst wurde er mir wichtiger, das Pfarrhaus war so einzig! Wir Mädchen alle hatten uns schon in der Nähschule darum gestritten, wer einmal Pfarrerin in Tannhausen werden dürfe, und August kam mir so recht würdig und edel vor ...«

»Hast du ihn denn nicht so gefunden?«

»Ach, gewiß, er ist ganz brav und gut, nur zu gut gegen mich; aber ich hatte mir einen Geistlichen gar nie im Alltagskleid gedacht, und es störte nachher meine Illusion, ihn im gestreiften Schlafrock mit der Pfeife im Munde zu sehen. Nun also, ich fühlte recht, daß mein weichliches, schwankes Wesen einen [140] Halt und eine Stütze brauchte, und ich sagte von Herzen Ja, obgleich es so schnell kam, daß ich nicht recht wußte, wie mir geschah. Und ich ward seine Frau. Nun wollte ich zwar einen Mann, wie ihn sich ein Mädchen denkt: männlich und fest, eine Ulme für den schwanken Efeu; daneben aber hatte mir die Mutter oft und viel gesagt, wie ein unerhörtes Glück es sei für August, daß er mich bekomme, und wie er mich ehren und schonen und auf den Händen tragen werde. Und mein Leben lang hatte man mich gelehrt, zumeist und zunächst an das zu denken, was mir angenehm, was etwa meiner Gesundheit schädlich oder zuträglich sein könnte.

Wo denn einmal August mit der Festigkeit auftreten wollte, die ich mir als Mädchen so reizend gedacht, da tat es mir entsetzlich weh; ich zerfloß in Tränen, wenn er eine verbrannte Suppe tadelte, und bekam ein so bitteres Mitleid mit mir selbst, daß ich mir die ärmste Frau schien und unendlich edelmütig, wenn ich wieder vergab. Dazu kam die Mutter, die in ihrer Güte mich so übermäßig hätschelte und pflegte und schonte, daß mein guter Mann wie ein wahres Monstrum von Gleichgültigkeit und Härte daneben stand.

Es kamen die Kinder. Ich war wirklich der Last nicht gewachsen, und je nötiger dem Haushalt eine tätige, rüstige Frau gewesen wäre, desto schwächer wurde ich. Die Versuche, die ich zu Anfang gemacht, tätig im Haushalt zu wirken, mußt' ich bald unterlassen, und der arme August verzehrte sich in Sorge, daß er mir nicht alle Hilfe und Erleichterung schaffen könne, die mein Zustand fordere. Die gute Mutter war unerschöpflich in Vorschlägen von Bädern, Reisen und Kurorten, die mir gut tun sollten; ich ließ mir alles gefallen, ich hatte nie klare Einsicht in Geldverhältnisse gehabt, und wenn ich auch wußte, daß unser Einkommen nicht reichte, so tröstete ich mich damit, daß ich ja der Mutter einziges Kind sei, die würde uns schon zu rechter Zeit helfen.

Nach der Mutter Tode gingen mir darüber freilich die Augen auf, und ich sah, daß wir lange Jahre ein Leben geführt, das unsre Mittel aufgezehrt; aber ich war körperlich zu [141] schwach und hatte meine geistige Kraft zu wenig geübt, als daß ich jetzt an eine durchgreifende Änderung hätte denken können; ich hoffte, auf dem neuen besseren Dienst würde alles gut werden.

Jetzt erst, Luise, seit du hier bist, sehe ich, daß ich trotz meiner Schwäche hätte mehr tun können, zumal für meine Kinder. Es ist zu spät. Liebe Luise, gewöhne du meine Kinder, das Leben frisch anzufassen und hinzunehmen! Lehre du sie sich selbst vergessen auch im Leiden, daß Gott sie bewahre vor dem Stachel, der unbewußt an meiner Seele genagt hat durch all diese Jahre, an der Seite eines guten Mannes und lieblicher Kinder: behüte sie vor dem Gefühl unerfüllter Pflicht!«

Es war zu spät für die arme Frau, ein neues Leben des Wirkens zu beginnen; aber nicht zu spät, in der Schule des Leidens zu lernen, was noch zu lernen war. Die Kinder, die sonst ängstlich ferngehalten wurden, durften sich nun um ihr Bett sammeln; sie lernte sich freuen an ihnen und teilnehmen an ihren kleinen Leiden und Freuden. Sie war so sanft und geduldig, so besorgt, andre nicht zu bemühen, daß sie ohne die aufmerksame Liebe Luisens und ihres Gatten manches Nötige entbehrt hätte. Und, was vielleicht das Größte, das Ergebnis des schwersten, stillen Kampfes war – sie sah neidlos mit sanftem Lächeln, mit welcher Liebe und Achtung die Kinder an Luise hingen, an sie sich wandten, wie sie von ihr Belehrung und Trost und Hilfe suchten; wie der Pfarrer mit rückhaltlosem Vertrauen alle Angelegenheiten des Hauses und der Kinder in ihre Hand legte und das Gesinde ihren leisesten Wünschen Folge leistete.

Adele fühlte in dieser Verleugnung einen Frieden, wie sie ihn nie empfunden, nicht in den schönsten Tagen ihres kurzen Frühlings; einen Frieden, der ihr Krankenbett den Ihrigen zu einer lieben Heimat, der nach langen, langen Leidenswochen ihr Sterbebett zu einer heiligen Stätte seliger Hoffnung machte.

[142]

Das letzte Opfer

Adele ruhte im Grabe, auf dem schon die weißen Rosen blühten, die Luise vor ihrem Abschied aus dem Pfarrhause noch darauf gepflanzt. Der Pfarrer hatte seinen ältesten Knaben in eine Kostschule gegeben und führte das Hauswesen, das Luise in gute Ordnung gebracht, mit einer braven Magd.‹

Und Luise saß wieder am Nähtischchen in dem Oberstübchen des Bruders; den kleinen Otto, der noch vieler Pflege bedurfte, hatte sie mit sich genommen, er belebte das stille Jungfernstübchen und spielte zu ihren Füßen.

Luise hatte nicht nur gegeben im Pfarrhause zu Hochbronn, sie hatte auch gelernt und an Adelens Kranken- und Sterbebette vieles gewonnen. Die höhere Bildung der jungen Frau, die, als sie von den Schlacken der Selbstsucht gereinigt war, sich wirklich als edler Schatz ihres Innern kundgegeben, hatte den Kreis ihrer eigenen Gefühle und Gedanken erweitert; der ungetrübte Friede, mit dem sie frisch und heiter durch die kleinen Wechselfälle, die unvermeidlichen Störungen des Alltagslebens ging, entsprang mehr noch als zuvor aus einer tieferen Quelle als natürlichem guten Mut: aus einem Herzen, das himmelwärts gestellt war.

Da kam Gustav Adolf, der nun bereits an mensa war und den kleinen Otto gnädig protegierte, auch einmal wieder mit einem Brief in der Tante Stube. Ein Brief vom Pfarrer Lehner an die Pflegerin seines Kindes war nichts Neues mehr, Luise war lange wieder mit der Aufschrift vertraut, – und doch stürzte siedieser Brief in eine Bewegung, wie sie ihr stilles Herz seit Jahren nicht mehr gekannt, so daß Gustav Adolf diesmal die Botschaft ins Wohnzimmer hinunterbrachte: »Die Tante ist ganz betrübt und weint und geht immer in der Stube herum.«

Der Inhalt des Briefes hätte sie nicht mehr überraschen dürfen. Er enthielt die innige herzliche Bitte Lehners, zu allem, was sie ihm und den Seinigen gegeben, noch die höchste Gabe, sich selbst, zu fügen, seinen Kindern eine treue Mutter, [143] seinen einsamen Tagen eine Gefährtin, seinem verwaisten Hause die segnende Hausfrau zu werden.

Luise hätte diese Bitte voraussehen können; ihre Geschwister, der ganze Kreis ihrer Bekannten hatten längst als ganz natürlich erwartet, daß sie des Pfarrers Gattin werde. Er bot ihr eine Heimat, wie sie sich einst gedacht, er war ihre erste und einzige Liebe: und doch – nur ein Frauenherz vielleicht wird glauben und begreifen, daß Luise bei dieser Bitte den schwersten Kampf ihres Lebens mit ihrem weiblichen Stolze zu durchkämpfen hatte. Willig, gerne, ohne Zögern war sie zu ihm geeilt in der bescheidenen Eigenschaft einer Gehilfin des Hauses, einer Pflegerin seiner Frau; sie hatte ihm beigestanden wie eine Schwester, gedient wie eine Magd. Aber sein Weib zu werden, die Hand, die er verschmäht, nun doch in die seine zu legen, nachdem ihre Gefühle für ihn lange schon zur ruhigen, fast mitleidigen Schwesterliebe geworden waren, so daß sie mit einem Herzen, lauter bis zum tiefinnersten Grunde, am Sterbebette seines Weibes hatte stehen können, – dagegen sträubte sich ihr innerstes weibliches Gefühl, und mehr als einmal ergriff sie die Feder, um ihm schwesterlichen Dank für seine Werbung zu sagen und sie abzulehnen.

Aber sie dachte an seine einsame Zukunft, an die verwaisten Kinder, die ihr die Mutter so oft auf die Seele gebunden; sie bedachte, ob es nicht Gottes Finger sei, der ihr hier ihren Wirkungskreis angewiesen, und ob ihr darauf eine andre Antwort zieme als: Siehe, ich bin des Herrn Magd.

So hat sie Ja gesagt und einen stillen Eingang gehalten in das Pfarrhaus, dessen Schwelle sie das erste Mal schon als hilfreicher Engel betreten, und sie ist dem Gatten ein gutes, treues Weib geworden, die ihm Liebes getan und kein Leides sein Leben lang. Ihre fleißige Hand brachte den Segen ins Haus, und Adelens Kinder, die ihre einzigen blieben, wuchsen und gediehen wie Ölzweige.

Ob sie das alte Gefühl ihrer Jugend, das Glück und das volle Vertrauen ihres jungen Herzens wiedergefunden, – ich weiß es nicht, und ich glaube es kaum. Aber ihr Mann wurde [144] gepriesen als ein glücklicher und gesegneter Mann, und er hat in ihr seinen guten Engel erkannt bis zu seinem letzten Hauch.

Ihre Kinder sind mit einer Liebe und Achtung an ihr gehangen, wie sie nur eine Mutter als köstlichste Gottesgabe erbitten kann. Luise ruht nun lange im Grabe neben Adele und ihrem Gatten, und Adelens Söhne sind Männer geworden; aber das Auge der Männer wird feucht, und ihre Hände falten sich wie zum Gebet, wenn sie der zweiten Mutter gedenken und ihrer Treue.

Fußnoten

1 Fiaker und Hunde.

Ottilie Wildermuth
Aus dem Frauenleben

[146] Unabhängigkeit
Erzählung in Briefen

Es wird des Glaubens heil'ge Flamme

Erst hell im Herzen angefacht,

Wenn wir des Herzens liebste Träume

Dem Herrn als Opfer dargebracht.

Drum, wenn das stille Leid dir nahet,

So werde dir recht innig kund:

Es ruht die edelste der Perlen

Auf der Entsagung dunklem Grund.

Und hast die Perle du errungen,

Erblühe freundlich dein Geschick;

Weit über Bitten und Verstehen Gibt uns der Herr das rechte Glück.

O. W.

Als Gottes Diener, Gottes Hausgenossen,
In Demut willig und in Liebe frei,
Das Seine schaffen froh und unverdrossen,
In kleinen Dingen zeigen große Treu'.
Spitta.

Helene an Lottchen

Grünberg, im März 1832.


Weißt Du noch, liebes Lottchen, wie oft Ihr in der Pension über mich gelacht habt, wenn ich Euch feierlich über einen Vorsatz um Rat befragte und Euch dann hinterher meinen bereits unabänderlich gefaßten Entschluß verkündete, der meistens sehr im Widerspruch stand mit Eurer Meinung?

Diesmal will ich ehrlicher sein und Dir zum voraus sagen, daß für meinen neu gefaßten Entschluß der gute Rat zu spät käme. Ich habe mich nämlich an Madame Coulin mit der Bitte gewandt, mir eine Stelle als Erzieherin zu verschaffen, und habe bereits zwei Anträge meinen Eltern zur Begutachtung vorgelegt.

Nicht wahr, das ist schnell gekommen? Und nun, mein allerliebstes, vortreffliches Lottchen, die Du allzeit die Weiseste und die Brävste unter uns warst, aber auch allzeit die Freundlichste: sei auch diesmal so freundlich, meinem Entschluß beizustimmen![146] – denn ruhig bin ich doch nicht, wenn Du nicht damit einverstanden bist.

Mein Vater hat mir die Einwilligung weniger schwer gemacht, als ich gefürchtet; denkt er vielleicht, unsre Verhältnisse seien derart, daß einst Notwendigkeit werden könne, was jetzt freie Wahl ist? »Ver such's in Gottes Namen und verstoß dir den Kopf in der Welt draußen; wirst gern wieder heimkommen!« sagt er.

Die Mutter nimmt es schwerer und rät mir ernstlich ab. Sie meint es gut, und ich glaube, sie fürchtet auch, als böse Stiefmutter zu erscheinen, die das Kind aus dem Vaterhause treibt. Damit hat's gute Wege. Jedermann weiß, daß sie sich gut und treulich um des Vaters Haushalt und um die Geschwister angenommen, und wenn mir's auch zu Anfang weh getan hat, die selige Mutter so bald ersetzt zu sehen, und wenn ich erst nicht gern mein Hausregiment wieder abgegeben, so habe ich doch bald eingesehen, daß ich Jugendfreude und Jugendfrische verloren hätte in den Sorgen des Haushaltes und der Plage mit den Kindern, und ich sehe nun die Zügel neidlos in reiferen Händen.

Freilich meint die Mutter, ich soll zunächst mein Talent im Unterrichten an den kleinen Geschwistern üben; ich habe es auch schon versucht, aber es geht wahrhaftig mit Geschwistern nicht gut: der eigentliche Respekt fehlt. – Es gibt ja gute Schulen hier, und – zuletzt könnte ich aus der Gouvernante leicht zum Kindermädchen werden.

Ich verlasse die Heimat nicht, um müßig zu sein; was ich gelernt, soll Früchte tragen. Ich sehne mich nach geistiger Tätigkeit, – und erstens und letztens: ich sehne mich hinaus in eine freiere, frischere Lebensströmung. Ich habe es satt, dies Leben einer Kleinstadt, diese Bälle, wo ich die erste Tour mit dem Gerichtsaktuar tanze und die zweite mit dem Oberamtsaktuar und die dritte mit dem Assistenten und so fort, bis die Reihe wieder an den Gerichtsaktuar kommt; diese Kaffeevisiten, wo die Frauen verhandeln, wie vielfache Aussteuer ihr Minele bekommt, und die Mädchen sich erzählen, wer [147] ihnen die Cour mache und wer sie ihnen vielleicht auch noch gemacht haben würde. Ich will Freiheit, Unabhängigkeit, auf einem Wege natürlich, wo sie einem Mädchen zugänglich ist.

Dieses gutgemeinte, tägliche, stündliche Kontrollieren meines Tun und Lassens (so wenig ich im Elternhause über Zwang und Beschränkung klagen kann), dies ewige Fragen: »Was tust du, Helene? Wohin gehst du, Helene? Willst du denn dies Kleid schon für Werktags anziehen?« wird mir nachgerade unerträglich; und Ihr mögt sagen, was Ihr wollt, von den Schattenseiten des Gouvernantenlebens, – laßt mich nur einmal in der Welt draußen sein! Ich weiß gewiß, da wird alles anders und besser. Wie? kann ich freilich noch nicht sagen, aber ich weiß, daß ich mich freiwillig in alles fügen kann, während mir gezwungen das Kleinste sauer geschieht; darum wird mir bei einem selbstgewählten Beruf nichts zu schwer werden, und ich halte die vielen Einwürfe gegen ein Leben, das nun einmal von unsern philisterhaften Verhältnissen verschieden ist, für leeres Vorurteil.

Tante Merz meinte mit bedeutsamem Lächeln: es gebe ja noch andre Wege für Mädchen, um selbständig zu werden; ich sei hübsch, der Vater angesehen, da werde sich's schon noch schicken mit einer guten Partie usw. – Da kam sie mir eben recht! Davor behüte mich Gott, daß ich dasitzen sollte und auf einen Mann warten! Nein, nichts empört mich mehr, als wenn man das für das einzige Lebensziel, für das höchste Glück eines Mädchens ansieht.

Die erste der mir angebotenen Stellen ist bei einer Professorswitwe in der Schweiz, die mich freundlich bittet, ihr als Freundin und Gehilfin bei dem Unterricht ihrer Kinder beizustehen – das lautet hübsch und gemütlich, aber ich fühle schon, das wäre die alte Soße wieder: dieselbe kleinliche Beschränkung. Ich bin gesonnen, die andre bei einer gräflichen Familie auf Schloß Welsen in Preußen, einige Meilen hinter Berlin, anzunehmen.

Meine Stellung dort wird vielleicht einsamer, gewiß aber freier und unabhängiger, und dann – ich gestehe Dir, das [148] Leben der Schlösser hat einen gewissen Reiz für mich; ein Dasein in edlen und schönen Umgebungen, überhoben der Gemeinheit des Alltagslebens, der kleinlichen Sorgen und Mühen, in denen sich in unsern Verhältnissen die edelste Kraft der Frauen verzehrt – und ich möchte dies Leben einmal beim Lichte besehen.

So ist denn dies vielleicht der letzte Brief, den Du von mir aus der Heimat erhältst, und wenn Dir die Putz- und Waschfeste Deiner Tante und die Stare Deines Onkels freie Zeit lassen, so komm noch einmal, mich zu sehen.

Wenn ich an Deiner Stelle wäre, ich wüßte, was ich täte: mit Deinen Talenten, mit Deiner unvergleichlichen Umgangsgabe bist Du wahrhaftig zu gut zur Sklavin kindischer Launen.

Mich halte nicht zurück, liebes Herz, nicht einmal mit Deinen Gedanken, so lieb und so treu sie sind!


Laß mich hoffen, laß mich wagen,
Denn die Götter leihn kein Pfand.

Laß mich hinaus, wohin der innerste Zug meines Wesens mich führt, der Zug nach Unabhängigkeit! Nah und fern in Liebe

Deine Helene.

Lottchen an Helene

Eichtal, April 1832.


Liebste Helene!
Wenn ich ein Vöglein wär'
Und auch zwei Flüglein hätt',
Flög' ich zu dir;
Weil's aber nicht kann sein, nicht kann sein,
Bleib' ich allhier.

So hab' ich nun schon manch liebes Mal in meinem Leben gesungen und gedacht, und das »nicht kann sein« sollte ich wohl auswendig können, und doch fällt es manchmal noch schwer. Es sind recht lehmerne Schwingen, die diesmal meinen letzten [149] Flug zu Dir hemmen: Tante hält es für rein unmöglich, unsre große Wäsche zu verschieben, natürlich noch viel unmöglicher, mich während dieser Zeit ein paar Tage fortzulassen, und so muß ich mich begnügen, den eilenden Wolken, die ich morgen auf dem Trockenplatz Gelegenheit habe zu beobachten, Grüße für Dich mitzugeben. Wer hätte auch gedacht, daß die Frau Gräfin so bald schon Ansprüche auf Dich machen würde! Ich meine, es hätte den jungen Komtessen vielleicht auch nicht geschadet, wenn man sie ein paar Wochen unerzogen gelassen hätte.

Nun, weil es denn sein muß, mein liebes Herz, so leb wohl und reise glücklich! Gott behüte Dich und geleite Dich, und wenn er Dich nicht alles finden läßt, was Dein Herz sucht, so möge er Dir etwas Besseres dafür bescheren! Ich meine, Dir könne es nicht schlimm gehen, und ich will Dir auch das Herz nicht mehr schwer machen mit meinen Bedenken; auch wäre das wohl nicht so leicht bei meiner sichern, freien Helene, die ihres Weges so gewiß ist. Deiner Tante mußt Du nicht so böse sein um ihren gutgemeinten Wunsch. Wenn sie uns Mädchen nichts Besseres und Lieberes zu wünschen weiß als einen Mann, so ist das immerhin ein Zeichen, daß sie mit dem ihrigen glücklich gewesen; meine Tante, das weißt Du wohl, die spricht anders.

Wenn man ihr von Bekannten die Geburt eines Mädchens anzeigt, so seufzt sie: »Auch wieder ein so armer Tropf weiter auf der Welt!« Wenn sie einem Hochzeitszug begegnet, so versichert sie, sie möchte lieber einen Leichenzug sehen, und doch ist's der guten Tante, soviel ich weiß, gar nie schlimm gegangen auf der Welt, und der Onkel ist die beste Seele, seine kleinen Eigenheiten abgerechnet. Nun, man muß ihr das zugute halten; wenn sie auch die Welt für ein Jammertal ansieht, so tut sie doch viel in ihrer Weise, den Jammer zu mildern; sie ist sehr gut gegen Arme, und um dies bittere Leben zu versüßen, backt sie wenigstens Biskuittorten für alle Welt.

Ich meinesteils gönne allen Mädchen ihr bißchen Leben von Herzen; wenn's keiner schlimmer geht als mir, so haben sie alle Grund, sich ihres Daseins zu freuen. Ich könnte eher [150] Mitleid mit den armen Männern haben, wenn ich nicht dächte, daß sie doch auch auf der Welt sein müßten. Was ist das für ein Leiden, bis man weiß, was so ein Junge werden soll, was für eine Sorge, ob man auch das Rechte erraten! Soll er studieren, so geht die Drangsal mit den Examen an; hat er die gemacht, so fühlt er sich nicht befriedigt von seinem Fach; bleibt er in seinem Fach, so bekommt er lang' keinen Dienst; hat er einen Dienst, so hat er noch kein Weib; ist er Kaufmann, so will er sich etablieren und kann fallieren; ist er Apotheker, so muß er sich nach einer Witwe oder Erbtochter mit einer anerstorbenen Apotheke umsehen; kurz – aber Du wirst denken, ich habe von der Tante lamentieren gelernt. Wie gut haben's wir Mädchen dagegen! Immer etwas zu tun, Dienste genug und kein Examen, und dürfen warten in aller Stille, wozu uns der liebe Gott brauchen will. Doch ich vergesse, daß ich zu meiner stolzen Helene rede, die ihr Schicksal selbst gestalten will!

»Wenn Du an meiner Stelle wärest, so wüßtest Du, was Du tätest?« Liebe Seele, wenn Du ich wärest, so bliebest Du, wo Du bist. Wenn ich Gott alle Morgen bitte, mir mein redlich Tagewerk in diesem meinem kleinen Kreise anzuweisen, so ist das, glaub' ich, pure Bequemlichkeit, weil mir's so sauer würde; wenn ich mich erst auf meine Bestimmung besinnen müßte. Du meinst, ich versplittere meine Zeit und Kraft in elenden Kleinigkeiten? Liebe Helene, wenn ich denen gehorsam bin, die mir an der Stelle der Eltern sind, so wird mir's nicht zum Unrecht werden, auch wenn nicht alles, was ich tue, einen besonderen Nutzen und Zweck für die Menschheit hat. Es mag sein, daß ich an andern Orten mehr wirken und – vielleicht besser für meine Zukunft sorgen könnte als hier; aber ich glaube doch nicht, daß ich vergeblich hier bin, und es ist gewiß Gottes Wille, der mich an diese Stelle setzte.

Zu tun habe ich einmal genug, vom frühen Morgen, wo ich des Onkels Essigkolben arrangiere, seine Amseln und Stare füttere und seine Wetterglasbeobachtungen zu Protokoll bringe, bis nachts, wo ich alle Stühle in Überzüge hülle und auf den [151] Gang stelle, damit sie in der Frühe schon draußen stehen, wenn das Zimmer gekehrt wird, und bis ich die siebenhundert Töpfchen alle in ihrer Ordnung erhalte und sorge, daß die Katze kein Schüsselchen bekommt, aus dem der Hund schon gefressen hat, und bis ich die Türklinken poliere und in Leder wickle und die Asche siebe, aus der verschiedene Laugen gegossen werden zur Reinigung des Geschirrs je nach seinen vielerlei Rangklassen, – oh, ich sage Dir, es ist eine komplizierte Tagesordnung, und damit mir das Geschäft nicht entleidet, habe ich gelernt, es mit so viel Interesse zu tun, daß mir oft selbst bange wird, ich könnte einmal geradeso werden wie meine arme, gute Tante, und die ist sich doch selbst zur Last mit ihren Wunderlichkeiten.

»Aber das sind erbärmliche Beschäftigungen, eines denkenden Wesens unwürdig!« rufst Du aus. Schatz, ich sage Dir, ein undenkendes Wesen könnte gar nicht damit fertig werden, und erbärmlich ist am Ende nichts, was zur Zufriedenheit eines Menschen beiträgt.

»Aber deine Verwandten sollen nicht ihre Zufriedenheit in solchen Elendigkeiten suchen!«

Teuerste, ich habe gar nichts dagegen, wenn Du die jungen Weltbürger, die nun Deiner achtzehnjährigen Leitung anvertraut werden, zu freien, starken Menschen erziehst, frei von dem Hängen an Kleinigkeiten, zu gut, um andre zu quälen mit selbstgeschaffenen Lasten, – tue das nur und laß keine sogenannten Eigenheiten an ihnen aufkommen! Ich mach' es auch so mit dem einzigen Menschen, den ich zu erziehen habe, mit mir selbst nämlich. Aber meine alte Tante werden wir zwei schwerlich mehr anders ziehen, und nun sie so ist, so ist's ja doch besser, es geschieht im Frieden, was sonst unter Zank und Streit geschehen müßte.

»Aber das könnten bezahlte Personen von geringeren Fähigkeiten verrichten,« lautet einer Deiner weitern Einwürfe. Da verstehst Du's wieder nicht; bezahlte Personen bleiben erstens nicht da, und zweitens tun sie's nicht, und drittens: wenn sie's tun, so sind sie grob. Es gehören gar keine so geringen Fähigkeiten[152] dazu, diplomatisch zwischen den Staren, Amseln, Kaninchen und Essigkolben des Onkels und zwischen den reinen Fußböden, weißen Gardinen, polierten Feuerzangen und angezogenen Tischfüßen der Tante durchzusegeln, ohne auf beiden Seiten anzustoßen; dem Azur, Mignon und Nero der Tante gerecht zu sein, ohne die vier Katzen des Onkels zu beeinträchtigen. Eh' ich kam, hat die Tante schon vierzehn Hausjungfern gehabt und unzählbare Mägde; nun walten ich und Christine doch schon seit zwei Jahren einträchtig nebeneinander, ein unerhörter Fall in den Annalen des Hauses; und wenn Christine sagt: »Ich halt's eben nimmer aus,« so sag' ich: »Ich tät's doch noch einmal probieren,« dann tröstet sie sich wieder mit dem Gedanken: »Ja, Sie sind doch noch ärger geschoren, Jungfer Lotte!« – und es geht wieder.

Aber da komm' ich in ein Schwatzen und Plaudern hinein über meine Angelegenheiten, und Du hast jetzt so viel Nötiges und Wichtiges zu bedenken, und ich wollte nichts als Dir Lebewohl sagen.

Das nächste Mal sollst Du erst noch mehr hören über die Lichtseiten meiner Existenz, die gar nicht unbedeutend sind, zumal seit wir auf dem Lande wohnen.

Für heute aber nichts mehr als leb wohl, leb tausendmal wohl, meine Liebe! Ich weiß keinen bessern Wunsch auf Deinen Weg als den Schluß des alten Reiseliedes:


Gott führ' durch alles uns zur Ruh
Und unverrückt dem Himmel zu.
Behüt' Dich Gott, und denk an

Deine Lotte.

[153] Helene an Lottchen

Schloß Welsen, im Juni 1832.


Der erste Gruß, der Dir aus meiner neuen Heimat zufliegt, meine Teure! Heimat? Das wäre für den Anfang fast zu viel gesagt; was aber nicht ist, kann ja noch werden.

Seit acht Tagen bin ich hier, noch etwas reisemüde, aber glücklich in der Erinnerung an diesen ersten größern Ausflug meines Lebens. Ich war von der Gräfin an eine ältere Dame empfohlen, die beinahe dieselbe Tour machte; aber diese ewige Beschränkung war mir lästig. Da sollte ich in Gesellschaft die obligaten Merkwürdigkeiten besuchen, abends zu guter Stunde im Gasthof einrücken, in den goldnen schönen Morgenstunden nicht allein ausgehen, mit niemand auf eigene Hand ein Gespräch anknüpfen. »Das jeht nicht!« war die stehende Antwort der gnädigen Frau. Ich bekam das am ersten Tage satt. In Leipzig, das ich doch gern auch länger angesehen hätte, machte ich mich von der Gnädigen los; edle Weiblichkeit braucht keinen Schutz als sich selbst. Magdeburg, »die Starke, des deutschen Reiches Halt«, wollte ich doch auch nicht bloß im Vorüberflug kennenlernen, und das lange Reisen im Eilwagen ist sehr ermüdend, zumal da ich auf dem langen Wege auch nicht eine interessante Bekanntschaft gemacht habe: ich hatte mir das so ganz anders vorgestellt.

Dies Alleinbleiben hatte nun freilich seine Unannehmlichkeiten: ich kam um meinen Koffer, den ich mit viel Mühe und Kosten erst einige Tage nach meinem Hiersein wieder erhielt; ich wurde von unverschämten Kutschern, naseweisen Kellnern und zudringlichen Reisenden vielfach geärgert, so daß ich mich zuletzt doch wieder an einen Kaufmann und seine Frau anschloß, die nach Berlin reisten.

Da war ich denn vom Regen in die Traufe gekommen, obgleich das würdige Paar äußerst besorgt um mich war; die Frau konnte keine Luft im Wagen ertragen, der Mann war entsetzlich ängstlich und voll Sorge, wir möchten uns verlieren. Abends auf dem Weg in den Gasthof, oder wo irgend ein Gedränge [154] auf der Straße war, schrie er fortwährend: »Jotte, Jotte, Sie jehn man verloren! Halten Se mir doch jefälligst an meenen Frackzipfel, weil ich in die eene Hand meenen Rejenschirm und an die andre meene jeliebte Juste habe!« Da ich um einen halben Kopf höher bin als das Männchen, so kannst Du Dir denken, daß ich, mit seinem Frackzipfel in der Hand, eine ziemlich komische Figur machte.

Nun, ich kam am Frackzipfel des Kaufmanns doch ungefährdet bis Berlin; von da hatte ich noch wenige Stunden zu reisen bis N., wo mich die gräfliche Equipage abholte.

Lach mich nicht aus, meine liebe Reseda! Aber es war für ein kurzes Stündchen wenigstens ein gar behagliches Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, so auf die weichen Kissen des Wagens zurückgelehnt in die Welt hinauszufahren. Ich dachte wieder an die schönen Briefe der Gräfin, in denen sie mir so klar bewiesen, wie es in ihrem eigenen Interesse als Mutter liege, mit mir im innigsten Einverständnisse zu bleiben; – ich malte mir die Persönlichkeiten aus, die ich etwa auf Schloß Welsen treffen würde, – endlich fuhren wir durch eine schöne Allee am Portal vor.

Niemand war unten, nur ein paar Kinderköpfe lauschten am Fenster, der Bediente brachte mir das Gepäck auf mein Zimmer. Dies Zimmer nun entsprach meinen Erwartungen gerade nicht: es ist ziemlich klein, geht in einen Hof und ist mit allerlei ausgeschossenem Gerät etwas unharmonisch möbliert; an mein Mädchenstübchen daheim mit seiner niedlichen Einrichtung darf ich gar nicht denken.

Nachdem ich Toilette gemacht, wurde ich der Familie vorgestellt. In dem schönen, großen Salon brannte eine prachtvolle Lampe auf dem Teetisch, um den sich die Familie aufs reizendste gruppierte. Die Gräfin, eine schlanke, interessant aussehende Dame, ruhte auf dem Diwan, ihr kleinstes Töchterchen spielte mit ihren schwarzen Locken, an ihrer Seite saß der Graf, eine stattliche, ritterliche Gestalt, wenn auch sein Gesicht minder geistig und minder bedeutend aussah; um beide gruppierten sich die Kinder, allerliebste Kinder, und niedlich gekleidet. [155] Unter uns gesagt, Lottchen, unbeschadet unsres bürgerlichen Stolzes, diese Adligen sind doch ganz andre Leute als wir: alle Gefühle nehmen einen zarteren, edleren Ausdruck an; etwas Beneidenswertes um eine feine Erziehung.

Eine etwas unbeholfene Figur saß auf der Seite, in einem Buche blätternd, das er zwar bei meinem Eintritt beiseite legte, die einzige prosaische Gestalt in diesem malerischen Zirkel: es ist der Hofmeister, ein Herr Sturm.

Die Kinder sind, wie ich Dir schon sagte, allerliebst, aber es sind viel, grausam viel. Klara, Eugenie und Margot sind zunächst meine Zöglinge, die drei Söhne sind dem Hofmeister übergeben, dann noch zwei niedliche kleine Mädchen. Die Masse der Dienerschaft im Schloß kann ich noch nicht recht übersehen, ich selbst bin trotz ihrer Anzahl nicht eben ausgezeichnet bedient.

Die Gräfin stellte mir die Kinder vor und sagte ihnen, daß sie mir zu gehorchen haben, dann unterhielt sie sich mit mir über die Grundsätze der Erziehung; sie hielt nebenbei so eine Art von Examen, wobei mir das Französische, in dem sie sich viel fließender ausdrückt als ich, oft den kalten Schweiß austrieb. Im ganzen schien sie aber zufrieden, auch den Kindern schien wenigstens meine äußere Erscheinung zu gefallen; – die kleine Margot vertraute mir heute: Mademoiselle Bichon, meine Vorgängerin, sei sehr häßlich gewesen.

Ich trank Tee mit der Familie, wobei Herr Sturm, der mir als Landsmann vorgestellt wurde, sich ziemlich schweigsam verhielt, dann zog ich mich zurück. Der Kopf ist noch etwas schwindlig von den zahllosen Anweisungen und Andeutungen über die Behandlung und Auffassung der Kinder; das wird sich aber alles geben; ich muß nur suchen, meine Stellung als Erzieherin so unabhängig als möglich festzustellen. Zu lernen habe ich wohl noch genug, aber davor ist mir nicht bange.

Daß ich mich hier schon ganz wohl und heimisch fühlte, könnte ich noch nicht sagen, aber das muß sich bald finden; es ist zu viel in meinem Wesen, was mich in diese feinere, geistige Sphäre zieht, als daß ich mich nicht bald akklimatisieren sollte. [156] Der Hofmeister geniert mich ein wenig, wenn er, was selten ist, am Abendtee teilnimmt; er drückt sich zwar gut und gebildet aus, verbirgt aber so gar nicht seinen schwäbischen Dialekt, daß ich mich unwillkürlich scheue, feiner und besser zu sprechen.

Ich hoffe, Dir im nächsten Briefe mitteilen zu können, wie sich meine ganze Stellung und Tätigkeit geordnet hat.

Nun laß auch Du mich hören, wie Dir's geht, ob Deine Geduld noch standhält, ob der Wechsel des Aufenthalts einige Verbesserung in Dein mühseliges Dasein gebracht. Ich bitte Dich, meine Liebe, geh mir nicht unter in diesem verwaschenen Leben! Denk an die goldenen Tage im Institut, an unsre Begeisterung für das Hohe und Schöne, und werde mir kein Erdenwurm und kein Bodenkäfer! Lebe wohl, fürchte nicht, daß ich zu vornehm werde in der aristokratischen Luft, die mich umgibt, und behalte lieb

Deine Helene.

Lottchen an Helene

Eichtal, Juli 1832.


So bist Du nun vorläufig glücklich im Hafen, liebste Helene? Glück zu! Möge die vornehme Luft, die Dir so wohl tut, ein rechter Glückswind für Dich werden!

Es freut mich, daß der erste Eindruck, den Du empfangen, ein angenehmer war: wenn das auch nicht entscheidend ist, so ist es doch wohltuend. Leg nicht gar zu vielen Wert auf die anmutige Empfangsgruppe, liebes Herz, und laß Dich's nicht niederschlagen, wenn sie sich zu Zeiten auflöst! Mußt auch uns arme ordinäre Menschenkinder darum nicht zu gering ansehen, die wir in des Tages Last und Hitze nicht eben Zeit haben, reizende Gruppen zu bilden. Ich bin zwar nicht der Ansicht der Tante, die aus Einfachheit in einem ganzen Modelager die garstigsten Dessins aussucht; die mißtrauisch ist in die Tüchtigkeit jeder Frau, die nicht Hauben vom vorigen Jahrhundert trägt, – der Apostel Paulus selbst gestattet uns ja, uns zu schmücken [157] im zierlichen Kleide mit Scham und Zucht, – aber ich denke, die innere Schönheit eines klaren, redlichen Herzens, eines gesunden, wahren Familienlebens, sollten wir erkennen lernen, auch wo die äußere Erscheinung nicht immer hinreißend sein kann.

Auch ich atme jetzt eine Luft, die mir wohltut, die mir Frieden und frischen Mut zuweht, und das ist die Landluft. Das Glück ist etwas teuer erkauft. Nachdem wir vor dem Abzug etwa sechs Wochen lang gefegt, geputzt, ausgekocht und gewaschen hatten, um unsre Effekten würdig für den Zug zu bereiten, mußten wir hier noch einmal einige Wochen lang putzen, wichsen, reiben und polieren, um die neue Wohnung [158] herzustellen. Was die Fußböden betrifft, so gibt uns zum Lohn all unsrer Mühen Tante die tröstliche Versicherung, daß es Jahr und Tag brauche, bis die nur notdürftig herausgefegt seien. In Gottes Namen! Wird auch vorübergehen.

Nein, mein liebes Herz, ich werde kein Bodenkäfer und Erdenwurm, ich bleibe es wenigstens nicht; ich habe die Tage im Institut nicht vergessen, wo wir für Theodor Körner schwärmten und selbst Gedichte machten, die nur leider oft aus Mangel an Endreimen unvollendet blieben. Ich habe auch des Sterbebettes meiner Mutter nicht vergessen, liebe Helene, und ihre letzten Worte: »Mein Kind, vergiß deiner rechten Heimat nicht und laß ein Betkämmerlein in deinem Herzen, ein stilles, unberührtes, in das du eintreten kannst aus allem Getümmel draußen!«

Aber unrecht hast Du nicht mit Deiner Warnung, es gilt wahrhaftig sich zu wehren, wenn ich nicht mein Betkämmerlein auch voll Gerümpel haben will; doch ist es hier so viel besser als in der Stadt! Auch der Onkel sonnt sich samt seinen Staren und Amseln; nur die Katzen, die Katzen! Die legen sich in der Tante schön geordnete Gartenbeete und raufen sich mit den Hunden, das gibt einen tagtäglichen Kampf; ferner hat der Onkel die schauderhafte Idee, neben seinen Kaninchen noch eine Kolonie von Meerschweinchen anzulegen; wie wir das bei der Tante durchsetzen, weiß ich noch nicht, und ich möchte doch dem guten Onkel die Freude gönnen.

Du willst nicht glauben, daß es mir möglich sei, gutes Muts und heiter zu bleiben; nun sieh, das ist so schwer nicht, wie Du aus meiner Tagesordnung erkennen wirst, die ich Dir mitteilen will.

Im Frühaufstehen habe ich jetzt die Tante überlistet, ich bin regelmäßig eine halbe Stunde vor ihr auf, somit darf ich mich nimmer wecken lassen, was mir immer so unbequem war, und gewinne eine herrliche stille Stunde für meine Morgenandacht. Das ist mir viel wert. Es wird zwar ein sogenannter Morgensegen gebetet bei Onkels, aber ich finde ihn minder erbaulich, es hat damit immer so viele Schwierigkeiten. Nach dem Frühstück [159] erscheint der Onkel mit dem Gebetbuch von Sturm und Tiede: »Ist dir's jetzt geschickt, Liebe, zu beten?« – »Ja, wart nur noch, Lieber, bis die Tassen zusammengestellt sind.« – »Aber jetzt, Liebe?« – »Was fällt dir ein, Lieber! An einer so staubigen Kommode kann man nicht beten.« – »Liebe, ich geh' indes hinüber, kannst mir ja rufen, wenn dir's geschickt ist.« – »Bewahre, Lieber! Wenn du bei deinen Staren bist, so kommst du nimmer; jetzt wart nur noch, bis Christine von dem Schweinchen kommt!«

So geht's mit Lieber und Liebe in immer schärferem und ärgerlicherem Ton, bis endlich der Morgensegen zustande kommt, der allerlei naturgeschichtliche Abhandlungen, zum Beispiel bei Erinnerung an die sanfte Nachtruhe eine Beschreibung der Eidergänse, in die Andacht verwebt und mich leider oft mehr komisch als andächtig stimmt. Aber es ist nicht recht von mir, zu spotten, wo ich nicht weiß, ob nicht Tante und Onkel sich doch in ihrer Weise erbauen aus dem Buch, das ihnen von jungen Jahren her lieb und heilig ist!

Der lebendige Teil meiner Morgengeschäfte, das heißt das Getier und Geflügel, das ich zu füttern habe, ist mir immer höchst ergötzlich; ich kenne sie alle persönlich und belustige mich an den scheuen und an den zutraulichen. Die Reinigung ihrer Gehäuse ist minder angenehm, aber dafür belohnt mich das Vergnügen des guten Onkels über den jetzigen komfortablen Zustand seiner Lieblinge und seine tragischen Beschreibungen von ihrer kläglichen Existenz unter den früheren Hausjungfern.

Die Tätigkeit bei der Tante ist zu mannigfaltig, als daß sie sich beschreiben ließe; ich weiß aber nichts darunter, was mir absolut zuwider wäre, als höchstens das Aschensieben im Keller. Daß die arme Tante selbst so heftig und ungeduldig wird unter ihren selbstgeschaffenen Mühsalen, erhält mich, glaub' ich, ruhig, und von meiner Morgenstunde behalte ich mir immer eine schöne Schriftstelle, einen tröstlichen Liedervers übrig, der geht mir oft auf wie ein Stern unter Küchendampf und Zimmerstaub.


[160]
Du siehest, Herr, ich habe nicht
Zum Beten lange Zeit,
Doch siehst du, wenn mein Auge spricht:
Ach, Herr, ich bin im Streit.

Und welche Schatzkammer von glückseligen Erinnerungen bewahre ich aus der Heimat! Von der fernsten Reminiszenz an meinen vierten Geburtstag, wo mich ein Täßchen mit Blumen bemalt beglückte, durch all die fröhlichen Zeiten unsrer heimlichen Soireen auf der Heubühne, unsrer Maukennester von Äpfeln und Birnen im Stroh, der Schulspaziergänge im Wald, wo die Lehrer, ihres Nimbus entkleidet, als gewöhnliche Menschen mit uns schmausten und Kinderspiele trieben und uns dabei doch so unendlich wichtig vorkamen; – ich versichere Dich, ich habe oft gar nicht Zeit, nur an die so kurzen gloriösen Tage des Mädchenfrühlings zu kommen:


Wo uns ein Leben voll Gesang und Tänzen
Gefaßt in seinen wundervollen Ring,

die so schnell endeten durch den Tod meiner Eltern; – und ich habe gelernt, während ich in jenen glückseligen Regionen verweile, meine Geschäfte so pünktlich zu verrichten, daß selbst die Tante selten etwas zu schelten weiß als: »Ich möchte nur wissen, für was du immer so pläsierlich aussiehst; du hast's doch weiß Gott nicht nötig, bei all dem Elend in der Welt, und wo ich mir vor Geschäft nicht zu helfen weiß.« Dann mein gutes Gedächtnis, obgleich es im Institut zuweilen widerspenstig war und keine Jahreszahlen behalten wollte, das leistet mir jetzt die herrlichsten Dienste. Du weißt, welche große Rolle die Biskuittorten in unsrem hiesigen Leben spielen: alle feierlichen Ereignisse in unsrem eigenen und Bekanntenkreise, alle Hochzeiten, Taufen, Leichenschmäuse, Konfirmationen und Geburtsfeste verherrlicht eine Biskuittorte der Tante, und das einzige Mittel, sie heiter zu stimmen, ist, wenn man die Rede auf ihre prachtvollen Biskuite bringt. Dieser Ruhm ist meinerseits etwas teuer erkauft, da diese berühmten Biskuite drei [161] Viertelstunden lang gerührt werden müssen, immer nach einer Richtung. Um diese Zeit zu kürzen, rufe ich mir meine liebsten Poesien ins Gedächtnis und rühre im Rhythmus, dann geht's herrlich, und die Zeit fliegt vorbei, man weiß nicht wie. Das Lied von der Glocke reicht fast zu einer ganzen Torte und ist so angenehm wegen des wechselnden Metrums; nur wenn ich an die Feuersbrunst komme, geht's oft so rasch, daß die Tante schreit: »Na, sachte, Mädchen, du rührst ja wie toll!« Sie weiß freilich nicht, daß eben jetzt:


Kinder jammern, Mütter irren,
Tiere wimmern unter Trümmern usw.

In dieser Weise kürze ich mir alle ganz mechanischen Geschäfte; möcht's freilich sonst niemand sagen, aber ich denke, Schiller selbst würde es gewiß nicht für Profanation halten, wenn ich ihn dazu bringe,


Zu flechten und weben
Himmlische Rosen ins irdische Leben.

Am mindesten angenehm ist mir's, abends zur Erheiterung mit dem Onkel Mariage zu spielen, und ich weiß mir da nicht anders zu helfen, als daß ich dem Schicksal allerlei Fragen vorlege, die je nach dem Gange des Spiels mit ja oder nein beantwortet werden. So kann ich mir doch einiges Interesse daran erhalten; gar zu tief nehme ich mir die Orakelsprüche dann nicht zu Herzen. Hie und da gelang mir's auch schon, statt den Karten ein gutes Buch zur Abendunterhaltung einzuschmuggeln; merkwürdige Reisen, besonders schauerliche Schiffbrüche hörte der Onkel gern, aber Tante hatte die unglückliche Eigenschaft, daß sie keinen Menschen stillsitzen sehen kann, ohne daß ihr zehnerlei Geschäfte für ihn einfallen, somit wird's mit dem Lesen nicht viel.

Da schreibe ich wieder bogenlang von mir und meinem kleinen Leben, das Du selbst lange schon kennst, und Du, Weitgewanderte, Vielgereiste, die Du mit Exzellenzen lebst und in Schloßgärten wandelst, fertigst mich mit so kurzen Berichten ab.

[162] Und ich habe Dir abermals nur von meinen Mühen und nicht von meinen neuen Freuden geschrieben, das ist aufs nächste Mal gut; ohnedies muß ich Dir zulieb mit Lug und Trug umgehen und all meine Röcke über die Ritzen meiner Kammertür hängen, damit die Tante mein spätes Licht nicht sieht.

Nächste Woche kommt Albert, Onkels einziger Sohn, über die Ferien. Du erinnerst Dich wohl seiner, Du hast den gescheiten, treuherzigen Jungen immer wohl leiden mögen. Es wird ein eigenes Studium brauchen, dem armen Burschen fröhliche Ferien daheim zu bereiten, denn Tante lamentiert jetzt schon über den »Grust«, den der »Schlingel« machen werde; und der Schlingel ist doch ihr einziges geliebtes Kind!

Und nun: Komm herab, Du schöne Holde, und verlaß Dein stolzes Schloß; erfrische mein verwaschnes Leben mit einem Hauch aus Deiner geistigen Welt, gute Nacht! »Mein' Äuglein stehn verdrossen« – sanfte Träume!

Deine Lotte.

Helene an Lottchen

Schloß Welsen, Oktober 1832.


Ich schrieb Dir lange nicht mehr, weil ich nicht gern Klagebriefe schreibe, aber nun muß ich doch beginnen; gegen Dich kann ich, muß ich offen sein, den Eltern klage ich nicht gern. Du meinst, ich solle Dich erfrischen, und Du bist es doch, die aus ihrer frischen Seele einen labenden Hauch in mein freudloses Dasein bringt! Ich soll Dir berichten von dem Leben der Schlösser? O ja, ich lebe in einem Schloß, das heißt in zwei Winkeln, davon das eine Lehrzimmer heißt, das andre der Gouvernante Zimmer; ja, ich wandle in Park und Schloßgärten, aber nie frei, nie allein, immer mit drei Mädchen im Schlepptau, die ich spielend belehren, unterhalten, beleben und französisch plaudern lassen soll; ich komme auch in Gesellschaft, o gewiß, in die brillanteste. »Fräulein Winter, Sie kommen doch auch in den Salon?« fragt die Gräfin fast jeden Abend, wenn Gesellschaft da ist; da sitze ich denn entweder im [163] Kabinett unter den Kindern und andern Gouvernanten, mit denen darf ich mich unterhalten! – oder auch im Salon, einsam in dieser belebten Gesellschaft, als ob ich im Grabe wäre. – Flüstert je einmal ein Herr einer Dame zu: »Wer ist das Fräulein dort?« und er hört die lakonische Antwort: »Die Gouvernante«, so wendet er mit einem gleichgültigen: »Ah so!« die Blicke ab. Die jungen Damen wollen tanzen, sie spielen abwechselnd Klavier dazu; nach jeder Polka kommt ein besorgter Herr: »Gnädiges Fräulein, Sie ermüden sich, erlauben Sie mir die nächste Tour?« bis der Gräfin der gescheite Gedanke kommt: »Fräulein Winter spielt« – »Ah so! das ist scharmant«. Fräulein Winter darf sitzen und spielen den ganzen Abend, niemand denkt daran, sie abzulösen, es ist ja die Gouvernante! Oh, nur zu wahr ist alles, was wir früher über die Stellung gehört, nur zu wahr!

Aber die Kinder? wirst Du fragen, der Beruf, den Du mit so vielem Eifer ergriffen, entschädigt Dich der nicht? Ja, siehst Du, Liebe, auch das dacht' ich mir so ganz anders; ein freies Wirken auf geistigem Gebiet, junge Seelen, ganz meiner Leitung übergeben. Aber auch hier ist keine Freiheit! Ich hätte das freilich wissen können, als mir die Gräfin am ersten Abend ihre Ansichten über die Behandlung der Kinder mitteilte. »Klara werden Sie feurig, lebendig, aufgeweckt finden; ihr rascher, etwas flüchtiger Geist zieht sie rasch vom einen zum andern; hier empfehle ich Ihnen Ruhe, Stetigkeit, Konsequenz; Sie tun besser, ihr alles Wissen, Geographie und Geschichte zum Beispiel, in großen, massenhaften Umrissen beizubringen, in Details zersplittert sie sich leicht. Ganz anders ist es mit Eugenie, die ist phlegmatisch, behält schwer, aber dann vortrefflich; ihr geben Sie anregende Details, weichen hie und da von der Konsequenz ab, um sie lebendig zu erhalten. Unsre liebe kleine Margot hat überhaupt noch wenig Geschmack fürs Lernen, lassen Sie es Ihr erstes Studium sein, ihre vollste Liebe, ihr Vertrauen zu gewinnen! Bei ihr müssen Sie den Augenblick erhaschen, wo sie aufgelegt ist, etwas aufzufassen, gelegentlich, spielend ihr Kenntnisse beibringen, bis sie, überrascht von ihrem [164] eigenen Besitz, den sie unbewußt erworben, mit Bewußtsein nach Vermehrung strebt.« Nun, es ist allerliebst, solche Theorien aufzustellen, ich wollte in dieser Weise ein ganzes Buch über zweckmäßige Behandlung schreiben; versuche aber einmal diese Anweisungen auszuführen, wenn den drei Mädchen Geschichte, Geographie, Französisch, Zeichnen, deutsche Sprache und Literatur, Rechnen, Schreiben, Musik, später auch Englisch, jeder in besonderer Weise beigebracht werden soll, daneben [165] Naturgeschichte, ein wenig Physik und Technologie, etwas Botanik und Astronomie – spielend. Religion gibt der Hofmeister. Der hat es leichter als ich, er wohnt mit den Knaben im Gartenhaus und bildet da eine Art Republik; er sieht sehr gewöhnlich aus und ist nicht besonders gewandt, scheint aber doch seines Weges sicher. Er hat sich mir als Landsmann vorgestellt: sein Rat könnte mir oft von Nutzen sein, aber mit seiner unerschütterlichen Fassung bringt er mich aus der Fassung. An der Gesellschaft und ihrer Beachtung liegt ihm nichts, so begreift er die Dornen gar nicht, die mich täglich, stündlich verletzen. Wenn er nicht im Unterricht, überhaupt im einsamen Verkehr mit seinen Knaben so voll Leben wäre, ich hielte ihn für einen Klotz. Die Kinder aber hängen mit Leib und Seele an ihm; wo sein Zauber für sie steckt, weiß ich nicht, in seinem Äußern einmal nicht.

»Meine lieben Jungens«, sagte die Gräfin, »sollten Sie so viel wie möglich ermutigen zum Französischreden, das Herr Sturm nicht geläufig spricht; es bleibt Ihrer Gewandtheit überlassen, sie zu fesseln. Mit den Kleinen da treiben Sie nur gelegentlich die Elemente und geben ihnen Anschauungsunterricht.« Das wären nur so beiläufig meine Verpflichtungen, die mir keine Minute zum freien Aufatmen übrig lassen, denn in den Freistunden der Kinder soll ich ihre Spiele überwachen und ihren Charakter studieren. Der wäre freilich bald studiert. Klara ist leichtsinnig, unbeständig und nachlässig, Eugenie faul und schläfrig, und die Margot widerspenstig und unartig; von den Buben bringe ich kein Wort heraus als »Oui, Mademoiselle«. Strafen soll ich die Kinder nicht als mit Entziehung des Desserts; so oft nun das geschieht, wird der Graf unwillig und meint: im Familienkreis möchte er gern Ruhe; die Gräfin bemerkt dann, daß es eine viel schönere Aufgabe der Erziehung sei, Unarten zu verhüten, als sie zu bestrafen – kurz, mein Tag geht in endlosen Mühen hin, und bis in die tiefe Nacht habe ich an den Lektionen für den andern Tag zu arbeiten. Das ist meine Freiheit!

Ein Stern ist doch in meiner Nacht aufgegangen. Ich wurde [166] kürzlich im Salon aufgefordert, eine Sonate zu spielen: ich glaube, um die Konversation besser in Gang zu bringen, denn es hörte niemand darauf. Nur ein Herr stand nahe dem Piano und wandte mir das Blatt um; ich sah, ohne meine Augen von den Noten zu erheben, die verwunderten und spöttischen Blicke, mit denen einige Damen eine so kleine Aufmerksamkeit bemerkten. Es war das erste Mal, daß ich nicht als Sache hier behandelt wurde, und es gab mir das Bewußtsein der weiblichen Würde wieder.

Einmal seit jenem Abend hat der Fremde, der gewagt, eine Gouvernante zu behandeln wie eine andre Dame, die Rede an mich gerichtet. Er ist ein adliger Gutsbesitzer der Gegend und gilt für einen halben Gelehrten. Glaube nicht, daß ich so kindisch sei, mich törichten Träumen hinzugeben! – Ach nein, aber es tut mir wohl, mich einem Menschen gegenüber nicht als Gouvernante zu fühlen.

Das ist also mein Traum von Unabhängigkeit, aus dem ich so früh, so sehr früh, schon erwacht bin. Leb wohl, Du Glückliche mit Deinem heitern Sinn, und denke in Liebe und Teilnahme

Deiner Helene.


Eichtal, Oktober 1832.


Meine gute Helene!

Das ist freilich traurig, daß Du so frühe schon enttäuscht wurdest; ich glaube aber nicht, daß es so schlimm damit sein kann, gewiß stellen sich die Lichtseiten Deiner neuen Lage erst später heraus.

Ich mußte lachen bei den Instruktionen Deiner Gräfin; die ließe ich mich nicht zu schwer anfechten. Weißt Du, ich würde zuerst die Kinder von Herzen lieb haben, dann wollt' ich sie lehren, was ich wüßte und so gut ich's wüßte, und gib acht, wenn die Mädchen etwas lernen und vergnügt dabei sind, so fragt nachher die Mama nicht, ob Du's ihnen in massenhaften Umrissen oder im Detail beigebracht hast. »Menschen [167] und Vieh nicht zusammengerechnet«, wie unsre Christine sagt, aber der Onkel gab mir anfangs auch höchst komplizierte Anweisungen, in welch verschiedener Weise ich seine Stare, Amseln und Finken füttern sollte: seit sie aber munter pfeifen und lustig fressen, fragt er nimmer nach der Methode, in der ich sie füttere.

Von der doppelten Unterrichtsmethode kann ich mir freilich keine klare Vorstellung machen. Sagst Du zum Beispiel Deiner Klara: »Der Napoleon hat beinahe ganz Europa erobert,« so ist das ein massenhafter Umriß; sagst Du dann der Eugenie: »Er hat auch die Kirchenglocken von Erfurt gestohlen,« so ist das ein belebendes Detail, da kann sich ja jede aus der Geschichte herausnehmen, was sie verdauen kann. Bei der Margot scheint mir freilich die Aufgabe schwieriger; denn meines Erachtens muß das Lernen einMuß sein, sonst kommt es zu keinem Ziel, und ein paar Klapse zu rechter Zeit wären gewiß oft zweckmäßiger als eine Strafe hinterdrein, wenn das Mädchen die Unart vergessen hat.

Aber an den kleinen Kindern, da wollt' ich mich recht erholen, es gibt ja nichts Köstlicheres als so eine kleine Kreatur, deren Herzchen so leicht zu erobern ist. Was Deine Freiheit betrifft, so müßte es doch schlimm gehen, wenn Du nicht auch für Dich allein eine stille Frühstunde gewinnen könntest; in Schlössern ist man sonst doch nicht so früh auf.

Liebes Herz, hast Du auch schon recht von Herzen erwogen, was es heißt: Wirf Dein Anliegen auf den Herrn? Hast Du schon recht versucht, welch ein Segen es ist, von seinen Händen das Tagewerk zu nehmen, in seine Augen zu schauen, nicht nur am Morgen und Abend – jede Stunde, jeden Augenblick? O liebe, liebe Helene, ich wollte, ich könnte Dir etwas von der Freudigkeit ins Herz geben, mit der ich oft im mühseligen Getriebe aus Zimmerstaub und Küchendampf aufblicke und mir des Kindesrechts bewußt werde an eine Heimat voll Licht und Frieden.

Ich habe freilich auch kein Recht zur Klage, obgleich die Tante wirklich schwer zu befriedigen ist. Du glaubst nicht, was [168] für ein nettes Gärtchen wir hinter dem Hause haben, und durch ein Türchen im Zaun kann ich hinausschlüpfen auf eine grüne Wiese, durch die fließt ein so lustiger Bach! Mit allen Nachbarkindern stehe ich bereits sehr intim und habe so viel Einfluß errungen, daß sie mir zulieb ihre Hände waschen.

Ein weiterer Gewinn des Dorflebens ist, daß wir hier regelmäßiger zur Kirche kommen; wir haben einen offenen Stuhl, dem der Frau Pfarrerin gegenüber. Du weißt, Tante hält auf Ehre und Reputation, da soll denn der Stuhl nie leer bleiben; entweder darf ich gehen oder trägt Tante selbst ihr allzeit mühsames und beladenes Herz dahin, und ich gewinne daheim ein ruhiges Stündchen für meine Erbauung, das ich zur schönen Zeit im Garten genieße. Die Kirche ist mir viel wert, unser Pfarrer hier spricht gar herzlich und schön.

Albert ist seit einigen Wochen hier; das ist ein frisches, junges Leben! Er könnte mich wahrhaftig ganz eitel machen, so oft versichert er mich: »Es ist eben ganz anders daheim, und viel besser, seit du da bist, Lottchen.« Er wäre auch in Wahrheit oft übel dran mit seinem lustigen, leichten Mut; so oft er singt und pfeift in lauterer Herzensfröhlichkeit, seufzt Tante: »Ist mir unbegreiflich, wie man so lustig sein kann, wo man nicht wissen kann, ob's nicht Krieg gibt und ob die Cholera kommt!«

Auch dem Onkel kann's Albert selten zu Danke machen, obgleich er sich für seine Menagerie interessiert; er hat schon einen Amselkäfig umgestoßen und die weiße Leibkatze auf den Schwanz getreten. Da ist er denn überall im Wege; kommt er nach Hause, so läuft ihm die Tante beständig mit Pantoffeln nach, die er anziehen soll, und ruft flehentlich: »Tret mir nicht auf meine Fries' und sitz mir nicht auf mein Sofa!«

Nach meiner Anleitung hat er sich in einer Gartenecke unter einem Apfelbaum ein Asyl gegründet; für die kältere Zeit und die Regentage hat er der Tante ein Oberstübchen abgeschmeichelt, da er sonst Onkels Zimmer teilen soll. Dem haben wir mit einigen vergilbten Landkarten, einem alten Tubus und uralten Globus, der noch von irgend einem mythischen [169] gelehrten Ahnherrn herstammt, auch zum Entsetzen der Tante mit einigen rostigen Waffenstücken, ein zugleich ritterliches und gelehrtes Ansehen gegeben, und der Junge hat seine kindische Lust daran. Es freut ihn, wenn ich ihm hie und da Visite mache und mir erzählen lasse von den Freuden des Gymnasiallebens, von seinen Studien, seinen Freunden und seinen Zukunftsplänen. Ein herzensguter Mensch! Er ist nur drei Jahre jünger als ich, und doch nimmt er alles, was ich ihm sage, mit Freundlichkeit auf, auch wenn's ein Tadel ist.

Tante hat doch im Grunde ihre Herzensfreude an ihm und läßt's, wenn auch unter Schelten, geschehen, daß ich ihm seine Leibgerichte koche und sie bestimme, ihm seine Freunde einzuladen! Auch freut sie's heimlich, wenn wir hie und da Französisch zusammen treiben, und es ist schon vorgekommen, daß sie mich eine ganze Viertelstunde ruhig sitzen ließ.

Ein gefährliches Komplott, das wir hatten, ist kürzlich entdeckt worden. Albert brachte mir spät in der Nacht, als ich endlich in mein Stübchen kam, seine Garderobe herüber; sie war in leidigem Zustand, voll Risse, Tinten- und andern Flecken, und er fürchtete sehr den grenzenlosen Jammer der Mutter, wenn sie diese Defekte entdeckte; sie gibt ihm bei jedem Riß im Ärmel eine ergreifende Schilderung, wie er wahrscheinlich einst durch Leichtsinn und Fahrlässigkeit Haus und Hof verwahrlosen und Weib und Kind ins Unglück bringen werde.

Da versprach ich denn, ihm nach und nach nächtlicherweile die Schäden herzustellen. Tante hatte große Garnwäsche und in den nächsten Tagen nicht Zeit zu einer Untersuchung. Albert schaffte um den Rest seines Taschengeldes ein Viertelpfund Lichter an, und damit ich nicht einschlafe bei der späten Arbeit, las er mir dazu die Odyssee vor.

Ich kann Dir sagen, es waren ganz vergnügliche Abende; aber, so sehr ich ihn bat, leise zu sein, so kam er doch über dem herrlichen Dulder Odysseus so ins Feuer, daß Tante um Mitternacht entsetzt heraufstieg und uns entdeckte hinter dem großen Kleiderkasten, mich mit einer schadhaften Weste und Albert mit der Odyssee.

[170] Nun, wir gestanden den Frevel, und Albert brachte sie sogar am Ende zum Lachen mit der Schilderung seines kindlichen Respekts und seiner Reue. Seitdem erhalte ich jetzt bei Tage Zeit zum Flicken, und außer dem, daß uns Tante alle Tage eine haarsträubende Beschreibung der entsetzlichen Feuersbrunst gibt, die wir zwei hätten veranlassen können, hat unsre Untat keine Folgen gehabt.

Gegen den Onkel, bei dem einige geistige Abnahme fühlbar wird, ist Albert viel aufmerksamer und rücksichtsvoller als früher; es gibt ihm ein männliches Selbstgefühl, seit er begriffen, daß es an ihm ist, den Vater zu tragen und zu stützen. Er soll von hier nicht zurück ins Gymnasium, sondern auf eine Ackerbauschule. Da er dazu erst neu ausgestattet werden muß, wird er wohl den Winter über noch hier sein; ich werde ihn einmal recht vermissen, er ist ein heller Sonnenstrahl in unsrer »Trübsalshütte«, wie die Tante ihr Wohnhaus nennt.

[171] Du siehst, daß auch mir, wenn kein hoher Stern der Herrlichkeit, so doch manch freundliches Lichtlein aufgegangen ist. Deinen Stern gönne ich Dir von Herzen, an Sternen verbrennt man sich die Flügel nicht, und Du weißt ja lange schon: Die Sterne, die begehrt man nicht usw. Liebes, liebes Herz, sollte der Stern Dir aber doch zum freundlichen Tageslicht werden, so würde mich's sehr glücklich machen, – aber wir wollen nicht träumen.

Deine Einsamkeit in Gesellschaft ließe ich mich nicht bekümmern. Da ist's wirklich schade, daß ich nicht an Deiner Stelle bin. Mich amüsiert nichts mehr, als in großer Gesellschaft ganz allein und unbeachtet zu sitzen und all das Geräusch an mir vorüber hummen und summen zu lassen; nirgends kann ich behaglicher denken, und nirgends wird mir stiller zumute, als wo ich dies Zappeln und Treiben der Leute mit ansehe. Meine Helene freilich mit ihrer königlichen Gestalt, die ist wohl nicht zur stillen Zuschauerin auf dem Welttheater berufen. Möge Deine Rolle eine dankbare sein! Ich will gern als Statistin im Hintergrund verschwinden.

Weißt Du noch, auf den Institutsbällen, den ersten und letzten, die ich je besucht, da ließest Du, die allzeit Gesuchte, oft im Vorbeifliegen einen mitleidigen Blick auf mich fallen, die ich nur allzu oft das Los hatte, den Tänzerinnen Schals und Boa zu hüten? Und ihr wußtet nicht, wie gut ich Vergessene mich unterhielt; was für hübsche Texte ich mir ausdachte zu den Walzermelodien, und was für anmutige Novellen ich manchmal aus den Gruppen las, die sich im Tanz bildeten.

Tanz immerhin fröhlich vorüber, meine liebe, schöne Helene! Dein Lottchen sitzt friedlich in der Saalecke und hält ein warmes Tuch bereit, Dich darein zu hüllen, wenn Dich nachher frösteln sollte.

Laß Dich nicht zu sehr niederdrücken, Liebste! Du hast nicht umsonst ein so aufgerichtetes Haupt; sei mir ein bißchen heiter und vergiß nicht

Deine Lotte.


[172] Grünberg, Juli 1833.


Liebstes, bestes Lottchen!

Warum mußt Du mir fern sein, wo mir Dein Trost und Deine Liebe am nötigsten wäre? Da bin ich denn mit einem Schlag aus der kurzen Laufbahn in der Fremde wieder in die Heimat versetzt, in das Vaterhaus – das kein Vaterhaus mehr ist. Wie hätte ich geglaubt, als der Vater noch in der Fülle reicher Manneskraft von mir schied, daß ein Grab alles sei, was ich nach so kurzer Zeit von ihm finden werde! Welch bittere Selbstanklage mischt sich in meine Trauer! Ach, ich habe die Heimat so leichtsinnig hingeworfen, habe so wenig verstanden, was Kindespflicht ist. Jetzt verstehe ich, wenn ich so des Vaters ganzes Wesen und Sein überdenke, wie oft ihm ein herzliches Entgegenkommen, ein liebevolles Eingehen in seine Interessen wohlgetan hätte; wie auch seine kleinen Schwächen dadurch leicht zu überwinden gewesen wären, während ich ihn reizte durch vorlauten Widerspruch oder unbekümmert meine eigenen Wege ging. Ich finde es kindisch, wenn im Familienkreis zärtliche Namen und Liebkosungen gedankenlos als kleine Münze im täglichen Verkehr gebraucht werden; aber in Familien, wo dieser zärtliche Ton gar nie angeschlagen wird, schleicht sich oft allmählich eine Dürre und Trockenheit ein, eine falsche Scham vor jedem Ausdruck tiefern Gefühls, die am Ende die Gefühle selbst verkühlt.

Und dasselbe Herz, das leidenschaftlicher Freundschaft fähig ist, das sich eines Reichtums selbstvergessender, hingebender Liebe bewußt ist, die vielleicht nie erkannt, nie vergolten wird, ist in seiner Kindesliebe oft nur zu passiv und lernt so das Vaterhaus, in dem es Wurzel schlagen sollte mit seinem innersten Wesen, nur als Reisestation ansehen.

Zu spät! O möge es nicht ganz zu spät sein! Möge der Liebe dort noch möglich werden, zu vergüten, was sie hier versäumt hat!

Ich habe dem Instinkt meines Herzens gefolgt und die Stelle bei der Gräfin ganz aufgesagt, obwohl ich mir denken mußte, [173] daß ich nun erst vielleicht genötigt sei, auf eigenen Füßen zu stehen. Aber diese anständige Sklaverei ist nun einmal meine Bestimmung nicht, darüber bin ich mir klar, und das Bedauern der Gräfin, ihr Anerbieten, mir die Stelle offen zu lassen, bis sich meine Verhältnisse in der Heimat geordnet, war so wenig ernstlich gemeint, daß es mir zu großer Demütigung hätte werden müssen, wenn mich nicht Wichtigeres bewegt hätte.

Und mein Stern? Gott weiß, im ersten Schmerz um den ungeahnten Tod des Vaters, im Gefühl der Reue über versäumte Liebe empfand ich jede andre Neigung fast als ein Unrecht. Es ist nicht so geblieben, aber verhüte Gott, daß ich je meine Weiblichkeit verleugnen und suchen sollte, was ich erwarten muß, und wäre es ein Himmel auf Erden! Und ein andrer Grund als die Hoffnung eines Wiedersehens hätte mich nie ins gräfliche Haus zurückführen können. Wenn Er mich wirklich suchen sollte – ich sage ja nur: wenn – dann, Liebe, ist es wohl besser, er findet mich als Freie und nicht als Dienerin, denn eine Dienerin war ich dort doch, wenn auch unter anständiger Form.

Ob ich ein Recht habe, an eine so stolze Möglichkeit zu denken? Ach, Lottchen, solche Träume sind zu zarter Natur, als daß ich wagen möchte, sie dem Papier anzuvertrauen. Du weißt ja, daß jene kleine Aufmerksamkeit am Klavier nicht die einzige blieb, – oh, es blinken goldene, sonnige Augenblicke durch die Öde meines Gouvernantenlebens. Die Gesellschaft vom Schloß machte einst einen Spaziergang in ein Gehölz, ich natürlich mit den Kindern im Train; – die Damen gruppierten sich malerisch im Vordergrund, ich saß unbeachtet mit den Kindern im Gebüsch und machte ihnen Kränze; da kam er herüber von den andern und sprach mit mir und bat mich um eine Maiblume – oh, ich hätte nicht geglaubt, daß auch die norddeutschen Wälder so lieblich rauschen könnten; und auf dem Heimweg, als alle sich bekränzten, flocht er einen wilden Rosenzweig auf meinen Hut. Du müßtest freilich wissen, ganz wissen, was eine Gouvernante ist, um die Bedeutung so kleiner Aufmerksamkeiten zu begreifen.

[174] Und einmal bat er mich um ein Buch; und als er später meinen Wunsch hörte, Lenaus Gedichte zu lesen, aus denen er uns vorgelesen, sandte er mir das Buch mit einer so feinen Widmung, daß ich es nicht hätte zurückgeben können. Noch viel solcher Lichtblicke könnte ich erwähnen, aber in einem [175] Blick, in einem Wort kann eine Bedeutung liegen, die sich nicht wiedergeben läßt. Wir kamen auch auf Standesvorurteile zu sprechen, sein hoher und freier Geist ist darüber weit erhaben; – doch stille, mein Herz!

Ich habe ihn nicht mehr gesehen, da ich so rasch abreiste, in der Hoffnung, meinen Vater noch lebend zu treffen. Sturm, der Hofmeister, hat sich mir in jenen Tagen des Leides als treuer Freund bewährt, wie er mir überhaupt während des ganzen Aufenthalts viel erleichterte; aber begreifen konnte er mich nicht. Sein stilles, einfaches Wesen, das sich aus einem dürftigen Elternhaus zum Dienst der Wissenschaft aufgerungen und in ihr sein Genüge findet, konnte gar nicht ahnen, was ich als Zurücksetzung empfand; er hat eine Art, alles natürlich zu finden, die mich manchmal zur Verzweiflung bringen könnte. Er nahm mir mit brüderlicher Treue alle materiellen Mühen und Sorgen ab, die so peinlich sind für ein bekümmertes Herz, er hat mich bis Berlin begleitet, seine treue Fürsorge rührte mich sehr.

Ich habe der Gräfin sogleich des Vaters Tod gemeldet und meinen bestimmten Austritt angezeigt: heute erhalte ich einen Brief von Sturm, der mich sehr überraschte und mich betrübt, weil ich ihm keine andre als eine betrübende Antwort geben kann. Er bittet mich, ihn zu meinem Freund und Beschützer fürs Leben zu wählen. Ein Patronat, das der Graf zu vergeben hat, ist frei und ihm zugesagt; er bietet mir mit so herzlichen Worten diese bescheidene Heimat, seine lang' verschwiegene Liebe (die ich freilich wohl geahnt), sein treues männliches Herz an. Es tut mir sehr weh und hat mich viele Tränen gekostet, Nein zu sagen, aber ich konnte nicht anders.

Auch wenn jener Traum nicht wäre, auch wenn mein Stern in unerreichbarer Ferne bleibt, so dürfte ich Sturm nicht eine Hand ohne Liebe bieten; und dann – wenn alles anders wäre, selbst wenn ich von Herzen die Seine werden könnte, nie, nie würde ich einem Manne angehören, der in einem Herrendienst steht. Ich kenne wohl die alten Gemeinplätze, daß wir alle dienen, aber dieser persönlichen Abhängigkeit von dem lächerlichen [176] Schemen des Ranges bin ich so bodensatt, und Sturm fügt sich so ruhig in diese Verhältnisse, fühlt sich so unbeengt davon, wie ich es bei meinem Manne nicht ertragen könnte.

Ich wollte, es wäre vorüber, ich habe meinen Brief an ihn schon dreimal begonnen, ohne zu vollenden. Warum, ach warum? ...

Ich bedarf Deiner so sehr, komm, sobald es Deiner Tante Zustand erlaubt, es erwartet Dich mit Sehnsucht

Deine Helene.


August 1833.


Geliebte Helene!

Wir erwarten Albert jeden Tag, und ist er hier, so hoffe ich, wenn auch nur auf einen Tag, zu Dir eilen zu können; es verlangt mich von Herzen, Dir nach so langer Zeit wieder ins Auge zu sehen; es ist nur ein Jahr, aber ein so reiches und inhaltschweres für Dich.

Ich habe wirklich schwere Zeit, die Tante ist krank, sehr krank an Leib und Seele.

Die arme Tante! Die Vögelein des Himmels haben ihr nie den göttlichen Samen entführt, und ein harter Fels ist ihr Herz auch nicht, aber die Dornen und Disteln irdischer Sorge haben ihn erstickt; sie hat nie gelernt, sich des guten Tages zu freuen, – woher soll ihr Freudigkeit kommen in der dunkeln Stunde? Wer ihre Lamentationen über das Elend des Lebens gehört hat, der sollte meinen, sie sei glücklich, dies Jammertal zu verlassen, und doch hängt sie mit so zähen Fäden, nicht an den Freuden des Lebens, nur an seinen kleinlichsten Sorgen.

Gestern, als der Geistliche sie eben verlassen hatte, als die ernste, gewichtige Frage: »Was soll ich tun, daß ich selig werde?« mächtig in ihrem Innern laut geworden war, bat sie mich, ihr ein Lied zu lesen. Inmitten der schönen Worte:


Ach, daß ich dich so spät erkennet,
Du hochgelobte Liebe du,

[177] hörte sie ein Geräusch in der Küche und hielt mich plötzlich ängstlich am Arm: »Du läßt doch Christine nicht den Kaffeerösten?« – »Warum nicht, Tante?« – »Ich bitte dich, was fällt dir ein? Du wirst sehen, sie röstet ihn zu dunkel, solche Leute meinen, er müsse schwitzen, und dann ist alles verdorben, die feinste Sorte wird dann schlecht.« Sie hatte nimmer Ruhe, bis ich mich des Kaffees annahm, obgleich sie selbst schon seit Wochen keinen mehr genießt.

Gestern sprach sie zum erstenmal von ihrem Tod; der Onkel hielt ihre Hand, er war sehr weich. Diese Herzen, die trotz »Lieber« und »Liebe« so trocken, so kühl durch ein langes Leben zusammen gegangen sind, wollten auftauen. »Du mußt mir's zugut halten, Alter, wenn ich hie und da wunderlich gewesen bin,« sagte sie; »ich hatte ein so unruhiges, geplagtes Leben! Wenn man nicht weiß, wie fertig werden, so wird man leicht ungeduldig, wenn einem die Arbeit noch erschwert wird; wenn du mir nur als auch ordentlich Nachthemden angezogen hättest! Ich hätte nur halb so viel zu waschen gehabt, das hat mir viel Kreuz gemacht, daß die feinen Hemden gleich so zerknittert waren.«

»Ach, Liebe, ich will ja nichts als Nachthemden tragen, wenn dich's beruhigt,« sagte der Onkel in lauterer Güte.

»Das will ich eben nicht,« begann sie wieder mit einer Heftigkeit, die über ihre schwachen Kräfte ging, »das hat mich gerade geärgert, daß du bei Tage oft in so grobem Zeuge gingst; die Frau beurteilt man nach dem Weißzeug des Mannes.« Erschöpft sank sie auf ihr Kissen, Todesfassung, eheliche Liebe und Vergebung war wieder dahin.

Wir lachen und weinen über die arme Tante; möge uns Gott behüten, daß wir nicht auch so ans Leben gekettet seien, wenn auch mit feineren Banden.

Das Mädchen, die den frühen Tod schön findet, weil sie sich als vielbeweintes, reizendes Totenbild im Sarg unter Blumen ruhen sieht; die Frau, die sich heimlich auf dem Gedanken ertappt, wie sie wohl einst in ihrer Leichenrede beklagt und gepriesen werde, – haben sie die Bedeutung des Lebens und den [178] Ernst des Todes besser verstanden als meine Tante, die sich auf der Schwelle der Ewigkeit darüber grämt, daß ihr Albert seine Wäsche künftig einer Stadtwäscherin geben werde? Gott helfe uns die Herzen frühe in ihrer höhern Heimat daheim zu machen, er helfe der armen Tante zum Licht noch in der elften Stunde!

Glaube nicht, Liebe, daß ich Deine Angelegenheiten vergesse über unsrer Sorge; aber im Angesichte eines Totenbettes gestaltet sich das Leben so viel ernster, und alle meine Sorgen und Wünsche für Dich werden unwillkürlich zu Gebeten.

Es tut mir sehr leid um den Sturm, aber wenn Du ihm kein ganzes und volles Herz bringen kannst, so wäre es wohl Sünde, Ja zu sagen; was Du von Herrendienst und Freiheit sagst, das, mein Herz, hat in meinen Augen kein Gewicht. Wer dem rechten Herrn dient, der steht frei vor jedem Herrn der Erde.

Auf Wiedersehen!

Deine Lotte.

Helene an Lottchen

Oktober 1833.


Es ist vorüber. Der Traum ist ausgeträumt, mit den fallenden Blättern fällt meine letzte, leiseste, süßeste Hoffnung. O Lottchen, jetzt sei mir nahe, gib mir Dein klares Auge, Dein ruhiges Herz, Deine stete Hand, die den unscheinbaren Pilgerstab ergreift, wenn die Rosen, mit denen sie ihr Leben zu schmücken gedacht, ihr welk entfielen!

Ich habe ja nie geglaubt zu hoffen, ich glaubte in die tiefste Tiefe meines Herzens jeden vermessenen Wunsch verschlossen; – aber wer will dem Flug eines jungen Herzens Zügel anlegen? Und wenn ein ganzer Himmel vor Dir steht: Freiheit, Unabhängigkeit, Glück, Liebe und Seligkeit, steht es dann in Deiner Macht, Deine Augen abzuwenden und sie auf eine graue Mauer zu heften? Da lies den Brief der Gräfin. Doch nein, ich kann ihn der Post nicht anvertrauen, auch will ich mich nicht von ihm trennen, so weh er mir getan.

Sie schreibt mir: der Freiherr (den Namen will ich nun [179] nicht mehr nennen) sei bei ihr gewesen und habe ihr anvertraut, daß er sein Bewußtsein gedrückt fühle durch sein Betragen gegen mich. Er habe sich dem Interesse, das ihm meine Erscheinung eingeflößt, zu unbedacht hingegeben; er habe den Wunsch, den er gehegt, mir seine Hand zu bieten, zwar nicht ausgesprochen, doch auch nicht verborgen. Eine ruhige Erwägung aller Verhältnisse jedoch, eine Besprechung mit seiner Mutter, die ihn über den Stand seines Gutes und seiner Aussichten für die Zukunft aufgeklärt, habe ihn erkennen lassen, daß er mir kein ungetrübtes Glück bieten könnte und daß man festgesetzte Schranken, selbst wenn sie auf bloß menschlicher Ordnung beruhen, nicht ungestraft überschreite.

Er sei sich bewußt, mir seine Gefühle, wenn auch nicht mit Worten, kundgegeben zu haben, und könne sich nicht beruhigen, wenn mir die Gräfin nicht auf die zarteste Weise sein Bedauern darüber mitteile und um meine Vergebung für ihn bitte, falls er meine Ruhe auch nur entfernt gestört habe. Ein Recht, selbst zu mir zu sprechen, habe er nicht und würde es für unzart halten.

Was die Gräfin beifügt, ist feiner und weniger hoch herab, als ich ihr zugetraut hätte; es scheint mir, das bloße Interesse eines Standesgenossen für mich hat mich in ihren Augen gehoben, und nun keine Gefahr ist, daß ich je als Eindringling in ihren Kreis trete, kann sie unbesorgt als Frau zu der Jungfrau, nicht als Gräfin zu der Gouvernante sprechen.

Es tröstet mich, daß auch sie mich versichert, mein Benehmen sei vollkommen weiblich und zurückhaltend geblieben; ich habe mir nicht die geringste Annäherung vorzuwerfen.

Es liegt etwas unendlich Bitteres in dieser Verhandlung durch einen dritten Mund, aber er hat es redlich gemeint; Gott helfe mir die letzte Bitterkeit überwinden! Ich habe kein Recht, ihm Vorwürfe zu machen. Meine Klage kann nur die der Blume sein:


Weh mir, daß ich dir vertraut,
Als mich wachgeküßt dein Strahl,
Daß ich dir ins Aug' geschaut,
Bis es mir das Leben stahl!

[180] Ich will auch nicht klagen, oh, ich habe ja so selige Stunden gehabt, Stunden, in denen ein Wort, ein Blick nachklang in meiner Seele, in denen das glänzende Bild einer seligen Zukunft sich meinen Augen entrollte; – es ist vorüber.

Meine Zukunft liegt im Dunkeln. Die Mutter zieht nach Ulm zu ihrer Schwester, meine Geschwister bleiben bei ihr. Mir sagte die Mutter: »Du bleibst natürlich bei mir, bis du wieder eine ganz passende Stelle hast, die dir mehr zusagt als die erste.« Was ich vor einem Jahr im Übermut ergriff, ist nun zur Notwendigkeit geworden.

Aber ich werde nie mehr in ein adliges Haus gehen; unter meinesgleichen kann ich Gehilfin sein, dort bin ich nur Dienerin; lieber Kindsmagd als Gouvernante! Gesellschafterin vollends gar nicht, das ist ein Seelenverkauf: als Haushälterin vermiete ich doch bloß meine Hände, als Lehrerin meine Kenntnisse; als Gesellschafterin muß meine Stimmung, mein Gefühl, mein Geschmack zu den Diensten der gnädigen Herrschaft sein.

Im ganzen ist's gleich, was ich pflanze auf dem Grabe meiner verödeten Freuden: Blumen wachsen nimmer darauf.

Was ich Dir schrieb, das laß zwischen uns zwei begraben sein! Sprich auch nicht davon, ich weiß, daß Du mich ohne Worte verstehst; aber wenn Du kannst, so komm zu mir, Dein letzter Besuch hat mir so wohl getan. Leb wohl und bete für

Deine Helene.


Eichtal, Oktober 1833.


Meine gute Helene!

Wohl habe ich für Dich gebetet und um Dich geweint und bin so weit gekommen, Dein Los aufs neue mit Vertrauen in Gottes Hand zu legen.

Ich kann nicht so ganz schweigen, wie Du verlangst, mein liebes, liebes Herz; ach, auch ich war in meinen Träumen für Dich viel vermessener, als ich je aussprechen mochte. Weißt Du noch, im Institut war's immer die allgemeine Annahme: [181] »Die Helene ist noch zu was Rechtem berufen.« Ich dachte mir – doch es ist gleich, was ich dachte: Gottes Gedanken waren andre, und es sind Gedanken des Friedens über Dich, nicht des Leides, dessen sei Du gewiß, meine liebe Helene!

Gib Dich seiner Führung hin, mein Herz, und wähle nicht zu eigensinnig! Ich möchte noch einmal sagen: Diene Gott, sieh auf Gottes Augen, so kann kein Menschendienst Dir zu schwer werden.

Mein Geschmack wäre freilich auch, lieber unter meinesgleichen zu bleiben; doch darfst Du nicht übersehen, daß manche Demütigung viel bitterer zu ertragen ist in Verhältnissen, wo der Besitz den einzigen Abstand bildet.

Für so tot und begraben darfst Du Dein Leben nicht ansehen, liebe Seele; es liegt noch ein seligeres Ziel vor uns als das Glück irdischer Liebe, und dies Ziel erreichen wir nicht, wenn wir beim ersten Hügel, den es zu übersteigen gibt, am Wege liegen bleiben.

Gott wird nicht verlangen, daß wir gleich hüpfen und springen sollen; aber ruhig voran, wenn auch mit müden Schritten; er gibt uns überschwenglich über unser Bitten und Verstehen.

Bei der Tante geht es mit raschen Schritten dem Ende zu, und Gott sei Dank, die Morgenluft der Ewigkeit, die sie anweht, scheint die Erdennebel zu zerstreuen, die ihren Geist so lang bedrückt. Martha beginnt sich zu den Füßen des Herrn niederzulassen. Es ist ihr und uns allen unbeschreiblich wohl in der Ruhe, die über ihr ganzes Wesen ausgegossen liegt; sie lebt nun heiter wie ein Kind von einer Stunde zu der andern.

Tante Mine ist angekommen, eine Schwester des Onkels, die früher mit ihnen beisammen gelebt hat, aber seit Jahren im Unfrieden von ihnen getrennt lebt. Gott weiß, worüber ursprünglich der Hader anging: ich glaube, Tante Mine schlägt bei Biskuit das Eiweiß zum Schaum und Tante Rike verrührt es bloß. Es ist zum Lachen und Weinen, wie sie jetzt alle ihre gegenseitigen Mißverständnisse aufklären und sich von Herzen vergeben. Mein Gott, mit welch kleinen, kleinen Steinchen [182] können die Menschen sich den Lebensweg verbauen! Da hatte die eine ihre Betten nicht überdeckt aus Reinlichkeit, um sie verlüften zu lassen, und die andre hatte sie bedeckt aus Pünktlichkeit; die eine wollte die Fenster mit Fließpapier putzen, und die andre hielt Leder für besser; die eine wollte die Mangwäsche bügeln und die andre nicht, und eine wollte Zwiebeln im Pfannkuchen und die andre Speck, und darüber haben sie jahrelang gehadert und am Ende jahrelang sich nicht mehr gesehen.

Jetzt sitzen sie Hand in Hand und lachen selbst über ihren elenden Verdruß und tun sich zuliebe, was sie noch können; aber das ist gar wenig mehr.

Auch Albert ist es wohl ums Herz, seit er der Mutter zum erstenmal seine Kindesliebe zeigen kann, und sie wird nun erst ihres Kindes froh, unbeirrt von einem etwa zerknitterten Hemdkragen oder einer offenen Halsbinde.

So atmen wir alle noch um dieses Sterbebett, das gottlob ein schmerzloses ist, eine Luft der Liebe und des Friedens, die uns Kraft geben wird für die letzte, schwere Stunde, die nicht mehr ferne sein kann. Gott helfe ihr glücklich hinüber!

An einen Besuch bei Dir kann ich zunächst noch nicht denken. Gott sei mit Dir, liebe Helene!

[183] Helene an Lottchen

Alm, 21. März 1834.


Ich wollte Dir nicht schreiben, liebes Lottchen, bis ich Dir ein kleines Bild meines neuen Aufenthaltes und neuen Wirkungskreises geben könnte. Ich habe, wie Du weißt, in der neuen Wohnung der Mutter hier mein eigenes Zimmerchen gemietet und versuche Unterricht zu geben, um mir so eine unabhängige Existenz zu sichern.

Es ist eine schwere Sache, mit einem Herzen, das mit dem Leben abgeschlossen hat, neue Lebenspläne zu entwerfen; ich möchte mich lieber in die tiefe Einsamkeit versenken und brüten über dem begrabenen Glück; aber das Leben, das rauhe, unbarmherzige Leben mit seinen Bedürfnissen und seinen Forderungen!

Ich habe nun ziemlich viele Lektionen zu geben, aber ich könnte nicht sagen, daß ich mich sehr befriedigt von dieser neuen Laufbahn fühlte. Zwang, Abhängigkeit, diese Dämonen, die mich überall verfolgen, lassen mich auch hier nicht los.

Als Gouvernante wußte ich doch wenigstens die Ordnung des Tages und konnte mich danach richten; ich war, wenn Du so willst, fremdem Willen unterworfen, aber doch einem einzigen und gerade keinem unvernünftigen. Jetzt bin ich die gehorsame Dienerin von etwa zehn Vätern und Müttern, die Kinder nicht gerechnet, die auch ihren Willen gehörig geltend machen. »Fräulein Winter, könnten Sie nicht meiner Julie die Stunde morgen früh geben? – Wir machen nachmittags einen Ausflug.« – »Mama läßt bitten, die heutige Stunde auf übermorgen zu verschieben, es ist heute Tanzkränzchen.« – »Papa läßt Sie ersuchen, zur Lektion zu uns zu kommen; Lina hat Zahnweh und soll nicht in die Luft.«

Dann die Bemerkungen über meine Methode, die Wünsche in betreff des Unterrichts! Da war's bei meiner Gräfin ein Paradies dagegen. Dort wünscht ein Papa mehr Festigkeit in der Grammatik; da findet eine Mama, daß die Prononciation nicht fein genug ist; eine andre rät mir mehr Lebhaftigkeit beim [184] Unterricht; eine dritte meint, ich sollte mehr lesen, um Stoff zur Konversation zu haben. Eine alte Madame engagierte mich zu Abendspaziergängen mit französischer Konversation; sie ist in beständiger Erwartung, daß wir noch Franzosen ins Land bekommen, und meint, es sei da doch nötig, sich vorzusehen; da soll ich beständig einen imaginären feindlichen Offizier vorstellen, an den sie die hochherzigsten Reden halten will, die sie alle mit »mon colonel!« beginnt und dann nimmer weiterkommt. Wenn ich ihr schlechtes Französisch, zum Beispiel »menez-vous de la guerre avec les dames?« korrigiere, so versichert sie mich, sie habe schon vor fünfzig Jahren in der Strickstunde Französisch gelernt bei einer Eingeborenen, und will mich belehren. Ich weiß wohl, Dich würden solche Dinge ergötzen, mich machen sie nur müde und lebenssatt.

Dann hörte ich schon, wenn auch nur aus dritter Hand, nicht nur einmal die Bemerkung, meine Lektionen seien wirklich etwas teuer; Herr Levailleur, der doch ein geborener Franzos sei (ich glaube, er war einst Perückenmacher), gebe die Stunde zu achtzehen Kreuzer. Und ich! – ich darf ihnen nicht die Bücher samt dem elenden Geld, um das ich ihnen meine Zeit, meine Freiheit, meine geistige Kraft verkaufe, ins Gesicht werfen; ich muß mit der artigsten Miene fortfahren, mich nach jeder Laune zu richten, und mich den teueren Zöglingen ja nicht in übler Laune zeigen!

Mit der Mutter käme ich allenfalls schon aus, von ihr natürlich muß ich mir Bemerkungen und etwa auch Ermahnungen gefallen lassen; aber da ist noch ihre ganze Familie da, die sich berufen fühlt, auch teilzunehmen an meinem Schicksal und mir weise Ratschläge zu geben.

Und dann: Ich mache keine Ansprüche mehr ans Leben, das weißt Du; aber wenn ich andre Mädchen meines Alters im Kreise der Ihrigen harmlos ihre Jugend genießen sehe – und ich schreite als die bezahlte Mamsell im Geschäftsschritt von einer Lektion zur andern, werde vielleicht hie und da aus Gnaden irgendwo eingeladen, – so steigt mir doch ein natürliches Gefühl der Bitterkeit auf.

[185] Doch zu Dir sollt' ich nicht so reden, die Du nicht weißt, was Klage und Bitterkeit ist; ich wollte, ich hätte Deine Bienennatur, die aus den Disteln noch Honig ziehen kann; ich habe sie nicht.

Verlaß mich darum nicht! Ich möchte auch wissen, ob Du noch bei Deinem Onkel bist und ob Du dort bleibst, überhaupt wie Dir's geht. Schreib recht bald

Deiner Helene.


Eichtal, April 1834.


Meine liebe Helene!

Halte mich doch nicht für bösartig und für gefühllos, wenn ich Dir gestehe, daß ich über Deinen Brief neben aller innigen Teilnahme, die ich für Dich habe, doch ein bißchen lachen mußte!

Liebes Herz, der liebe Gott hat's wirklich schwer, Dir's recht zu machen. Ich bin sehr froh, daß ich Dein Geschick nicht in Händen trage, ich wäre in der Tat in Verlegenheit, wie ich's Dir zu Danke machen sollte. Mir kam das Unterrichtgeben als ein so glücklicher Ausweg für Dich vor, gerade für Dich, und ich bin ganz betroffen, daß das nun wieder nicht recht ist. Als Du bei Deinen Eltern warst, trieb Dich's in die Fremde; nun beneidest Du die Mädchen, die noch daheim unter dem Schutz ihrer Eltern sind; wenn sich die Leute um Dich bekümmern, so fühlst Du Dich bevormundet und beschränkt; tun sie's nicht, so fühlst Du Dich unbeachtet und verlassen.

Doch nichts für ungut, liebe Helene, ich weiß ja, wie viel Du verloren: wenn die Augen noch trüb sind vom Weinen, so ist es nicht leicht, die Sterne auch durch dunkle Wolken zu erkennen. Ich habe Dich doch lieb, wenn Du mir auch da und dort noch unbegreiflich bist, der liebe Gott wird schon noch den rechten Schlüssel finden.

Eins scheint mir Dein Unglück, Helenchen: Du kannst die Leute nicht liebhaben, mit denen Du zu tun hast, und wo das ist, da muß freilich jeder Beruf schwer lasten. Wie das anders zu machen ist, weiß ich nicht recht; bei mir kommt das Liebhaben so von selbst. Ich denke aber, es ist auch eine Gottesgabe,[186] um die man bitten darf, wenn sie nicht verliehen ist; gib acht, wenn Du Deine kleinen Mädchen und Deine alte Madame, die ja höchst ergötzlich ist, recht liebhättest, es ginge alles leichter vonstatten.

Bei uns ist es nun daran, die Haushaltung abzubrechen; nächsten Monat wird der Onkel übersiedeln zu Tante Mine, die alten Geschwister wollen ihre Tage zusammen beschließen.

Es wird so das beste sein, Du glaubst nicht, wie sehr Onkel seine Frau vermißt. Seine Liebhabereien schienen ihm gar nicht mehr so viel Freude zu machen, seit er ihnen ganz ungehindert und unverkümmert nachkommen konnte. Ich quälte mich lang' und vielfach ab um neue Unterhaltungsstoffe. Endlich fiel mir bei Onkels Essigfabrikation, die nun auch unterblieb, ein, daß er vielleicht Interesse an der Chemie gewinnen könnte. Da man in unsrer populären Zeit alles populär macht, so entdeckte ich auch wirklich ein Lehrbuch der Chemie, das ich, mit Hilfe der Institutsgelehrsamkeit, leicht verstehen konnte. Da haben wir denn zusammen studiert und laboriert und Versuche gemacht mit Wasserstoff und Kohlenstoff; gelungen ist's gerade nicht, aber wir waren doch vergnügt dabei und hätten nächstens probiert, den Stein der Weisen zu finden.

Tante Mine wird nun freilich keine chemischen Versuche mit dem Onkel anstellen; aber die haben eine gemeinsame Kindheit und Jugend, und die Erinnerung daran, an alles, was der Papa selig gesagt und die Mama selig getan hat, reicht wohl aus für den Rest ihres Lebens.

Ich will nun Alberts Ausstattung vollenden, so wie sie noch Tante für ihn bestimmt hat; er soll, wenn er seinen Kurs in der Ackerbauschule beendet hat, auf Reisen gehen. Gott geleite ihn! Es ist ein gutes, tüchtiges Gemüt.

Ich aber werde alsdann der Bitte meines Vetters, des Herrn Präzeptors Zweigler in Weilburg, folgen und in sein Haus eintreten als Hausjungfer, Gehilfin, oder wie Du's heißen willst, der Name tut nichts zur Sache. Kostgänger und Kinder vom Hause treffe ich dort genug, so daß mir's nicht bange sein darf, daß meine Zeit und Kraft brachliegen werden.

[187] Ich bin recht gespannt, wie sich mein neues Leben unter so viel junger Welt machen wird; aber das Herz tut mir weh, wenn ich denke, daß sich nun bald das Haus schließt, das mir, trotz aller Schatten, doch eine liebe gute Heimat war.

Dir, Liebste, wünsche ich guten Mut oder einen guten Ausweg in eine neue Bahn, die Dir besser zusagt. Von Herzen

Deine Lotte.

Helene an Lottchen

Linstal, November 1834.


Abermals wäre ein neues Blatt in meiner Geschichte umgeschlagen, ein gar einfaches, doch wird es Dich in etwas in Erstaunen setzen. Mit dem Unterrichtgeben ist's vorüber, Du weißt längst, daß ich das nicht beklage, so sehr ich auch nach Deiner Anweisung mich bemüht habe, diesen Beruf und meine flatterhaften Zöglinge liebzugewinnen.

Eine Mademoiselle Courtmoulin, eine eingeborene Französin, auf das die Bewohner von Ulm so viel Wert legen, hat sich dort niedergelassen, und die lernlustige Jugend lief ihr in Scharen zu. Die besorgten Mütter meiner Zöglinge, die rücksichtsvollen unter ihnen nämlich, meinten, das Unterrichten sei wirklich für meine Nerven zu anstrengend; die Schülerinnen, die nicht von selbst gingen, habe ich entlassen, und Mama und ihre Familie hielten bereits wieder Sitzungen, um zu beraten, was mit mir anzufangen sei, als sich ein Ausweg öffnete.

Du weißt, daß meinem Vater nicht mehr möglich war, Verfügungen für die Seinen zu treffen. Zum Vormund von uns älteren Geschwistern erbot sich ein Bekannter und entfernter Verwandter des Vaters, Herr Kommerzienrat Milber, ein wohlhabender Kaufmann, der sich auf einem kleinen Landhause hier bei Linstal zur Ruhe gesetzt hat. Dieser nun machte mir den Vorschlag, zu ihm zu ziehen und die Leitung seines kleinen Hauswesens zu übernehmen, da seine Schwester, die indes bei ihm war, gestorben ist.

[188] Herr Milber steht im Rufe eines sehr respektabeln Mannes; ein dienstbares Verhältnis ist dies eigentlich nicht, es sichert mir alle Freiheit und Unabhängigkeit, die überhaupt für ein Mädchen möglich ist. So zögerte ich nicht, es anzunehmen, und bin nun bereits seit einigen Wochen hier zu Hause.

Diese Wendung war nicht vorgesehen in unsern jugendlichen Plänen; Du, ja freilich Du wolltest allezeit barmherzige Schwester werden und Kleinkinderlehrerin und was alles, – ich hatte mir's etwas anders gedacht.

Die Stille und Ruhe meines hiesigen Aufenthalts tun mir wohl. Du wirst einige Zweifel in mein Talent als Haushälterin setzen, es ist aber hier eine leichte und einfache Verwaltung; ein alter Knecht besorgt Garten und Pferde, eine Köchin und eine Hausmagd Küche und Haus.

Ich habe mein Zeichenbrett und die Farben wieder hervorgeholt; Herr Milber freut sich, mein Klavierspiel zu hören; es kommen hie und da Besuche aus der Nachbarschaft, die die ländliche Einsamkeit beleben, – ich glaube, dies stille Leben ist das beste für mich, es ist mir nötig nach so viel Stürmen.

In der Stille meines hiesigen Aufenthalts habe ich nun auch Zeit, der Vergangenheit zu leben, der süßen, seligen Vergangenheit. Wie konnte ich noch klagen über den Druck und die Entbehrungen meines Gouvernantenlebens, nachdem ein solch goldenes Licht darüber aufgegangen war! Jede Minute jener Zeit koste ich jetzt aus, jedes leise geflüsterte Wort; – er hat mich doch geliebt! auch wenn alles jetzt vorüber ist, und dies Bewußtsein macht mich reich.

Gesellschaft ist mir hier nicht besonders angenehm, obgleich hie und da recht umgängliche Leute einsprechen; – meine eigene Stellung hat denn doch etwas Schwankendes, Unbestimmtes. Ich wollte, Herr Milber, der ja im Alter meines Vaters ist, würde mehr die Haltung eines Vaters annehmen; er ist nur allzu aufmerksam, zu rücksichtsvoll: ich hätte gerne bei ihm gutgemacht, was ich bei meinem guten Vater versäumt, – seine Artigkeit beunruhigt mich mehr, sie läßt mir weniger Sicherheit.

[189] Es ist gar kein übler Herr, mein Herr Vormund, nur hält er noch etwas zu viel auf sein Äußeres, das zu keiner Zeit sehr hinreißend gewesen sein kann; auch ist er hie und da in Verlegenheit, was er mit der Zeit beginnen soll. Die Toilette nimmt zwar immerhin einige Morgenstunden in Anspruch, – es freut mich, als Zeichen seiner Achtung, daß er sich nur in vollem Anzug vor mir sehen läßt; – dann hat er eine Menge Uhren, Standuhren, Wanduhren, Spieluhren, Taschenuhren, Dosenuhren, die er mit großer Sorgfalt aufzieht; dann macht er seine Promenade, auf der ich ihn zuweilen begleite, die Zeitungen füllen einige Stunden, aber – der Tag ist lang, und wissenschaftliche Interessen konnte sein früheres unruhiges Geschäftsleben nie nähren. Seine belletristische Lektüre war meistens Lafontaine, ›Henriette Bellmann, ein Gemälde schöner Seelen,‹ hat er mir dringend empfohlen; als ich ihm aber lachend gestand, daß es mir rein unmöglich sei, das Buch zu Ende zu bringen, schien er etwas beschämt; er liest seitdem auf meinen Rat den Walter Scott, mit wieviel Genuß kann ich nicht sagen.

Du aber, Liebe, bist ja ganz und gar verschollen. Daß Du im Juni erst Deinen Onkel zu seiner Schwester begleitet, daß Du dann das Vergnügen hattest, den Onkel Gottlieb und die Tante Mine, die sich zur Gesellschaft beide krank wurden, zu [190] verpflegen, das sagte mir Dein letztes, kurzes Briefchen. Nun aber werden sie doch wohl gesund sein, und ich möchte wissen, ob Du nun bei Deinem Vetter Präzeptor eingerückt bist, wenn Du nicht auf dem Heimweg noch einen Samariterdienst zu verrichten gefunden hast.

Morgen ist mein einundzwanzigster Geburtstag, da hoffe ich auf einige Worte von Dir. Denkst Du noch an meinen siebzehnten? den ersten, den wir nach der Rückkehr von der Pension in meinem Elternhause zusammen feierten? Wie golden und rosig lag da die Zukunft vor unsern Augen! Dann kam mein Fortgehen, des Vaters Tod, – und alles, alles wurde anders.

Was ist mir heute noch geblieben von jenen glänzenden Träumen? – Nichts als Ruhe für ein müdes Herz.

Lebe wohl und denke in Liebe

Deiner Helene.


Weilburg, Februar 1835.


Liebe Helene!

Es ist lange angestanden, bis ich dazu komme, jenem flüchtigen Geburtstagsgruß einen ordentlichen Brief folgen zu lassen.

Ich könnte freilich etwas von der Ruhe und Muße Deines Aufenthalts zu Linstal brauchen, die mir Deine zwei letzten Briefe schildern. Ich gönne sie Dir zwar von Herzen; aber, nimm mir's nicht übel, Liebe, eigentlich bist Du noch zu jung zu einem solchen Stilleben, das wäre ein Ruheplätzchen für eine alte Großtante. Ich meine, ein bißchen Arbeit, das heißt Arbeit, die sein muß, wäre besser als die langen stillen Mußestunden am Fenster und Klavier.

Sieh Dich auch ein bißchen um, bekümmere Dich um Deine Nachbarn und ihre Kinder, und wenn der Lenz beginnt, so leg ein wenig mit Hand an im Garten; das Stillsitzen und Brüten über seinen eigenen Gedanken taugt nichts; das sagt Dir eine, die aus Erfahrung spricht und die froh ist, daß sie nicht allzuviel Zeit hat, allein zu sein mit einem kindischen Herzen.

[191] Auch für die Unterhaltung Deines alten Herrn dürftest Du etwas mehr tun; wozu ist man gebildet und geistreich wie meine Helene, wenn es nicht auch andern zugute kommen soll? Du liest so viel den lieben, langen Tag, da würde ich mir auswählen, was etwa den Herrn Vormund ansprechen könnte; ist mir's ja doch sogar mit dem Onkel gelungen.

Der Abschied vom Onkel ist mir noch recht schwer geworden. Albert, der gute Junge, den ich noch nie weinen sah als an seiner Mutter Leiche, zerfloß fast in Tränen, als er mir Lebewohl sagte, und der Onkel, – ich habe ihn nie so wortreich gesehen, als er in seinem Danke wurde, bis ihm die Stimme brach und er nur noch sagen konnte: »Gott vergelte dir's, Gott vergelte dir's, Lottchen!«

Um Albert tut mir's am meisten leid, daß ihm das Vaterhaus verschlossen ist, zu der Tante Mine hat er gar zu weit. Er wird nun seine Reise angetreten haben, Gott geleite ihn und führe ihn so gut und rein zurück, wie er geht!

Ich aber, meine Liebe, bin nun allhier bei meinem Vetter, dem Herrn Präzeptor Zweigler, und seiner Frau förmlich angestellt; habe unbeschränkte Vollmacht über vierundzwanzig, sage vierundzwanzig junge, hoffnungsvolle Sprößlinge, künftige Minister und Präsidenten, Prälaten, Pfarrer, Advokaten, Schreiber und Apotheker; eine Vollmacht, die bis zu dem Recht geht, Ohrfeigen auszuteilen, von dem ich aber nicht gedenke Gebrauch zu machen.

Neben diesen vierundzwanzig Anvertrauten hat meine liebe Base, Frau Zweiglerin, die Welt bis jetzt alljährlich um ein neues Glied vermehrt, so daß es in allen Ecken wimmelt und wuselt und mir unser Haus mit seiner Einwohnerschaft oft vorkommt wie die Flasche mit einem Bergwerk im Leib, wo man wohl sieht, was alles da drinnen ist, aber absolut nicht begreift, wie es hineingekommen.

Das ist ein Ernst, liebe Helene! Wenn ich auch noch so goldige Erinnerungen hätte, ich hätte wahrhaftig nicht Zeit, ihnen nachzuhängen; und meine Zukunftsträume, – die gehen nicht weiter als vom Morgen bis zu der Stunde, wo unser [192] wildes Heer in die Schule abgetobt ist, und vom Abend bis zur Nacht, wo sie endlich zur Ruhe sind und ich meiner geplagten Base mit ihren drei kleinen Schreiern zur Hilfe eilen kann.

Zuerst, das gestehe ich Dir, wurde mir seelenbang, als ich das Gewimmel und Getreib im Hause mit ansah; aber es ging, wie Jean Paul von der Wetterwolke sagt: aus der Ferne ist sie schwarz, über uns nur grau. Ich versichere Dich, ich stehe jetzt schon so gut mit den kleinen Burschen; sie haben ein solches Zutrauen zu mir, teilen mir ihre kleinen Geheimnisse, ihre Briefe und Kuchen von der Mama mit, daß ich mir's oft zum Vorwurf mache, daß ich mich hier schon wieder so daheim fühle und die alte Heimat nicht vergessen, aber verschmerzt habe.

Mein Herr Vetter (von wannen eigentlich unsre Verwandtschaft stammt, weiß ich nicht recht; es lebt an einem Ort noch eine uralte Jungfer Zweiglerin, die es wissen soll) führt oft ein gar scharfes Zepter; er sagt, es sei sonst unmöglich, die Buben im Zaum zu halten. Da muß ich denn beständig die Vermittlerin und Fürsprecherin machen, und wo ich gehe und stehe, zupft mich einer am Ärmel und einer am Kleid: »Oh, Fräulein Lottchen, da ist mein Ärmel zerrissen,« – »Fräulein Lottchen, fragen Sie auch, ob wir ins Bad dürfen!« und noch tausenderlei andre Gesuche.

Am Samstag ist großer Waschtag, da sollen sich die Jungen, groß und klein, alle von mir strählen und kämmen lassen. Das ist keine kleine Aufgabe: all mein Gedächtnis und meine Phantasie muß ich aufbieten um wundersame Geschichten, mit denen ich sie zum Stillhalten bewege; sie werden oft so abenteuerlich, daß kürzlich einer der Kleinen bedenklich sagte: »Hören Sie, Fräulein Lottchen, ich glaube, das ist ein verlogenes Märchen,« und triumphierend schrie die ganze Schar: »Ja, ja, das hat Lottchen selber erfunden!« – als hätten sie einen großartigen Betrug entdeckt.

Sehr erstaunt sind meine Jungen über die Brocken lateinischer und sogar griechischer Weisheit, die ich vor Zeiten von [193] Albert aufgeschnappt habe; es verbreitete sich zuerst die Sage unter ihnen, Lottchen verstehe Griechisch und Latein. Leider haben mich ein paar Verstöße beim Überhören um diesen falschen Ruhm gebracht; im Französischen aber bleibe ich die höchste Autorität, und, allen Respekt vor meinem gelehrten Herrn Vetter, aber ich glaube wirklich, es hierin mit ihm aufnehmen zu können.

Aber ich weiß nicht, ob in Deinem Stilleben Szenen aus dem Gegenteil noch Interesse erwecken. Du kämst zu keinem so langen Brief, wenn ich nicht heute die Nachtwache bei einem unsrer Knaben übernommen hätte, bei dem man eine Hirnentzündung fürchtet. Gott lenke es gnädig zum Besten! Wir erwarten morgen seine Mutter.

Was meinst Du, schlage dem Herrn Kommerzienrat vor, er soll etwa nur die Hälfte unsrer Jungen zu einem Ferienaufenthalt auf sein Landgut laden, um Eure Einsamkeit zu beleben. Das würde Euch beiden gut tun.

Lebe wohl, liebe Helene!


[194] Mai 1835.


Liebes Lottchen!

Du erhältst diesen Brief von Ulm aus, wo ich zur Zeit bei der Mutter bin, um einen wichtigen Entschluß mit ihr zu beraten.

Mein Vormund hat mir vor acht Tagen seine Hand angetragen. Du kannst Dir denken, in welche Aufregung mich diese Werbung versetzt. Ich hätte sie freilich ahnen können, Du weißt, ein Mädchen sieht scharf in diesen Dingen; aber ich wollte es nicht glauben. Ich glaubte, hier Ruhe gefunden zu haben, und wenn mich auch meine Stellung nicht befriedigte, wenn auch hier mich manches Bittere und Demütigende traf, so fühlte ich mich doch freier und unabhängiger als sonst.

Diese Unabhängigkeit war freilich nur Täuschung; das wird mir jetzt klar, wo ich fühle, daß ich diese Freistätte verlassen muß, wenn ich Nein sage. Damit ist Milber kein Vorwurf gemacht, der seine Werbung so zart, so achtungsvoll aussprach, wie es nur je ein stolzes Mädchenherz erwarten kann; es ist die Schuld der Verhältnisse, die unser armes Geschlecht knechten vom ersten Atemzug bis zum letzten Hauch.

Milber hat recht lieb und herzlich mit mir gesprochen; er verkennt die Kluft nicht, die die Jahre zwischen uns bilden, – achtunddreißig Jahre, – aber er legte mir seine ganze Vergangenheit vor Augen: eine Jugend voll Arbeit, Sorgen und Entbehrungen, eine lange, lange freudlose Ehe an der Seite einer grämlichen, kränklichen Frau, und nun, wo sich das Glück ihm zuwandte, wo er in Ruhe der edleren Genüsse des Lebens sich freuen könnte, nun steht er einsam, ohne Kinder, ohne Geschwister, und es würde ihn glücklich machen, mir alles zu Füßen zu legen, was ihm das Glück beschert, meine Jugend mit dem zu schmücken, was ihm noch wenig Herzensfreude gebracht hat.

Du denkst vielleicht, das hätte er auch können, wenn ich wie bisher in einem töchterlichen Verhältnis mit ihm gelebt hätte, – aber sieh, er ist vielfach beschränkt und bedrängt von Verwandten, die sich Rechte auf ihn anmaßen, und es ist ihm drückend, mich in einer eben doch untergeordneten Stellung zu sehen.

[195] Und es ist wahr: wenn Leute, die im Haus Geschäfte haben, fragen: »ist das die Frau?« und hören die gleichgültige Antwort: »nein, nur die Jungfer,« wenn man in Gesellschaft nach meinem Namen fragt und ich höre: »die Haushälterin Herrn Milbers,« so ist mir's ein Dolchstoß ins Herz.

Und nun sage mir, was soll ich tun? Daß ich diesem Manne nicht Liebe geben kann, in dem rechten, tiefen Sinne des Wortes, ist klar, auch kann er daran nicht denken; aber ich kann ihm meine Treue, meine kindliche Hingebung und Sorgfalt weihen; ich kann ihn glücklich machen, ich, die selbst längst die letzte Hoffnung auf Glück begraben hat. Er bietet mir seinen Schutz, seinen ehrenwerten Namen, eine gesicherte Zukunft.

Im andern Falle muß ich das Dach verlassen, das mir seither eine Heimat bot, muß entweder als überzähliger Gast am Herde der Mutter bleiben, oder hinaus in die Fremde, neuen Demütigungen, einem neuen Joche entgegen.

Du schließest vielleicht aus meinen Worten, daß mein Entschluß schon gefaßt ist. Ich glaube, es ist so; nicht ohne langen, schweren Kampf.

Du aber, die Du so sehr dafür bist, sich in das Gegebene zu fügen, phantastischen Träumen zu entsagen und das Leben zu nehmen, wie es kommt, Du wirst diesen Entschluß gewiß gutheißen.

Die Mutter gibt mir eine Menge zu bedenken, meint aber schließlich: eine Versorgung wäre es doch, obgleich sie mir wiederholt und herzlich ihr Haus als Heimat anbietet.

Ich denke, Milber von hier aus das Jawort zu geben und bei der Mutter zu bleiben, bis die Vorbereitungen zu unsrer Hochzeit getroffen sind; aber es verlangt mich, zuvor ein paar Worte von Dir zu hören.

Also das wäre das Ende, liebes Lottchen?


Die Blume darf nicht sprossen
Und ringen nicht das Herz,
Das Leben hat geschlossen
Das Buch von Lust und Schmerz.
Denke in Deinem Gebet

Deiner Helene.


[196] Weilburg, Mai 1835.


Teuerste Helene!

Du glaubst, daß Dein Entschluß schon gefaßt sei, und doch fragst Du mich noch: was soll ich tun?

Gönne mir, gönne Deinem eigenen Herzen noch eine Stimme, eh Du entscheidest, mein liebes Herz! Du berufst Dich auf meine nüchterne Lebensansicht und erwartest von mir gewisse Zustimmung. Ich weiß wohl, ich bin ein hausbackenes Ding, ihr habt mich immer die Jungfer Weisheit genannt, und ich hatte jederzeit gewaltig viel Vernunft übrig – für andre Leute, sein Teilchen Dummheit behält am Ende das Klügste für sich, – aber das Herz wird mir doch unendlich schwer, wenn ich an Deinen Entschluß denke, und ich meine, ich müsse Dich mit beiden Armen zurückhalten.

Ob Du glücklich wirst durch Dein Ja, – ach, liebes Kind, das ist wohl schwer zu bestimmen. Ich habe fröhliche, selige Bräute gesehen, deren Ja nur der Schlußakkord der süßen Melodie war, die ihr ganzes Wesen durchklang, und – ich sah sie bald wieder in einsamer Trauer als Witwen oder – als unbefriedigte Frauen, die nicht verstanden hatten, den schönen Klang festzuhalten.

Ob es klug ist, dieses Ja auszusprechen, wollen wir darum zunächst nicht fragen, das ist zuzeiten oft recht schwer zu finden; aber ob es recht ist, das sollte doch wohl mit Gottes Hilfe zu ergründen sein. Ich kann ja selbst nicht wissen, was es ist um dies Ja, das unser ganzes Sein, Leib und Seele an ein andres Dasein knüpft, aber es muß etwas unendlich Großes sein; darum bedenke wohl, eh Du es aussprichst! Kannst Du denn diesem Manne angehören, so mit ganzem Herzen, daß im tiefsten Grund Deiner Seele keine Stelle mehr ist, wo er nicht zu Hause sein dürfte?

Du findest es bei Deiner Jungfer Weisheit natürlich, daß sie eine Wahl aus Liebe, was man so nennt, nicht für die einzige Bedingung zum Glück der Ehe hält, und da hast Du recht. Ich bin noch jung (ich glaube wenigstens; hie und da komme ich [197] mir erschrecklich alt vor), aber ich habe doch schon in manches Herz und Leben gesehen und gefunden, daß das höchste Glück selten da war, wo man mit den höchsten Erwartungen begonnen hat. Eine solche Liebeswahl fügt sich ja so selten in unseren Tagen, und Gott kann doch unmöglich den Stand, den er selbst eingesetzt hat, in so wenigen Fällen nur mit Glück begabt haben.

Schön muß es freilich sein, wunderbar schön, wenn einem das Leben einmal so recht seine vollen Rosen in den Schoß wirft, aber es liegt Gefahr in diesem Glück: man freut sich seiner Rosen und spielt damit, bis sie welk sind. Wo aber das Glück als ein unscheinbares Pflänzchen in Deine Hand gelegt wird, das Du einsenken, das Du treu und oft mit Mühe hegen und pflegen mußt, da lernst Du Dich auch der kleinsten Knospe freuen und empfindest Dein Glück als Dein Eigentum und als einen Gottessegen zugleich.

Darum laß Dir nicht das Herz schwer machen durch George Sandsche Ideen, liebste Helene! Diese hochfliegenden Geister der neuen Zeit, die doch wieder nichts Besseres ansprechen, als was diese arme Erde gibt, für die in diesem Leben alles beschlossen ist und Leib und Seele zusammen aufgehen muß in der irdischen Liebesflamme, wie einst im Todeshauch, – die brauchen freilich für ihr Glück Leidenschaft, Liebe, geistiges Erkennen und sinnliches Verlangen.

Wir aber, die wir ein unbeflecktes und unverwelkliches Erbe ersehnen, die wir ein höheres Ziel im Auge haben, eine Zukunft, wo nur die Liebe unsterblich sein wird, die sich geheiligt hat im Quelle der ewigen Liebe, wir sehen das Band der Ehe als eine Brautzeit für die höhere Vereinigung der Ewigkeit an, eine läuternde, heiligende; und dazu kann auch die Ehe werden, die nicht allein unsre leidenschaftliche Herzenswahl ist. Wenn ich aber glaube, es ist nicht nötig zum Glück, sich vor der Wahl geliebt zu haben, so ist es doch ganz gewiß nötig, sich nachher lieben zu können.

Noch als kleines Mädchen, wenn ich eine Trauung mit ansah, mußte ich in der Stille ältere Eheleute betrachten, die oft so [198] kühl und trocken oder wohl auch unfreundlich nebeneinander hergingen, und ich mußte mich besinnen: ob denn die auch einmal so schön und heilig miteinander in der Kirche gestanden seien. Und jetzt noch weht mich's unheimlich kühl an, wo die Ehe als nichts denn eine anständige Versorgungsanstalt erscheint.

Vor solchem Los behüte Dich Gott! Achtung, Freundschaft, gegenseitige Rücksichten sind gewiß ganz gut fürs Zusammenleben mit allen Leuten; aber zum Glück der Ehe gehört sicherlich mehr. Ein Ja, das nicht mit einer tiefen, heiligen Freudigkeit gesprochen wird, halte ich für Sünde. Aber diese Freudigkeit ist eine Gabe Gottes, und wo er sie nicht verleiht, da liegt der Bund nicht in seinem Willen.

Eine Verheißung der Bibel hat mir immer ganz besonders wunderbar und lieblich geklungen, weil sie auch menschlicher Liebe und Freundschaft eine Weihe gibt: »Wo zwei unter euch eins werden, was sie bitten wollen, das soll ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel.« Ich denke, diese Verheißung könne ihre seligste Erfüllung finden bei zwei Gatten, die zusammen um die rechte Liebe bitten, und was so erbeten wurde, ist am Ende schöner und reicher, als was andern ein freundlich Geschick von selbst in den Schoß geschüttet.

Liebe Helene, glaubst Du, daß Eure Herzen so recht eines vor Gott sein können? Hier allein gibt es nicht Jugend und nicht Alter, und nur eine tiefe ernste Einigung im Höchsten kann die Kluft der Jahre ausgleichen, die zwischen Euch liegt.

Diese Jahre an sich, so groß auch ihr Unterschied ist, würden mich nicht bekümmern; die Zeit steht in Gottes Hand, und wenn Du wirklich Deinem Manne zum Segen wirst, so kann Dir ein kurzes Beisammenleben so reiche Erfahrungen geben wie das längste.

Aber bedenke Dich, liebes, liebstes Herz, bedenke Dich, wenn Du glaubst, Freiheit, Unabhängigkeit zu gewinnen mit dem Wort, das Dich einem andern ganz und gar zu eigen gibt, so zu eigen, wie kein Verhältnis sonst in der Welt! So weit ich's verstehe, wird Freiheit in der Ehe nur mit vollster Hingebung erkauft, sonst muß sie unerträglicher Zwang sein.

[199] Aber ich spreche wohl zu viel, und habe doch lange, lange nicht alles ausgesprochen, was mir auf dem Herzen liegt. –

Ist wirklich alles schon entschieden und steht Deine Wahl fest, so segne sie Gott, liebe Helene. Ich will nicht sagen: vergiß dann, was ich gesprochen, denke nur, daß es meine Liebe sprach! Das weißt Du, daß kein Herz inniger um Dein Glück betet als das

Deiner Lotte.

Helene an Lottchen

Oktober 1835.


Es sind schon viele Monate, liebes Lottchen, seit wir Abschied genommen am Abend meines Hochzeittages; und außer dem kurzen Briefchen, in dem ich Dir unsre Rückkehr von der Reise anzeigte, hast Du noch keine Nachricht von mir. Halte mir's zugut! Es ist nicht eben Mangel an Zeit, was mich vom Schreiben abhält, es ist eine gewisse Mattigkeit, Verdrossenheit möcht' ich sagen, die mich seither nicht dazu kommen ließ, auch weiß ich Dir wirklich nichts Interessantes zu berichten.

Du fürchtest, ich trage Dir die Freimütigkeit nach, mit der Du über meine Heirat geschrieben? O nein, liebstes Kind, halte mich nicht für so schwach! Ich kenne ja die Liebe, die aus Deinen Worten, aus Deinen Warnungen sprach, und vielleicht – hast Du recht gehabt.

Nimm das für keine Klage, meine Liebe! Es wäre groß Unrecht, wenn ich klagen wollte, – mein Mann ist so sehr gut, so aufmerksam gegen mich; ich muß mich hüten, zu viele Wünsche auszusprechen, er würde sie alle erfüllen. Freilich gibt es Wünsche, die unerfüllbar sind.

Wir haben eine schöne Reise gemacht am stolzen Rhein, alle die Herrlichkeiten gesehen, die sich einst unsre Mädchenphantasie geträumt, und das Meer, das geheimnisvolle, unendliche Meer. Wie oft, wie oft habe ich Dich an meine Seite gewünscht! Mein guter Mann, der mich überall hinführte, wo er mir nur den leisesten Wunsch ablauschte, konnte meine Begeisterung wenig teilen. Es ist ihm nicht zu verdenken, in seinem [200] Alter ist man abhängiger von äußern Bedürfnissen; aber erkühlend wirkt es, wenn Du versunken bist in Anschauung der Herrlichkeit des Kölner Doms und Dein Mann flüstert Dir ins Ohr: »Liebes Kind, wir haben Beefsteaks bestellt, die werden rein ungenießbar, wenn wir nicht präzis fortkommen.«

Wir mußten eine Nacht auf dem Dampfschiff zu bringen, eine wundervolle Sternennacht; das Mondlicht zog lange goldene Streifen auf dem Fluß, wir standen auf dem Verdeck und schwelgten in dem Zauber dieser Nacht. Mein armer Mann stand fröstelnd neben mir: »Liebe Helene, hast Du nicht noch einen warmen Schal eingepackt? ich bekomme sicherlich einen Rheumatismus.« – »Warum gehst Du denn nicht lieber in die Kajüte, Lieber?« – »Oh, man liegt erbärmlich schlecht auf den Diwans, ich bin wie gerädert.« Und doch ist mir noch lieber, wenn er sich gibt, wie ihm ist, als wenn er sich unnötig zusammennimmt und mir zulieb jugendlicher tun will, als ihm zumute ist; ich fürchte, ich bin in solchen Fällen oft unfreundlicher, als recht ist. Auf der Reise war es ihm höchst unangenehm, daß er so oft als mein »Herr Vater« angeredet wurde. Zuletzt war ich selbst froh, als ich ihn aus den Beschwerden der Reise glücklich erlöst und nach Hause gebracht hatte. Die neue Einrichtung unsres Landhauses ist sehr, sehr hübsch, ich freue mich, bis ich sie Dir zeigen kann. Es macht mir Freude, ich gestehe es, als eigene Herrin hier zu schalten, zum erstenmal, und alles nach meinem Geschmack zu ordnen. Milber brachte mich freilich fast zur Verzweiflung mit ein paar entsetzlich schlechten Familienbildern, die er durchaus im Salon aufhängen, und mit einer ebenso geschmacklosen Uhr, einen Tränenkrug vorstellend, die er auf meinen wirklich sehr eleganten Schreibtisch placieren wollte; aber ich habe glücklich obgesiegt und Uhr und Bildnisse ins obere Gastzimmer verbannt.

Mit den Dienstboten war ich genötigt zu wechseln, ich hörte gar zu impertinente Äußerungen über meine ehemalige und jetzige Stellung im Hause; auch in Gesellschaft fühle ich mich vielfach gedrückt durch den Gedanken, daß andere meine Wahl eigennützigen Beweggründen zuschreiben.

[201] Aber ich wiederhole es, es wäre unrecht, zu klagen. Milber ist nur zu gut, – ich denke oft, ein Mann, den ich mehr fürchten müßte, wäre besser für mich. Ich muß mich hüten, seine Güte nicht zu mißbrauchen. Ich fühle mich so oft gereizt, verstimmt, ohne den Grund zu wissen; es sei Nervensache, sagen sie, wir wollen nächsten Sommer in ein Bad gehen, wohin weiß ich noch nicht.

Laß mich nicht zu lange mehr auf Deinen Besuch warten, meine Liebe! Er wird eine große Wohltat sein in der Einförmigkeit unseres Landlebens; namentlich die Abende sind oft sehr lang. Wir haben anfangs zusammen gelesen; aber ich fand, daß meine Lektüre meinen Mann wenig anspricht, das Spiel dagegen ermüdet mich; so macht er meist sein Schläfchen auf dem Sofa, und ich lese für mich. Ich lese selbst nicht mehr so gern wie früher; soll ich mich zurückversetzen in alte Träume, die lang' verschollen sind, oder Zukunftsbilder entwerfen, wo keine Zukunft ist? Darum, Liebe, wenn Ihr nicht ohnehin Ferien habt, so denk einmal auch an Dich selbst, mache Ferien und komm zu

Deiner Helene.

Lottchen an Helene

Mai 1836.


Herzlichen Dank, liebe Helene, für die sonnigen, freundlichen Tage, die ich auf Eurem schönen Landsitze verlebt, für die gastliche Güte Deines Mannes, für Deine alte Liebe, die mir immer aufs neue wohltut! Diese Tage im Freien und Sonnenschein haben mich recht aufgefrischt, auch die Kleinen hier sind indes wohl geblieben; unsere Knaben rücken von allen Seiten wieder ein, und ich habe nicht Zeit zum Heimweh. In diesen ersten Tagen nach der Rückkehr aus der Heimat, wo ihnen die Mama Leibgerichte kochte und sie bis acht Uhr schlafen ließ, wacht den Jungen leicht das Heimweh auf; da muß man sich ihrer ein bißchen mehr annehmen als sonst, um den Übergang zu der strengen Schulordnung zu erleichtern.

Wir haben gestern Ostern nachgefeiert, weil sie über die [202] Feiertage zu Haus waren. Das war eine Lust und Herrlichkeit, und mit so wenig Mitteln! Ein paar Eier und ein paar Brezeln für jeden war die ganze Bescherung, die ich mit großem Aufwand von Scharfsinn im Garten versteckt hatte. Du hättest das Jubelgeschrei hören sollen, als einer um den andern seinen bescheidenen Anteil entdeckte und der letzte den seinigen gar nicht finden konnte, weil ich ihn bei mir in der Laube versteckt hatte. In der Laube aber thronte ich als Herrscherin über eine ungeheure Schokoladekanne, aus der sämtliche Mannschaft reichlich erquickt wurde. Die kleine Schar, die da so fröhlich und rotbackig im grünen Grase lagerte und schmauste, dazwischen die sechs Kleinen vom Hause, die alle von den Kostgängern geschmeichelt, gehätschelt und verwöhnt werden, und die nun von einem zum andern krabbelten und von seinem Anteil naschten, – ich sage Dir, es war ein Anblick zum Malen. Wenn Du Dir mit dem drolligen Jungen Eures Taglöhners, der allemal so possierlich im Gras herumkugelte, und mit den zwei kleinen Mädchen der Wäscherin hie und da so einen Spaß machen wolltest, es würde Deinem Mann, der so herzensgut ist, gewiß auch Freude machen.

Liebste Helene, da bin ich eben dran, aus lauter Delikatesse wie die Katze um den heißen Brei herumzugehen, und wir stehen uns doch so nahe, daß ich wohl wagen darf, von der Leber weg zu reden.

Du könntest glücklicher sein, liebe Seele, Du solltest glücklicher sein und – glücklicher machen. Statt zu brüten, wie und warum Du denn auf diesen Weg gekommen, und ob Du darauf sein solltest, geh ihn frisch und freudig fort, so wird er doch ein Himmelsweg. Es ist, verzeih mir's, Liebe, als ob Du mit dereinen Tat, daß Du mit Deiner Jugend und Schönheit einen so viel älteren Mann genommen, all Deine Opferfähigkeit erschöpft habest, und als ob er fortan sein Leben lang an diesem Opfer zehren müsse.

Wenn Dich's kränkt, daß Fremde glauben, Du habest Deinen Mann aus Eigennutz gewählt, wie kannst Du sie schöner widerlegen, als wenn Du mit der Tat zeigst, daß Du es getan, [203] um einen weiteren Wirkungskreis, um reichere Mittel zum Gutestun zu haben, um der freundliche Engel eines sonst einsamen Lebens zu werden?

Gewiß, es tut Deiner Frauenwürde keinen Abbruch, wenn Du einen Abend Brett spielst oder sogar Damen ziehst mit Deinem Mann, weniger, als wenn Du Dich mit der Miene einer gekränkten Unschuld ins Sofa lehnst und die Gedichte wieder liest, die wir in unsern romantischen Frühlingstagen abgeschrieben.

Faß einmal die Gegenwart frisch und freudig an, Liebe, und sitze nicht immer in tragischem Anschauen der Vergangenheit!

Man sagt, so manche Ehe würde glücklicher sein, wenn die Frauen mehr an ihr Witwenstübchen dächten.

Du bist kein Kind, liebe Helene, und kannst Dich nicht darüber täuschen, daß sich Dir früher als andern dies Witwenstübchen erschließen kann. Glaubst Du nicht, das Bewußtsein, daß Du ein Gottessegen warst für den Lebensabend Deines Gatten, wiege ein paar begrabene Mädchenträume auf?

Und nun, verzeih der Predigerin! Aber Du weißt, es tut mir weh, wenn ich so schöne Gottesgaben als totes Kapital liegen sehe, die in lebendiges Herzensglück umgesetzt werden könnten. Halte mir's zugute, und zeige, daß Du in Wirklichkeit mehr und Schöneres tun kannst, als ich mit meiner Altjungfernweisheit predige!

Mit einem Wort, liebes Herz, sei glücklich und zufrieden! Sing mir nicht mehr mit so herzgebrochener Stimme: ›Schein' ich auch zufrieden, fühl' ich doch den Schmerz,‹ – und bleibe gut

Deiner Jungfer Weisheit.


Bitte, sieh auch einmal nach der alten Hanne neben dem Torhäuschen, die ich besucht, und grüße sie von mir! Für die kleinen Mädchen Deines Taglöhners habe ich von unsern Knaben alte Geschichtenbücher erbeutet, ebenso ein noch stattliches Wams für den kleinen Jakoble, der die Gänse hütet; ich hoffe, Du wirst Ehre einlegen mit diesen Spenden.


[204] B ... heim, März 1840.


Liebes Lottchen!

Der erste Brief von meinem neuen Aufenthalt aus; ach, ich wollte, es wäre der letzte, so innerlich müde, so gebrochen fühle ich mich.

So hat sich mir denn das Witwenstübchen aufgetan, früher als ich damals geglaubt, und Du hast vor Zeiten recht gehabt, Lottchen; seine stillen Wände sind manchmal laute Prediger, gewaltige Mahner an versäumte Pflichten, an Tage, die sich nicht wieder einholen lassen. Dank sei es Gott, und Dank sei es Dir, meine freundliche Mahnerin, daß ich in den letzten Jahren meiner Ehe mehr an die Pflicht als an meine verfehlten Wünsche gedacht! Dank auch für die Tage des Leidens, in denen ich doch meinem Mann eine Pflegerin sein durfte!

Es war freilich eine schwere Zeit, die sieben Monate der Krankheit, und sie dünken mich oft mehr als sieben Jahre; aber ich möchte sie manchmal wieder holen, nur um mir das Gefühl eines Berufs, eines Lebenszwecks damit zu erkaufen.

Ich habe mich lange, viel länger als meine Absicht war, noch auf unserm Landhaus verweilt, nun aber wählte ich mir doch einen andern Aufenthalt; ich mochte es nicht mehr bewohnen, solange sein Besitz mir durch den verdrießlichen Prozeß mit den Verwandten meines Mannes bestritten ist, auch hätte ich mich dort gar zu einsam gefühlt.

Nach Ulm, wo die Mutter wohnt, wollt' ich nicht gerne ziehen. Die Mutter ist gut und freundlich, aber mit ihrer Familie harmoniere ich zu wenig; meine Brüder sind fort, und den Geschwistern der zweiten Ehe bin ich immer zu fern gewesen, als daß wir jetzt einander bedürfen sollten.

Da habe ich nun hier, wo mir die Gegend immer gefiel, eine freundliche, elegante Wohnung, Umgang so viel mir beliebt; genieße Achtung und Aufmerksamkeit, habe alle Mittel, mir das Leben so angenehm als möglich zu machen; kann meiner wirklich angegriffenen Gesundheit nach Muße pflegen und – frage mich fast jeden Morgen, wozu ich denn eigentlich[205] aufstehe und den Tag beginne, und lege mich jeden Abend nieder, müde vom Nichtstun, mit dem Gedanken, daß es für niemand ein Unglück wäre, wenn ich nicht wieder erwachte.

»Arbeite, mach dir zu tun!« wirst Du sagen. Ach Liebe, ich bin zu matt und abgespannt zu neuen Unternehmungen und Plänen, und was ich für mich tue, scheint mir alles unnütz und zwecklos. Ich sticke in Armenbasars, immer mit dem Gedanken, es wäre besser und einfacher, den Armen das Geld geradezu zu geben, das ich hier an unnützes Getändel verwende; ich unterzeichne zu allen Sammlungen für milde Zwecke, das ist ein unerquickliches Geben, ohne Freude und Dank; ich arbeite in Nähvereinen für Arme und denke dabei: nun gewöhnt man die Leute, die wenigstens gesunde Hände haben, noch zur Faulheit, wenn man für sie näht und flickt. Ich putze mich auch und gehe in Visiten und komme noch leerer und ausgeschöpfter heim, als ich hinging.

Du hast mich nicht in dieser Stimmung verlassen, liebes Lottchen; ach, vielleicht wäre ich nie darein gekommen, wenn Du immer bei mir wärest! Dank Deiner mahnenden Liebe und der Treue Gottes, der mir mein eigen Herz aufschloß, waren die letzten Jahre meiner Ehe glücklicher als das erste, und ich freute mich fast, in der langen beschwerlichen Pflege meines kranken Gatten früher Versäumtes gutmachen zu können. Wie wenig ich ihm auch von dem Glück gewährt habe, das er mit mir zu finden gehofft, – er ist doch mit Dank und Segen auf seinen Lippen gestorben, und, liebes Lottchen, Dir darf ich es wohl sagen: in den vier Jahren unsrer Ehe war es an seinem Krankenbett das erstemal, daß ich mich an meinem Platze fühlte.

Der Frieden seines Sterbebetts nach so langen Leiden, Deine wohltuende Nähe und später die Mühen und Geschäfte des Umzugs haben mich eine Zeitlang noch kräftig und aufrecht erhalten; jetzt sinke ich zu sammen, und wie ein grauer Schatten legt sich das Gefühl eines nutzlosen, unbefriedigten Daseins über meine Seele.

Wenn ich nach dem Ausgange des Prozesses freie Herrin [206] meines Vermögens bin, so hoffe ich, die Mutter und meine älteren Geschwister reichlich unterstützen zu können. Aber was ist das? Wenn ich sterben würde und ihnen mein Geld lassen, so wäre es ebensogut für sie oder noch besser.

Wenn Dein Präzeptor endlich nach jahrelangem Melden Pfarrer geworden und Du Deines mühsamen Dienstes enthoben bist, so eile zu mir, Deine Gegenwart kann nirgends wohltätiger sein als bei

Deiner armen Helene.


April 1840.


Liebe Helene!

Der Vetter ist endlich Pfarrer, und die Knaben werden entlassen. Wir sind erstaunlich betrübt, daß wir voneinander müssen. Rudolf, mein Liebling, machte mir gestern den Vorschlag: »Weißt was, Fräulein Lottchen? heirat du einen Präzeptor, dann bleiben wir alle bei dir!« Ich werde im Vorgefühl des nahen Abschieds mit Geschenken aller Art überhäuft; Rudolf will mir durchaus seine Ziehharmonika aufdrängen: das werde so unterhaltend sein für mich, wenn ich allein sei; Heinrich verehrt mir selbstilluminierte Bilder, zierlich ausgeschnitten; Karl den Balg eines frühverstorbenen Eichhörnchens und meint, das gebe gewiß eine kleine Boa für mich; der wilde Fritz hat mir mit großer Mühe ein Kettchen von ausgeschliffenen Kirschensteinen verfertigt; – ich bekomme ein ganzes, kleines Raritätenkabinett von den Andenken dieser und früher geschiedener Zöglinge. Ich will es wohl verwahren und freue mich schon darauf, wenn später einer oder der andre seinen Weg in die Welt gemacht hat, sein Andenken wieder hervorzusuchen und der alten Zeiten zu denken, wo ich den Kopf gewaschen, der dann eine kleine Welt in Bewegung setzt. Ich habe so meine eigenen Vermutungen über jeden der kleinen Burschen, und es wird ungeheuer unterhaltend sein, ihren Lebenswegen mit meinen Gedanken zu folgen.

Meine Zukunft liegt noch im Dunkel, doch ist mir nicht bange darum. Denkst Du an das Bildchen, das mir, zum Neid [207] der Schule, unsre alte Nähfrau schenkte, als wir ihren Unterricht verließen, um uns in der Residenz weiter auszubilden? Es ist darauf ein Vögelein abgebildet mit einem zierlich gefalteten Briefchen im Schnabel und der Unterschrift:


Hier innen in dem Brieflein steht,
Wie es Dir, liebe Freundin, geht.

Wir waren damals höchst begierig, das Briefchen zu öffnen, es enthält nichts, als die Worte: ›Wie Gott will‹. Ein andres Orakel für meine Zukunft habe ich bisher nie verlangt und nie bedurft.

Einen überraschenden Besuch erhielt ich in den letzten Tagen, als ich eben bei der prosaischen Arbeit der Kleiderreinigung war, die ich allwöchentlich einmal selbst vornehme. Ein großer, schöner Mann trat ein, bärtig und sonnenverbrannt; ich glaubte, er sei fehlgegangen, und erst als er rief: »Grüß Gott, Lottchen!« [208] und mir lachend die Hand schüttelte, da erkannte ich mit einem lauten Freudenschrei Albert, meinen Vetter, meinen alten Freund und ersten Zögling, der, von seinen Reisen zurückgekehrt, nun vor allem mich aufgesucht hatte.

Ich mußte lachen und weinen vor Freude; ich ließ pflichtvergessen die vierundzwanzig Wämser nebst sonstigen Kleidungsstücken liegen und setzte mich mit ihm in die Laube unsres Hausgärtchens und ließ mir erzählen von seinen Erlebnissen und seinen Reisen; geschrieben hatte mir der böse Junge gar selten. Aber ich konnte nur unbefangen mit ihm reden, wenn ich seine alte treuherzige Stimme hörte, ohne ihn anzusehen; denn wenn ich in dies schöne männliche Gesicht sah, konnte ich mich nimmer in die alte Zeit finden, und ich hätte mit dem König in Uhlands Ballade rufen mögen:


Wie bist du so jung geblieben,
Und ich bin geworden so alt!

Wir brachen erst auf, als die Jungen von der Schule heimkamen und ihre neugierigen Köpfe hereinstreckten. Sie brachten mich bei Tisch richtig in Verlegenheit mit ihrem Kichern und Köpfezusammenstecken, als der schöne stattliche Albert neben mir saß.

Albert will sich nun ein Landgut kaufen und seinen Vater zu sich nehmen. Natürlich gehört zu solchen Plänen vor allem eine junge Frau; er hat mir darüber nichts anvertraut, und ich war zu schüchtern, ihn zu fragen, aber ich bin sehr begierig auf seine Wahl.

Da schreibe ich Dir wieder seitenlang über mich und meine eigenen Angelegenheiten, und wollte doch nur Dir ankündigen, daß ich zu Dir kommen will, wenn erst unsre Pension aufgehoben ist.

Dann, liebe Helene, wollen wir vereint gegen den grauen Dämon kämpfen, der Dein Leben zu umnachten droht. Halt Dich tapfer und sinke nicht! Sollen all die hohen und schönen Vorsätze unsrer Jugend zusammensinken, wenn unsre ersten Träume nicht Wahrheit geworden?

[209] Was Du tun sollst, um Dein Leben auszufüllen, das kann ich Dir so genau nicht sagen. Stell Dein Herz und Deine Hände nur recht ernstlich zu Gottes Verfügung, – gib acht, Du findest etwas zu tun, ohne weit zu suchen und ohne Unnötiges hervorzusuchen! nur mußt Du es dann tun, auch wenn Dir's nicht angenehm wäre. Du lebst zum Beispiel mit einer Magd unter einem Dache, oder mit zweien; kennst Du auch nur sie und ihre Verhältnisse, zeigst Du ihnen wirkliche, herzliche Teilnahme an ihrem Ergehen? Sorge für ihre Weiterbildung, natürlich in ihrer Sphäre! Weißt Du, daß der unbewußte Einfluß, den Du auf Deine Umgebung übst, ein unberechenbarer ist? Daß Du ihnen zum Segen oder Unsegen werden kannst, je nachdem sich eine klare, fromme, geläuterte Seele oder ein launiges, verstimmtes Wesen in Deinem ganzen Sein und Tun abspiegelt?

Ich mute Dir gewiß nicht zu, daß Du, müde und gebrochen, wie Du Dich jetzt fühlst, auf innere Mission hinausziehen solltest; übe zuvor die innerste, nimm Dein eigen Herz in die Schule, weich keiner Pflicht aus, die Dir im Wege liegt, auch wenn sie aussieht wie eine Last! Gib acht, die innere Mission gibt sich mit der Zeit von selbst. Und wenn es vielleicht gerade in der Stille eines wenig bewegten Lebens ist, daß Dir Gott noch ein Wörtchen besonders zu sagen hat, liebes Herz, so hör aufmerksam zu. Lust und Kraft zum Wirken wird kommen, und ein Feld dazu auch – denk nur an mich!

Schon wieder die Jungfer Weisheit! ach, und sie hat so nötig, sich selbst zu predigen. Wenn Du meinst, daß ich mit so ganz unversiegter Frische und Lust meinem Tagewerk nachgehe, so irrst Du; glaub mir, es kommen auch Zeiten, wo ich meine, ein Recht zu haben, nach dem vollen Baume des Lebens zu greifen; und Mut und Kraft und Ergebung müssen erbeten sein; aber sie lassen sich erbitten.

Unser kleiner Konrad, der ausgelassenste Bursche, trieb's neulich gar zu bunt, ich machte ihm rührende Vorstellungen: »Siehst du nicht, wie der Karl so artig ist und uns so viel Freude macht?« – »Ja, das glaub' ich, das ist keine Kunst; [210] wenn ich so brav wär', wie der Karl, da wollt' ich auch gehorsam und fleißig sein,« heulte er. Nichts für ungut, Helenchen, aber Du kommst mir fast vor wie der Konrad, wenn Du immer wiederholst: »Ja, wenn ich Deine Natur hätte, so wollt' ich wohl glücklich und zufrieden sein!« Liebes Herz, ich muß auch steigen und klimmen, wenn ich ans Ziel kommen will, aber ich zähle nicht die Steine unterwegs. Gott helfe uns allen!


B ... heim, Juni 1840.


Liebes Lottchen!

Gott wird uns helfen, des bin ich jetzt getroster Zuversicht. Ich will nicht verdrossen am Wege liegen bleiben, nicht klagen über die Irrtümer und Mißgriffe der Vergangenheit, nicht fragen: wo ist mein Anteil an Freude und Lebensglück? Ich will auf die Augen des Vaters sehen und gehen, wohin sie mich leiten, und ich bin gewiß, das Ziel wird ein seliges sein.

Du staunst über diese Änderung, Du mißtrauest ihr wohl und hältst sie für ein Aufflackern, wie es schon manchmal war und – wieder erlosch. Ich mißtraue mir auch, Liebste, aber ich traue auf den, der größer ist als unser Herz.

Aber wer hat diese Änderung bewirkt? – Du hast viel an mir getan und bist nicht müde an mir geworden, ich danke Deiner Treue viel; aber Gott hat noch mit einer andern Stimme an mein Herz gesprochen.

Vergangenen Sonntag lag das Leben schwerer auf mir als je. Meine Magd, in der ich wirklich eine gutmütige Person erkannt, riet mir, auch einmal in der Früh einen Spaziergang zu machen, »wenn's so schön grün ist draußen, und alles im Blust, und die Nachtigallen schreien zusammen, da ist's so söllig schön,« meinte sie. Ich ging nach einer Seite hin, die mir noch wenig bekannt war, nach einem kleinen Dorf, das gar freundlich in Obstbäumen gebettet liegt. Ich bin seit Jahren nicht mehr dazu gekommen, früh aufzustehen, so oft ich mir auch Dich als lobenswertes Beispiel vorstellte. Die frische klare Morgenluft, der Sonntagshauch auf der ganzen Gegend, [211] die Vögelein, die an dem ersten sonnigen Frühlingstag sich lustig hören ließen, – alles tat mir unbeschreiblich wohl, und von all meinem Klagen und Fragen blieb mir nur die heiße Sehnsucht, als reiner Ton in den wunderbaren Einklang der reinen Schöpfung miteinstimmen zu können.

Ich setzte mich an einer schattigen Stelle, an dem Bächlein, das durch das liebliche Tal rauscht, und vergaß Ort und Zeit, bis ich Glocken zur Kirche läuten hörte; von allen Seiten her zogen die Landleute zu dem mehr als bescheidenen Kirchlein; ich folgte ihrem Zuge und setzte mich, etwas angestaunt von der Umgebung, auf eine Bank im Hintergrund.

Die Stimme, die ich von der Kanzel hörte, sprach mich wunderbar bekannt an; konnte das Sturm sein? aber wie würde der denn gerade hierher verschlagen worden sein? Bei dem Dämmerlicht, das in dem trüben Kirchlein herrschte, konnte ich die Züge des Predigers nicht so ganz unterscheiden. Bald aber vergaß ich Stimme und Züge über dem Inhalt der Predigt, deren einfache schlichte Worte, auf das Verständnis von Kindern berechnet – es war Konfirmation –, so tief ins Herz drangen.

Er sprach über die Worte: Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben. Ich kann Dir des Geistlichen Worte nicht wiedergeben; aber sie haben einen Funken in meiner Seele angezündet, der, so Gott hilft, nicht wieder erlöschen soll. Habe ich denn bis jetzt bedacht, auch nur geahnt,was die Treue des Herzens gegen Gott ist? und wie ganz anders sich das Leben mit all seinen Wechselfällen gestalten muß für das Kind, das die Vaterhand festhält, als für das, welches vermessen seinen Anteil an Glück fordert, um damit zu schalten nach eigenem Gutdünken?

Der Weihegesang der Kinder, mit dem sie sich dem Herrn ergeben, ach, den auch wir einst angestimmt! – die Einsegnung, alles bewegte mich aufs tiefste. Nun der Geistliche im Kreis der Kinder stand, erkannte ich ihn deutlich, – es war wirklich Sturm. Aber meine Seele hatte nicht Raum für Gedanken an meine irdische Vergangenheit; ich eilte, in der Stille heimzukommen, – die ganze Welt war anders. – –

[212] Ich erhielt Deine lieben Worte am Tage nach jenem Sonntag; wie freue ich mich, bis Du kommst! o Du bist mir noch sehr nötig, das Hinabsteigen von dem Berg der Verklärung ins Tal des Alltaglebens ist oft schwer.

Die nächsten Tage verlebte ich noch im Nachklang der tiefen, gewaltigen Bewegung, die mein Herz umgewandelt hat. Wohl ist der Hauch des Gottesgeistes in uns dem geheimnisvollen Wehen des Windes zu vergleichen, – er läßt sich fühlen, aber nicht beschreiben.

Das unerwartete Wiedersehen eines so treuen, unvergeßnen Freundes bewegte mich auch: ich hätte so gern gewußt, wie er denn hierherkam, aber ich scheute mich, andre nach ihm zu fragen, und scheute mich noch mehr, selbst eine Annäherung zu suchen.

Ich wäre gern, so gern wieder in die kleine Dorfkirche gegangen, aber ich weiß nicht recht, was mich wieder davon zurückhielt. Einmal ging ich doch abends wieder in der Richtung des Dörfchens, ich kam in Gedanken weiter, als ich beabsichtigt; da hörte ich plötzlich den überraschten Ausruf: »Helene!«, und mit einer Freude, die ich kaum für möglich gehalten, sah ich die wohlbekannte Gestalt wieder, die ich in so ganz andrer Umgebung verlassen hatte.

Aber ich fühlte mich etwas scheu und befangen, nicht in der Erinnerung an seine Bitte und mein Verweigern, – ach, das scheint mir in unermeßlicher Ferne zurückzuliegen; nein, im Gedanken an die in ihrer Einfalt so gewaltige Predigt, die meine tiefste Seele erfaßt. Der schlichte Mann, über dessen ungewandtes und, wie ich dachte, prosaisches Wesen ich mich im Übermut der Jugend so weit erhaben gedacht hatte, stand nun so hoch über mir, – ein Bote des Herrn.

Er selbst war unbefangen und herzlich erfreut über das Wiedersehen. »Aber wie kommen Sie hierher?« fragte ich endlich. »Aber wie kommen Sie hierher?« gab er mir zurück. Ich erfuhr nun, daß sein Vater Pfarrer in dem Dörfchen hier gewesen; nach dessen Tode hatte ihn die Gemeinde zu sich berufen, und er gestand mir, daß er sich hier doch unendlich wohler fühle als im gräflichen Patronat.

[213] Er hat mich indes schon einigemal besucht; er benimmt sich herzlich, fast väterlich möcht' ich sagen, als alter Freund, ohne den leisesten Anklang, daß er einst mehr sein wollte. Sein ganzes Wesen hat sich wunderbar gehoben seit jener Zeit an Klarheit und Sicherheit; ich glaubte, es sei das Gefühl größerer Unabhängigkeit, er aber sagte mir mit ernstem Lächeln auf eine Bemerkung darüber: »Ich habe nun den Grund gefunden.«

Ich erkenne jetzt wohl, daß es ein Edelstein war, den ich verschmäht, aber ich kann nicht beklagen, wie ich gehandelt. Welch ein Weib wäre ich ihm damals geworden! Und Gott will mich lehren, den Himmelsweg zu suchen, auch ohne eine teure Hand, die mich stützt und führt.

Daß der Freiherr in glücklicher Ehe lebt mit einer schönen Frau und sich blühender Kinder freut, hat mir Sturm etwas leise und schüchtern berichtet. Komm gewiß bald, liebes Lottchen! Du sollst mir helfen und raten, wie ich nun meine anvertrauten Pfunde und Pfündlein zu nutze mache. Ich bin schüchtern, Sturm, der wirklich der beste Ratgeber wäre, zum Vertrauten meines inneren Lebens zu machen, ich fürchte es zu verlieren, wenn es nur auf die Lippe tritt.

Und dann, – wir stehen zwar auf dem unbefangensten Fuße ruhiger Freundschaft! aber einem unverheirateten Mann gegenüber fühlt sich eine einzelne Frau doch immer etwas befangen.

Mein Prozeß muß sich nun endlich entscheiden, dann haben wir reiche Mittel in Händen zum Wirken und Schaffen.

Oh, das Leben soll noch schön werden! wenn es auch still bleibt und einsam.

Komm bald, Liebe, recht bald zu

Deiner Helene.


Rohrdorf, Dezember 1840.


Liebe Helene!

Unsre Haushaltung ist abgebrochen; ich habe den Knaben, einem um den andern, seinen Koffer gepackt, in sein Stammbuch geschrieben, wenn er eins besaß, und Abschied von ihm genommen. Ich bin so reich an Einladungen der Mütter unsrer Zöglinge, [214] [216]daß ich jahrelang, wie man zu sagen pflegt, der lateinischen Zehrung nach in Pfarrhäusern, Amthäusern und Forsthäusern umherziehen könnte und von Dankbarkeit leben. Ich weiß freilich, daß das bald vergessen sein wird, aber es tut doch wohl.

Vetter Zweigler habe ich auf die Pfarre begleitet und bei der Einrichtung geholfen; die gute Frau lebt ganz auf in der Stille des Landlebens, obgleich ihre sieben Eigenen laut genug sind.

So ist nun wieder ein Kapitel meines Lebens abgeschlossen. Ich nehme viel Liebe mit mir, wenn auch gerade keine ewige, und der Verkehr mit den frischen Jungen hat mein eigenes Herz aufgefrischt. Und einen reichen Schatz klassischer Weisheit trage ich mit fort. Den Kärcher und die Konjugationen im kleinen Bröder habe ich so oft überhört, daß ich selbst ganz ferm darin bin; mit dem Cicero stehe ich ganz intim, der Livius und Cornelius Nepos sind mir so bekannt wie Müller und Maier, sogar im kleinen Buttmann habe ich, obwohl ziemlich erfolglos, Studien gemacht; – ob noch eine Zeit kommt, wo diese klassische Aussaat Früchte trägt, bin ich recht begierig.

Nun gedachte ich zu Dir zu kommen, liebe Helene, mich mit Dir Deines neuen Lebens zu freuen; auch bildete ich mir selbst ein, ich bedürfe einer Erholung, aber es scheint, daß dem nicht so ist.

Zwei Stunden von Zweiglers neuem Wohnort lebt eine Pfarrfamilie, die ihm schon lange befreundet ist und die auch ich von einem früheren Zögling her kenne. Der arme Mann war heute in tiefster Bedrängnis hier und klagte dem Vetter sein Leid.

Ein Nervenfieber ist in seinem Hause ausgebrochen; die Frau und vier Kinder liegen schwer krank danieder, die Magd ist an der Krankheit gestorben; nun wird das Haus gemieden, und außer einem alten Weib, die ab und zu geht, hat der Pfarrer keinen Beistand. Ich war natürlich gleich entschlossen, den armen Leuten zu Hilfe zu kommen, obwohl der Mann, der nichts von meiner Anwesenheit wußte, nicht an mich gedacht und nur dem Amtsbruder sein Herz hatte ausschütten wollen. Ich bin freie Herrin meiner Zeit, gesund und kräftig, in Krankenpflege erfahren, ich habe vor keiner Krankheit die [216] mindeste Scheu, und wenn es in Gottes Willen läge, daß ich das Opfer der Krankheit würde, – so wäre die Lücke in der Welt nicht groß, und kein gebrochenes Herz dürfte am Grabe weinen.

So gehe ich denn morgen nach Willingen ab und spare mir die Freude, zu Dir zu kommen, auf später auf. Gott wird mit mir sein.

Dein letzter Brief hat mich innig glücklich gemacht. Wie kümmern wir uns oft so unnötig ab um unsre Lieben, während der Herr seine eigenen Wege zu ihrem Herzen findet! Es ist eine zarte Pflanze um solch ein neues Geistesleben, und ich glaube, wir tun am besten, es als heiliges Geheimnis zwischen dem Herrn und unsrem Herzen zu halten; ist die Wurzel erstarkt in der Stille und Tiefe, so dringt sie selbst zum Licht, und es gilt wohl auch im höchsten und heiligsten Sinn das Dichterwort:


Wenn die Rose selbst sich schmückt,
Schmückt sie auch den Garten.

Du hast deshalb gewiß recht getan, Dich Sturm nicht zu eröffnen. Eine treue, starke Freundeshand auf dem Pfade aufwärts ist wohl viel wert, aber die Gefahr ist groß, sich zu viel auf die menschliche Stütze zu lehnen. Die Verehrung für reichbegabte Prediger, die so manche edle Frauenseele dem Lichte zugezogen, ist auch für manche schon zur Schlinge geworden und hat zu einer Art von geistlicher Koketterie geführt, die ich für das Gefährlichste halte, weil hier der böse Feind die Gestalt eines Lichtengels annimmt.

Liebe Helene, ich habe noch etwas auf dem Herzen, von dem ich nicht gewiß bin, ob es nicht mein Geheimnis bleiben sollte. Wenn ich aber so recht bedenke, wie wir von jeher alles geteilt, so fühle ich, daß ich es Dir nicht verschweigen kann, ohne einen leisen Schatten zwischen uns zu werfen.

Ich lege Dir hier zwei Briefe bei, einen von Albert, den ich vor wenigen Tagen erhielt, und meine Antwort darauf; den ersten Brief meines Lebens, zu dem ich ein Konzept gemacht habe.

[217]

Liebes Lottchen!

Seit drei Tagen bin ich Besitzer des Guts Berghofen, eines ganz freundlichen Sitzes; das Wohnhaus gleicht mehr einem Bauernhaus als einer Villa, ist aber bequem und hell, die grünen Bäume schauen zu allen Fenstern herein, schöne Äcker, prächtige Wiesen, ein Stück Wald, Ochsen und Kühe, Schafe und Böcke, Hühner und Gänse, – es ist mir noch wie ein Traum, daß ich der Besitzer von dem allem sein soll.

Nichts fehlt mir, als eine gute Frau Landwirtin; liebes Lottchen, wolltest Du die nicht sein? Du bist von jeher so viel besser und klüger gewesen als ich, ich habe neben aller Liebe so großen Respekt vor Dir, daß ich nur schüchtern meine Bitte vorbringe, aber, liebes Lottchen, wir würden gewiß glücklich sein zusammen.

Du hast immer so viel Freude am Landleben, so viel Lust zu landwirtschaftlichem Schalten und Walten gehabt; ich meine, es müsse Dir hier gefallen, und unter Deiner Hand würde alles erst recht gedeihen. Du bist so lange ohne Heimat gewesen und hast doch auch unter Fremde stets ein treues, heimisches Herz getragen; da möchte denn ich Dir eine freundliche Heimat bereiten, wo Du gewiß recht aufleben solltest in Friede und Freude.

Ich weiß wohl, was Du mir einwerfen wirst. Du bist etwas älter als ich, ein Jahr etwa, vielleicht auch zwei oder mehr. Aber Du bist so frisch und heiter, Du kannst gar nicht alt werden; ich habe junge, siebzehnjährige Mädchen gesehen, die wären erlegen unter Lasten, wo Dir erst der Mut und die Frische wuchs; das ist wohl die rechte Jugend. Du sagst auch, Du seiest nicht schön, – ich weiß nicht, wie Du andern vorkommst, aber ich habe noch in kein Gesicht lieber gesehen als in das Deine; in all dem Trubel und der Verstörung meines Elternhauses, an dem langen Krankenlager der Mutter, bei dem hilflosen Alter des Vaters, sind mir Deine guten Augen so oft als ein trostreiches Licht aufgegangen, daß ich nicht zu wissen brauche, ob sie himmelblau sind oder nur grau, ob[218] schwarze Sonnen oder Veilchen im Tau, wie die Dichter singen; ich meine, sie werden mir lieb bleiben mein Leben lang. Du bist keine schlanke Palme wie Deine schöne Freundin Helene; aber ich meine, die kleinen Frauen sind eigentlich hübscher und erhalten sich jünger, und Du bist im schlichtesten Hauskleid immer so rein, so zierlich und niedlich, ich glaube nicht, daß mir die schönste und eleganteste Dame je so wohl gefallen könnte.

Ich biete Dir meine Hand nicht mit der glühenden Leidenschaft, wie ich wohl die Liebe schildern hörte; aber mit dem festen Vertrauen, daß Du mich glücklich machen wirst, mit dem herzlichen Wunsch, Dir das Leben lieb und schön zu machen, und ich denke, eine solche Liebe soll länger halten als die leidenschaftliche, die wohl nur in der Poesie lebt, wenigstensfortlebt.

Du hältst mich vielleicht noch für zu jung und unerfahren; aber siehst Du, ich habe doch schon ein Stückchen Welt und Leben kennen gelernt. Als ich mir gegen Dich noch ein Knabe schien und Dir zuerst nahe kam im Elternhaus; als ich Deine Treue und Liebe, Deine unermüdete Geduld, Deine Sanftmut und Freundlichkeit sah, – lach mich nicht aus, liebes Lottchen, damals schon dacht' ich im stillen, Du müßtest meine Frau werden; also ist meine Liebe keine zu junge, sondern eine alte.

Ich habe seither daheim und in der Fremde andre Mädchen gesehen, junge, schöne, glänzende und geputzte; aber keine war so lieb und gut wie Du, bei keiner war mir's in innerster Seele so wohl und behaglich zumute; Du darfst deshalb nicht fürchten, meine Wahl sei eine ungeprüfte.

Liebes Lottchen, sage nicht nein! Du wirst eine so treue Tochter sein für den alten Vater, wie eine gute liebe Hausfrau für mich. Wir werden ein frohes und friedliches Leben führen.

Nicht wahr, ich darf mich ganz von Herzen nennen

Deinen Albert.

[219] Lieber Albert!

Dein Brief hat mir wohl und weh getan, herzlich wohl durch den Ausdruck einer Liebe und eines Vertrauens, das mir zufällt wie ein unverdienter und ungeahnter Schatz, weh, weil ich dies Vertrauen nicht erwidern kann, wie Du es wünschest.

Alle diese Liebe und dies Vertrauen in Dir möcht' ich aufrufen, wenn ich Dich bitte, mir zu glauben, daß ich meinen Entschluß ohne alle Rücksicht auf mich und meine Wünsche vor Gott in tiefem Ernst erwogen, und daß ich es als seinen heiligen Willen erkannt, daß ich Dir in schwesterlicher Treue zugetan bleibe, ohne daß wir ein näheres Band schließen.

Ich bin drei volle Jahre älter als Du, lieber Albert, das ist ein Mißverhältnis für die Ehe, oder würde es werden. Es mag Ausnahmen geben, die auch einen solchen Bund noch glücklich machen; aber ich fühle, daß ich nicht die innere Jugend habe, die diese Kluft ausgleichen könnte.

Ich zweifle nicht, daß eine ruhige Liebe, wie Du sie mir bietest, zu einem heiteren friedevollen Zusammenleben führen könnte, wenn es eine Abendruhe wäre. So aber ist es bei Dir die Stille vor Sonnenaufgang. Du kennst Dein eigen Herz noch nicht, lieber Albert, nicht die wunderbare Fülle von Lust und Leid, die Gott in ein Menschen-Herz und Leben gelegt hat. Weh mir und Dir, wenn Dein Herz erwachte und Du fühltest Dich an mich gebunden! Es muß etwas Entsetzliches sein um den Kampf der Pflicht mit dem Herzen, wenn dieses nur sein heiliges Recht fordert. Davor bewahre Dich Gott, und ferne sei, daß Du durch mich in solchen Jammer kommst!

Du hast schon viele Mädchen gesehen, schreibst Du. Das rechte, lieber Albert, scheint es, sahst Du noch nicht. Du kennst noch nicht den Zauber eines frischen, jungen Herzens, das sich schüchtern an Dich schmiegt und in dem Dir eine neue Welt voll ungeahnter Seligkeit aufgeht. Nicht jedem freilich ist es bestimmt, in seiner Jugendliebe auch seines Lebens Glück zu finden. Ob Dir dies Los beschieden, weiß ich nicht, aber durch [220] mich wenigstens sollst Du nicht darum betrogen werden. Du willst mir, der Heimatlosen, eine liebe, freundliche Heimat bieten. Gott segne Dich dafür und mache Dir Dein Haus einst schön und freudevoll! Glaube, daß die Erinnerung an Deine Liebe auch in meine Zukunft einen Lichtschein werfen wird! Sorge nicht um mich, ich habe mich noch nie heimatlos fühlen dürfen. Sei gewiß, daß ich in jeder Lebenslage, wo ich der Stütze und Hilfe eines Bruders bedarf, mit vollem Vertrauen auf die Deine zählen werde, und denke auch, daß Du immer und überall, wo Dir die Teilnahme und der Beistand einer treuen Schwester not tut, das erste und vollste Anrecht an mich hast.

Lieber Albert, nimm meine Erklärung nicht mit Bitterkeit auf! Laß mir das Bewußtsein, daß wir dadurch nicht getrennt, sondern in herzlicher Bruder-und Schwesterliebe verbunden werden, und gönne mir Dein Vertrauen, wenn einmal ein schöneres Glück, als ich Dir hätte gewähren können, Dir erblüht!

In treuer schwesterlicher Liebe

Deine Lotte.


Ich weiß nicht, liebe Helene, ob Du meinen Entschluß billigst; er ist das Ergebnis eines heißen, schweren Kampfes.

Aber ich kenne Alberts Herz besser als er selbst, ich weiß, daß es einer Liebe fähig ist, von der er jetzt noch keine Ahnung hat. Gott behüte mich vor der Qual der Reue, wenn sein Herz zu spät erwachte!

Vielleicht, ach vielleicht hätte ich's doch gewagt, auf diese ruhige Liebe, auf diese kindliche Freude hin, mit der er mir Herz und Haus bietet wie ein hübsches Weihnachtsgeschenk, wenn – ich selbst nicht eine andre, eine tiefere Liebe zu ihm fühlte.

Das war mein Geheimnis bis jetzt, liebe Helene, das Du wohl schwerlich geahnt, das ich mir selbst kaum gestanden habe, das mir erst recht klar geworden ist, als ich ihn wiedersah in der Fülle männlicher Kraft und Schöne.

Die Ungleichheit der Gefühle ist eine größere als die der Jahre, und wo die Kluft der Jahre hinzukommt, wird sie unlösbar. [221] Ich fühle, mehr als ich Dir sagen kann, wie es unser Glück und unsern Frieden gefährden könnte, wenn ich, die ich ihm bis jetzt mein kindisches Herz unter einer Gouvernantenmiene verborgen, ihm zur Seite wäre mit einer Liebe, die er nicht versteht und nie erwidern könnte.

Nun habe ich mein Herz und die Welt überwunden und kann mit Freuden sehen, wenn mein Opfer kein vergebliches ist, wenn er in einem jungen Herzen das Glück findet, das er noch nicht kennt: aber mit welcher Seelenqual hätte ich als sein Weib seine Blicke bewachen müssen, in der Furcht, daß er – nicht untreu, aber unglücklich würde!

Ich habe Gott herzlich gebeten, mir seinen Willen klar zu machen, und habe nach bestem Wissen getan; habe ich geirrt, so möge der Irrtum keinem Herzen weh tun als meinem eigenen.

Ich bin sehr müde, seelenmüde, es wird gut sein, daß ich in eine Tätigkeit komme, die mir nicht viel Zeit zu eigenen Gedanken läßt, ich habe mich müde gedacht in den letzten Tagen.

Behüt' Dich Gott, liebe Helene! Möge für Dich die Zeit der Kämpfe vorüber sein.


B ... heim, Dezember 1840.


Liebes Lottchen!

Soeben geht der Advokat von mir, der mir angekündigt, daß mein Prozeß – verloren sei. Einige Formfehler im Testament sind nachgewiesen worden, und der Ehekontrakt, den Milber mit seiner ersten Gattin gemacht, ist wieder in Geltung. Einen Jahrgehalt, den mir die Gnade der Verwandten ausgesetzt, habe ich ein für allemal abgewiesen, und ich will das nicht bereuen, selbst wenn ich betteln müßte.

Was mir gesetzlich bleibt, ist äußerst wenig, da der größte Teil von Milbers Vermögen von der ersten Frau stammte.

So ist's, und ich hätte nie geglaubt, daß ein zeitlicher Verlust mich so erschüttern könnte. Jetzt erst verstehe ich, was das Wort Prüfung bedeutet: ich darf auch dies Mißgeschick eine [222] Prüfung nennen, sie hat mir viel geoffenbart, was ich selbst nicht gewußt.

Ich glaubte vor Gott behaupten zu können, daß kein eigennütziger Grund mich zur Wahl meines Gatten geführt; jetzt ist mir klar, daß ich ihn doch nicht gewählt hätte, wenn die Heimat, die er mir geboten, eine Heimat der Arbeit und Entbehrung gewesen wäre. Es ist freilich nicht Freude am Besitz, was mir den Verlust schwer macht; ich habe mein Leben lang das schnöde Geld so großartig verachtet wie irgend ein stolzes Herz, – aber entbehren, herabsteigen, wie der dienen, wo man befehlen gelernt, – oh, ich habe einen tiefen, einen unerquicklichen Blick in mein eigen Herz getan; aber ich habe Gottes Hand verstehen gelernt, und ich weiß, daß ich sie noch preisen werde für diese Führung.

Sturm war bei mir, kurz nachdem ich die Botschaft erhalten, ich weiß nicht, ob er es schon gewußt. Der Eindruck war bei mir noch zu neu, als daß ich ihn hätte verbergen können, selbst wenn ich es gewollt. Was er sagte, hat mir innig wohl getan, doch erstaunte ich über die versteckte Freude in seinen Zügen, die er kaum verhehlen konnte. Ich hoffe freilich, daß mir mit Gottes Hilfe auch dieser Verlust zum Segen werden soll; aber das scheint mir doch fanatisch, ein Mißgeschick, das uns als solches zugeschickt wurde, wie eine Freude aufzunehmen, treffe es nun uns oder unsre Freunde.


Zwei Tage später.


Da kommt Dein Brief. Aber liebes, liebes Lottchen, warum hast Du Dir selbst so weh getan, wenn Du den Albert wirklich liebst? ist das nicht Fanatismus der Selbstverleugnung? Ich meine, ich müßte dem Albert schreiben, es sei mit dem Nein nicht so schlimm gemeint, er soll nur noch einen Sturm versuchen. Doch nein, so keck will ich mich nicht einmischen in fremdes Geschick, aber bedenke Du selbst es noch einmal!

Und noch ein Brief kam mit dem Deinen. Ach, Kind, ich schäme mich meines Glücks im Augenblick, wo Du mit starkem [223] Herzen Dir selbst Deinen Himmel auf Erden verschlossen. – Der Brief ist von Sturm, und er bietet mir zum zweitenmal sein Herz an, ein Herz so treu, so stark, so rein, wie ich es nie geahnt. Er bietet mir seine bescheidene Heimat, ein Leben in Arbeit und Wirken, er fragt mich, ob wir gemeinsam unsern Pfad zum Himmel suchen wollen.

Oh, Liebste, ich weiß nicht, ob das Gefühl, mit dem ich Ja sagte, mit dem ich ihn heute erwarte, die Liebe ist, wie sie Dichter schildern und Mädchenherzen träumen, die Liebe, mit der ich einst an einer idealen, ritterlichen Gestalt hing; aber ich weiß, daß es Friede in meinem Herzen ist, als ob ein ewiger Sonntag angebrochen wäre.

Womit ich die Treue verdient, mit der er mich auf dem Herzen getragen, mich, die Unwürdige, das weiß ich nicht; vielleicht hätte er noch lange, vielleicht für immer geschwiegen, wenn nicht mein Verlust gekommen wäre, dieser glückselige Verlust!

Ich komme fast arm in sein Haus; das Landgut, auf dem mein kleiner Vermögensanteil ruht, ist mit großem Schaden verkauft worden, aber es kümmert mich nicht; er soll mich lehren arbeiten und entbehren und reich sein mit wenigem. Gute Nacht, Selbständigkeit und Unabhängigkeit! Ein ganzes Leben voll Demut und Hingebung ist nicht genug, um eines solchen Herzens würdig zu werden!

Lottchen, mein liebes Lottchen, ich bitte Dich, laß Dich auch glücklich machen!

Deine glückliche Helene.

Lottchen an Helene

Pfarrhaus zu Willingen, Mai 1841.


Eine lange Pause in meinen Briefen, liebste Helene; ich habe Dir nur so flüchtig meine Herzensfreude über Dein Glück ausdrücken können, das ich, Gott weiß es, empfunden wie ein eigenes.

Ein schwerer, leidensvoller Winter liegt hinter uns. Du hast [224] mich in diesen trüben Tagen oft erquickt mit lieben Worten aus der Fülle Deines Glückes; die Probe für weibliche Freundschaft ist nicht das Unglück, wohl aber das Glück – die unsre hat sie bestanden.

Mit dem schönen Frühling zieht auch die Ruhe bei uns ein, eine wehmütige freilich, aber doch eine unendlich wohltuende.

Zwei unsrer lieben Kinder haben wir zu Grabe getragen. Es ist ein tiefes Weh, aber ein friedevolles an einem Kindergrab. Die zwei älteren habe ich zu den Großeltern geleitet, die eine schöne gesunde Schwarzwaldgegend bewohnen. Unser kleinstes ist von der Krankheit unberührt geblieben und blüht wie ein Röslein; mit ihm wird die Pfarrerin, wenn sie genug erstarkt ist, zu völliger Genesung zu ihren Eltern gehen, und dann, Liebste, wenn Du mit Deiner Hochzeit noch so lange warten kannst und eine so verblühte Brautjungfer nicht verschmähst, dann will ich zu Dir eilen und mich sonnen an Deinem Glück und mir Antwort holen auf die vielen Fragen, die mir noch geblieben sind.

Ich freue mich unbeschreiblich, den gewaltigen Sturm kennen zu lernen, der für Dich zum sanften, stillen Säuseln geworden.

Der Frieden und die Stille im Hause hier tun meinem müden Herzen unbeschreiblich wohl.

Die genesene Mutter sitzt matt im Lehnstuhl am Fenster, die gefalteten Hände ineinander gelegt, und blickt hinunter auf die Gräber ihrer Lieblinge, der Pfarrer schreitet an diesen Gräbern vorüber, so oft er zur Kirche geht; wenn er zurückkommt, so beugt er sich über die Frau und bietet ihr ein Blatt, ein Blümchen von den Hügeln, und sie schaut ihm in die Augen mit einem leuchtenden Blicke, der sagt: der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen. Mir begegnen sie mit einem Dank und einer Liebe, die mich tief beschämen, und wir alle denken mit Wehmut einer Trennung.

Ich habe die genesenden Kinder zu der Großmutter geführt. Es war eine schöne Reise bei dem herrlichen Frühlingswetter. Unterwegs machten wir Mittag in einem gar schön gelegenen Gasthaus im Walde. Es war eben ein fröhliches [225] Leben da: einige Familien der Nachbarschaft feierten die Ankunft eines neuen Försters, wenn mir recht ist. Ich machte mit den Kindern einen Gang in den Wald, da keine Wahrscheinlichkeit war, bald das Essen zu bekommen.

Unter einer Eiche im Grünen saß ein schönes junges Mädchen, beschäftigt einen Kranz von Waldblumen zu winden; die reichen, dunkeln Locken zurückgeschüttelt, hob sie das taghelle, blühende Gesicht, strahlend von Jugend und Lebenslust, zu einem jungen Mann empor, der ihr einen reichen Vorrat neuer Blumen brachte. Der junge Mann war – Albert; ich hatte nicht gewußt, daß sein neues Gut hier in der Nähe dieser Gegend liegt. Ich sah seinen Blick, der dem ihrigen begegnete, und – ich weiß nun, daß mein Opfer kein vergebliches war. Gott mache sie glücklich!

Ich zog mich in der Stille mit den Kindern zum Hause zurück. Von der Wirtin erfuhr ich, daß das Fräulein die Tochter eines adeligen Rentbeamten der Gegend ist; »eine hörig schöne Jungfer und so gar brav,« versicherte sie. Der Adel wird hier keine Schranke bilden; Gott segne sie beide!

Ich hoffe später auf Alberts brüderliches Vertrauen; jetzt hielt ich für besser, mich ihm nicht zu zeigen, und kam auch unbemerkt mit den Kindern fort; es war ein so fröhliches Getümmel im Saale unten, daß uns niemand hörte.

Was nun weiter mit mir wird? Pläne genug, liebe Helene. Der Arzt aus der Residenz, der noch zu unsern Kranken berufen worden, ein sehr vortrefflicher Mann, der äußerst gütig gegen mich war, will eine Heilanstalt für kranke Kinder begründen; seine Gattin, die man sehr rühmt, will ihm treu dabei zur Seite stehen, und er bat mich, als seine Gehilfin einzutreten. Das wäre so ganz nach meinem Sinne, und wenn mir nicht ein andrer klarer Wink wird, so gedenke ich diesem zu folgen.

Zuvor aber will ich mich freuen mit den Fröhlichen und eine ruhige gute Zeit mit Dir genießen.

Ich weiß, ich fühle es in Deiner Seele, liebe Helene, daß Du, glücklich wie Du bist, auch mich so sehen möchtest, ich weiß, [226] daß Du Dich bekümmerst um mein Los. Tue es nicht, meine Liebe: Gott weiß, daß bis in mein tiefstes Herz kein Gefühl ist als Dank und Frieden.

Es kam mir in diesen Tagen in einer Sammlung englischer Poesien, dem Geschenk unsres alten Lehrers, ein Gedicht in die Hand. Laß es die Antwort sein auf Deine Sorgen um mich!

Herr, was soll aber dieser?
Joh. 21, 21. 22.

Was soll aber dieser, Herr?
Willst du für den Bruder fragen.
Ist er Gottes Eigentum,
Laß den Herrn dir Antwort sagen,
Sorge nimmer du um dessen Pfad,
Den er an sein Herz gezogen hat!
Frage nicht: was wird sein Los?
Laß es in des Heilands Brust;
Ob er früh ihn heimwärts ruft
Zu des Himmels Ruh und Lust;
Ob er soll in Waffenrüstung stehn,
Um die Zukunft seines Herrn zu sehn.
Ob allein mit seinem Gott
Er den Pfad zum Himmel schreite;
Ob der Liebe süßes Licht
Treu und hilfreich ihn geleite:
Überlaß es du den mächt'gen Händen,
Die da Herzen wie die Ströme wenden.
Wo ein Hauch vom Himmel weht,
Kann des Bergbachs einsam Rauschen
Flüstern mit so süßem Klang,
Als wo Wellen Grüße tauschen;
Wer da wandelt in der Gnade Schein,
Mag wohl einsam sein, – doch nie allein.
[227]
Ob er reich sei oder arm,
Ob er Diener, ob er frei,
Kümmre das nicht dich und ihn,
Bleibt er nur dem Herrn getreu.
Wer zuletzt den sichern Strand gewonnen,
Zählt nicht, wieviel Wellen er entronnen.

Möge das Dein Trost sein und der meinige, geliebte Helene; freue Dich Deiner Liebe und Deines Glückes und denke in Frieden und Freude an

Deine Lotte. [228]

Lebensglück

Dein Pfad ist meiner nicht. Wo du dich freust,

Da welkte hin mein Herz. Mein eigen Leid

Ist meinen Augen heiliger und reicher

Als alle deine Lust.


In den Straßen der kleinen Residenz bewegte sich emsig das gewöhnliche Werktagstreiben. Dienstmägde rannten mit ihrem Armkorb, um das verplauderte Viertelstündchen durch verdoppelte Eile einzubringen; Schulkinder trabten von verschiedenen Seiten mit gemäßigtem Lärm daher, da es erst in die Schule, noch [229] nicht heraus ging, und ein Karrenbauer, der den Kehricht fortführte, brachte nervöse Ohren zur Verzweiflung mit dem langsamen, schwerfälligen Gerassel seines Fuhrwerks.

Nur der erste Stock eines hübschen Wohnhauses zog durch seine festliche Miene die Blicke der Vorübergehenden auf sich; die Fenster des Salons waren geöffnet, um die kühle Morgenluft einzulassen; man sah grüne Girlanden zwischen den schneeweißen Gardinen, blumengefüllte Vasen auf einer gedeckten Tafel; weißgekleidete Konditorjungen gingen ein mit geschmückten Torten, die viel lüsterne Blicke auf sich zogen – kurz, selbst die Milchfrau vom Lande erriet die Bedeutung dieser Anstalten, wenn sie eine Bäckerfrau der Nachbarschaft, die recht wohlhäbig unter ihrer Haustür stand, fragte: »Gelt Sie, da oben gibt es eine Hochzeit?« – »O ja,« belehrte sie diese, »die Tochter der Frau Regierungsrätin Gruber.« – »Wen nimmt sie?« fragte eine Stadtmagd, die sich dazu gesellte. – »Einen Witwer mit einer Last Kinder,« sagte diese etwas geringschätzig. – »Dann ist's aber nicht die Schöne?« fragte die Magd. – »Bewahre, die Kleine ist ja kaum recht aus der Schule; die Große ist's erster Ehe, aber bereits eine gescheite und brave Jungfer, reich gerade nicht, das Vermögen kommt von der zweiten Frau. Das Essen lassen sie aus dem Schwanen kommen, aber in die Kirche fahren sie erst um elf Uhr; ihr könnt nicht darauf warten.« Die andern gingen weiter, und die Bäckerin machte sich an ihrem Fenster einen Wachtposten zurecht, wo sie über ihr Strickzeug weg die Straße bequem überschauen konnte.

Im Festsaal oben waren die Anstalten schon weit gediehen; Frau Schmeckenbächerin, eine alte Hausfreundin, von Natur zwar Schneidermamsell, die aber als Vertrauensperson zur Festordnerin geladen war, legte eben das schwere Silberzeug, das den soliden Wohlstand des Hauses bekundete, auf das feine Damastgedeck und betrachtete nebenher wohlgefällig, wie eine Schöpfung ihrer eigenen Hand, die Brautmutter, die in einem prachtvollen Penseekleid von schwerem Moiree sich wahrhaft fürstlich ausnahm.

[230] In dem Hinterzimmer, dessen Fenster auf ein kleines Gärtchen gingen, das als blühende Oase in dem steinernen Häuserblock verborgen lag, herrschte festliche Stille, wie sie dem Tag ziemte. Die Toilette der beiden Mädchen, die es bisher bewohnt, war vollendet. Die Braut selbst hatte die alte Ordnung darin hergestellt, und die Schwestern saßen in Stille beisammen in dem alten traulichen Raum, den sie so lange schon einträchtig zusammen bewohnt hatten.

Wer die Königin des heutigen Festes, die Braut, hier gesucht hätte, dessen Auge wäre wohl zuerst auf die blühende jugendschöne Gestalt im weißen Kleide gefallen, die, einen Kranz von Rosenknospen in der glänzenden Fülle des braunen Haars, von all dem duftigen Zauber umweht war, den man unbewußt mit dem Namen »Braut« verbindet; nur zu jung fast erschienen die kindlichen Züge des klaren Angesichts. Auch war nicht sie die Braut: Schleier und Myrtenkranz schmückten die ernste hohe Gestalt im schwarzen Atlaskleide, die, wohl zwölf Jahre älter als das siebzehnjährige Kind, fast mehr einen nonnenhaften als bräutlichen Eindruck machte.

Marie war nicht schön, ihr Teint war farblos, ihre Züge unbedeutend, ihr Wuchs beinahe zu hoch; aber ihre dunkeln Augen mit dem Ausdruck herzlicher Güte und klaren Verstandes, die ganze wohltuende Harmonie ihres Wesens machten sie doch zu einer anmutigen Braut. Elisabeth saß, achtlos auf die weitausgebreitete Wolke ihres lichten Gewandes, auf einem Schemel zu den Füßen der Schwester und sah sie etwas bedenklich an. »Es ist doch schade, Marie,« sagte sie, »daß du nicht in Weiß gehst, du siehst wahrhaftig wie eine Nonne aus!«

»Was sollte eine ehrsame Frau Dekanin mit sieben Kindern nachher mit einem so luftigen weißen Staat anfangen?« erwiderte Marie lächelnd. – »Ach ja!« seufzte Elisabeth etwas kläglich; »bitte, sage mir, Marie, ist dir's denn nicht entsetzlich bang?« – »Entsetzlich nicht, aber ein wenig wohl,« sagte diese mit etwas gedämpfter Stimme; »doch Gott wird mir beistehen, und es liegt ein reiches Feld vor mir.« – »Erstaunlich reich!« seufzte die Kleine wieder; »ach, sage mir, aber du darfst nicht [231] böse sein, jetzt darf ich dich das schon noch fragen: warum hast du nicht lieber früher einen andern genommen? Weißt, es gibt ja auch brave Männer mit etwas weniger Kindern.« – »Es hat mich kein andrer gewollt,« sagte Marie mit ruhigem Lächeln; sie hatte längst jedes bittere Gefühl überwunden, das in dieser Antwort hätte liegen können. – »Das begreife ich wirklich nicht, so klug und gut und geschickt, wie du bist,« sagte Elisabeth nachdenklich vor sich hin; »aber du hättest ja auch bei uns bleiben können! Ich weiß noch gar nicht, wie wir zu recht kommen ohne dich.« – »Du glaubst wohl nicht, daß ich heirate, bloß um einen Mann zu bekommen?« sagte nun etwas verletzt die sonst so nachsichtige Schwester, und ihre Wange färbte sich dunkelrot.

[232] »O nein, oh, ich bitte, verzeih, wie du mir so oft schon verziehen hast!« bat die warmblütige Elisabeth, indem sie die Arme um der Schwester Hals schlang und sie liebevoll anschaute mit den wunderbaren braunen Augen; »du weißt ja, ich meine es nicht bös, aber ich bin und bleibe eben ein dummes junges Ding.« – »Sei zufrieden, Liebste!« sagte Marie begütigend; »ich habe nichts zu verzeihen, verzeih nur du deiner lästigen Gouvernante, die du ja heute los wirst!« – »Oh, du bist nur zu gut, zu lieb gegen mich gewesen!« rief die Kleine mit der überströmenden Liebe, die ein warmes Herz vor dem Scheiden fühlt. »Was hast du für Geduld mit mir gehabt! wie tausendmal meine Unordnung geebnet, meine Unbesonnenheit gut gemacht; oh, wo wird eine ältere Schwester so freundlich sein wie du?« – »Nun, dann gebe ich doch keine schlimme Stiefmutter,« sagte lächelnd Marie. – »Du? Ach nein, die allerbeste; den Dekan hat wahrhaftig ein guter Stern mit dem kranken Baron ins Bad geführt, und gescheit ist er, daß er an demeinen Tag, wo du Mama abholtest, gleich merkte, welch ein Kleinod da für ihn zu finden sei! Mich hatte er in den drei Wochen, wo ich dort war, oft genug gesehen; fiel ihm kein einzigmal ein, daß ich eine Mutter für seine sieben Unmündigen geben könnte!« – »Das glaube ich,« sagte scherzend Marie, und ihr Auge ruhte mit neidloser Bewunderung auf dem blühend schönen Antlitz der Schwester; »die Trauben wären ihm zu hoch gehangen!« – »Und ein Kind weiter zu erziehen, hätte er nicht brauchen können,« meinte Elisabeth fröhlich; »es ist gewiß schön von dir, Marie, daß du ihn genommen, aber schrecklich edelmütig bist du doch!« – »Schrecklich? Das wäre schlimm!« – »Nun, weißt du, ich könnte nicht so sein! Wenn ich heirate, möchte ich es gut haben, recht unmäßig gut!« – »Dazu helfe dir Gott!« sagte Marie innig und drückte einen schwesterlichen Kuß auf den schönen Mund.

»Dürfen wir kommen?« fragte draußen ein junges Stimmchen. – »Nur herein!« rief Marie freundlich; doch lag in ihrer Stimme fast mehr mutige Ergebung als schüchterne, süße, bräutliche Erwartung. Die Tür ging auf, und herein trat der [233] Bräutigam, Dekan Gerhard, ein stattlicher Mann nahe den Fünfzigern; er war in seiner Jugend Hofmeister gewesen und hatte nichts von der Unbeholfenheit, die hie und da dem Landgeistlichen anhängt; er nahm sich sehr respektabel und würdig aus in der neuen feinen schwarzen Kleidung; hinter ihm sein ältester Sohn Ernst, der angehende Seminarist, ein netter, klug und bescheiden aussehender Junge mit glatt gekämmtem blonden Haar, der halbversteckt ein Gedicht in der Hand trug, mit dem er die neue Mutter begrüßen wollte; dann kamen die sechs andern, zwei Knaben und vier Mädchen, gutmütig aussehende Kinder, noch etwas unkultiviert und linkisch, wie es schien, obwohl ihnen Marie nicht mehr fremd war. Nathanael, der Jüngste, ein dreijähriger Knabe, schien schwach auf den Füßen und wurde von den Schwesterlein geführt, plauderte aber vergnügt davon, daß er habe Kutschen fahren dürfen.

»Da bringe ich dir die kleine Herde, Marie,« sprach Gerhard mit bewegter Stimme. Marie reichte ihm schweigend die Hand, sie sahen sich tief und innig in die Augen; beide verstanden wohl, daß es sich hier mehr um einen ernsten und heiligen Entschluß für die Zukunft handle als um ein seliges Ja, das auf glühende Herzenswünsche das Siegel drückt; das lag auch in dem leisen Kuß, den er in keuscher Scheu vor den Kindern auf ihre Stirn drückte. Er trat in tiefer Bewegung ans Fenster, während Marie mit inniger Liebe sich zu den Kindern niederbeugte, denen die ungewohnte Erscheinung der neuen Mutter in dem langen schwarzen Gewand und weißen Schleier einige Scheu einflößte, bis sie freundliche, herzliche Worte zu ihnen sprach und sie so liebevoll ansah mit den guten, treuen Augen, daß alle Furcht verging und sie wieder zutraulich mit ihr plauderten.

Elisabeth war beim Eintritt des Bräutigams heimlich zur Seitentür hinausgeschlüpft, nicht ohne daß der naseweise kleine Heinrich zuvor dem Schwesterlein zugeflüstert hätte: »Du, die wäre aber schöner gewesen! Wenn die der Vater genommen hätte!« Worauf Fränzchen ihm sachverständig entgegnete: »Dummer G'sell, das ist ja ein Stadtfräulein, keine Mutter!«

[234] Das Stadtfräulein flog zur Mutter hinüber, die eben befriedigt die Ausschmückung des Festsaales übersah. »Ach, Mütterchen,« sagte sie, halb lachend, halb weinend, »drüben ist nun die ganze Schar, unser Stübchen läuft fast über; o lieber Gott, was hat doch die Marie einen guten Mut! Sieben auf einmal, wenn's nur auch drei wären oder vier! Aber ich glaube, die Witwer haben immer sieben Kinder,« fuhr sie nachdenklich fort; »es liegt ein gewisser Rhythmus darin: ein Witwer mit sieben Kindern!« – »Dein Vater hatte nur eins,« sagte lachend die Mutter. – »Das ist wahr, und noch so ein gutes wie die Marie! Da muß es ein Spaß sein, wenn man so ein Püppchen schon fertig antrifft; aber sieben!« – »Es sind aber im ganzen nette Kinder,« sagte begütigend die Mutter, die nicht leiden konnte, daß man die Heirat ihrer Stieftochter so gar verwunderlich fand. – »Gewiß recht ordentlich, besonders weil Marie sich ihrer Toilette annahm; der himmelblaue Tibet kleidet die Mädchen ganz niedlich.« – »Ja, den schauderhaft roten Zitz, den die Jungfer Tante zum Festschmuck gekauft hatte, haben wir glücklicherweise zu Bettüberzügen genommen,« sagte lachend die Mutter.

Inzwischen fuhren die Wagen vor, die Braut trat ein an der Hand des Bräutigams, um vor dem feierlichen Gang von der Mutter Abschied zu nehmen. Mutter und Tochter hatten sich vielleicht nie mit so tiefer Bewegung umarmt; wo ist ein Scheiden auf Erden, dem sich nicht ein leises Gefühl der Reue beimischt? Man hatte das gute Einvernehmen der Frau Gruber und ihrer Tochter stets als ein Muster für dies schwierige Verhältnis angeführt und sie als Beispiel einer guten Stiefmutter gerühmt, auch war sie sich selbst jederzeit als ein solches erschienen. – Erst in diesem Augenblick sagte ihr ihr eigenes Herz, daß es nicht ihr Verdienst war, wenn das Kind, das sie während der ersten Jahre ihres Ehestands, die sie in rauschendem Gesellschaftsleben zugebracht, meist sich selbst, der Schule und den Dienstboten überlassen, das sie später fast zur Dienerin ihres eigenen Lieblings, der reizenden Elisabeth, gemacht hatte, nun als gereiftes, innerlich klares Wesen vor ihr stand, ihre [235] Stütze und Hilfe, die liebevolle geliebte Leiterin der jungen Schwester.

Marie war eine demütige, selbstlose Seele, die mehr an ihre eigenen Versäumnisse dachte als an die anderer; sie fühlte in aufrichtigem Herzen den Dank, den sie an der Schwelle ihres neuen Lebens der Mutter darbrachte.

Mariens Entschluß schien der Regierungsrätin nicht zu schwer, hatte sie selbst doch auch einst als ziemlich junges, hübsches und verwöhntes Mädchen einen Witwer geheiratet. Freilich hatte sie ihn aus dem einfachen Grunde genommen, weil er ihr gefiel und ihr eine behagliche, angesehene Lage bot und das stille Kind, das damals in die Schuljahre kam, eben keine schwere Zugabe war.

Mariens Gefühle, mit denen sie sieben Kinder ans Herz nahm, die sie nicht unter dem Herzen getragen hatte, waren freilich andre. Diese mütterliche Aufgabe vor allem, so schwer, so hoch und schön, wie sie vor ihr stand, hatte sie erwogen, als sie ihren Entschluß faßte. Es war nicht eben schmeichelhaft für den Dekan, daß sie mehr den Vater den Kindern zulieb, als die Kinder dem Vater zulieb nahm; aber eine gute Bürgschaft für das Glück und den Frieden seiner Zukunft war es jedenfalls.

Endlich wurde das geduldige Harren der Neugierigen vor der Haustür belohnt; die Brautjungfern waren schon von ihren Wohnungen aus nach der Kirche befördert worden, in drei Wagen stieg jetzt der Kern der Hochzeitgesellschaft ein. Die Regierungsrätin hätte sich wohl kaum den Luxus von drei Wagen erlaubt, wenn nicht die elegante Equipage eines Hochzeitsgastes, Herrn Gérards, eines Vetters des Bräutigams, der sich als Kaufmann im Auslande eine halbe Million und einen französischen Namen erworben, ausgeholfen hätte.

Mit vielem Selbstgefühl ließ sich die Brautmama von Herrn Gérard in den prächtigen Wagen heben, den sie mit einer vornehmen Base und Minchen, der ältesten Tochter des Dekans, einnahm. Sie atmete leicht, daß die alte Jungfer Tante, die indes die Haushaltung des Dekans geführt, die Einladung [236] abgelehnt hatte, da ihr eine große Wäsche und der eigene nahe Abzug so viel zu tun machte. Sie wußte, daß ihr rettungslos abgeschmackter Aufzug die ganze Gesellschaft blamiert hätte, da sie sicher die eleganteste Haube, die man ihr verehrt, noch verkehrt aufgesetzt oder durch irgend ein altes Ranunkelröschen verunziert hätte.

Nun wurden unter dem Fittich einer Frau Tante Kontrolleurin die fünf Jüngsten in einen Wagen gepackt, nach einem kleinen Aufenthalt, den die schauderhafte Entdeckung veranlaßte, daß die Jungfer Tante dem Fränzchen blaue Strümpfe angezogen hatte, und die Not, bis man von einem Nachbarskind weiße herbeischaffte. Die Kleinen fuhren aber glückselig ab, streckten mit dem Gefühl großer Wichtigkeit ihre blumengeschmückten Häupter aus den Wagenfenstern, um die [237] Inschriften der Kaufläden zu studieren, und hatten leider wenig Zeit, zu beten und an die selige Mutter zu denken, wie sie Marie ermahnt hatte.

Die spöttischen Bemerkungen, mit denen man die fünf Unmündigen begleitet hatte, verstummten vor dem würdigen Eindruck, den das Brautpaar machte, vor der blühenden Erscheinung der schönen Elisabeth, die nebst dem Seminaristen mit ihnen einstieg. Der junge Ernst machte sich so schmal wie ein Lineal, damit Elisabeth gehörig ihre luftigen weißen Gewänder ausbreiten konnte. Obwohl sie nur zwei Jahre älter war als er, so wagte er doch kaum, sie von der Seite anzusehen, und mußte sich in der Stille besinnen, ob so schön wohl die griechische Helena gewesen sei. Daneben war sein Geschmack so unklassisch, daß ihm die schlanke, blühende, bewegliche Gestalt in dem modischen Kleid doch besser gefiel als die lange, gerade Helena auf Bildern in den faltigen Gewändern, bei denen man fürchtete, sie müsse bei jedem Schritt darüber fallen. Die junge Elisabeth dachte wenig an ihren stummen Verehrer; sie hielt die schönen, unschuldigen Kinderaugen immer auf die liebe Schwester gerichtet, wie in mitleidiger Frage: ob sie's denn gewiß nicht bereue? Marie nickte ihr zu mit freundlich beruhigendem Lächeln, und Elisabeth ahnte, wenn sie es auch noch nicht wissen konnte, daß das stille Licht, das in diesen Augen aufgegangen war, vielleicht den häuslichen Herd sicherer warm und hell halte als das auflodernde Freudenfeuer eines liebeseligen jungen Herzens. – Die Brautfräulein harrten bereits in der Kirche und machten Raum für die Braut und Elisabeth. Es waren Mariens Jugendfreundinnen. »Herbstflora!« flüsterte Herr Gérard ironisch seinem Nachbar zu; und in der Tat, Elisabeths junge Schönheit hob sich aus den andern wie eine frisch erblühte Rose aus einem Asternbeet, während Minchen als bescheidenes Maßliebchen auch noch der Reihe der Brautjungfern eingefügt wurde.

Ein Amtsbruder und Jugendfreund des Bräutigams traute das Paar; es schien den Anwesenden seltsam, zu einem Hochzeittext die Worte zu nehmen: »Wir heben unsere Augen auf [238] zu den Bergen, von welchen uns Hilfe kommt,« daß er aber damit den Sinn der Braut wohl verstanden hatte, das zeigte ihm der verklärte Ausdruck ihrer Züge, wie sie nach oben schaute. Es kamen in der Hochzeitrede wenig von den rührenden Stellen und beweglichen Schlagworten vor, bei denen alle Tränenquellen flüssig werden; die Braut weinte auch nicht, ihre ganze Seele, alle Kraft ihres tiefen Herzens faßte sie zusammen in dem Gebet, mit dem sie Gott um Segen bat und Kraft für ihre Aufgabe.

Die junge Elisabeth aber, die weinte zum Herzbrechen; der Vetter Kaufmann sah ganz mitleidig zu ihr hinüber, und die Mutter, die in der Reihe hinter ihr stand, suchte ihr durch leise Berührungen mehrmals zu bedeuten, daß das über den erforderlichen Anstand gehe; auch faßte sie sich wieder, als die Schwester zum Stuhl zurückkehrte und sie, ehe sie sich neigte zum stillen Gebet, mit dem sanften Lächeln ansah, das so oft schon die Wellen ihrer jungen Seele geglättet hatte.

Die Wagen fuhren mit der Hochzeitgesellschaft nach Hause, und das weibliche Publikum, das in großer Anzahl der Feier beigewohnt hatte, ließ nun auf dem Heimweg seinen Bemerkungen freien Lauf. »Eine ganz passende Partie,« meinte eine, »nur ist sie beinahe größer als er.« – »Aber ahnd wird's ihr tun,« sagte die andre, »so gut wie die's daheim hatte! Die hochschließenden Kleider stehen doch nicht recht gut.« – »War eben auch kein Pläsier,« warf die dritte ein, »so einen Backfisch neben sich aufwachsen sehen!« – »Wenn's nur nicht sieben wären!« tönte eine andre teilnehmende Stimme, »und vier Mädchen darunter! Es wollte ja gar kein Ende nehmen mit Kindern; und eins ist noch dazu kontrakt oder so!« – »Sie ist aber ein gescheites Mädchen, sie wird schon mit ihnen fertig, und ist doch eine Versorgung!« – »Was Versorgung? Wenn der Mann wegstirbt, so liegen ihr die sieben Würmer auf dem Hals, mit hundertundzwanzig Gulden Pension!« – »Sie haben Mütterliches und erben eine ledige Tante,« tröstete wieder eine. – »So, meinetwegen, dann ist's was anders; eigener Nachwuchs wäre nicht mehr wünschenswert.«

[239] »Nicht gescheit ist sie doch,« hub wieder die Frau Häusler an, »sie hätte das Heiraten nicht nötig gehabt, sind ja vermöglich.« – »Aber das Herz, Frau Häusler,« warf schüchtern Fräulein Heinerike Merzler ein, »das Herz will auch seine Gefühle!« – »Ach was Herz!« entgegnete die energische Frau Häusler; »nehmen Sie mir's nicht übel, aber bei einem Spezial mit sieben lebendigen Kindern, da ist nicht mehr viel Gefühl vorhanden.« – »Gerade!« meinte Fräulein Eberhardine Strubel, die von minder empfindsamer Natur war als Jungfer Heinerike, »die Witwer sind eben die ärgsten Narren. Gesegnete Mahlzeit! Wird allemal spät mit so einer Hochzeit.«

»Soll man sagen leider oder zum Glück,« wie einmal der alte Fouqué selig anhebt, daß eine ernste, feierliche Stimmung doch oft wie eine Art Druck auf den Menschen lastet, auch wenn ihr Ernst noch so ungeheuchelt war, und daß sie mit einem gewissen Gefühl der Befreiung zu der Stimmung und Unterhaltung des Alltaglebens zurückkehren, leicht aufatmend mit dem unausgesprochenen Gedanken: So, das wäre abgemacht! So ging es auch der Hochzeitgesellschaft im Hause der Frau Regierungsrätin, nachdem die Umarmungen und Glückwünsche vorüber waren und sich alles um die schön gedeckte Tafel geordnet hatte; auch Elisabeth hatte sich die hellen Augen trocknen lassen von der sanft liebkosenden Hand der Schwester, und sie glänzten wieder freundlich in lebhafter Unterhaltung mit dem Vetter von Antwerpen, dem als weitgereistem und gebildetem Kaufmann der Stoff zum Gespräch nicht ausging. Die Kinder unterhielten sich vortrefflich an einem eigenen Tischchen im Nebenzimmer, und der Seminarist, den man als konfirmierte Standesperson zu den Erwachsenen gesetzt hatte, blickte manchmal sehnsüchtig nach ihrer ungezwungenen Heiterkeit hinüber; er saß freilich der jungen Tante gegenüber, deren Schönheit er wohl zu würdigen wußte; aber was half's ihm? So oft er seine schüchternen Blicke zu ihr erhob, begegnete er einem ironischen Lächeln des Kaufmanns, das ihn glühend rot machte, bis ihn seine Nachbarin, eine der Brautjungfern, ein gutmütiges, verständiges Mädchen, in ein Gespräch über sein Seminarleben, [240] seine kleinen Ferienreisen und über die Eigenschaften seiner Geschwister brachte.

Und nun entlud sich das Gebirge der Hochzeitsträuße auf die Tafel, die allerdings Leben und Bewegung in die Gesellschaft bringen, aber jede gemütliche Unterhaltung unmöglich machen.

Hochzeitsträuße nämlich (zur Notiz für solche, die diese glückliche Sitte nicht kennen) sind kleinere oder größere Gaben, die bei Hochzeitmahlen meist anonym, weniger dem Brautpaar als den Hochzeitgästen, zumal den Brautjungfern, von anwesenden und abwesenden Bekannten zugesandt werden; das ist denn eine Spannung und Überraschung, eine hübsche Gelegenheit, einen neckischen Scherz oder eine sonst verborgene Huldigung darzubringen, [241] und – eine weitere Illustration zu dem schwäbischen Sprichwort:


G'vatterstehn und Hochzeitgehn
Ist 'ne Ehr' und macht den Beutel leer.

Auch hier türmten sich Berge von großen und kleinen Paketen zumeist vor den Damen auf; sie erhielten allerlei scherzhafte Zusendungen, Figuren in Wachs und Tragant, unter denen Pfarrer en miniature eine große Rolle spielten, mit neckischen Gedichten begleitet, die sie mit einigem Geräusch zu verstecken suchten, bis sie erbeutet und unter großem Protest zu allgemeinem Ergötzen vorgelesen wurden. Auch ließen sich, da es für Ehrensache gilt, recht viele Hochzeitsträuße zu erhalten, jüngere und ältere Damen von Haus aus wertvolle Gegenstände schicken: Uhren, Schmuck, Kleiderstoffe, welche die übrige Gesellschaft mehr in Erstaunen setzten als sie selbst, sintemal sie diese Gegenstände längst besessen und sich nur wieder hatten schicken lassen, um neue Kosten zu ersparen.

Der Seminarist war glückselig über eine silberne Zylinderuhr, das Geschenk seiner neuen Mutter; am Kindertisch brach vollends lauter Jubel aus über neue Puppen der Mädchen und ein wunderschönes Bilderbuch des kleinen Nathanael. Der aber schlich sich bald hinaus und nistete sich unversehens auf Mariens Schoß ein. Er fühlte ihren liebevollen, warmen Blick wie ein krankes Pflänzchen den Sonnenschein; sie wehrte lächelnd dem Vater, der sie von der Last befreien wollte, und hielt das Kind weich und warm an ihrem Herzen, bis es, müde von der ungewohnten Aufregung, eingeschlafen war; sie trug es leise in ihr Mädchenstübchen hinüber, legte es sanft auf ihr Bett und kam mit klaren Augen zurück, um sich am Anblick der eigenen und fremden Herrlichkeiten zu ergötzen.

Dem Kaufmann, der sehr lange schon von der Heimat abwesend war, war die Sitte der Hochzeitsträuße, die auch erst in neueren Zeiten eine fabelhafte Ausdehnung gewonnen hat, fremd gewesen; er selbst wurde als Fremder nicht besonders reichlich bedacht, die umsichtige Brautmutter sogar hatte ihn [242] vergessen und improvisierte nur noch eine Sendung, bestehend in einem geschliffenen Trinkglas des seligen Herrn Regierungsrats, von der Sorte, wie sie nie gebraucht und nur jezuweilen zerbrochen worden. Unversehens verschwand Herr Gérard für einige Zeit; kurz nach seinem Wiedererscheinen wurde der verlaufene Strom der Hochzeitsträuße aufs neue flüssig, und zu großer, wirklicher Überraschung erhielten die Brautfräulein allerliebste Kleinigkeiten von Gold, die ihnen in der Tat noch gänzlich neu waren. An Elisabeth kam ein besonders feines Schächtelchen; das schien nun wirklich ein ernsthafter Scherz! Das Brillantschloß eines wundervoll gearbeiteten Armbandes blitzte ihr entgegen, als sie es öffnete; sie erschrak fast, und doch ließ sie geschehen, daß Herr Gérard es ihr anlegte, um zu beweisen, daß es viel zu eng für diesen vollen Arm sein müsse. Es schloß aber doch um das feine Gelenk, der schöne weiße Arm und das goldene Band sahen aus wie zusammengewachsen – es wäre Sünde gewesen, es wieder zu lösen; doch hatte Elisabeth ihr Bedenken dabei:


.... und Ringe sind's, die eine Kette bilden,


kam ihr als unwillkürliche Erinnerung zu Sinn. Aber selbst die geschmackvollen Geschenke des Kaufmanns traten in den Hintergrund gegen die Hochzeitgabe des Barons von Ellershausen, des ehemaligen Zöglings des Dekans, dem seine leidende Gesundheit nicht gestattet hatte, an dem Feste teilzunehmen: ein silberner Pokal mit Sinnbildern aus der Bibel in erhabener Arbeit und der Inschrift: Wohl dem, dem ein tugendsam Weib beschert ist, die ist viel edler denn die köstlichsten Perlen.

»Fast zu kostbar für einen geistlichen Haushalt,« sagte der Dekan mit unverhehltem Wohlgefallen an dem edeln Gerät, »und doch beschert uns Gott wohl hie und da ein Familienfest, das ein Ehrentrunk aus diesem Pokal verherrlichen soll.«

Vor sechzehn Jahren, an seinem ersten Hochzeitfest, hatte die Mutter des Barons, eine praktische Dame, die bescheidene Einrichtung des jungen Pfarrers mit einem Hochzeitgeschenk von soliden silbernen Löffeln ergänzt; er dachte dankbar, wie [243] mit den sieben Kindern doch auch der Segen eingekehrt sei, so daß er jetzt gern das Schöne zum Nützlichen hinnehmen dürfe, den edeln Festtrunk nach dem täglichen Brot.

Es wäre nun der Zeitpunkt gewesen für die Hochzeitgesellschaft, sich zu zerstreuen, in zwanglose Gruppen zu teilen; dazu aber war der Raum etwas beschränkt, das Gärtchen unten allzusehr der Öffentlichkeit ausgesetzt. – Eines der Brautfräulein ließ sich endlich bewegen, sich ans Klavier zu setzen, das man ins Nebenzimmer verschoben hatte, und die Variationen, die es spielte, halfen der stockenden Unterhaltung wieder auf, so daß das Brautpaar Gelegenheit fand, sich wegzustehlen. Elisabeth, die in fieberhafter Angst war, Marie möchte ohne Abschied von ihr gehen, ließ sich nicht mehr halten durch die lebhafte Unterhaltung des Kaufmanns und schlich hinüber ins alte Stübchen.

Mariens Reisekleid war schon bereit gelegt – eine Hochzeitreise war bei dem Amt und Hausstand des Dekans kaum statthaft, sie wollten nur einen Ausflug von einigen Tagen an den Rhein und auf das Gut der Baronin von Ellershausen machen, da ohnehin die Jungfer Tante darauf bestand, noch eine große Wäsche zu Ende zu bringen; die Kinder sollten einstweilen unter der Obhut einer alten Magd nach Hause reisen.

»Komm, Kind, hilf mir!« sagte Marie lächelnd und setzte sich, um Kranz und Schleier lösen zu lassen. Elisabeths Hand zitterte, und als sie sich vor sie stellte, um die Nadeln auszuziehen, da umfaßte Marie die Schwester, legte ihr Haupt an Elisabeths Herz, und sie, die allzeit Ruhige und Gelassene, weinte bitterlich wie ein Kind. Ja, wie ein Kind; wenn das auch sonst nicht stets ein treffender Vergleich ist, so paßt er doch auf die Tränen einer Braut – sie fließen so heiß, so reichlich, und doch sind sie bald getrocknet wie Kindertränen. Ob Mariens Tränen nur dem Abschied von den Mädchentagen und der Schwester galten, ob lange begrabenen Jugendträumen, die sich einst ein andres Los gemalt als das entsagende Glück einer zweiten Gattin, einer Mutter fremder Kinder? –[244] Niemand weiß es, und niemand hat ein Recht, danach zu fragen. Die Tränen einer Braut sind heilige Tränen, wenn ihre Augen nachher so innig und andächtig zum Himmel blicken können, so liebevoll und klar in das Auge des Gatten wie die Mariens. Auch vergaß Marie bald die eigenen Tränen in zärtlichem Trösten der Schwester, die ganz aufgelöst war in Abschiedsleid. – Der Abschied von der Mutter war ein ruhigerer, und der Dekan, der seine erste Gattin einem zahlreichen Familienkreis hatte entreißen müssen unter so herzbrechendem Jammer, als ob sie, eine zweite Andromeda, einem Drachen geopfert werden sollte, war noch recht dankbar, so leichten Kaufs davonzukommen, und eilte, seinen Raub in Sicherheit zu bringen.

Bei der Gesellschaft oben wollte die Unterhaltung nicht mehr recht gehen, obgleich man ein Spiel: Suchen nach der [245] Musik, in Gang gebracht hatte. Elisabeth konnte sich mit ihren verweinten Augen kaum mehr sehen lassen und war unempfänglich für die Tröstungen Herrn Gérards; die Kinder waren ohnehin übersättigt, müde und langweilig, froh, daß die Frau Base Kontrolleurin sie nach Hause nahm, bis auf Minchen, die Älteste, die Mariens Stelle im Jungfernstübchen einnahm, und den Seminaristen, der bei einem Freund ein Unterkommen gefunden hatte.

Auch die übrige Gesellschaft fand bald, daß es spät sei, zu unendlicher Erleichterung der ermatteten Regierungsrätin. Herr Gérard mußte früh am Morgen wieder abreisen, erbat sich aber die Erlaubnis, bei den neuen Verwandten wieder einsprechen zu dürfen, wenn ihn seine Geschäfte später in die Residenz führten. Er hielt recht bedeutsam einen Augenblick die schöne kleine Hand Elisabeths in der seinen; aber die erhöhte Feststimmung war verflogen – um weiter zu dringen, mußte er günstigere Zeiten abwarten. Die übrigen Hochzeitgäste machten sich inzwischen ihre Gedanken, die Brautfräulein fuhren nach Hause, um ihre Geschenke und ihre Mitteilungen auszulegen; die Mama leerte den Nachtisch zusammen. Es brachen Mägde ein, um Stühle und Geräte fortzuschaffen, und der Festsaal bot einen höchst unerquicklichen Anblick.


Es war Nacht, Elisabeth verweilte noch ein wenig bei der Mutter, ehe sie in ihr verwaistes Stübchen ging, wo Minchen bereits steinfest schlief. »Ach, glaubst du gewiß, daß Marie glücklich wird?« fragte sie, wohl zum zehntenmal. – »Gewiß,« tröstete sie die Mutter, die ungeduldig geworden wäre, wenn ihr nicht diese Liebe ihres schönen Kindes zu der viel älteren Stiefschwester eben gar zu liebenswürdig und bewundernswert erschienen wäre; »der Dekan gefällt mir immer besser, er ist ein würdiger Mann und ein Mann von Welt dazu, und dann denke, daß man mit neunundzwanzig Jahren andre Ansprüche an Glück macht als mit siebzehn.« – »O Mütterchen, ich sage dir, mir ist ganz bange geworden unter der Hochzeitrede, wie der Pfarrer die Hingebung und Aufopferung eines[246] ganzen Lebens so herrlich und segenbringend darstellte; es kam mir am Ende selbst ganz schön und als das einzig Wahre und Rechte vor, so daß ich fürchtete, ich werde nun auch unversehens ganz freiwillig wie die Marie einen Witwer mit sieben oder gar mit neun Kindern heiraten müssen. Ach, Mutter, liegt denn wirklich Glück und Segen allein in der Aufopferung? Weißt, ich wäre doch auch gern selbst glücklich geworden!« – »Sei nur ruhig!« lächelte die Mutter, die selbst wenig Erfahrung im Gebiete der Aufopferung hatte – denn der Regierungsrat selig war, wie die Welt meinte, ein guter Hammel gewesen –, und streichelte ihr tröstend die glühenden samtweichen Wangen; »du siehst mir noch nicht danach aus, und es gibt verwöhnte Lieblinge der Natur, Sonntagskinder, die es auf ihr eigen Köpfchen hinausführen dürfen.« Elisabeth hatte wie ein Kind den Kopf auf den Arm der Mutter gelegt, die ihr den Rosenkranz aus den schönen Haaren gelöst hatte; wer, wenn er in diese leuchtenden Sonnenaugen, in dies blühende, helle Angesicht sah, konnte der Mutter verdenken, wenn sie dachte, jetzt eben ein solches Sonntagskind vor sich zu haben! »Gute Nacht, Mütterchen! Du machst den Anfang mit Verwöhnen!« rief sie heiter und suchte ihr Lager, auf dem sie bald so süß schlief wie ihre neue Nichte. Doch nicht so fest, denn sie träumte, sie sei die Braut eines dicken alten Herrn mit einer roten Schnupftabaksnase, und wußte doch gar nicht, wie das zugegangen sei. Sie mußte bitterlich weinen und hatte noch nasse Augen, als sie morgens erwachte und die klare Sonne in ihr Fenster schien und Minchen bereits mit verschlafenem Gesichtchen nach ihr herübersah; aber sie war ganz seelenfroh, daß es ein Traum gewesen. »Ach, Gott Lob und Dank, daß ich noch keine Braut bin! Guten Morgen, Minchen; schlafe nur noch ein wenig, bis ich angekleidet bin, ich helfe dir nachher.«

Es ist ein Segen um die leise Macht der Gewohnheit, um das augenblickliche Vergessen, das, wie weiches Moos einen zerklüfteten Stamm, die Wunden der Trennung überzieht und wie milder Frühlingswind die Tränen des Leides trocknet – [247] ein Segen und eine Wohltat; denn wer vermöchte seinen Lebensweg zu gehen, wenn all die Last von Weh und Herzeleid auf der Seele liegen bliebe, die von jungen Jahren an darübergeht! Und doch empfinden wir dies Vergessen wieder mit leiser Reue, dies Entwöhnen als Schwäche, ja als Schuld, als ein Unrecht gegen die, von denen wir mit Schmerzen geschieden sind. Es lebt das unverlöschliche Gefühl in der Seele, daß sie für ewiges Festhalten an dem, was ihr eigen, geschaffen ist, für ewige Liebe und Treue.

Die Regierungsrätin fand es nicht so schwer, ohne Marie fortzuleben, obgleich sie die Stieftochter aufrichtig liebgehabt und wahrhaft hochgeschätzt hatte. Eben diese Hochschätzung, die sie Mariens echten Tugenden nicht versagen konnte, war ihr je und je etwas lästig geworden; sie war eine Frau der Gesellschaft, sie liebte ihr Kaffeekränzchen am Nachmittag, ihren Teeabend mit einem ruhigen, anständigen Kartenspielchen, ihren Sonntagsausflug in den Lustgarten eines umliegenden Ortes, und das Gefühl, daß der ernstere Sinn ihrer Tochter an all diesem wenig Geschmack finde, es für überflüssig, am Ende gar für Unrecht halte, bedrückte sie, obwohl sich Marie nie darüber aussprach; sie konnte das ruhige Lächeln nicht ertragen, mit dem Marie ihren endlosen Beratungen über einen Kleiderstoff, über eine Haubenform zuhörte; und die Kürze und Einfachheit, mit der sie ihre eigenen Toilettenangelegenheiten behandelte, schien ihr übertrieben und unnatürlich für ein Mädchen. Und Elisabeth war ihr Abgott! Sie war eifersüchtig auf die Liebe und Verehrung gewesen, mit der sie zu der Stiefschwester aufsah, und dann hatte wieder die Furcht, zu parteiisch zu scheinen, ihrer Zärtlichkeit für ihr Kind Zwang aufgelegt. Nun wollte sie ihrem Liebling erst goldene Tage machen! »Marie hat gewiß den besten Einfluß auf meine Kleine gehabt,« gab sie zu, »aber sie hätte mir das Kind zur Nonne gemacht. Die gute Marie, die selbst wenig Äußeres hat, tat freilich wohl, sich mehr auf ernsterem Gebiet zu halten, sie hat ja nun auch auf diesem Wege ihre Versorgung gefunden; aber meine Elisabeth ist doch wohl für eine [248] andre Zukunft berufen!« Elisabeths Leid um die Schwester war ein ungemischtes, Mutter und Schwester hatten unbewußt bei ihr die Rollen gewechselt: während sie bei der Mutter Gewährung jedes Wunsches, Sympathie für jedes kindische Vergnügen, Nachsicht für jeden Fehler fand, blickte sie zu der Schwester auf mit unbedingtem Glauben, mit vollstem Vertrauen; sie war ein verwöhntes Kind, aber kein eigenwilliges, es war ihr süß, sich leiten zu lassen. Mit dem Instinkt eines liebewarmen, großmütigen Herzens hatte sie früh gesucht, durch reiche Liebe die Parteilichkeit der Mutter zu vergüten, und Marie hatte ihr diese Liebe so innig, so dankbar erwidert. Immer noch war sie wohl zehnmal des Tages im Begriffe, zu fragen: »Was meinst du, Marie?« oder: »Nicht wahr, Marie?« Sie ermüdete die Mutter mit ihren endlosen Fragen und Gesprächen über Marie: wo sie jetzt wohl sei? und was sie jetzt wohl tue? Und sie trug den ersten Brief der Schwester bei sich wie einen Brautbrief, um ihn immer wieder zu lesen.

Aber die Mutter tat ihr Bestes, das Kind zu zerstreuen, ihm Vergnügen zu machen, und das war bei Elisabeth nicht schwer. Sie trat in ein französisches Lesekränzchen zur weiteren Ausbildung in der Sprache, wo man viel Tee trank, eine Weile aus der Bibliothèque pour la jeunesse vorlas, ziemlich schlecht französisch plauderte, bis es immer holperiger ging, man sich gegenseitig auslachte und dann mit unendlichem Vergnügen zur lieben Muttersprache zurückkehrte und nach Herzenslust deutsch schwatzte. Sie wurde in diesem Winter zum erstenmal in die Welt eingeführt, in die musikalischen Abende der Madame Scheeler, zu den geistvollen Zirkeln mit Tableaus und Jeux d'Esprit der Frau Kommerzienrat Schneemüller, und wenn sie sich auch da noch etwas schüchtern und nicht ganz zu Hause fühlte, so übte doch die ganze Atmosphäre von Blumen und Düften, von Sang und Klang, welche die geschmückten teppichbelegten Räume durchwehte, einen bezaubernden Einfluß auf ihr junges, poesiereiches Gemüt, und sie meinte jeden Abend: heute sei es doch am schönsten gewesen. Der Frühling kam, aus den Soireen beim Lampenlicht wurden Abende im [249] Freien; die jungen Mädchen machten Frühspaziergänge in das nahe Wäldchen und hielten fröhliche Picknicks in der Gartenlaube einer ländlichen Schenke, Elisabeth war überall die Heiterste. Doch vergaß sie der Schwester nicht, und das Heim weh nach ihr wachte oft lebendiger als je auf, wenn sie abends in ihr Stübchen kam.

Sie hatte zu Anfang Marie lange Briefe, halbe Tagebücher geschrieben, aber die gute Marie hatte bei dem besten Willen nicht viel Zeit zum Antworten; so wurden auch Elisabeths Briefchen immer kürzer und schlossen stets »in Eile«.

Vor Schlafengehen hatten die Schwestern stets ein Kapitel der Bibel zusammen gelesen, ehe sie ihr stilles Nachtgebet gesprochen; Marie hatte gern noch mit der Schwester darüber geredet, nicht im Lehrton, selbst als eine Suchende; aber eben ihre bescheidenen Fragen und Bemerkungen hatten Elisabeths Sinn tiefer in das Verständnis der heiligen Blätter geführt. »Wer liest nun die Bibel mit mir?« hatte sie vor dem Scheiden in klagendem Ton Marie gefragt. – »Die Mutter vielleicht,« beruhigte sie Marie. – »Ach nein, du weißt, die Mutter hat Witschels Morgen- und Abendopfer, daraus liest sie hie und da abends; aber sie sagt, die Bibel verstehe unsereins doch nicht recht, da lasse man's lieber gehen.« – »Lies für dich!« bat sie Marie, »und wenn du willst, so schreibe dir hie und da deine Gedanken darüber auf und teile sie mir mit; willst du?« – »Herzlich gerne, aber ich werde nicht können.« – »Versuch's!«

Es kam nicht oft zum Versuch; die Mutter hatte sich bald nach Mariens Abzug bei einer Leihbibliothek abonniert; da kamen gar zu interessante, schöne Geschichten. Elisabeth las der Mutter daraus vor, bis sie eingenickt war; dann las sie noch für sich oft tief in die Nacht hinein, bis auch ihr die Augen zufielen. Pflichtmäßig öffnete sie noch vor dem Einschlafen ihr kleines Testament, die müden Augen konnten kaum mehr die Worte unterscheiden, viel weniger drang der tiefe Sinn in das zerstreute Köpfchen, und sie entschlummerte, ehe sie nur gesucht, ihn zu erfassen. Manchmal freilich faßte sie wenigstens die großgedruckten Stellen auf, und sie konnten ihr zuzeiten[250] Nachdenken verursachen. »Ach, Mütterchen,« sagte sie einmal abends, als sie mit ihr allein war, »weißt du, daß ich heute immer an die Stelle denken muß: ›Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann mein Jünger nicht sein.‹ Mutter, ich habe ja gar kein Kreuz zu tragen.« – »Einfältiges Kind, du wirst doch das Kreuz nicht gewaltsam herbeirufen wollen! Das ist nicht so gemeint. Warte nur, das Kreuz kommt früher oder später von selbst, und dann, wenn es einmal kommt und wir nicht ausweichen können, dann sollen wir mit religiöser Ergebung uns darein schicken, wie du siehst, daß ich mich jetzt in meinen Witwenstand schicke; es gibt auch Frauen, die ihr Leben lang darüber seufzen, daß sie Witwen geworden sind, siehst du, die wollen dann ihr Kreuz nicht auf sich nehmen; das ist der Unterschied.«

So ganz überzeugt fühlte sich Elisabeth doch nicht. Das mußte man allerdings der Frau Regierungsrätin nachsagen, daß sie ihr Kreuz mit Leichtigkeit und Anstand trug; sie hatte sich wohl die scharfen Kanten weich ausgefüttert, um es desto länger tragen zu können.

»Aber heute, Mutter, muß ich zu der alten Braun,« sagte Elisabeth an einem andern Morgen, »Marie hat mich nun schon zweimal gefragt, ob ich sie nicht vergessen habe.« – »Heute ist es unmöglich, wir müssen in die Blumenausstellung, und nachher habe ich der Frau Präsident versprochen mit dir in ihren Garten zu kommen; Rike kann der Braun übriges Essen und etwas Geld bringen.«

»Aber sie hat sich so gefreut, als ich einmal nach Mariens Hochzeit selbst bei ihr war, und gesagt, es habe ihr indes niemand vorgelesen.« – »Dazu gibt es andre alte Weiber, die besser Zeit haben als du,« entschied die Mutter. »Überhaupt muß ich dir sagen,« fuhr sie fort, »daß mir das Wesen mit Besuchen bei Bettelleuten und in Spitälern und Kleinkinderschulen etwas affektiert vorkommt. Das war zu meiner Zeit gar nicht der Brauch, und man ist damals auch fromm gewesen und wohltätig. Die Bettelleute sind so frei und kommen zu uns, die brauchen wir nicht aufzusuchen, und die verschämten [251] Armen werden nur unverschämt, wenn man so expreß zu ihnen geht; glaube mir, das ist eine Modesache.«

»Aber Marie hat es nicht als Modesache getan,« sagte Elisabeth, in der Schwester Seele gekränkt, mit nassen Augen. – »Gewiß nicht,« sagte die Mutter begütigend; »nur weißt du, Marie war doch so allmählich auf dem Weg zur alten Jungfer; da sucht man allerlei, um das Herz auszufüllen, und es ist ja jetzt gut, daß sie mit solchen Sachen umgehen kann, nun sie eine geistliche Frau ist; aber bei dir, Kleine, hat's immerhin noch Zeit.« – »Es ist wahr, ich verstehe mich nicht so recht darauf und bin bei den armen Leuten immer in Verlegenheit,« sagte Elisabeth erleichtert und legte beruhigt dies Stückchen Kreuz wieder beiseite.

Der Sommer kam und mit ihm in dem Bekanntenkreise der Regierungsrätin die große Frage: »Wohin?« das heißt: »In welches Bad werden Sie diesmal gehen?« – »Ich bin noch nicht entschieden,« meinte Frau Geheimrat; »Baden ist mir zu geräuschvoll und Niedernau zu still; Wildbad echauffiert mich zu sehr und wird immer teurer, und ein Seebad greift mich an.« – »Kreuznach, meint mein Doktor, würde mir vielleicht gut tun,« sagte Frau Hofrat Willing, »aber die Einrichtung sei dort etwas mangelhaft.« – »Homburg ist meinem Mann verordnet,« sagte Frau Oberfinanzrat Andres, »und der Medizinalrat meint, es könnte mir auch gut tun; aber es gehen gar keine von meinen Bekannten hin, da wäre mir's doch langweilig.« – »Mein Sohn soll nach Helgoland,« sagte Frau Kommerzienrat Kurz, »und er schlägt mir vor, das auch zu versuchen, da mir Ems im vorigen Jahre so gut wie gar nichts geholfen; aber denken Sie sich die abscheulichen Hüte, die man dort trägt! Nein, ich bin mein Lebtag nie eitel gewesen und werde jetzt nicht erst anfangen, aber wenn ich mich in einer solchen Vogelscheuche sehen müßte! Lieber nach Weißbad in der Schweiz, das der Madame Ulrich voriges Jahr so gut tat.« – »Das sei aber für Brustübel, und Sie leiden ja im Kopf.« – »Ach, der Doktor meint, der Unterschied sei nicht so groß, man muß alles versuchen; was haben Sie denn im Sinn, Frau [252] Regierungsrätin?« – »Ich gehe eben in Gottes Namen wieder nach Baden,« seufzte diese ergeben, »ich habe diesmal gar einen ordentlichen Winter gehabt, und ich denke, das ist noch die Nachwirkung vom vorigen Jahre. Warme Bäder kann ich zwar nicht gut ertragen, aber die Ruhe und die Luftveränderung ist doch die Hauptsache, und eine Erholung tut mir so not nach der großen Anstrengung mit der Aussteuer und Hochzeit meiner Marie.« – »Ach, freilich,« stimmte Frau Hofrat Berzenberg andächtig bei, »jawohl, die Luft ist die Hauptsache und die Nachkur.« – »Allerdings die Nachkur,« fiel die Frau Geheimrat ein; »mir wird's jedesmal schlechter im Bad, man hat da seine gewohnte Ordnung nicht; aber den Winter bringe ich dann doch immer wieder erträglich zu.« – »Sie nehmen natürlich Ihre Elisabeth mit, Frau Regierungsrätin?« – »Glaube kaum,« sagte diese; »zwei Personen kommen doch sehr hoch, und Sie wissen wohl, eine Witfrau muß sich nach der Decke strecken. Meine Kleine plagt mich so, sie zu der Marie zu lassen, die wir ja noch nicht besucht haben; da will ich sie auf der Reise nach Baden hinbringen und sehen, ob sie lange dort bleiben mag.«

Die Regierungsrätin hatte in der Tat Grund, auf einige Ersparnisse zu denken; sie war nicht eben reich, und durch Mariens Verheiratung fiel noch ein Teil ihrer Einkünfte weg; aber sie hielt es für Elisabeths Zukunft viel besser, bei sparsamer Einteilung des inneren Haushalts, nach außen durch geselligen Aufwand sich in den Ruf großer Wohlhabenheit zu setzen. Deshalb hatte sie auch nie zugegeben, daß Marie früher ihrem Herzensdrang folgte und als Lehrerin oder Erzieherin einen eigenen Beruf wählte. »Sagte ich nicht, du würdest mir's noch danken?« fragte sie bei dem Antrag des Dekans. »Als Gouvernante hättest du noch lange warten können, bis du Braut geworden wärest; da trifft's unter Hunderten kaum eine, nun kannst du ja doch noch erziehen nach Herzenslust.«

Doch war es nicht, als ob die Regierungsrätin Tag und Nacht auf nichts gesonnen hätte, als ihre Tochter mit Glanz an den Mann zu bringen, wie es nach Ansicht unsrer modernen [253] Schriftsteller alle Mütter tun; o nein, sie träumte sich freilich eine glänzende Zukunft für ihr schönes Kind, aber sie freute sich von Herzen ihres Besitzes und war ihrer Jugend froh, bei der eine Trennung noch in der Ferne lag. Sie war viel zu fest überzeugt, daß der Besitz ihrer Elisabeth dereinst der Gipfel menschlicher Glückseligkeit sei und daß kein Sterblicher ungefährdet in diese Sonnenaugen blicken könne, als daß [254] sie daran gedacht hätte, Pläne zu machen. Elisabeth besann sich darüber gar nicht; sie wußte oder fühlte doch wenigstens unbewußt, daß sie liebenswürdig war und geliebt, aber ihr glückseliger Übermut hatte nichts Verletzendes; sie war so bereit, jede ihrer Schwächen einzugestehen, jeden Vorzug andrer anzuerkennen, so warmen Herzens und allzeit fröhlich!

Sie war im vorigen Jahre königlich vergnügt in Baden gewesen in ihrer neuen reizenden Toilette, auf den Promenaden, unter den mannigfaltigen bunten Gestalten, in der märchenhaften Pracht der Säle, auf den schönen einsamen Waldwegen; aber sie freute sich nun auch wie ein Kind, als sie hörte, daß sie diesmal wenigstens die ersten Wochen während der Mutter Badeaufenthalt bei Marie zubringen sollte. So brachte denn die Mutter sie zu Dekans, ohne sich länger als einen Tag dort aufzuhalten; Elisabeth aber versprach ihr genaue Berichte über all ihre Erlebnisse bei Marie.

Elisabeth an die Mutter
1

Ja, liebe Mutter, da wäre ich nun bei der Marie, aber ich muß sagen, trotz allem, was ihr von dem schönen Wirkungskreis gesagt habt, der sie erwartet, gelüstet mich's doch gar nicht nach so einem; du liebe Zeit, was ist die Marie für ein geplagtes Geschöpf vom frühen Morgen bis in den späten Abend! Da sollen um sieben Uhr schon die Buben zur Schule und vorher noch überhört werden; den Mädchen muß man die Zöpfe flechten, und der Kleine ist skrofulös und soll Dreifaltigkeitstee trinken, und die Pauline hat Anlage zum Schiefwerden, mit der soll man gymnastische Übungen vornehmen; dem Minchen Liebe und Geschmack zu Haushaltungsgeschäften beibringen, und sie mag doch nicht. Daneben haben sie Äcker, da soll man nach den Tagelöhnern schauen und für alle Wöchnerinnen des Städtchens kochen! Und der Herr Dekan, ja der tut nichts zur Sache, als daß er hie und da einen neuen Befehl erläßt, was [255] alles noch geschehen und nicht geschehen sollte, und wenn er einmal einen losen Knopf an seinem Rock hat, so kommt er mit der Miene einer gekränkten Unschuld, daß seine Frau diesen schweren Unfall nicht schon lange vorhergesehen und beseitigt hat.

Ja die Männer! Behüte mich Gott, daß ich heiraten sollte; nein, wenn ich denke, was wir daheim ein nettes, behagliches Leben zusammen führen!

Marie ist übrigens nicht unglücklich, oder gesteht sie's mir nur nicht, weil sie wohl weiß, daß ich diese Heirat nicht zugeben wollte. Sie ist sehr selten übler Laune, hat mit den Kindern eine merkwürdige Geduld, und sie und ihr Mann scheinen sich ganz gut zusammen zu verstehen, was mir unbegreiflich ist. Du glaubst nicht, was er für Prätensionen an sie macht! »Liebe Frau, könntest du nicht heute selbst auf dem Acker nachsehen und einen Versuch mit der neuen Maisgattung machen?« und: »Marie, nicht wahr, du bist so gut und siegelst und überschreibst mir die drei Päckchen oben an die Pfarrämter Schneckental und Ladenburg und eins ans Konsistorium? Aber verwechsle sie nicht und besorge sie alle noch vor zehn Uhr! Minchens Aufsatz solltest du noch lesen, und halt! sieh mal, die Gartenmauer vor dem Haus sieht so kahl aus, sorge doch für Gefäße zu Topfpflanzen, aber von hübschen etrurischen Formen, nur ganz wohlfeile von gewöhnlichem Ton ...« – »Ja, Schatz, solche hat der Töpfer nicht.« – »Ach was, er muß schon haben, aber was ich will, findet allemal Schwierigkeiten.« Wenn ich dann denke, Marie sei ganz außer sich über solch unsinnige Zumutungen, so lacht sie nur und sagt: »Nur gemach, verehrte Regierung, die getreuen Stände haben auch eine Stimme!« Ich weiß nicht, was er für Vorstellungen von den Fähigkeiten einer Frau haben muß; nein, in Ewigkeit nehme ich keinen Mann!

Er hält freilich viel auf Marie und nimmt vorweg an, daß sie alles verstehe und alles aufs beste mache: aber das ist ein kostbares Zutrauen, wenn man einem aufladet, was für drei zu schwer wäre!

[256] Du sagtest wohl, ich solle mich in mein Stübchen setzen oder in den Garten, wenn die Unruhe im Hause so groß sei; aber weißt Du, Mütterchen, da habe ich denn doch ein böses Gewissen dabei, wenn ich sehe, wie viel Marie tut und wie man dem Minchen ein gutes Beispiel geben soll. Das gerade ist das Fatale bei so einem Getreibe, daß sich kein Mensch ruhig seines Lebens freuen kann.

Es ist mir schon leid, daß ich nur so lange bei dem Brief an Dich sitze, ich meine jetzt gleich, ich sollte mich des kleinen Nathanaels annehmen, der im Gärtchen unten allein auf dem Boden herumkrabbelt, während Marie die Waschkiste des Seminaristen auspackt. Lebe wohl für heute, liebe Mutter; schreib mir auch, wie Dir's im Bade geht! Sie haben mir alle Grüße an Dich aufgetragen. Von Herzen

Deine gehorsame Tochter Elisabeth.

2

Ich muß gleich wieder schreiben, daß Du nicht der armen Marie und ihrem Mann Unrecht tust.

So schlimm, wie Du meinst, ist es wahrhaftig nicht hier; weißt Du, ich bin eben verwöhnt von unserm gemütlichen, angenehmen Leben daheim.

Es ist oft wirklich auch nett, wenn man einmal die Kinder im Frieden beisammen hat und das Völklein so fröhlich um den Tisch sitzt, wenn man nicht gerade zanken darf: »Pauline, wie issest du so garstig! Fränzchen, verschütte nicht immer Wasser! Heinrich, bleib sitzen!« Auch die gemeinsamen Spaziergänge sind hübsch, nur geht meist eins der Kinder verloren, oder patscht eins ins Wasser, oder werfen sie das Wägelchen mit Nathanael um; sonst aber sind sie vergnügt. Der Schwager ist gewiß ein braver Mann, und ich sehe wohl, daß ihn Marie von Herzen lieb hat und er sie; nur meine ich, er sollte viel mehr erkennen, was er an ihr hat, er nimmt es nur so hin. Marie lacht, wenn ich das zu ihr sage, und meint, ob ich verlangen[257] wollte, daß mein Mann alle Tage und Stunden bewundernde und anerkennende Reden an mich hielte. – Nun, das ist wohl wahr; ich kann mir aber überhaupt nicht vorstellen, wie's wäre, wenn ich einen Mann hätte; es müßte doch noch ein ganz andrer sein als der Marie ihrer, wenn ich mich entschließen sollte!

Mit den Kindern steht sie ganz nett; freilich gibt's aber auch Schwierigkeiten, an die eine rechte Mutter nicht denkt. Der Seminarist ist, glaube ich, das beste von allen; wenn der gute Mensch nicht den Fehler hätte, daß er seine Waschkiste jedesmal zur Unzeit schickte und beständig das Unglück gehabt hätte, daß ihm seine Lampe umgefallen ist und Ölflecke auf Bücher, Betten und Kleider gemacht hat, ich glaube, Marie hätte gar nichts an ihm auszusetzen. Er verehrt seine Mutter sehr und erstreckt seine Verehrung auch auf mich; seiner letzten unglückseligen Waschsendung hat er ein Sträußchen mit Genzianen und allerlei seltenen Waldblümchen für mich beigelegt. Mit dem Minchen ist's schwieriger, die ist jetzt vierzehn und fühlt sich; da will sie bald ein neues Kleid, das der Vater unnötig findet; bald wird sie zu einer Tanzpartie eingeladen, was der Vater nicht zugibt, und Marie soll dann der Popanz sein und alles abschlagen und verbieten. Es freut mich, daß sie darüber doch ein Wort mit ihrem Mann gesprochen hat, dessen Aussprüche sie sonst verehrt, als ob er ihr Papst wäre. »Liebes Herz,« sagte sie freundlich, »du mußt mir die Liebe der Kinder gewinnen und erhalten helfen; du mußt hie und da den Ernst und die Strenge über dich nehmen und mir erlauben, zu gewähren und zu mildern. Stiefmütterchen sind ein Gartengewächs und brauchen Pflege, wenn sie gut anwachsen sollen,« setzte sie wehmütig lächelnd hinzu.

Als sie den Kleinen gestern zu Bett legte, fing er plötzlich an zu weinen: »Ist's wahr, Mutter, daß du nicht unsre rechte Mutter bist, nur eine Stiefmutter? Und Stiefmütter sind doch bös.« – »Wer sagt dir das?« – »Pauline.« Die Pauline, die ich immer am wenigsten von den Kindern mag, sah flammrot aus wie das böse Gewissen. Ich war so bös über sie, es [258] war natürlich, daß man bisher das Kind noch nicht mit dem Begriff von zwei Müttern verwirrt hatte; was brauchte sie es zu sagen! »Gelt, Mutter, es ist nicht wahr?« fragte das Kind ängstlich. – »Du hast noch eine Mutter im Himmel, lieber Nathanael,« sagte Marie liebevoll. – »Ich brauche keine Mutter im Himmel, ich will dich!« rief das Kind fast heftig. – »Deine Mutter hat dich sehr lieb gehabt«, fuhr Marie fort, »und hat geweint, daß sie dich und die Geschwister allein lassen mußte. Wie sie nun im Himmel war, beim lieben Gott, hat sie ihn gebeten, er solle ihren Kindern wieder eine treue, gute Mutter schicken, die sie hütet und für sie sorgt. Da hat mich der liebe Gott zu euch geschickt; wollt ihr mich lieb haben?« – Der Kleine antwortete mit Küssen; Fränzchen aber fragte bedenklich: »Wenn wir dann alle einmal in den Himmel kommen zu der rechten Mutter, wo tut man dich dann hin?« – »Dann sind wir alle daheim,« sagte Marie, indem sie das Kind zu sich zog, »in dem schönen Paradiesgarten, und eure selige Mutter und ich sind beisammen und haben einander lieb wie Schwestern; dann erzähle ich ihr, wie ihr gut gewesen seid und wie ihr mich lieb gehabt habt!« Die andern Kinder waren im Zimmer, und ich sah wohl, wie ihre Herzen auch weich geworden waren von der Mutter Worten, nur die Pauline sah noch stöckisch aus; Marie sagte nichts zu ihr, aber später, als sie zu Bett waren, ging sie leise zu ihr hinauf und blieb lange oben. Was sie mit ihr gesprochen, weiß ich nicht, aber seitdem ist das Mädchen viel freundlicher und williger. Ich meinte, durch so viel Entgegenkommen vergebe sich Marie den Respekt gegen die Stiefkinder; aber sie sagte: »Laß mich nur, Liebe! Ein Pfropfreis muß sorgsamer gehütet werden, bis es angewachsen ist, als der natürliche Zweig.« Sie mag recht haben, aber ich muß sagen, mir käme es sauer an, noch um Liebe zu betteln, wenn ich solche Opfer gebracht! Wie ich denn immer ein unbesonnenes Ding bin, so habe ich auch Marie Deinen letzten Brief lesen lassen, worin Du mich so bedauerst wegen all der Unruhe. Ich gestand ihr natürlich, daß ich in meinem Brief an Dich ihr Schicksal beklagt habe; sie wurde[259] aber nicht böse, sie küßte mich und sagte lachend: »Tröste dich, Elisabethchen, mein Los ist nicht so schlimm.« – »Aber sage mir, Marie, bist du wirklich glücklich, im Ernst so recht glücklich?« – »Liebes Herz,« sagte sie, »ich habe in Wahrheit kaum Zeit, mich nur darüber zu besinnen; aber ich glaube, ich bin an dem rechten Platz, für den Gott mich bestimmt hat, und das zu wissen, ist schon viel.« Sie sah mir wohl an, daß mir das wie ein mageres Glück vorkam, und sagte recht herzlich: »Glaube mir, Elisabeth, das glücklichste Los ist das, das uns lehrt, am meisten und unmittelbarsten in Gottes Augen zu schauen, und das ist das meine. Dann weißt du, daß ich einen Gatten habe, der mich liebt und mir vertraut und den ich achten und lieben kann von Herzen – gräme dich ja nicht um mich, liebes Herz Wenn dir ein poesiereicheres Los fällt als das meine, so wünsche ich dir von Herzen, daß es dabei auf so sicherem Grunde ruhe.« – »Mutter, ein neues Heft!« »Mutter, die Spinnfrau ist draußen!« »Frau Speziälin, welches Salatland soll geleert werden?« tönte schon wieder ein dreistimmiger Ruf von außen – das war die erste ruhige Unterredung, die ich mit Marie hatte, seit ich hier bin.

Also schreibe nichts Bedauerndes mehr, liebe Mutter! Ich freue mich, daß Du Dich gut unterhältst, aber ich freue mich noch mehr, bis ich Dich abholen darf, obgleich ich gewiß gern hier bin und viel bei der Marie lernen kann. Lebe wohl und vergnügt und vergiß nicht

Deine verwöhnte Elisabeth.

3

Diesmal, Mütterchen, komme ich nur auf einen Sprung zu Dir; Marie bittet mich, Dir die süßen Brötchen zu einem Abendbrot ins Bad zu schicken. Es ist mir rührend, wie die Marie an alles denkt und zu allem noch Zeit findet. Wenn ich zu Dir komme, müssen wir für all die Kinder etwas Hübsches kaufen. Ich wäre immer lieber hier, wenn man nur auch einmal [260] in Ruhe bleiben könnte; aber das ärgert mich, daß ich bei jedem Vergnügen, das ich mir gönne, dann doch ein böses Gewissen habe, da sich Marie so abmüht. Wenn sie nur zwei Mägde hielte oder eine Hausjungfer, so könnte man doch seines Lebens auch froh werden! Da hat sie nun neben der Köchin nur so ein junges, verwahrlostes Waisenkind, von dem man mehr Mühe als Hilfe hat; Marie ist aber jederzeit ruhig und zufrieden.

Nun kommt wieder eine neue Geschäftsvermehrung: der kranke Baron von Ellershausen, weißt du, der Zögling des Dekans, hat sich als Gast angemeldet. Er soll wieder eine Luftveränderung versuchen und sich erheitern, da diesen Frühling seine Mutter gestorben ist. Man richtet ihm im Gartenhaus eine Wohnung ein. Er bringt freilich seinen Bedienten mit; aber man muß ihn unterhalten, zerstreuen, ihm vorlesen, und das, meinte Marie, könnte ich hie und da tun, bis Ernst in die Ferien kommt. Ich will ihr's gern zuliebe tun, aber langweilig finde ich's doch, wenn ein so junger Mann gar nichts als krank ist – es sei ein Herzleiden, sagen sie.

Mich wundert, daß er nicht lieber in ein Bad geht, wo er alles bequemer fände und weniger Mühe machte; doch ist er, soviel ich weiß, nicht sehr reich und wird sich auch einsam fühlen unter Fremden. Ich will mich gern seiner annehmen, soviel ich kann, nur das täte mir leid, wenn man in einem fort betrübt sein müßte; ich habe ja auch die selige Frau Baronin gar nicht gekannt.

Du bist gut, liebe Mutter, daß Du mich jetzt schon zu Dir nach Baden berufen willst, und ich würde mich sehr freuen; aber ich kann's doch fast nicht übers Herz bringen, Marie gerade jetzt zu verlassen, wo es besonders viel zu tun gibt. Sollte ich freilich gute Reisegelegenheit finden, so stehe ich nicht dafür, ob ich nicht doch komme, aber hier geht niemand in Bäder; hier fragt man sich nur: Baden Sie im Neckar oder im Zuber?

Nun adieu für heute, lieb Mütterlein!


Die junge Elisabeth tat wirklich ihr Bestes, nicht zu sehr hinter der emsigen Schwester zurückzubleiben; aber doch kam [261] ihr hie und da der Aufenthalt in dem geschäftigen Hause wie eine Art Verbannung vor, und sie dachte mit geduldiger Sehnsucht an die Herrlichkeiten Badens, an ihr heiteres, genußreiches Leben in der Residenz.

Bei Marie erreichten die Geschäfte den Höhepunkt, als die Vorbereitungen für den längeren Aufenthalt des Barons getroffen wurden: Handwerksleute aller Art gingen ab und zu; die Zimmer alle sollten in ansehnlichen Stand gesetzt und die Kinder hübsch gekleidet werden; der Dekan kam nur hie und da aus seinem Studierzimmer, um zu Elisabeths großer Empörung neue Anordnungen zu treffen und an dem Geschehenen Ausstellungen zu machen; Marie besorgte alles nach bestem Wissen in guter Laune und ließ sich den Tadel nicht zu schwer kümmern. Elisabeth griff gutwillig allenthalben an, aber das Wetter war eben wunderschön, es kamen Aufforderungen zu Landpartien von befreundeten Familien des Städtchens, die sie oft schweren Herzens abschlug; es war denn doch verdrießlich, gerade jetzt ins häusliche Joch gespannt zu sein.

Im Hause war große Bewegung, als endlich der Wagen des Barons anfuhr und der Bediente dem bleichen jungen Mann sorgfältig heraushalf. Lehrer und Zögling begrüßten sich mit einer Innigkeit, die Elisabeth erst Respekt vor dem Schwager einflößte; auch Marie grüßte der Baron herzlich mit der Bitte: »Wollen Sie meine Freundin sein? Ich habe keine Mutter mehr.« Er bat, gleich in den Garten gehen zu dürfen. »Der Herr Baron können im Augenblick keine Treppe steigen,« versicherte der Bediente, »Sie haben kürzlich einen neuen Anfall gehabt.« Elisabeths Augen hingen mit innigem Mitleid an dem Kranken, doch seufzte sie in der Stille: »Mein Gott, welch ein trauriger Gast!« Marie schien in dem Augenblick keine Pflicht mehr zu haben als die der mütterlichen Fürsorge für ihren reisemüden Pflegling, und bald war er zu behaglicher Ruhe im Gartenhaus eingerichtet.

Der Baron war durch den Tod seiner Mutter besonders geschwächt und bedurfte der äußersten Ruhe; so führte er denn seinen eigenen kleinen Haushalt im Gartenhaus, ohne zu [262] ahnen, wie sehr das die Mühen der Hausfrau vermehre; nur ein oder zwei Mitglieder der Familie lud er abwechselnd sich zu Gaste. Für die Kinder war der vornehme Herr, mit dessen Erwartung sie sich schon wochenlang zuvor in der Schule gerühmt hatten, von unendlicher Wichtigkeit, selbst unabhängig von den niedlichen Geschenken, die er ihnen mitgebracht hatte. Vom frühen Morgen an schlichen sie um das Gartenhaus und freuten sich, ihn zu sehen oder einen Gruß von ihm zu erhalten, und erzählten sich dann, was er mit ihnen gesprochen. Wer vollends mit dem Baron speisen durfte, wo es immer einige Extrabissen gab, war der Glückliche und Beneidete. In einem unruhigen, betriebsamen Hause ist es wohltätig, wenn ein fester Ruhepunkt da ist, um den sich die andern zuzeiten sammeln können: eine behagliche Großmama, ein Großvater im Lehnstuhl; ein Krankenbett selbst, wenn es nicht zu leidensvoll ist, kann zu einem solchen Ruhepunkt werden. So brachte auch die Anwesenheit des Barons, nachdem er einmal im Gartenhause [263] eingerichtet war, müde und krank wie er war, doch ein wohltuendes Element, einen Hauch von Ruhe und Poesie in das Alltagsleben des kinderreichen Dekanatshauses. Er hatte nicht umsonst die schwere, lange Schule des Leidens durchgemacht; er war selten ungeduldig und hatte gelernt, seine peinliche Reizbarkeit zu unterdrücken, dankbar für jede freundliche Aufmerksamkeit, die man ihm widmete; seine Schwäche hatte nichts Weichliches, seine Sanftmut nichts Weibisches, sein tiefer Blick zeigte, daß in dem kranken Körper die Seele gesund und lebensvoll geblieben war.

Er fühlte sich bald daheim in der bürgerlichen Umgebung bei der unbedingten Liebe und Verehrung, die er für seine Wirte hatte, und wenn er abends auf der Terrasse saß, von blühenden Rosenhecken umgeben, freute er sich herzlich, wenn sich die muntre Jugend im Garten tummelte. Elisabeth hatte meist das Amt der Vorleserin, überhaupt entfaltete sie alle Liebenswürdigkeit ihres Wesens in der freundlichen Bemühung um den Kranken. »Weißt du, Marie,« meinte sie, »so ein Kranker ist nicht wie sonst ein junger Mann; man fühlt sich so gar nicht geniert, das finde ich angenehm.« Ob der Baron sie ebenso ungefährlich fand wie sie ihn, ob er immer auf das hörte, was sie las, ließ sich wohl nicht bestimmen, so klar und wohlklingend auch die Stimme der schönen Vorleserin war; er saß oft so tief in ihren Anblick versunken, sein Blick sog ihre junge Schönheit ein wie eine schwache Pflanze das Sonnenlicht. Aber es lag kein glühendes Verlangen, nur ein inniges, wehmutsvolles Entsagen darin; obwohl noch jung, fühlte er sich doch so außerhalb des frischen hellen Lebens, dem diese süße Knospe erst entgegenblühte, daß sein Ton im Verkehr mit ihr fast der eines älteren Bruders war.

Elisabeth fühlte sich auch mehr befriedigt von der Häuslichkeit der Schwester und lernte den Schwager lieber gewinnen und besser verstehen im Umgang mit dem Baron, und nur selten noch seufzte sie bei sich, daß dies Leben eigentlich doch schrecklich einförmig sei. Der reichgebildete Geist und die tief poetische Seele des Barons, der hohe Ernst, mit dem er den[264] wahren Grund des Lebens erfaßte, regten ganz neue Saiten in ihr an; denn so sehr gebildet auch die Kreise der Hauptstadt waren, in denen sie sich bewegte, die musikalischen Abende, die Lesekränzchen, die französischen Zirkel und Gesellschaftsspiele, – im ganzen war es doch leichte Münze, die da umlief, und alles Nachdenken über sich selbst, über die ernste und tiefe Bedeutung des Lebens wurde dabei mehr eingeschläfert als aufgeweckt. Im Verkehr mit einem Geiste, der Auge in Auge mit dem Tode sich entfaltet hatte, mußte sich freilich die Anschauung des Lebens anders gestalten, und die Mutter bemerkte mit einiger Sorge den nachdenklichen Ton in Elisabeths letzten Briefen. »Du weißt, Kind, wieviel ich auf Religion halte,« schrieb sie ihr, »aber das viele Reden davon oder gar ein übertrieben ernstes Wesen, wie es sich in Deinem letzten Brief ausspricht, habe ich nie gemocht; freuet euch mit den Fröhlichen, steht in der Bibel. Darum wird es Zeit sein, daß Du nun hieher kommst, ich bleibe ohnehin nicht lange mehr und vermisse Dich sehr, da meine Gefährtin, die Frau Hofrätin, heute schon abreist; auf Gelegenheit [265] kannst Du nicht mehr warten, reise nur von der nächsten Station aus mit dem Eilwagen.«


Es ging einmal wieder sehr werktäglich im Dekanathause zu – Marie hatte große Wäsche, und der Baron, der das wußte, hatte sich die zwei Kleinsten zur Gesellschaft auserbeten, um niemand von den brauchbaren Mitgliedern des Hauses in Anspruch zu nehmen. Elisabeth hatte das Küchenamt und befand sich eben in einigem Gedränge zwischen dem überkochenden Fleischtopf und der heißen Butter, als die Kinder mit schmetterndem Geschrei ankündigten: eine Chaise, eine Chaise! Frau Marie trat aus der Waschküche mit lobenswerter Seelengröße dem eleganten Wagen entgegen, aus dem sich ein ebenso eleganter Herr und eine noch elegantere Dame erhoben, während ein zierliches Kammerfräulein vom Bock hüpfte; sie wurde noch gefaßter, als sie in ersterem Vetter Gérard, den Kaufmann aus Antwerpen, erkannte. »Der bringt eine alte Braut!« war ihr erster Gedanke beim Blick unter den feinen Spitzenhut der Dame; es war aber gar keine Braut, sondern Madame Buisson, die Frau seines Associé, die er, da er ohnehin auf Reisen war, nach Baden begleiten sollte, wo sie einige Zeit zu verweilen gedachte.

Er hatte einen kleinen Umweg nicht gescheut, um den Vetter in seinem neuen Eheglück zu begrüßen, und fühlte sich mehr als belohnt, als er seine schöne Tischnachbarin von der Hochzeit hier wieder fand, die in anmutiger Verlegenheit in dem Hauskleidchen, das ihrer jungen Schönheit wenig Eintrag tat, unter der Küchentüre stand. Auch Elisabeth errötete freudig und ließ in der Überraschung das Fleisch überkochen und die Butter verbrennen. Die erste entschiedene Aufmerksamkeit, die ein junges Mädchen von einem Manne erfahren, wird selten von ihr vergessen.

Mit der Geistesgegenwart einer echten Frau hatte Marie indes die Gäste ins Zimmer geführt und für Erfrischungen gesorgt. Den weiteren Hausfrauensorgen bei einem so plötzlichen Überfall war der praktische Vetter zuvorgekommen, indem er, [266] gleich einem wohltätigen Hausgeist, allerlei Delikatessen: Pasteten, kaltes Geflügel und Konfekt, aus seinen Wagentaschen herbeizauberte, die der einfachen Familientafel aufs glänzendste aufhalfen.

Auf Elisabeth war nicht viel zu rechnen, sie mußte doch Toilette machen, das sah die Schwester selbst ein, und in dem himmelblauen Musselinkleid, das ihr freilich am besten stand, konnte sie in der Küche nicht mehr verwendet werden; Minchen dagegen, die sonst oft auf die junge Tante eifersüchtig war, fühlte sich geschmeichelt von ihrer eignen Brauchbarkeit und tat ihr Bestes, während Elisabeth sich, bis der Herr des Hauses kam, der Unterhaltung der Gäste widmete, was ja auch eine nützliche Leistung war und keine zu schwere, da diese, zumal die Dame, die Kosten derselben allein trugen. Madame Buisson, die Reisegefährtin Herrn Gérards, fand die Freude und das Interesse sehr natürlich, mit dem dieser eine so schöne Bekanntschaft erneuerte; mit aller Lebhaftigkeit ihres beweglichen Wesens beschloß sie alsbald, das liebliche Kind zu beschützen, und war in kurzer Zeit auf dem vertrautesten Fuße mit ihr. Bald erfuhr sie, daß eben jetzt Elisabeths Mutter in Baden sei. »Das ist ja allerliebst, liebes Fräulein, da gehen Sie morgen mit uns, sie zu besuchen.« – »Die Mutter wünscht das selbst,« sagte Elisabeth etwas verlegen, da ihr die Reisegelegenheit nun doch zu schnell kam, »aber ich kann gerade jetzt meine Schwester nicht verlassen.« – »O Kind, Sie sind gar zu gewissenhaft! Wo würden Sie wieder so gute Gelegenheit finden? Das sieht Ihre Schwester selbst ein.« – »Und dann – ich könnte noch gar nicht all meine Sachen richten.« – »Das glaube ich gern,« rief die muntre Französin, »in Baden sind die Ansprüche fabelhaft; aber eine Gestalt und ein Gesicht wie das Ihrige, mein Fräulein, das dispensiert von vielem. Ich kann Ihnen so leicht mit allem aushelfen; mein guter Mann hat mich mit einem lächerlichen Überfluß von Toiletteartikeln auf die Reise versehen, der mir wahrhaft lästig wurde, und manches darunter, das entschieden zu jugendlich für mich ist. Ce cher Henri! er möchte mich immer jünger machen und versteht nicht, daß [267] das nicht mit Rosabändern und hellen Sommerstoffen zu erreichen ist, sondern daß eben dunklere oder mattere Farben den Teint später mehr heben; aber der klügste Mann bleibt immer un peu bête, das werden Sie auch noch erfahren, liebes Kind. Was nun von dem Kram für eine so junge Schönheit taugt, da tun Sie mir den Liebesdienst, mich davon zu befreien! Kommen Sie einmal, [268] lassen Sie uns Ihre Garderobe ein wenig mustern! Ich lasse dann auch meine Koffer und Schachteln in Ihr Zimmerchen bringen, wir werden schon miteinander zustande kommen!« Die lebhafte Dame, die nun ganz in ihrem Element war, nahm Elisabeth, die kaum wußte, wie ihr geschah, am Arm und hüpfte mit ihr die Treppe hinauf. Gérard war hoch erfreut durch die unverhoffte Aussicht auf die reizende Reisegefährtin und ergab sich gern darein, daß sie vorderhand von Madame Buisson so ganz in Beschlag genommen war.

Um seiner Frau die drangvolle Viertelstunde der letzten Vorbereitungen zum Mittagsmahl zu erleichtern, führte der Dekan den Vetter in den Garten und stellte ihn dem Baron vor. So artig ihre gegenseitige Begrüßung war, so lebhaft die Unterhaltung namentlich von seiten des weltgewandten Kaufmanns geführt wurde, so war doch eine gewisse Zurückhaltung, ein leises Unbehagen von seiten des Barons fühlbar; er war lange geübt in der Schule der Entsagung und hatte gelernt, ohne Bitterkeit und Klage auf die Jungen und Fröhlichen zu sehen, – aber ein junger Mann seines Alters, strotzend vor Gesundheit und Lebensfülle inmitten voller rüstiger Tätigkeit, erregte ihm immer ein peinliches Gefühl; er empfand da seine eigene Untätigkeit als einen Vorwurf, und Gérard, in unbewußtem Gefühl der Überlegenheit dem kränklichen Manne im Lehnstuhl gegenüber, hatte nicht Feinheit genug, ihm darüber wegzuhelfen. »Du weißt, daß wir auf dem Wege nach Baden sind«, sagte er beiläufig zum Dekan, »und daß wir Fräulein Elisabeth entführen.« – »Das trifft sich ja ganz geschickt, da die Reise von hier aus umständlich ist und ihre Mutter sie lange schon dort zu haben wünscht,« sagte dieser; er bemerkte nicht, wie die bleiche Wange des Barons noch bleicher wurde und sein Blick sich traurig senkte – wieder ein Sonnenstrahl weniger in seinem freudearmen Leben!

Marie, die sich überall gern Zeit zum Überlegen nahm, kam der Plan zu Elisabeths morgender Abreise gar zu plötzlich und die Freundschaft der Madame Buisson für eine zweistündige Bekanntschaft gar zu vertraut vor; aber sie wurde überstimmt, [269] da die Gelegenheit so günstig war, und mußte sich fügen.

Madame Buisson war sehr glücklich in ihrer großmütigen Sorge für Elisabeths Garderobe, die, obgleich sie aus der Residenz kam und die Mutter nicht daran gespart hatte, doch für Baden nicht zulänglich gefunden wurde. Ihr Kammermädchen mußte in aller Eile noch arrangieren und verändern, und sie putzte den schnell gewonnenen Liebling so schön und eifrig heraus wie ein Kind seine Weihnachtspuppe. Elisabeth war es wie ein Traum; sie kam sich vor wie Aschenbrödel im Feenmärchen, daneben war ihr unheimlich, daß das fremde Mädchen so unter ihren Sachen wirtschaftete, und sie glaubte durch doppelte Dienstfertigkeit Marie vergüten zu müssen, daß sie sie so schnell verließ.

Marie, obgleich ihr nur halb wohl bei dem raschen Entschluß und bei dem rastlosen Treiben der neuen Freundin war, beruhigte und tröstete sie. »Nun sei nur noch ganz in Ruhe bei uns,« bat sie, »wir wollen den Tee auf der Terrasse bei dem Baron trinken.«

Der Abend war kühl und angenehm. Die Kinder, die in der grünen Laube ihre Seitentafel hatten, schielten verstohlen nach dem Teetisch, der heute besonders reich besetzt war; Minchen bediente bei den Erwachsenen. Der Baron war schweigsam, und sein Schweigen bedrückte auch die sonst so heitere Elisabeth, die, ohne sich zu überschätzen, mit dem Irrtum der Jugend sich da für unentbehrlich hielt, wo sie einmal ein Plätzchen ausgefüllt hatte, und daher ihr Weggehen fast als eine Schuld empfand. Desto lebhafter führten die neuen Gäste die Unterhaltung: Gérard war überall gewesen, hatte alles gesehen; die Jungfrau war »superbe«, der Kölner Dom »in der Tat interessant«, die Terrasse von Konstantinopel »magnifique«; viel gründlichere Kunde als von den Gegenden bekam man aber durch ihn von den Gasthöfen, und er wurde am ergötzlichsten, als er auf die Drangsale schlechter Wirtshäuser zu sprechen kam. Der Baron wurde immer stiller, Madame Buisson hatte vergeblich ihre ganze Unterhaltungsgabe an ihn [270] verschwendet und wandte sich endlich mitleidig zum Dekan mit der leisen Frage: »Nicht wahr, er ist auch geistesschwach, der arme Mann?« was dieser lächelnd verneinte.

Es wurde kühl, der Bediente des Barons trat hinter seinen Stuhl, um ihn zum Aufbruch zu mahnen. »Singen Sie uns noch etwas!« bat er Elisabeth, aus seiner Apathie erwachend, »ich habe die Gitarre hier.« Er selbst hatte Elisabeth auf dem nun bald veralteten Instrument Unterricht gegeben. Elisabeth nahm sie, ohne sich lange bitten zu lassen; es schien, ihre Gedanken waren mehr bei den seinen als bei der Unterhaltung des Vetters gewesen, denn sie stimmte sein Lieblingslied an:


»Es ist bestimmt in Gottes Rat,
Daß man vom Liebsten, was man hat,
Muß scheiden.
Wiewohl im ganzen Lauf der Welt
Dem Herzen nichts so sauer fällt
Als Scheiden – ja Scheiden.«

Sie hörten alle in tiefer Stille der schönen, klaren Stimme zu, wie sie in dem dunkelnden Abendhimmel verklang, und erhoben sich, um ins Haus zu gehen.

»Ich sehe Sie nicht mehr,« sagte der Baron zu Elisabeth, »Sie werden früh reisen; leben Sie wohl, ich wünsche Ihnen recht fröhliche Zeit zum Ersatz für die trübseligen Stunden, die Sie einem Kranken erheitert haben, Gott geleite Sie!« – »Ein seltsamer Wunsch in ein Bad,« flüsterte die Französin mit unbewußter Ironie, indem sie Elisabeths Arm nahm, die nur wenig Abschiedsworte mit beklommener Stimme sagen konnte.

Der Baron sah der hellen, leichten Gestalt nach, bis sie im Hause verschwand, dann wandte er sich langsam zum Gehen und sagte leise, leise vor sich hin:


»Ich mußte von dir scheiden
Und wußt', ich stürbe doch bald;
Du warst der scheidende Sommer,
Ich war der sterbende Wald.«

[271] Am frühen Morgen fuhr der Wagen Gérards vor. Elisabeth erschien in der zierlichen Reisetoilette, der die Hand der jungen Pariserin jenen letzten Hauch von leichter Eleganz gegeben hatte, der das unerreichbare Talent der westlichen Nachbarn ist, um deswillen wir Frankreich gern den Ruhm zugestehen müssen, die Kammerzofe von ganz Europa zu sein. Marie hatte immer noch an ihr zu beruhigen. »Ach ja,« lächelte Elisabeth unter Thränen, »ich weiß wohl, es ist einfältig von mir, zu denken, ich sei euch nötig geworden. Du wirst mich nicht lange vermissen; oh, ich hatte wohl recht, Marie, den Abschied von dir an deiner Hochzeit so schwer zu nehmen, es war ein Scheiden auf immer. Du gehörst nicht mehr mir! Es ist doch nichts mehr mit den Frauen!« – »Das Herz wird immer weiter, je mehr es Kammern vermietet,« sagte Marie heiter, ihr die Tränen von den Augen küssend; »liebes Kind, du wirst auch einmal so von mir scheiden, und deine Abschiedstränen werden trocknen in einem einzigen strahlenden Blick; aber wenn der Herzenskönig sein Reich eingenommen hat, dürfen all die alten Freunde auch wieder einziehen und fröhlich daneben wohnen.«

Madame Buisson und der Vetter traten ein und mahnten zum Gehen. Elisabeth wurde fast nicht fertig mit Abschiednehmen von den Kindern, sie versprach jedem etwas recht Schönes von Baden zu bringen; auch von dem Schwager, mit dem sie sich in letzter Zeit erst recht befreundet hatte, schied sie herzlich. Marie, über deren Gleichgültigkeit sie geklagt hatte, küßte sie schweigend, um nicht weinen zu müssen; sie war eine glückliche Frau und eine gute Mutter, aber ein Stück Frühling und Sonnenschein schied ihr doch wieder mit der blühenden Schwester.

Die Läden am Gartenhaus waren noch fest geschlossen, als der leichte Wagen vorüberrollte; Elisabeth blickte wehmütig hinauf, ohne das Witzwort zu hören, das Madame Buisson Herrn Gérard zuflüsterte über die junge soeur grise. Aber es ging hinaus in die weite, freie, bunte Welt, im goldnen Sonnenschein zwischen grünen Bäumen; all der fröhliche, sorglose[272] Reiseleichtsinn, der sogar oft kühle, nüchterne Naturen ergreift, kam über sie, und sie gab sich dem ganzen süßen Gefühle jungen, frischen Lebens hin.

Der Dekan und seine Familie waren derweil von der Begleitung ins Haus zurückgekehrt, in der etwas öden, langweiligen Stimmung, die nach jeder Abreise die Zurückbleibenden beschleicht. »Das hat sich ja ganz prächtig gefügt,« meinte der Dekan, »die Frau Mama wird erfreut sein, die schon lange fürchtete, ihr Töchterlein gehe bei uns zugrunde in häuslicher Drangsal!« – »Ich weiß nicht recht,« meinte Marie bedenklich, »es gefällt mir nicht so ganz, das junge Mädchen mit dem jungen Mann ...« – »Nun, die Jugend schadet dem Vetter Georg nichts mehr, er muß vorn in die Dreißig sein; auch ist ja die Frau Associé nebst Kammerjungfer als Ehrenwache da, [273] und dann – wäre es auch kein Unglück, wenn aus dem Reisegefährten ein Associé für unsre Elisabeth würde; gestehe nur, das hast du auch schon gedacht!« – »Gedacht vielleicht, aber nicht gewünscht,« sagte Marie; »ich weiß nicht, ob es gut wäre für Elisabeth.« – »Je nun, Georg ist ein guter Bursche, ziemlich solid, wie ich glaube; die Frau Mama würde sich nimmer kennen vor Freude, und Elisabeth gäbe eine prächtige Dame in so glänzenden Verhältnissen; war ihr's doch oft viel zu werktäglich bei uns, da könnte sie immer Sonntag haben!« – »Vielleicht nie,« sagte Marie ernst; »glaubst du nicht, daß wir mehr Sonntag haben, und wäre unsre Arbeit doppelt so viel als ein solches Leben voll äußerlichen Glanzes?« – »Du hast recht,« sagte der Dekan, dem sich, wie das auch ernsten und guten Menschen zu gehen pflegt, die tiefere Ansicht der Dinge unter der Oberfläche versteckt hatte, und gab der sanften Mahnerin die Hand. »Dem Baron wird's fehlen um seine Vorleserin und Sängerin,« fing er wieder an. – »Seinetwegen ist mir Elisabeths Abreise eigentlich lieb,« sagte Marie; »der Verkehr hätte am Ende doch gefährlich werden können.« – »Oh, wohin denkst du?« sagte lachend der Dekan, »ein Siecher wie er! So einfältig ist der Baron selbst nicht, der arme Mann, dem von der Wiege auf der Sarg neben dem Bette stand; und vollends Elisabeth, ein so junges, schönes, lebenslustiges Geschöpf!«

»Mitleid ist ein gefährliches Ding,« meinte Marie. – »Nicht wahr,« lächelte der Dekan, »sonst hättest du mich auch nicht genommen?« – »Die Ehre ist meinerseits,« scherzte Marie; »hast du mir nicht neulich aus der Bevölkerungsliste nachgewiesen, daß allein in unserm kleinen Vaterland zehntausend unverheiratete Frauen übrig bleiben?« – »Dreizehntau sendachthundertundneunundvierzig sogar,« berichtigte der Dekan.« – »Da muß ich mich ja noch schön bedanken,« lachte Frau Marie und ging getrosten Mutes wieder an das bewegte Tagewerk, wegen dessen Elisabeth sie so beklagt hatte, um in emsigem Fleiße das Heimweh nach ihrem Sonntagskind zu verarbeiten.


[274] Das Sonntagskind hätte wahrhaftig kein Recht gehabt, der Schwester Kühle und Gleichgültigkeit vorzuwerfen; sie selbst dachte nicht gar zu oft an Marie und ihre sieben Unversorgten, an ihre großen Wäschen und die vielen zerrissenen Strümpfchen, ja nicht einmal sehr oft an den armen Baron, der im stillen um seinen geschiedenen Sommer trauerte; sie lebte inmitten aller Herrlichkeiten Badens, in Konzerten und Bällen, Eselspartien und Picknicks, bewundert und gehätschelt von allen Seiten. »Es ist doch eine schöne Sache um den Reichtum!« dachte die Mama, nicht zum erstenmal in ihrem Leben, als sie sah, wie selbst die Perle der Schönheit in reicher Fassung schöner glänzt. Es war doch ein ganz andres Leben, nun ihnen die elegante Equipage Herrn Gérards zu Gebot stand, in der Gesellschaft der gewandten Dame, die es verstand, überall Bekanntschaften anzuknüpfen, als zuvor, wo sie und die Frau Hofrätin miteinander zwei Zimmer bewohnten, sich aus einer Privatmenage speisen ließen und allein auf der Promenade herumspazierten. Das Bad mußte schon recht wohltätig gewirkt haben, denn es war in der Tat merkwürdig, wieviel die Mama an Vergnügungen und Partien aushalten konnte; Elisabeths heitere Laune und blühende Gesundheit waren vollends unverwüstlich, und jeden Abend, wenn die Mutter ernstlich anhub, vom Heimgehen zu reden, bat sie schmeichelnd: »O Mütterchen, noch ein paar Tage! Weißt, morgen ist die Partie aufs alte Schloß, und übermorgen die Fahrt nach Schloß Eberstein; dann kommt auch die Prinzessin, die möchte ich doch gerne noch sehen!«

An Marie hatte sie nur einmal geschrieben. »Es ist zu schön hier, liebe Marie,« hieß es in dem Brief, »und wie ich denn immer wieder ein verwöhntes Kind bin, so geht mir's auch hier wieder viel zu gut. Du glaubst nicht, wie freundlich jedermann gegen mich ist, besonders die gute Madame Buisson; wir müssen auch hier mit ihr zusammen wohnen in sehr schönen Zimmern, und ich glaube, sie bezahlt sie allein. Auch Euer Herr Vetter ist sehr artig; er will durchaus, ich soll ihn Cousin nennen; gestern hatte er bei der Tafel ein Vielliebchen an [275] mich verloren, da schickt er mir diesen Morgen eine allerliebste kleine Zylinderuhr; ich erschrak darüber, und Mutter und ich sind sehr in Verlegenheit, ob wir es annehmen sollen. Madame Buisson sagt, wir dürfen nicht ans Zurückschicken denken, er sei ja unser Vetter, und er kaufe solche Sachen in der Schweiz ganz wohlfeil.

Ich habe unmöglich Zeit, lange zu schreiben, ich soll noch mit ausfahren; wenn wir wieder daheim sind, schreibe ich Dir alles recht ausführlich – es wird mir ein wenig ahnd tun nach all der hiesigen Herrlichkeit; aber ich freue mich auch wieder, bis ich alles meinen Freundinnen erzähle. Wenn Du nur eine Weile statt meiner hier sein könntest, Dir wäre eine Erholung so wohltätig! Empfiehl mich dem Herrn Baron, wenn er noch da ist, und grüße all die Kinder, auch Deinen Mann!«

Elisabeth hatte freilich keine Zeit zum Schreiben, auch nicht zum Lesen; das kleine Testament, aus dem sie vorzeiten mit Marie gelesen, blieb unausgepackt im Koffer; sie hatte auch keine Zeit, zu denken und zu beten, aber sie war nicht bekümmert dabei; sie meinte es ja mit keiner Seele bös, tat niemand was zuleide, und jedermann hatte sie lieb, der liebe Gott nahm ihr's gewiß nicht übel, daß sie so vergnügt war, dachte sie. Freilich fiel ihr zuweilen der arme Baron ein; es waren doch auch schöne Abende gewesen, wo sie ihm gelesen oder vorgesungen hatte; sie wußte, er würde jetzt in der kühlen Jahreszeit auf sein Gut zurückkehren, da Marie nicht Raum hatte, ihn über den Winter zu beherbergen, und dort mußte er wohl sehr allein sein. »Er soll sich dann einen Vorleser halten,« tröstete sie sich, »vielleicht wird auch ein braver Pfarrer da sein, der sich seiner annimmt; der Baron ist ja so gebildet und so fromm, da wird ihm die Einsamkeit nicht zu drückend vorkommen.«

Vetter Georg blieb nicht immer in Baden, er machte ab und zu kleine Geschäftsreisen; immer aber brachte er eine kleine Überraschung, ein neues Vergnügen für Elisabeth mit, und sie amüsierten sich stets vortrefflich miteinander. Schon, daß er ein [276] so aufrichtiger Bewunderer ihrer Schwester war, empfahl ihn bei ihr. »Mein Vetter, der Dekan, hat wirklich mehr Glück als Verstand,« meinte er, »eine so gescheite und gebildete Frau, und so häuslich daneben; in keinem Gasthof habe ich so delikate Krebssuppe gegessen. Aber er ästimiert sie wirklich nicht gehörig: keine Frau von Bildung dürfte so angestrengt sein, sie sollte eine perfekte Köchin, eine Bonne für die Kinder und ein Zimmermädchen haben; aber freilich eine Dekanatsbesoldung! Ich würde, wenn ich mich verheiratete, den Reichtum nur schätzen, weil er mir erlaubte, meiner Frau das Leben so süß als möglich zu machen. Ich wäre nicht einmal an Antwerpen gebunden – wir könnten den Winteraufenthalt in jede beliebige Stadt verlegen; im Frühling schöne Reisen, sommers ein Bad, zum Ausruhen einen hübschen Landsitz, so einen Feengarten nach Ihrer Phantasie, Fräulein Elisabeth!« Elisabeth wurde glühend rot und rief schnell der Madame Buisson, um ihr eine Blume zu zeigen, die am Weg blühte, obgleich sie wissen konnte, daß Madame Buisson keine Blumen bewunderte als gemachte. So gern sie sich mit dem Vetter unterhielt, so bange wurde ihr, wenn er einmal sentimental werden wollte; mehr instinktmäßig als absichtlich vermied sie jede ernstere Annäherung, und als endlich die Mutter auf der Heimkehr bestand und auch der Vetter seine Reise weiter ausdehnen mußte, trennten sie sich, ohne daß es zu einer bestimmten Erklärung von seiner Seite gekommen wäre, die in aller Stille die Mutter erwartet, Elisabeth fast gefürchtet hatte. Daß er sie bewunderte, vielleicht liebte, daran konnte kein Zweifel sein; möglich war aber doch, daß ihn außer Elisabeths Zurückhaltung auch noch eigene Bedenken abhielten, sein Glück und Geld einer Schönheit zu Füßen zu legen, deren materieller Besitz jedenfalls für einen Kaufmann nicht der Rede wert war.

Madame Buisson konnte kaum ertragen, daß der Badeaufenthalt nicht mit einer solennen Verlobung enden sollte; ihre Zärtlichkeit für Elisabeth war sich gleich geblieben, mehr noch um der Bewunderung willen, die ihre Schönheit erregte, als wegen ihrer eigenen kindlichen Liebenswürdigkeit. »Es [277] ist hohe Zeit,« meinte die Mutter wohlgefällig, »daß ich die Kleine heimnehme, sie würde mir verdorben hier;« und sie hatte recht, vielleicht dankte sie es nur dem träumerischen Sinn, dem glücklichen Selbstgenügen der ersten Jugend, die, in eigenen Idealen versunken, achtlos auf ihre Umgebung ist, daß Elisabeth kindlich und unbefangen blieb unter den vielen Huldigungen, die zart und unzart ihrer Schönheit gebracht wurden.


So war denn die Kleine wieder daheim, und trotz ihrer glücklichen Heiterkeit brauchte es eine Weile, bis sie sich an den Übergang zum Werktagsleben aus dem vielbewegten Badeleben gewöhnte. Ohne es zu wollen und zu glauben, war sie denn doch verwöhnt worden; die Verhältnisse schienen ihr jetzt etwas klein, regelmäßige Arbeit langweilig, und doch war eben dieser Herbst und Winter vorher schon zu praktischen Studien und Handarbeiten bestimmt gewesen, die indes über Stickereien, Musik-, Sprach- und Zeichenstunden etwas versäumt worden waren.

Aber die Zumutung, jetzt noch Kleidernähen zu lernen, erschien ihr als reine Unmöglichkeit; mit dem Arbeitskörbchen über die Straße gehen, sich wie ein Kind bestimmte Stunden in eine Nähstube sperren lassen – es ging wahrhaftig nicht! »Siehst du, Mütterchen, mit achtzehn Jahren ist man dazu wirklich zu alt; auch macht sich nicht eines der Mädchen, die Schneidern gelernt, ihre Kleider selbst, und die Schmeckenbächerin wäre ja ganz gekränkt, wenn wir sie nicht mehr nehmen wollten.« – »Nun meinetwegen, du verwöhntes Kind,« meinte die nachsichtige Mutter scherzend, »du mußt eben einmal einen Millionär heiraten, damit du nicht nötig hast, deine Kleider selbst zu machen.«

Die Anspielung der Mutter war unschwer zu erraten, und obwohl sich Elisabeth vor einem Antrag Gérards gefürchtet hatte, obwohl er keine besondere Rolle in ihren Gedanken und Träumen spielte, so gewöhnte sie sich doch allmählich daran, sich ihre Zukunft unter glänzenden, sorglosen Verhältnissen [278] zu denken, und gestattete sich, durch die Schwäche der Mutter begünstigt, manchen Luxus, der über ihre Verhältnisse ging.

Es kam ihr wirklich schon bescheiden vor, daß man zum Herrichten der Wintergarderobe die Schmeckenbächerin ins Haus nahm, da manche ihrer Freundinnen ihre Kleider beim Schneider machen ließen. Frau Schmeckenbächerin, die alte Hausfreundin, war eine sehr gesuchte Schneidermamsell oder vielmehr Madame, zumeist in vornehmen Familien, wo man durch häusliche Beschränkung à tout prix ein anständiges Auftreten nach außen ermöglichen will. Ihre Lebensweise erschien erstaunlich einförmig. Tag für Tag sah man sie frühmorgens mit einer ungeheuren Tasche am Arm, in einen sehr bunten, altmodischen Schal gehüllt, zur Arbeit ausziehen; diese Tasche war eine wahre Arche Noah an mannigfaltigem Inhalt: sie enthielt ihre Muster, eine gewaltige Schere und hölzerne Nadelbüchse nebst eisernem Fingerhut, eine Schürze zum Arbeiten; ein Paar weiche Pantoffeln, die sie ihrer Größe wegen fast als kleine Boote hätte vermieten können; die neuesten Hefte des Modejournals, und je nachdem die vornehme Familie, in der sie arbeitete, einfache Sitten hatte, auch einige Semmeln und Würste, um der Mahlzeit nachzuhelfen.

Nachdem sie zugeschnitten hatte, thronte sie in unverrückter Majestät am Nähtisch, kommandierte die Töchter des Hauses oder die untergeordneten Nähterinnen, die ihr zur Hilfe beigegeben waren, aß erstaunlich viel für ihre sitzende Lebensart und gern etwas Gutes, wurde auch stets besonders berücksichtigt und selbst in den sparsamsten Familien mit einem Hefenring zum Kaffee und einem Biskuittörtchen zum Vesper bewirtet, während die Hilfsnähterin nur mit einem Wecken oder einer Laugenbrezel abgespeist wurde.

So flink ihre Zunge war, so flink war auch ihre Nadel, und gewöhnlich war abends um neun Uhr das rohe Zeug in ein vollendetes Kunstwerk umgeschaffen, wo sie dann zum Lohn der Tugend ein anständig gekleidetes Individuum unter der [279] Haustüre erwartete, an dessen Arm sie nach kurzer Promenade durch die Hauptstraße nach Hause zog. Dies Individuum fand sich getreulich auch unter allen Unbilden der Witterung ein, und die Mägde der jeweiligen Familie, in der sie arbeitete, waren schon von ihr angewiesen, ihm bei schlimmem Wetter die Haustüre zu öffnen.

Die Schmeckenbächerin, obschon in gesetzten Jahren, hielt etwas darauf, in allen Ehren eine solche Freundschaft zu unterhalten. »Sehen Sie, Madame,« erklärte sie der Regierungsrätin, »es muß das Herz an etwas hangen; ich habe früher Katzen und Hunde gehalten, aber Hunde werden nicht gern gesehen in den Kundenhäusern, die Katze hat mir daheim Hunger gelitten und den Hausleuten gestohlen: es war der helle Verdruß. Nachher, wissen Sie wohl, habe ich mich einmal verheiratet mit dem Silhouettierer; das war aber ein schlechter Mensch, ich darf nicht daran denken, wieviel er mich gekostet, bis ich ihn nach Amerika spediert. Sehen Sie, die Mannsleut' können's nicht ertragen, wenn so ein schöner Verdienst von der Frau kommt; ›wenn's der Geiß z' wohl ist, so scharrt sie‹, sagt das Sprichwort. Da halt ich's denn für besser, einen rechtschaffenen Menschen zu begünstigen, dem ich sein ordentlich Taschengeld in den Sack gebe, ohne daß er zu übermütig wird; so hab' ich denn doch jemand, der mich abholt und mit dem ich Sonntags spazieren gehen kann; aufs Heiraten lass' ich mich nicht mehr ein, das ist viel kostspieliger.«

Sonntags hätte man die Schmeckenbächerin nicht wiedererkannt; da zog sie im allermodernsten Putz, erforderlichenfalls mit sechs Volants am Kleide, in Atlashut und Samtmantille, mit dem elegantesten Sonnenschirmchen bewaffnet, sogar mit einer Uhr am Gürtel, morgens in die Kirche und nachmittags im Schloßgarten spazieren, am Arm des Individuums, dem sie zu diesem Zweck einen feinen Tuchrock und seidenen Regenschirm in ihrem eigenen Kasten verwahrte; auch bekam er zu weiteren Promenaden mit Einkehr außer seinem gewöhnlichen Taschengeld noch einen rotseidenen Geldbeutel mit etlichen Talern und kleiner Münze, aus dem er die Zeche bezahlen[280] [282] durfte, den er ihr aber nach der Heimkehr wieder zustellen mußte.

So schien das Leben der Schneiderin sich sehr einförmig abzuhaspeln; aber im Grunde war es äußerst mannigfaltig, und wenn das jeweilige Individuum zufällig ein Literat gewesen wäre, so hätte sie ihm den schönsten Stoff zu Memoiren liefern können.

Hinter ihrem Nähtisch hatte sie die beste Gelegenheit, allmählich nicht nur das Tun und Treiben, die geselligen und pekuniären Verhältnisse, sondern auch das Sein und Wesen ihrer Kunden zu studieren, und die Schmeckenbächerin war weder taub noch blind. Kein glänzender Anstrich nach außen, kein liebenswürdiges Benehmen vor den Augen der Welt konnte ihren Blick täuschen, der auf den Grund geschaut hatte.

In aller Stille, wie ein Schwamm die Flüssigkeit, saugte sie in einem Hause die Notizen ein, und es bedurfte im nächsten eines geringen Druckes, um den Strom der Neuigkeiten in Fluß zu bringen. Verschwiegen war sie nur über die Geheimnisse ihres Berufs: wo sie die Kleider besonders auspolstern und wattieren mußte, um einem mangelhaften Wuchs, einer schiefen Seite nachzuhelfen, das konnte keine Seele von ihr erfahren, das waren Amtsgeheimnisse; aber über das, was sie auf eigene Hand bemerkte, hatte sie keine Pflicht der Bewahrung.

Um die Resultate ihrer Beobachtung zu erfahren, durfte man nur mit dem Gegenteil von dem anfangen, was man zu hören wünschte. »Da führt der Kommerzienrat Riegel wieder seine Frau am Arm, was das ein galanter Ehemann ist! So sind nicht mehr alle nach zwanzigjährigem Ehestand!« – »Just 's Konträre, Frau Oberamtsrichter; wenn Sie wüßten, was der für Spektakel verführt und der Frau den Kreuzer schwer macht! Da haben Sie nicht Ursach', einen Vergleich zu machen; wenn er einen Kronentaler gibt in die Haushaltung, so soll sie elf Gulden für Rechnungen davon bezahlen, und wenn ich dort arbeite, so muß ich ins Hinterstübchen sitzen und die Frau bringt mir das Essen ganz heimlich, als ob ich ein Verbrechen[282] beginge; ja wohl da, ›das Amarmführen kostet nichts!‹ Da wär' mir der Herr Oberamtsrichter am kleinen Finger lieber.« – »Nein, wie hübsch die Emilie Felter gestern abend war in dem neuen Barege; die müssen reicher sein, als man weiß! Sie hat immer das Neueste,« bemerkte eine junge Dame. – »Im Gegenteil, Fräulein Fanny, so ist's keine Kunst; fragen Sie einmal, was sie daheim im Kasten hängen hat? Ein Kleidchen am Leib und eins in der Garderobe (so nennen sie ihren Kleiderkasten, an dem sie zu drei haben), das andre kommt an die Vorkäuferin – nicht ein einziges solides Kleid mit neuem Futter, wie Sie haben; zu der Emilie Winterkleid mußte ich das Futter aus ihres Vaters Schlafrock nehmen; der ist dann doch noch warm genug, weil er siebzig Flicken hat, und ein Hauskleid hat sie ohne Ärmel, weil sie eine Jacke dazu trägt aus ihres Vaters Frackschwänzen. Nein, mit dem Reichtum ist's da nicht gefährlich; das Kapital, was die haben, will ich noch nach dem Nachtessen auf dem Butterbrot essen.«

»Hat Fräulein Klein bald Hochzeit?« fragte eine besorgte Mutter in einem andern Hause. – »Glaub's nicht, im Gegenteil,« sagte die Schmeckenbächerin, bedeutsam den Kopf schüttelnd, »'s scheint mir, der Bräutigam wolle rückwärts; kein Wunder, wenn er das hungrige Leben im Haus mit ansieht! Stellen Sie sich vor, Frau Assessor, wie ich kürzlich dort war, hatten sie Kohl gekocht und nichts als die hellen, lieben Kartoffeln dazu; kommt noch um Mittag der Bräutigam! Je was ist zu tun? ›Katharine, hol' Sie noch zwei Bratwürste!‹ Am Tisch will Sophie, die Kleine, die Würste zerschneiden. ›Schneid nicht zuviel zusammen, es ist nachher so unnützlich,‹ flüsterte ihr Julie, die Braut, zu. Schneiden sie wahrhaftig die eine Wurst in Rädlein und lassen die andre ganz! Sollte wohl noch ein Nachtessen für den Bräutigam geben. Der guckt die Sache etwas wunderbarlich an und nimmt sich ein Rädlein: ich aber, nicht faul, nahm die ganze Wurst. Nein, die Augen hätten Sie sehen sollen! Den Bräutigam lächerte es, der hat sein Teil gedacht! Mich wundert's nicht, wenn er nicht mehr will; eine Frau aus so einem geizigen Haus! Wenn ich da [283] an Ihre anständigen Braten denke, Frau Assessor! Ich glaube, wenn die Kleinin ihre Leute nur an so einem riechen ließe, sie kochte acht Tage lang kein Fleisch mehr, im Gegenteil!« Und die geschmeichelten Frauen hörten wohlgefällig auf solche Mitteilungen, nicht bedenkend, daß sie jetzt die Schleuse fürs nächste Haus füllten und daß die Schmeckenbächerin vielleicht morgen bei Fräulein Klein sagte: »Kein Wunder, daß Assessors Töchter keinen Mann bekommen, sie lernen nicht sparen! Die Frau braucht dritthalb Pfund Butter die Woche, da bleibt nichts mehr übrig.« Da Frau Schmeckenbächerin wohl wußte, daß sie bei den Herren des Hauses höchstens ein geduldetes Subjekt sei, so zog sie Witwenhäuser als Kundschaft vor, vorausgesetzt, daß es nicht allzu schmal darin hergehe; die Frau Regierungsrätin, bei der sie seit langen Jahren ganz einheimisch war, war aber gewiß, daß sie zu ihr jedesmal kam, auch wenn sie sonst mit Bestellungen überhäuft war. Elisabeth war allezeit ihr Liebling gewesen, »es war der Kleinen so gut Kleider machen, sie hatte ihr Lebtag so einen geschickten Wuchs gehabt!« Sie mußte ihr bewundernd nachsehen, wo sie ging und stand; »nein, wie dem Kinde alles paßt, der schottische Leib wieder wie angegossen aufs erste Probieren!« Sie witterte sogleich die Änderungen, die sich die Pariser Kammerjungfer mit Elisabeths Garderobe erlaubt; da sie aber selbst manches daran absehen konnte, ließ sie es in Gnaden passieren und tat ihr Bestes, dem verschwenderischen Geschmack der Kleinen noch mehr Vorschub zu tun. Es konnte gar nichts zu schön sein für ihre Elisabeth, und sie wußte eine Menge Beispiele von Eltern, die es viel weniger aufwenden können, und die doch viel mehr an Töchter wenden, bei denen es nicht halb so der Mühe wert sei. Sie verstand schon die Richtung des Windes; wäre die Mutter entschieden für größere Einfachheit gewesen, so hätte sie bemerkt: »Da haben wieder Sie recht, Frau Regierungsrat, unsre Elisabeth ist in allem schön, das Einfache ist wieder das Nobelste; die Morizschen drüben sehen in all dem Staat nicht halb so vornehm aus wie unsre Elisabeth, im Gegenteil!« Nun aber wurde Elisabeth wie eine junge Fürstin [284] geputzt, und um ihre Nachgiebigkeit zu entschuldigen, ließ die Mutter gegen die Schmeckenbächerin einige Andeutungen über die wahrscheinliche Zukunft ihres Töchterleins fallen, die nicht verloren waren, und bald flüsterte man sich zu, die junge Gruber sei heimlich verlobt mit einem Millionär aus England oder sonstwo.

Ob es diese Neuigkeit allein war, die den Leuten erst recht die Augen öffnete über Elisabeths Schönheit, oder ob neue Bekannte von Baden her auf sie aufmerksam gemacht hatten, genug, sie kam diesen Winter förmlich in die Mode; ihre Schönheit, ihre liebliche Singstimme, die kindlich unbefangene Fröhlichkeit ihres Benehmens machten sie in viel weiteren Kreisen als im vergangenen Winter gesucht und bewundert. Die Regierungsrätin bekam neue Bekannte, sie wußte kaum wie, und ihr Spiegel steckte stets voll Einladungskarten.

So wurde denn die Gefahr des Verwöhnens daheim noch größer und anhaltender für die Kleine; die Mutter selbst wurde besorgt bei dem andauernden Taumel von Festen und Genüssen, zunächst freilich nur für Elisabeths Gesundheit, obgleich diese frisch und elastisch wie immer durch all diese Herrlichkeiten ging, beglückt von den gelungenen und belustigt von den mißlungenen Partien. Ihrer eigenen Schwäche sich bewußt, getröstete sich die Mutter auf einen lange versprochenen Besuch Mariens, der dem Strudel ein wenig Einhalt tun würde. Auch Elisabeth freute sich kindlich darauf, wenn auch nicht mehr so, wie sie sich vor einem halben Jahr gefreut hätte. Die Mutter glaubte, es schicke sich, für die Frau Tochter die Gaststube zu räumen, die gewöhnlich zum Abstellquartier für allerlei heimatlose Sachen diente, ja sie legte sogar die gestickten Überzüge bereit. Elisabeth aber bestand darauf, daß man Mariens Bett wieder in dem alten Mädchenstübchen aufmache, das die Schwestern so lange geteilt. Der Streit erledigte sich von selbst, Marie schrieb, daß sie unwohl sei und sich nicht getraue, zu reisen, schrieb überhaupt sehr wehmütig; sie wisse nicht, ob sie Mutter und Schwester nur wiedersehen würde – es war ein Ton, den [285] man gar nicht an ihr gewöhnt war und der Elisabeth aufs höchste beunruhigte.

Die Mutter lächelte dazu und machte allerlei Einkäufe in weißer Ware, die sie zu verschiedenen kleinen Gegenständen zuschnitt; auch fing sie an, feine Jäckchen und Häubchen zu stricken, und hörte gern, wenn man sie im Kränzchen darum berief und sagte: »Ja, ja, das ist eine gute Stiefmama; wird freilich angelegt sein bei der Frau Dekanin, die nicht viel übrige Zeit hat.« Für Elisabeth war dieser neue Zweig der Tätigkeit eine höchst wohltätige Ableitung von den endlosen Sorgen für ihr Vergnügen und ihre Toilette; Trägheit war nie ihr Fehler gewesen, aber es wurde ihr schwer, bei einer geordneten Arbeit fest zu bleiben. »Aber heute, Mama, muß der Kragen festoniert werden,« konnte sie am Morgen sagen, dann setzte sie sich am Arbeitstischchen fest und stichelte so emsig und flink wie Frau Schmeckenbächerin. »Aber Mama,« fiel ihr plötzlich ein, »meine Blumen! Es könnte sicherlich heute noch regnen, ich muß mein Myrtenbäumchen hinaustragen!« Nun, das geschah, und sie setzte sich wieder. »Aber Mama, was ich gestern für ein einziges Dessin von Julie mitgebracht habe! Das müßte die netteste Morgenhaube für dich geben, ich muß es nur geschwind durchzeichnen, Julie könnte es wiederverlangen.« Nun ging's an ein Suchen nach dem Dessin, das in höchstem Eifer durchgezeichnet wurde; der Kragen wurde wieder vorgenommen, aber da fiel ihr ein, daß der Kanarienvogel notwendig frisches Vogelkraut haben sollte – so ging's mit Unterbrechungen fort, und der Kragen, dessen Vollendung so große Eile hatte, war in drei Tagen fast noch auf demselben Standpunkt zu finden! – es waren so gar viel notwendige Geschäfte dazwischengekommen!

Wo sie aber eine Arbeit zu bestimmtem Zweck und Ziel vor sich sah, eine Arbeit, die sie jemand zuliebe tun konnte, da wurde die fröhliche Ballkönigin zum emsigen Bienchen, und die Liedchen, die sie bei der Arbeit sang, klangen noch einmal so heiter und lieblich wie die Weisen, die sie zu ihren Ball- und Festvorbereitungen trillerte. Sie war glückselig mit der[286] kleinen Aussteuer von zierlichen Sachen, die sie nun in tiefem Geheimnis für ihre liebe Marie anlegte.


Auf Schloß Ellershausen, dem bescheidenen Erbgut des Barons, war der Winter dem kranken Gebieter viel stiller und langsamer hingestrichen als der fröhlichen Elisabeth in der Residenz. Mit seiner Mutter hatte er früher auch einigemal den Winter in der Stadt zugebracht, aber diesmal hatte er bald den Gedanken daran aufgegeben. Obwohl ein Mann von feiner Sitte und hoher Bildung, hatte er doch zu viel allein gelebt, um nicht etwas menschenscheu zu sein; die Geschäftigen wie die Fröhlichen brachten ihm seine gezwungene Tatlosigkeit immer schmerzlich zum Bewußtsein, und seit der Mutter Tod wurde seine Neigung zur Stille fast unbesiegbar.

Und doch fühlte er sich so allein, so unendlich allein, nun die Mutter nicht mehr war, deren starke Liebe vom Keime an mit dem Tod um sein Leben gerungen, die nur für ihn allein gesorgt und gelebt hatte. Sein einziger Gang, wenn er das Haus verlassen konnte, war auf den Friedhof, wo seine Mutter ruhte. Die alte Familiengruft war lange nicht mehr zugänglich gewesen; neben dem schön gearbeiteten Marmordenkmal der Mutter war ein Kindergrab mit einem kleinen steinernen Kreuz, vor dem er oft und lange in tiefem Sinnen stand; hier ruhte seine kleine Zwillingsschwester, die bald nach der Geburt gestorben war, und er konnte den Gedanken nicht los werden, daß das Grab, das die Hälfte seines Lebens aufgenommen, ein besonderes Recht auf ihn habe. Die Mutter hatte ihm so oft erzählt, welch zartes und schwächliches Kind er stets gewesen, wie von seiner Geburt an alle ihre Freunde jahrelang nicht geglaubt, daß das Kind den nächsten Tag überlebe; wie sie mit unerhörter Mühe und allerlei wunderbaren Versuchen doch sein Leben von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr erhalten habe, daß ihn oft dünken wollte, dies Leben sei gewaltsam dem Tode abgerungen und er habe kein Recht zum Dasein. Er konnte sich keiner Zeit erinnern, wo er frisch und gesund wie andre Kinder sich seines Lebens hätte freuen können.

[287] »Gustav, ich bitte dich, nimm dich in acht!« war der Schluß aller Reden seiner Mutter, so lange er zurückdenken konnte. Selbst die glückliche rasche Entwicklung seines Geistes, sein rastloser Eifer für die Studien war ihr nur ein weiterer Gegenstand der Sorge; sie hätte wie seine geistige Entfaltung so auch gern das Wachstum seines Körpers zurückgehalten, nur damit sich seine Kraft nicht daran erschöpfe.

Ärzte und Badekuren, Tannenwälder und Bergluft wollten nicht hinreichen, dem geliebten Leben Kraft und Gesundheit, den bleichen Wangen Blüte zu geben; jedem Aufschwung jugendlicher Lebenskraft folgte eine umso größere Erschöpfung. »Danken Sie Gott, daß der Junge überhaupt noch lebt!« war der leidige Trost des Arztes, »mir ist jedes Lebensjahr bei ihm ein Wunder,« und die Mutter hatte sich endlich damit begnügen gelernt, das teuer erkaufte Leben, so wie es war, mit Dank hinzunehmen. Ihr Verhältnis zu ihrem Gatten war ein ziemlich kühles gewesen, er stand in friedlichem Kriegsdienst bei einem auswärtigen Fürsten und lebte viel an dem dortigen Hofe. Sein Tod hatte wenig Änderung in ihre Lebensweise gebracht, nur daß sie ihre Kraft und Zeit noch viel ungeteilter hatte dem Sohne widmen können.

Für den Sohn selbst war freilich die Leidensschule schwerer noch als für die Mutter. In dem schwachen Körper lebte ein starker Geist, eine feurige Seele, der die kraftlose Hülle oft zur schmerzlichen Pein, zum unerträglichen Hemmschuh wurde. Alles, was groß und schön war, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart, begeisterte ihn, riß ihn zur Bewunderung und Nachahmung hin. Er wollte alles werden: Seemann, Kriegsheld, Staatsmann, Künstler, Gelehrter, je nachdem gerade ein Ideal vor seiner Seele stand; neben der reinen Liebe für das Edle und Hohe lebte ein glühender Ehrgeiz im Grund seiner Seele: ein Name, der noch Jahrhunderte überdaure, das war das Ziel seines sehnsüchtigen Verlangens. – Und nichts, nichts von alledem sollte er erreichen! Überall stand seine körperliche Schwäche als unübersteigbare Schranke vor jeder Laufbahn, die er stürmischen Mutes betreten wollte; kein [288] Heroenbild der Vorzeit sollte er mehr anschauen, nur Tantalus und Prometheus schienen ihm Vorbilder seines Daseins, und Prometheus hatte doch etwas vollbracht! Ihn dünkte, er wollte sich gern an den Felsen schmieden, gern den Geier am Herzen nagen lassen, wenn er nur eine Menschenseele mit unsterblichem Feuer belebt hätte. So war er ein reizbarer, verschlossener, unzufriedener Knabe; nur sein feiner und edler Sinn ließ ihn die hingebende Liebe seiner Mutter nicht mißbrauchen. Der warme Odem dieser selbstlosen Liebe bewahrte ihn vor Selbstsucht und Verbitterung. Nach vielen verunglückten Versuchen mit Bonnen, Gouvernanten und Hauslehrern gelang es dem jungen Theologen Gerhard am dauerndsten, die Liebe und das Vertrauen seines Zöglings zu gewinnen. Der Lehrer war dem Schüler wohl kaum gleich an geistiger Begabung, an feurigem Schwung der Phantasie; aber ein ruhiger, steter Sinn, der es verstand, sich im Gegebenen wohnlich anzubauen, statt machtlos stets nach dem Geträumten zu streben, wirkte beruhigend auf den rastlosen Geist des jungen Gustav. Er verstand es, ihn anzuregen für kleine Liebhabereien, harmlose Beschäftigungen, die wohltuend den Geist losspannen und die Zeit kürzen, und die Mutter sah mit Entzücken, wie unter seiner Leitung mehr Heiterkeit und Leben bei ihrem Liebling einkehrte.

Die tiefste und höchste Lehre, die in der Schule des Leidens zu lernen ist, das eine Wort, das dem Schmerz die Bitterkeit nimmt und dem Tode den Stachel – das freilich kann der Lehrer mit dem besten Willen seinen Schüler nicht lehren, eben weil es nicht nur ein Wort ist, sondern eine Lebenskraft, die kein Mensch dem Menschen verleihen kann.

Gerhard wünschte aufrichtig und mit vollem Herzen, seinem Zögling mit dem Glauben an eine allweise gütige Vorsehung Ergebung in sein Geschick beizubringen. Aber es ist schwer für den Glücklichen und Gesunden, dem Kranken und Unglücklichen von Geduld und Ergebung zu predigen. »Du hast gut reden« ist die leise, bittere Gegenrede des Leidenden, und selbst die seligsten Trostworte der Schrift aus Menschenmunde sind [289] kranken Herzen oft nur wie flüchtiges Begießen der ausgebrannten Aue. Vom Himmel allein muß der Segensstrom quellen, der den harten Grund erweicht und die welke Pflanze belebt und aufrichtet, sei es nun im milden, leisen Regen oder in mächtigem Gewitterschauer. Nur einer ist, der alles Leid empfunden und aus dessen tiefster Tiefe den unsterblichen Lebensquellgegraben hat, der Heilung gibt für jede müde Seele; und wenn er seinen Weg unmittelbar zu einem Herzen findet, so ist es gewiß zumeist in der Nacht des Leidens. »Der Herr will im Dunkeln wohnen.« »Sein Pfad geht in tiefen Wassern.«

In den langen, langen, schlaflosen Nächten, in denen er nur das Pochen seines kranken Herzens hörte, ging auch für Gustav endlich die rechte Lösung für sein dunkles Geschick auf, und er fand es nicht mehr zu schwer, mit Geduld durch den Kampf zu laufen, der ihm verordnet war.

Seine ganze Umgebung, die Mutter zumeist, fühlte sich innig wohltätig berührt von dem neuen Leben, von dem inneren Friedenshauch, der sich ohne Worte in seinem Benehmen kundgab; sie schob alles auf Rechnung des guten Herrn Gerhard, der selbst erstaunt war über die Wirkungen des Religionsunterrichts, den er, fast mit einiger Schüchternheit, dem geistvollen, tiefdenkenden Knaben erteilt hatte. Er hatte besser, als er wußte, seine Pflicht erfüllt, indem er ihn ohne viel eigene Zusätze in die Schrift einführte; lautet doch die tröstliche Weisung des Herrn an Petrus nur: »Weide meine Lämmer,« und nicht: »Speise du sie selbst!«

Die erste selige Freudigkeit, mit der der Pilger von der Höhe das ferne Ziel erblickt, bleibt freilich nicht immer dieselbe, wenn es gilt, den Weg Schritt um Schritt zum Ziele zu gehen. Und auch den Baron dünkte doch oft noch sein Pfad viel schwerer und mühsamer, als zu ertragen sei. Das hatte er nie so empfunden wie in diesem Winter, dem ersten, den er seit der Mutter Tod auf dem einsamen Gut zubrachte; er liebte die Stille, aber es kann doch auch zu still sein, wenn so ein Tag um den andern heraufsteigt und keiner ein anderes Gesicht trägt als der vorige.

[290] Als die Mutter noch gelebt, da hatte er docheinen Lebenszweck außer sich gehabt, ein Wesen, an das er denken, für das er sorgen, das er lieben und erfreuen konnte, erfreuen selbst in der Mühe und Sorge, die sie durch ihn hatte. Er konnte wenig tun für die Mutter, aber er dachte für sie. Er suchte beim Lesen alles zu bezeichnen, was für ihre gemeinsame Abendlektüre taugte, er übersetzte aus fremden Sprachen, was sie ansprechen könnte; er hatte sich erfreut an ihrer Freude, wenn ihm ein neues Gericht zusagte; wenn er sich auf ihren Wunsch nach Tisch auf das Sofa legte, hatte er in unschuldiger Heuchelei sich tief schlafend gestellt, nur um sie zu beglücken durch seinen ruhigen Schlummer. Er hatte unermüdet den alten Hofgeschichten aus der glänzenden Zeit ihrer Jugend gelauscht und sich immer wieder die Reliquien jener vergangenen Herrlichkeit zeigen lassen und sie bewundert und sich im stillen an der adligen Grazie ergötzt, mit der Mama die Frau Pfarrerin protegierte, die sich ihrerseits durchaus nicht protegieren lassen wollte.

Ihre Liebe und ihre beständige Sorge für ihn hatte freilich oft etwas Bedrückendes, Einengendes gehabt, ein beständiges Hofmeistern und Hüten, er blieb ihr fortwährend das Kind ihrer Pflege; aber es war doch Liebe gewesen, und nun war das alles vorüber. Sein Bedienter und die Köchin, aus denen derzeit seine Dienerschaft bestand, wären für ihren jungen Herrn durchs Feuer gegangen; Madline, die Köchin, setzte ihre Ehre darein, ihn, wie sie der seligen Mama versprochen, so gut zu versorgen wie diese selbst; so ging ihm an Pflege und Aufmerksamkeit nicht viel ab. Aber all sein Leben und Lesen und Studieren kam ihm so zwecklos vor! Er fürchtete sich fast vor dem Ton des Pianos, wenn er einmal wieder spielen wollte; seinen Zeichenapparat mochte er nicht ansehen. Er ging an sonnigen Tagen im Garten auf und ab, an trüben im großen Salon; er schrieb Briefe, aber seine wenigen Korrespondenten hatten alle einen Beruf und waren nicht rasch im Antworten; er war glücklich, wenn er über einer Lektüre einmal den Schlag einer Viertelstunde überhört hatte – sie schlichen so langsam.

[291] Der einzige Wechsel seines Daseins, und auch dieser war wechsellos, war ein Besuch des Pfarrers, der allabendlich zu einer Schachpartie kam. Schach war des Pfarrers Liebhaberei, besonders weil das Spiel das Schweigen so sehr begünstigt, denn im Schweigen hatte er's zu einer wahren Virtuosität gebracht. Er reichte mit einem Satz für die ganze Abendkonversation aus. Wenn er vor dem Beginn des Spiels anhub: »A–h–ber, Herr Baron,« so schloß er vielleicht, wenn es nach zwei Stunden beendigt wurde: »Wir haben heuer einen merkwürdig gelinden Winter,« und bemerkte nachher daheim gegen seine Frau: »Man unterhält sich immer gut mit dem Baron.« Der Baron versuchte, sich um die Angelegenheiten der Dorfbewohner – seine Untertanen waren sie nicht – zu bekümmern, sie teilnehmend anzuhören, ihnen aufzuhelfen, fast mehr, als in seinen Mitteln lag; hatte er aber einmal einem geholfen, so kam gewiß am nächsten Tag ein andrer: »Aber, Herr Baron, Sie dauern mich, daß Sie sich von dem Kerle haben anführen lassen, da ist keine Hoffnung und kein Schmalz (Hopfen und Malz verloren), da wär's bei mir zum Beispiel besser angelegt; so ein redlicher Mann, wie ich bin, und mein Weib so sparsam, daß sie ihrer eigenen Mutter den Bissen nicht gönnt!« Er wurde in Wahrheit von redlichen Leuten aller Art mißbraucht, belogen und betrogen; und durch seine körperliche Schwäche verhindert, in eigener Anschauung ihre Verhältnisse und ihr Treiben näher kennen zu lernen, wandte er sich fast mit Widerwillen von dem Volk ab; er tat ihnen noch Gutes aus bloßem Pflichtgefühl, ohne rechte Liebe und Freude.

Alle Tage ging er nach Tisch in das Zimmer seiner Mutter, das unverändert bleiben mußte; er legte sich auf ihr Sofa und versuchte zu schlafen, nur um einen Augenblick träumen zu können, daß noch ein paar liebevolle Augen seinen Schlummer bewachten. Und doch sah er so oft im Wachen und Träumen ein andres Bild als das ehrwürdige Gesicht seiner Mutter, ein Bild, das nie in diesen Räumen geweilt hatte, jung, blühend und strahlend vor Lebensfreude, und ob er sich tausendmal [292] sagte: »Es ist Wahnsinn, wolltest du die frische Blüte an dein welkes Leben binden!«, tausendmal mußte er wieder denken: »Es wäre doch schön! Und ich wollte sie lieben und im Herzen tragen mit einer unendlichen Liebe, die ihr alles, alles ersetzen sollte!« Und er träumte sich die liebliche Gestalt an seine Seite, wo er ging und stand, ihre leuchtenden Augen auf sein Buch geheftet, ihre süße Stimme am Klavier, ihren leichten, federnden Schritt im Garten – bis er zuletzt wehmütig den Kopf schüttelte und sagte: »Es wird ja doch in Ewigkeit nichts.«

Er wollte sich nicht verzehren in fruchtlosem Sehnen und müßigem Klagen, er kämpfte ritterlich, den Frieden wiederzufinden, der vorher sein inneres Leben so hell gemacht; aber es ging schwer – wieder und wieder kam ihm die tiefe Sehnsucht, einschlafen zu dürfen, um nimmer zu erwachen, und fast mit Bedauern fühlte er sich mit dem Beginn des Frühlings etwas kräftiger als im vorigen Jahr. Einmal, nur ein einziges Mal wünschte er Elisabeth noch zu sehen, um, wenn auch ohne Worte, doch in seiner Seele Abschied zu nehmen von dem einzigen Traum von Erdenglück, den er je gehegt. Wie er dies möglich machen sollte, wußte er freilich nicht recht.

Da kam im Mai, im wunderschönen Monat Mai, ein Brief seines alten Freundes, des Dekans, mit der Kunde, daß ihm ein Söhnlein geboren sei, das achte Kind, aber mit demselben Jubel aufgenommen, als ob es das erste wäre – und eine Einladung zum Tauffest, um Pate zu werden. Dahin mußte auch Elisabeth kommen, hoffte er, und seine Hand zitterte wie die eines Mädchens beim ersten Liebesbrief, als er mit geflügelten Worten seine bereitwillige Annahme der Einladung schrieb. Er fügte die dringende Bitte bei, ihm für einige Wochen eine Wohnung in der Nähe zu mieten, damit er im Hause nicht Mühe und Störung mache, was selbst Frau Marie, deren großer Liebling der Baron war, bereitwillig und dankbar einging.


Das Dekanathaus füllte sich mit Gästen. Elisabeth hatte fast nicht erwarten können, bis sie das Kind ihrer Marie sehen [293] durfte; sie saß lachend und weinend an der Wiege und studierte in dem geweihten Halbdunkel des Wochenzimmers die Züge des schlummernden Kindleins; dann reichte sie wieder Marie leise die Hand, vor der sie eine eigentümliche Ehrfurcht empfand, so daß sie gar nicht dazu kommen konnte, mit ihr von dem zu reden, was sie im Augenblick so gewaltig bewegte. Sie hätte sich gern nützlich gemacht, konnte aber neben der ingrimmigen Tätigkeit der Wartefrau nicht beikommen; auch hatte sie diesmal etwas besonders Träumerisches und Gedankenabwesendes, das sogar Marie auffiel. Die Mama begnügte sich mit vielen weisen Ratschlägen; auch sie hatte große Freude an dem Kindlein und hörte sich gern Großmama nennen, wobei sie beiläufig in den Spiegel schaute und fand, daß sie für diesen ehrwürdigen Titel noch merkwürdig jung aussehe.

Ein Glück war's, daß die Kinder des Dekans herzensgute Geschöpfe waren und selbst die größte Freude an dem Brüderlein hatten; sonst hätten sie billig eifersüchtig werden können, da der Papa sich in Wahrheit gebärdete, als ob dies das erste Kindlein sei, das er erlebe, und noch dazu von einer ganz besonders ausgezeichneten Art. Aber sie wußten nichts von Neid, und als die Mutter sie zum erstenmal um die Wiege versammelte und ihnen das Kindlein zeigte und sie dabei mit ihrer schwachen Stimme liebevoll fragte: »Das ist nun euer Brüderlein, das euch der liebe Gott geschickt, wollt ihr es recht lieb haben?«, da fanden sie es fast verwunderlich, wie man das nur noch fragen könne. Ernst, der Seminarist, der besonders an der Mutter hing, der hätte sein Herzblut für das Kind gegeben; die Mutter hatte es selbst auf seine Arme gelegt und ihm gesagt: »Ich weiß nicht, lieber Ernst, wie lange dein Vater und ich bei dem Kinde sein dürfen; ich lege es dir ans Herz, ich glaube, du wirst einst sein treuester Freund, sein Schutz und Leiter sein.« Seitdem war ihm das kleine Wesen lieb und heilig als ein anvertrautes Kleinod, und in tiefster Seele tat er ein stilles, ernstes Gelübde, des Vertrauens der Mutter wert zu werden.

[294] Minchen, von der Mutter zuvor noch möglichst in die Geheimnisse der Haushaltung eingeweiht, waltete im glücklichen Gefühl ihrer Wichtigkeit, allezeit mit dem Schlüsselbund klirrend, in Küche und Keller, und es war merkwürdig, wie sie manches, was die Mutter mit vielfachem Predigen nie hatte von ihr erreichen können, nun aufs beste vollbrachte im Bewußtsein ihrer Verantwortlichkeit.

Am Tage vor der Taufe trafen von verschiedenen Seiten Vetter Gérard und der Baron ein. Ersterer hatte sich im Gasthof einquartiert, dem Baron hatte man ein paar hübsche Zimmer in einem freistehenden Hause der Nachbarschaft gemietet; die Wöchnerin war so wohl auf, daß sie beide auf dem Sofa empfangen konnte. Der Baron sah zum erstenmal ein kleines Kind in der Nähe, und das kleine Wesen mit den winzigen Fingerchen erschien ihm fast so wunderbar, wie es den Kindern vorgekommen war. Vetter Gérard fand es nicht so erstaunlich, er sah nur flüchtig darüber hin und sagte: »Ja, ja, es kann wahrscheinlich noch einmal ein ganz netter Junge werden; kann's schon sehen? Die Dinger kommen, glaube ich, blind auf die Welt? Und garstig sind sie so zum Anfang, das müssen wir gestehen.« Er bemerkte den Unwillen der Mutter gar nicht, da eben Elisabeth eintrat; so tief sich auch der Baron in dem Augenblick auf das Kindlein neigte, um das mädchenhafte Erröten zu verbergen, das seine bleichen Wangen überzog, es entging ihm doch nicht die ganz besondere Befangenheit, mit der Elisabeth den Kaufmann begrüßte, der seinerseits auch nicht mit der fließenden Sicherheit sprach, die ihm sonst eigen war. Der Baron vergaß darüber ganz, Elisabeth zu grüßen, und schrak fast zusammen, als sie selbst ihn freundlich anredete: »Guten Abend, Herr Baron; wie geht es Ihnen?« So wohl ihm diese Freundlichkeit tat, so durchzuckte ihn doch wieder schmerzlich der Gedanke: »Nur einen ganz ungefährlichen Mann grüßt ein Mädchen zuerst,« und Elisabeth betrübte sich fast über seinen kurzen Gruß. – Der Baron bemerkte, daß sie ein Beisammensein mit dem Kaufmann zu vermeiden schien. »Auch das ist ein Zeichen eines befangenen Herzens!« seufzte [295] er bei sich; »sie ist gar nicht mehr dieselbe, all ihre unbefangene Fröhlichkeit ist weg! In Gottes Namen! Aber ich hätte sie lieber einem andern gegönnt.«

Oh, er hatte freilich recht gesehen, das leichte Herzchen der fröhlichen Elisabeth war ein recht schweres; trug sie sich doch mit dem gewichtigsten Entschluß, den ein junges Mädchen fassen kann. Vor wenigen Wochen hatte Vetter Gérard bei der Mutter und bei ihr förmlich um ihre Hand geworben.

Der Mutter war diese Werbung nicht unerwartet und nicht unerwünscht gekommen. Freilich hätte sie gern die Trennung von ihrem einzigen Liebling länger verschoben; aber es war denn doch auch hübsch, in diesen bedrängten Zeiten eine Tochter so jung und so glänzend versorgt zu wissen. Daß Elisabeth der Antrag willkommen sein werde, bezweifelte sie keinen Augenblick; sie legte mit recht vielsagendem Lächeln den bedeutsamen Brief in ihre Hand und war hoch erstaunt, als das Kind todbleich wurde und die Hände zusammenlegte mit dem Ausruf: »Ach um Gottes willen!« – »Nun, nun,« sagte die Mutter beruhigend, »stelle dich nicht so närrisch, Kleine! Das ist noch lange nicht das Schlimmste, das einem begegnen kann, wenn ein Mann von einer halben Million um einen wirbt; es kann dir unmöglich so ganz unvermutet kommen; hast du in der Tat nie gemerkt, daß du ihm gefällst?«

»Ach, das natürlich!« entgegnete Elisabeth unschuldig, »aber weiter habe ich eigentlich nie gedacht, es kommt mir so plötzlich.« – »Nun, so nimm dir Zeit, dich an den Gedanken zu gewöhnen,« tröstete die Mutter, »es muß ja nicht im Augenblick sein; ich schreibe indes dem Gérard; oder soll ich Nein schreiben, ganz entschieden?« – »Ach nein, das doch nicht!« sagte Elisabeth wieder ängstlich; »aber warum kommt er denn gerade an mich? Ich dachte, er werde drinnen eine Reiche wählen.« – »Drum bist du ein Sonntagskind,« sagte liebkosend die Mutter und küßte die schöne Stirn der Tochter; »ich sagte dir's ja, es gibt Lieblinge der Natur, die's auf ihr eigen Köpfchen hinaustreiben.« – »Aber ich weiß nicht, ob das mein eigen Köpfchen ist!« sagte Elisabeth weinerlich. – [296] »Nun, so besinne dich noch darüber und gib dich indessen ganz zur Ruhe!«

Aber Elisabeth konnte sich nicht zur Ruhe geben; die Frage: »Soll ich, oder soll ich nicht? Will ich, oder will ich nicht?« ging mit ihr zu Bette und stand mit ihr auf und lag wie ein Schatten auf allem, was sie sonst erfreut hatte. Der Mutter war sie unbegreiflich, und zum erstenmal in ihrem Leben wurde sie ernstlich böse über ihren Liebling. »So ein unnötiger Jammer!« meinte sie, wenn sie die schweren Seufzer Elisabeths hörte. »Du weißt ja, daß ich dich nicht zwinge; schreibe ihm ab, wenn du einen Widerwillen gegen ihn hast, obgleich das unverantwortlich dumm wäre!« – »Das nicht, gewiß nicht, liebe Mutter; er hat mir immer gefallen, wir waren ja in Baden oft so vergnügt zusammen.« – »Nun gut, so sagst du ihm zu, so weiß er, woran er ist, und du auch.« – »Nein, o nein, ich bitte dich! Wenn er nun käme und ich müßte gleich seine Braut sein! Gewiß, Mütterchen, das kann ich noch nicht.« – »So nimm dir Zeit, aber nicht zu lange, das bist du ihm schuldig; ich fürchte auch, die Sache kommt in der Leute Mund; es scheint mir, die Schmeckenbächerin hat etwas gemerkt, und was die weiß, das weiß die Stadt.« Wie nun die Schmeckenbächerin etwas davon sollte erfahren haben, konnte Elisabeth nicht ergründen, besann sich aber auch nicht darüber; sie hatte sich genug zu besinnen über ihr eigenes Herz und kam zu keinem Schluß. Die Mutter hatte Herrn Gérard geschrieben, daß Elisabeth noch so jung und nicht vorbereitet auf einen so entscheidenden Entschluß sei und darum um Bedenkzeit bitte. Da schon das Tauffest bei Dekans in Aussicht stand, so hoffte sie, er werde bei dieser Gelegenheit am leichtesten die Antwort persönlich holen. Dessen getröstete sich auch der Vetter, obschon ihm dieser Aufschub höchst unerwartet und unbequem kam, da er sich die Überraschung und Freude der Kleinen über ein solches Glück gar nicht groß genug hatte denken können. Doch schickte er sich darein: »Ein bißchen Sprödetun muß man ihr immerhin zugute halten, es ist ja ein- für allemal; ich finde es fast pikanter, als wenn es so ganz von selbst gegangen wäre.« [297] Inzwischen holte er sich die Waffen, mit denen er das junge Herz vollends zu erstürmen gedachte, bei Goldschmied und Juwelier und wartete beruhigt der entscheidenden Stunde.

Die Schmeckenbächerin, die den Gevatterstaat fertigen mußte: neue Fransen an das Penseekleid der Mama und ein schwarzes Satinkleid für Elisabeth, begriff nicht, warum das Fräulein diesmal so gar schweigsam und so gleichgültig über Schnitt und Garnitur des neuen Kleides war. »Na, wollen sehen, ob Sie besser aufwachen, wenn ich Ihnen einmal das Hochzeitkleid mache! Weißen Atlas und Seidentüll darüber, garniert mit echten Blonden; hab's zwar verschworen, keinen Seidentüll mehr zu verarbeiten, es ist ein infamigtes Nähen, weil man immer nichts in der Hand hat; Ihnen zulieb tät' ich's aber doch, weil's so einzig steht; Sie müßten die allerschönste Braut sein, wie ein eingeborner Engel.« Selbst diese Aussicht erheiterte Elisabeth nicht ganz, und doch knüpften sich an die Schilderung der Brauttoilette allerlei Bilder einer glänzenden Zukunft, voll von Festen und Genüssen, wo sie, wie eine Feenkönigin, mit vollen Händen Glück und Freude ausspenden könne. Wenn sie bei einem Ausgang an prachtvollen Kaufmannsgewölben vorüberkam, konnte sie sich mit gewissem Behagen eine Zeit ausdenken, wo nichts von diesen Herrlichkeiten mehr zu kostbar für sie sein würde; und doch fand sie nicht den Mut, das Wörtlein auszusprechen, das der Schlüssel zu dem goldnen Schatz war.


So standen die Sachen, als die kontrahierenden Mächte bei Dekans zusammentrafen, und je näher die Entscheidung rückte, desto banger wurde Elisabeth davor; sie wurde mit einemmal ungeheuer geschäftig und machte sich überall zu tun, wo der Vetter nicht war, nur um einer Erklärung auszuweichen. Herr Gérard war sehr unzufrieden darüber, es wollte ihm mit dem Warten zu lange werden. »Aber wunderschön ist sie,« dachte er wieder, »Madame Buisson hat recht, Schönheit imponiert viel mehr als Reichtum; sie muß sich einzig ausnehmen, wenn sie vollends ins rechte Licht gesetzt wird; nein, [298] die werden Augen machen!« Und in dieser Hoffnung beschied er sich, zu warten, bis die Taufgeschichte vorüber sei.

In der Frühe des Tauftages ging Elisabeth in den Garten, um Blumen zum Schmuck der Tafel zu holen; der Vetter war noch nicht erschienen, aber als sie in so tiefen Gedanken, wie sie sie sonst wohl selten gekannt, an der Terrasse vor dem Gartenhaus vorüber ging, hörte sie die bekannte tiefe, wohlklingende Stimme des Barons: »Guten Morgen, Fräulein; sind Sie so eilig?« – »Das nicht,« entgegnete sie, etwas verlegen über das unerwartete Begegnen, »ich gehöre eigentlich heute zu den entbehrlichen Personen, es sind so viel geschäftige Leute oben!« – »Nun, so könnten Sie wohl eine Weile Ihre alte Mission erfüllen und einem Kranken Gesellschaft leisten.« Elisabeth setzte sich auf ihr altes Plätzchen, ihm gegenüber auf [299] der Terrasse. Ihre Nähe tat ihm so wohl, er hatte nicht vergebens mit sich gerungen; bald hoffte er imstande zu sein, sie klaglos scheiden zu sehen ins frische, frohe, regsame Leben, dem sie angehörte, und er dachte sich zuvor noch ohne Gefahr dem süßen Zauber ihres Umgangs hingeben zu können. »Wie haben Sie den Winter verlebt, Herr Baron?« brach Elisabeth das Schweigen, das sie etwas bedrückte. – »Allein, ganz allein,« sagte er mit tief wehmütigem Ton; »und Sie, liebes Fräulein?« fuhr er heiterer fort, sich ermannend, »in Glanz und Freude und Herrlichkeit unter Musik und Tanz, denke ich?« – »Ach ja,« sagte Elisabeth mit halbem Schuldbewußtsein, »es ist wahr, ich bin vor lauter Vergnügen gar nicht zu mir selbst gekommen. Es war freilich recht schön,« setzte sie hinzu, und ihre Augen leuchteten in fröhlicher Erinnerung; »aber nicht wahr,« und sie blickte schüchtern in die dunklen tiefen Augen, die auf ihr ruhten, »Sie halten das doch nicht für recht?« – »Sie würden mich für den Fuchs mit den sauren Trauben halten, wenn ich die Freuden der Welt verdammen wollte,« sagte er lächelnd. – »O nein,« sagte Elisabeth sehr ernst, »gewiß nicht, ich weiß, daß Sie über allen Neid erhaben sind, und ich glaube an Ihre Worte. Sehen Sie,« fuhr sie mit kindlichem Vertrauen fort, »ich weiß wohl, daß ich ein verwöhntes Kind bin; die Mutter ist zu gut für mich, und ... und ... ich weiß nicht, ob ich nicht für mein Leben lang allein meinen Weg zum Himmel suchen muß, da möchte ich gern einen treuen Freund, der mir sagte, was recht ist. Halten Sie die Freuden der Welt, den Tanz zum Beispiel, für Sünde?« Ihre Augen waren feucht von tiefer Bewegung, wie sie ihn ernst, fast ängstlich fragend ansah. – »Das ist wohl schwer zu entscheiden,« sagte der Baron ernst auf ihre ernste Frage, »zumal für mich; das Gebiet, das zwischen dem einfachen Recht und Unrecht liegt, ist wohl das schwierigste. Gewiß ließe Gott nicht so viel liebliche Wiesen, so viel schöne Blumen wachsen, wenn sein Wille wäre, daß wir absichtlich nur einen steinigen Pfad suchen sollten, und ich denke, die Blumen, die von selbst am Wege blühen, dürfen wir ohne Gefahr pflücken; wenn wir aber den Weg verlassen [300] und nach mehr, nach immer neuen Blumen suchen, so ist die Gefahr groß, daß wir die rechte Richtung ganz verlieren.«

»Das eben ist auch schwer zu sagen, welche Blumen selbst am Wege wachsen! Alle diese Freuden wurden mir eigentlich entgegengebracht,« sagte Elisabeth, »und doch ist mir, es könnte mir ein Hindernis auf dem rechten Wege sein.« – »Kein Mensch kann für den andern den Himmel finden,« sagte der Baron; »ich selbst muß erkennen lernen, was sich zwischen mein Herz und seinen Gott stellt, und das ist mir Sünde und wenn es noch so schuldlos wäre für die ganze Welt. – Die fünf klugen Jungfrauen durften schlummern ohne Gefahr, denn ihre Lampen waren bereit; ob sie auch hätten tanzen können, ohne ihr Öl zu verschütten,« fügte er mit seinem ernsten Lächeln hinzu, »das kann ich nicht entscheiden, es ist eine Versuchung, in die ich nie gekommen bin.« – »Ach ja, Sie haben es gut!« rief Elisabeth in vollkommenem Ernst, errötete aber im Augenblick tief über die unbedachte Äußerung. – »Sie haben recht, ichhabe es gut,« sagte der Baron ruhig; »mein Beruf ist so einfach, ich habe nicht zu wählen, nur zu leiden und – zu entsagen. Das ist kein sanfter Weg, aber ein gerader. Möge Gott Sie, wenn es sein kann, auf weicheren Pfaden zum Ziele führen!« schloß er herzlich. – »Elisabeth!« rief es oben, »Elisabeth, wo bleibst du? Es ist Zeit zum Ankleiden!« – »Vielleicht sprechen wir uns noch einmal, ich danke Ihnen,« sagte flüchtig Elisabeth in der halben Verlegenheit, die meist den Übergang aus dem höheren Leben ins Alltägliche begleitet.

Der Baron sah ihr lange nach, und was durch seine Seele zog, das war nicht mehr die Klage um ein versagtes Gut, nur ein inniges Gebet für sie, die ihm nicht beschieden war.


An dem Tauffest des Dekans, der bei der Gemeinde sehr beliebt war, nahm das ganze Städtchen Anteil; sinnige Jungfrauen hatten die Kirche und den Taufstein bekränzt und mit dem tonkundigen Schullehrer schöne Gesänge einstudiert; die Schuljugend sollte gleichfalls das Fest durch Gesang verherrlichen; [301] die Bürgergarde bildete Spalier vom Dekanathaus bis zur Kirche, was nur dadurch ermöglicht wurde, daß die vorderen Glieder immer hinter den letzten durchsprangen und sich vorn wieder aufstellten. Die Öffentlichkeit der Szene, der Kirchgang zu Fuß brachte Elisabeth, die bei solchen Gelegenheiten an die geschlossenen Wagen der Residenz gewöhnt war, in nicht kleine Verlegenheit; dem Volke aber war das Ergötzen an dem schönen Aufzug wohl zu gönnen.

Voraus der kleine Festkönig, unbewußt seiner Würde, friedlich schlummernd unter dem grünseidenen Tuch, auf den Armen der Schwester Pauline, umringt von den vier jüngsten Geschwistern, die alle strebten, wenigstens einen Zipfel des Tauftuchs zu er fassen; dann die stattliche Großmama in der Blondenhaube und dem penseeseidenen Kleid; Elisabeth, in aller Blüte ihrer jungfräulichen Schönheit noch schöner fast in dem schwarzen Kleid, mit dem frommen Ernst auf den lieblichen Zügen, als einst im weißen Kleide und Rosenkranz. Gérardé ihr Mitgevatter, hatte ihr ein prachtvolles, feines Blumenbouquet in Gold und Perlen als Gevatterstrauß überreicht, das als Brosche getragen werden sollte; der Baron hatte in feuchtem Moos die auserlesensten Blumen seines Gewächshauses von daheim senden lassen; Elisabeth hatte die goldnen Blumen beiseite gelegt und sich mit den duftenden geschmückt. »Wie ein Engel,« flüsterten die staunenden Zuschauer des Zugs. Wie einen Engel blickte Ernst, der mit seiner Schwester Minchen in aller Würde der ersten Gevatterschaft hinter ihr schritt, die schöne Gestalt an.

Ein ungleiches Paar folgte: der Baron und der Kaufmann. »Das ist ein schöner Herr,« entschied die Volksstimme über den letzteren, »so starklecht, und sieht so gut aus, und so gar schön angezogen. Sehet, die weiße Weste ist von Atlas mit Silber gestickt!« Der Baron zog höchstens mitleidige Blicke auf sich und den Ausruf: »Das ist ja ein wahres Stilett!« (Skelett). Der Papa in festlichem Amtsornat schloß den Zug, und Elisabeth atmete leicht auf, als sie, der öffentlichen Volksschau entrückt, in die Kirche eingetreten waren. Ihre Gedanken [302] [304]waren so sehr ernst diesen Morgen, die feierliche Luft der Kirche tat ihr wohl; die Klänge der Orgel, der schöne Gesang, die heiligen Worte, mit denen das Kindlein geweiht wurde für das Leben, über das Leben hinaus, zu einem unvergänglichen Erbe, drangen in ihre innerste Seele. Alle Wahl und Qual, die sie in den letzten Wochen umgetrieben hatte, löste sich in dem einen Gebet aus tiefstem Herzen: »Herr, zeige du mir den rechten Weg!« Sie hielt das schlummernde Kindlein mit den weichen Zügen voll tiefen Friedens auf den Armen, und ihre Seele vereinte sich mit den Worten des Liedes, das eben von der Orgel herabtönte:


»Hirte, nimm das Schäflein an,
Haupt, mach es zu deinem Gliede,
Himmelsweg, zeig ihm die Bahn,
Friedefürst, sei du sein Friede,
Weinstock, nimm's zu deinen Reben,
Laß es ewig an dir schweben.«

Die Welt wog ihr so leicht in diesem Augenblick, es dünkte sie nicht schwer, sie von sich zu werfen, und ihr graute fast, wieder zurückzukehren in ein Leben voll Lust und Unruhe, von dem sie doch leise fühlte, daß es ihr wieder lieb, ach, nur zu lieb werden könnte.

Sie dachte an den Entschluß, der ihr bevorstand. »In Gottes Namen!« beschloß sie bei sich, »wenn es der Mutter Wunsch ist und ich Gérard so glücklich mache, so will ich Ja sagen. Der neue Stand bringt ja auch viel ernste Pflichten mit sich, ich habe dann so viel Mittel zum Gutestun, und Gott wird mir helfen, auch durch die Welt den rechten Weg zu finden.« Ihre Blicke fielen auf Gérard, der ihr gegenüberstand; ach, es lag so gar nichts in seiner Haltung, in seinem ganzen Wesen, das von einem Eindruck der heiligen Handlung zeugte; er sah nach ihr mit einer ungeduldigen Begehrlichkeit, die ihr bange machte; sie fühlte fast ein Grauen, wenn sie daran dachte, in diese Hand vor dem Altar die ihre zu legen. Sie sah nach dem Taufstein hinüber, wo eben der Baron das Kind über die Taufe [304] hielt: welch tiefer, heiliger Ernst lag auf seinen Zügen, wie innig und liebevoll ruhte sein Blick auf dem Kindlein, als wollte er ihm mit dem Segen des Himmels auch alles Glück der Erde wünschen, das ihm selbst versagt war! Sie konnte Gérard nicht mehr ansehen, und all der Mut und die Freudigkeit, das Ja zu sprechen, waren ihr wieder entsunken; unschlüssiger als zuvor ging sie den Weg von der Kirche heimwärts und beneidete alle, die sich nicht quälen mußten mit solch einer Entscheidung. Daheim versammelten sich die Kinder mit dem Täufling um die Mutter, die mit Freudentränen ihr Kindlein auf die Arme nahm. Vetter Gérard lehnte im gedeckten Festsaal am Fenster, gähnte und streckte sich und sagte: »Ich habe gar nicht gewußt, daß die Geschichte so lange dauert; auf Ehre, es ist halb vier Uhr, Zeit, daß man sich zu Tische setzt.« Die Tafel war aufs schönste geschmückt, eine teilnehmende Freundin aus der Stadt hatte die Anordnung übernommen, damit die Familie sich ohne Sorgen der Festfreude widmen konnte. Der Baron saß Elisabeth gegenüber, neben sie setzte sich Gérard, dem es nun hohe Zeit schien, daß das lange Besinnen zu Ende sei, wie »die Geschichte mit der Taufzeremonie«; er wurde mit jedem Glas des edlen Taufweins zutraulicher, nannte die Regierungsrätin Frau Mama, als er mit ihr anstieß, und gebärdete sich so siegessicher, daß dem Baron, der Elisabeths tiefes Erröten mißverstand, denn doch das Herz zu schwer wurde; er zog sich geräuschlos zurück, was nicht auffiel, da er ja sehr selten in größerer Gesellschaft verweilte. Dem Dekan, der sehr fröhlich angeregt war in dem Festgefühl, das auch einmal alle Alltagssorgen zurückdrängte und ihn im Blick auf sein Kinderhäufchen diesmal nur Hoffnungen und Freuden sehen ließ, wäre es ganz hübsch erschienen, das häusliche Fest mit einer Verlobung zu schließen. Die Mutter hielt ohnehin Elisabeths Zögern nur für mädchenhafte Schüchternheit und dachte, es wäre das beste, sie ein wenig zu überrumpeln; immer bedeutsamere Reden und Blicke zielten auf die arme Elisabeth, die endlich einen geschickten Vorwand ergriff, in den Garten zu entschlüpfen, um nur noch einen [305] Augenblick Ruhe und Zeit zu gewinnen; ihr war, als möchte sie lieber ans Ende der Welt entfliehen, um gewiß allein zu sein.

Aber auch im Garten war sie nicht allein; auf der Terrasse saß der Baron, den alle in seiner Wohnung geglaubt hatten, und es machte sie etwas befangen, daß es nun fast den Anschein hatte, als sei sie ihm gefolgt. Sie wollte mit flüchtigem Gruß an ihm vorübergehen, aber seiner freundlichen Bitte: »Bleiben Sie nicht ein wenig hier?« konnte sie doch nicht widerstehen.

»Ich möchte gern hier Abschied nehmen von Ihnen,« fing er an, »ich werde morgen abreisen.« – »So früh schon?« fragte Elisabeth; »ich dachte, Sie nehmen wieder einen Sommeraufenthalt hier.« – »Diesmal nicht, ich muß vielleicht ins Bad und will mich die übrige Zeit in meine Einsamkeit begraben. Da ich bald gehe, so nehmen Sie vielleicht meinen Glückwunsch nicht für voreilig an,« setzte er hinzu, sich gewaltsam zusammennehmend. »Gott segne Sie, liebe Elisabeth, und geleite Sie, wohin Sie auch Ihr Weg führt! Sie werden wenig Zeit mehr haben, an mich zu denken; aber es kommen doch vielleicht Augenblicke, in denen es Ihnen wohl tut, zu wissen, daß ein Wesen, dem Sie einmal Leben und Sonnenlicht waren, Ihrer denkt und für Sie betet, hier – oder dort.« Er nahm in tiefer Bewegung Elisabeths Hand in die seine, sie sah ihn an mit nassen Augen, ihr Herz war zu voll zum Sprechen, kaum brachte sie die Worte hervor: »Ich bin noch nicht Braut, ach, ich weiß ja gar nicht ...«

»Wenn Ihr Herz gewählt hat, liebe Elisabeth,« sagte der Baron, dessen mühsam errungene Kraft zu wanken begann, »so lassen Sie es sich durch keine Skrupel schwer machen, Sie können für jeden Kreis ein Segen werden – werden Sie glücklich – leben Sie wohl!« Er wollte sich erheben, Elisabeth aber bat ihn fast ängstlich, seine Hand haltend: »Oh, bleiben Sie noch! Der treue Rat eines ruhigen Freundes ist mir so nötig.« – »Ich bin kein ruhiger Freund!« rief der Baron aus, überwältigt von seinem lange verhaltenen Gefühl. »Elisabeth, [306] lassen Sie mich gehen! Ichkann Sie noch nicht als die Braut eines andern sehen! Oh, wäre mir vergönnt gewesen, Sie durchs Leben zu tragen! Ich habe nie, nie mit dem Schicksal gehadert bis zu dieser Stunde! Gott wird mir helfen, ohne Klage in mein trübes Dasein zurückzukehren; aber jetzt lassen Sie mich gehen! Leben Sie wohl, Elisabeth,« sagte er noch einmal mit weicher Stimme; »nehmen Sie meine Worte auf wie die eines Sterbenden, dem ja auch vergönnt ist, den Schleier von seiner Seele zu nehmen, der sie lebenslang verhüllen mußte, und zürnen Sie mir nicht!« Er wollte aufstehen, [307] aber Elisabeth hielt noch immer seine Hand; er wagte sie anzusehen, sie hatte ihre wunderbar schönen Augen zu ihm aufgeschlagen, und aus dem Schleier jungfräulicher Scheu brach ihm ein Himmel so inniger, voller, hingebender Liebe entgegen, daß er in einem nie geträumten Entzücken ausrief: »Elisabeth, ist's möglich? Elisabeth, o sprich ein einziges Wort, ist's nicht Mitleid? Bist du mein?« – »Dein,« flüsterte sie leise, und der Frühling war aufgegangen um sie und in ihnen.


Droben hatte Herr Gérard sich indes mit Elisabeths Mutter verständigt, die durchaus kein Hindernis für seine Wünsche wußte und ihm riet, bei Elisabeth gerade aufs Ziel zu gehen. »Sie müssen natürlich zu Anfang noch Geduld haben mit der Kleinen, sie ist schüchterner, als man ihr ansieht; sie wird selbst schon ruhiger und klüger werden, wenn sie einmal entschieden hat.«

Aber Elisabeth wollte lange nicht wiederkommen, die Mutter und der Bräutigam in Hoffnung beschlossen, sie im Garten aufzusuchen; Gérard steckte den prächtigen Brillantring in die Westentasche, der nun bald die schöne Hand seiner Braut schmücken sollte.

Es war sehr still im Garten, und sie kamen, ohne einen Laut zu hören, bis zu der Terrasse; da sahen sie denn freilich eine überraschende Gruppe. Der Baron saß in seinem gewöhnlichen Lehnstuhl, Elisabeth hatte einen niedrigen Gartenstuhl neben ihn gerückt und ruhte, den Kopf auf seinem Arm, ihre Hand in der seinen, die Augen zu ihm aufgeschlagen, wie ein Kind an ihn geschmiegt; keines von den beiden sprach, nur ihre Blicke flossen ineinander, so voll inniger Liebe, voll seliger Ruhe – ein Lied ohne Worte.

Elisabeth sah die Mutter mit Gérard kommen; sie erschrak nicht, sie fuhr nicht betroffen auf, sie fühlte sich so innig wohl und geborgen in der Gewißheit, die ihr nun geworden, wie eine Taube in der Felsenhöhle; sie richtete nur den Kopf auf und sah sie freundlich lächelnd an mit süßem Erröten und sagte ruhig: »Liebe Mutter, es ist doch anders gekommen, als wir glaubten; ich weiß nun gewiß, was ich gewollt. Nicht wahr, [308] Mütterchen, du gibst uns deinen Segen?« Die Mutter war so betroffen, daß sie zuerst nicht Worte finden konnte; auch Herr Gérard war darauf nicht vorbereitet – dieser Fall war in dem »Galanthomme, oder der junge Mann, wie er sein soll,« so gar nicht vorgesehen; er hub mit glühend rotem Gesicht und unterdrückter Heftigkeit an: »In der Tat, mein Fräulein ...« Aber der Taube war mit einemmal der Mut gewachsen, und mit kindlicher Offenheit, wenn auch zu Anfang mit schüchternem Ton, sagte Elisabeth: »Es tut mir herzlich leid, Herr Gérard, wenn ich Sie je über meine Gefühle getäuscht habe, meine Absicht war es gewiß nicht; mein Herz habe ich bis jetzt selbst nicht gekannt, sonst hätte ich Ihnen viel früher gewisse Antwort gegeben; halten Sie es meiner Jugend und Unerfahrenheit zu gute,« und sie bot ihm freundlich die Hand. So rasch aber ging es bei dem schwer gekränkten Liebhaber nicht mit der Versöhnung, er war zu bitter getäuscht und glaubte sich absichtlich gefoppt. Nie war ihm im Traume eingefallen, den siechen Baron für einen gefährlichen Nebenbuhler zu halten; mit Bitterkeit sagte er: »Wirklich wußte ich bis jetzt nicht, wie schwer der Rang einer Baronesse in den Augen einer jungen Dame wiegt; wenn Sie, Madame Gruber, eine solche Verbindung über Ihr mütterliches Gewissen bringen, so habe ich nichts einzureden.« – »In der Tat, Herr Baron,« hub die Mutter an, »kann ich kaum glauben, daß Sie eine so rasche Gefühlsaufwallung eines Kindes wie Elisabeth für entscheidend und bindend annehmen; Sie selbst müssen wissen, welche Bedenken ...« – »Ich weiß sie alle und habe sie lange und wohl erwogen, verehrte Frau,« sagte ruhig und mit fester Stimme der Baron; »auch war es die Überwallung eines lange bekämpften Gefühls und nicht besonnene Überlegung, was mir den Mut gab, um ein Gut zu werben, das mir stets ein unerreichbarer Stern schien. Elisabeth ist jung, Sie sind die Mutter, wir beide haben kein Recht, unsern geschlossenen Bund für fest anzunehmen ohne Ihre Einstimmung, und ich lege Elisabeths Wort wieder in die Hand ihrer Mutter. Ich kann ihr nichts bieten als eine Lage, die sorgenfrei ist für [309] bescheidene Bedürfnisse, nichts von allem Glanz des Lebens, nichts von Freude und Lust der Jugend, kein frisches, freudiges Zusammenwirken von Mann und Weib – nichts als ein Herz voll unendlicher Liebe, um ein Leben voll Opfer und Entsagung zu lohnen, eine Ehe, die ein Brautstand sein möge für die selige Vereinigung in der Ewigkeit.«

»Gratuliere zum ewigen Brautstand,« sagte mit hämischem Ton der Kaufmann, indem er sich empfahl.

Der Baron küßte Elisabeth leise auf die Stirn und führte sie der Mutter zu. »Elisabeth, wie auch dieser Tag ende, ich werde ihn segnen als einen Stern meines trüben Lebens. Entscheide dich frei und glaube, wenn du auch nur diesen Augenblick mein gewesen bist, du bleibst doch mein guter Engel!« Er schritt langsam dem Hause zu, nicht mit dem raschen Schritt eines Siegers, müde, fast überwältigt von der Bewegung der letzten Stunden. Die Mutter sah ihm seufzend nach: »Ach, es wäre ja alles recht, es müßte gerade kein Millionär sein, und eine Baronesse wäre auch nichts Schlechtes; aber das ist doch in Ewigkeit kein Mann für meine blühende Elisabeth!«

Herr Gérard empfahl sich französisch mit Hinterlassung eines reichen Patengeschenks; auch der Baron reiste in der Frühe des nächsten Tages ab, nach einer langen Unterredung mit dem Dekan; Elisabeth wollte er nicht mehr sehen, ehe ihre Mutter entschieden hatte, um ihre Wahl nicht zu bestechen.

Ach, da konnte von keiner Bestechung mehr die Rede sein! Durch alles Wiegen und Wägen des Familienrats über ihre Zukunft, durch alle Für und Wider, Wenn und Aber blieb die junge Elisabeth, das sonst so kindische, unschlüssige Wesen, fest wie eine Mauer. »Du gibst es gewiß noch zu, Mütterchen,« sagte sie zuversichtlich, »denn es ist mein Glück.«

Man beriet nach des Barons Wunsch die Ärzte, die ihn so lange behandelt; sie kamen überein, daß der Sitz des Leidens schwer zu ergründen sei, es sei vielleicht das Rückenmark angegriffen, vielleicht liege der Grund des Übels im Herzen, möglicherweise auch bloß in den Nerven; es sei kaum anzunehmen, daß der Baron je zu voller Kraft und Gesundheit [310] komme; man habe aber auch Beispiele, daß man bei solchen Zuständen alt werden könne, ebensowohl müsse man jedoch auch auf ein plötzliches Ende gefaßt sein. »Und wenn ich nur einen Tag die Seine bin,« entschied Elisabeth auf diesen Ausspruch, »so ist mir dieser eine Tag mehr wert als ein ganzes Leben von Weltglück.«

Es war verwunderlich, daß die sonst so nüchterne und besonnene Marie die erste Bundesgenossin der Schwester wurde; bedenklicher blieb der Dekan, schon aus Pflichtgefühl, weil er innerlich doch die Partei seines Vetters nahm; aber auch er ging über, und der Mutter blieb zuletzt keine andre Wahl, als sich überstimmen zu lassen; ob der Gedanke an »meine Tochter, die Baronin von Ellershausen,« nicht ebensoviel dazu beitrug wie der innige Herzenswunsch Elisabeths, sei dahingestellt. So ward das Jawort abgesandt; es gab großen Jubel unter der Kinderschar des Dekans, daß Elisabeth Braut sei und daß sie alle zur Hochzeit dürfen. Ernst teilte es Elisabeth selbst mit, er wünschte ihr Glück mit schüchterner Stimme; in der stillen Nacht aber entstand sein erstes Gedicht, das anhub:


[311]
»So bist du denn versunken,
Du schöner Jugendtraum,
Du lichter Himmelsfunken,
Ich ahnete dich kaum!«

Es hat es aber niemand je zu Gesicht bekommen.


Und abermal tagte ein Hochzeitmorgen in der Frühe eines goldenen Herbsttages, und Frau Schmeckenbächerin hatte das Glück, ihre schöne Elisabeth wie einen eingeborenen Engel herauszuputzen. Marie hatte noch einmal das Mädchenstübchen geteilt und sah mit liebevollem Lächeln in das strahlende Angesicht, aus dem durch allen Ernst des Tages, durch alle Tränen des Abschieds eine stille, selige Gewißheit inneren Glückes leuchtete.

»Kind, liebes Kind,« bat Marie, »ich danke Gott für deine Freudigkeit, aber nimm dir's nicht zu leicht, du weißt doch nicht, ob dich lauter Glück erwartet!« – »Nicht lauter Glück, aber lauter Segen,« sagte die Braut mit inniger Zuversicht und ging dem Bräutigam entgegen.

Die schaulustige Menge jedes Standes vor dem Hause und in der Kirche hatte diesmal noch viel mehr Veranlassung zu Anmerkungen als vor zwei Jahren bei Mariens Hochzeit. Frau Schmeckenbächerin zwar versicherte ihre Nachbarn, »der Herr Baron sei gar nicht schwindsüchtig, im Gegenteil, so bleich sei er eben von Natur«, aber es wurden doch verschiedene Vergleichungen angestellt: »Wie der Winter und der Frühling« – »Wie Tag und Nacht«. Die poesiereichste blieb aber die eines jungen Künstlers, den lange schon im stillen die schöne Elisabeth begeistert hatte: »Wie ein Engel des Lichts, der einen Toten nach Walhalla führt.«


Mit der Hochzeit schließt wie billig ein rechter Roman; da aber unsre Geschichte keinen Anspruch auf den Titel eines Romans machen kann und da viele der teilnehmenden Leser so besorgt wie die Zuschauer in der Kirche der Schließung des ungleichen [312] Ehebundes zugesehen haben, so sei uns vergönnt, den Vorhang auch nach dem fünften Akt noch einmal aufzuziehen und zu sehen, welche mächtige Erzieherin eineechte Liebe für unsre verwöhnte Elisabeth geworden ist.

Die Ärzte haben bis jetzt recht behalten: auch mit all dem reichen Zuwachs an Glück und Herzensfreude, auch unter all der zarten, liebevollen Pflege, die ihm durch seine junge Frau geworden, ist der Baron nicht zu voller Kraft und Gesundheit erstarkt. Wir finden ihn wieder in einem Bade, das so manchmal schon ihm Stärkung und Erquickung gab; immer noch sind große Gesellschaften für ihn angreifend, immer noch kann er nicht teilnehmen an den Genüssen der Jungen und Fröhlichen und sucht Stille und Einsamkeit. Aber es ist eine liebliche Einsamkeit, denn sie ist geteilt durch den blühenden Engel, der ihn noch nicht nach Walhalla, aber in ein Leben voll Frieden und Segen geführt hat. Sie scheint geschaffen zur Zier fröhlicher Gesellschaften, zum Schmuck des Ballsaales, in ihrer unverwelkten, feengleichen Schönheit, und doch scheint es nicht, als ob sie auch nur mit einer leisen Klage zurückverlange nach den Kreisen, in denen sie sich einst so fröhlich bewegte. Sie hat genug zu tun, bis sie jeden Lichtblick, der in der Macht menschlicher Liebe steht, in das kranke Leben ihres Gatten leitet; sie allein weiß, wann er gern ihr fröhliches Geplauder, ihre lieblichen Lieder hört, oder wann es ihm wohltut, still, ganz still an einem heimlichen Plätzchen des grünen Waldes sein Haupt ruhen zu lassen an ihrer treuen Brust. Sie weiß, wann sie den kleinen Kreis erwählter Freunde um ihn sammeln darf, die teilnehmen an seinen geistigen Interessen und Bestrebungen; sie versteht es, Besuche fern zu halten, ohne zu kränken, wenn ihm Stille Bedürfnis ist. Sie weiß mit heiterem Scherz seine düsteren Grübeleien zu zerstreuen, und in den schwersten Stunden findet er in ihrem Auge die stille Träne, die dem wunden Herzen wohler tut als alle Worte des Trostes.

»Eine gefährliche Sache für einen siechen Mann, mit einer so schönen, jungen Frau in ein Bad zu gehen,« meinten wohl [313] frivole Stimmen; aber sie kennen nicht den gefeiten Kreis, den die rechte Herzenstreue um eine vermählte Frau zieht und der selbst die Kecksten und Verdorbensten abhält, ihr auch nur mit einem Blick, mit einem Wunsche nahe zu treten. »So sind sie nun nicht mehr zwei, sondern eins.« Die Wahrheit dieses Wortes empfand man nicht leicht bei einem Ehepaar wie bei diesem. Auch Vetter Gérard fühlte dies, als er mit einer glänzenden Braut, der reichen Erbin eines vormals jüdischen Kaufherrn, den selben Badeort besuchte, wo er gehofft hatte wenigstens einiges Bedauern in der jungen Frau zu wecken, die nun an einen kranken Mann gefesselt war.

Elisabeths neidlose Freude über sein Glück, ihre harmlose Herzensgüte versöhnten ihn, und er versuchte sich darein zu ergeben, daß das törichte Kind eben ihr Glück mit Füßen getreten habe.

Freilich sah Elisabeth wie ihr Gatte mit einiger Sehnsucht dem Ende des Badeaufenthaltes entgegen, wo sie heim durften; heim! Der Baron hatt eine gewußt, welcher Zauber in dem Worte liegt, ehe seine Heimat so belebt und verschönt war von dem Hauch eines jungen, warmen Lebens, das alle Schätze, die ihm Gott verliehen hatte, hingab im Dienste der Liebe.

Der Instinkt des Herzens mehr als Überlegung hatte Elisabeth gelehrt, daß ein bloßes Sonntagsleben, geteilt zwischen Musik, Lektüre, leichten Studien und Phantasiearbeiten nicht hinreiche, um ein Dasein befriedigend auszufüllen; sie hatte sich einen Beruf geschaffen unter den Bewohnern des Dorfes, an denen die wohlwollende Absicht des Barons früher so oft gescheitert war. An die Alten hatte auch sie sich nicht gewagt, denn sie hatte nicht die Energie, den Leuten die Wahrheit zu sagen und in Verhältnisse einzugreifen, die ihr fremd waren. Sie begann mit Kindern, mit den Kleinsten, für die sie einen leeren Saal im Erdgeschoß ihres Schlosses eröffnete; der Kreis erweiterte sich allmählich, sie zog sich Gehilfinnen heran unter den größeren Mädchen, und Frau Schmeckenbächerin selbst ließ sich herbei, einmal ohne Begleitung eines Individuums [314] einen Ferienaufenthalt in Ellershausen zu nehmen und mit ihrer aristokratischen Schere, die schon fürstliche Roben zugeschnitten, zweckmäßige Jacken und Kleidermuster für die Dorfmädchen zu schneiden und die Gewandtesten darunter die nötigen Handgriffe zu lehren.

Was Elisabeth halb als Spiel begonnen, wurde freilich bald ernstliche Arbeit und brachte Mühe, Verdruß und Schwierigkeiten mit sich; aber die Baronin hielt sich tapfer, gestützt und getragen von der herzlichen Teilnahme ihres Gatten, der gern, wenn sein Kopf zu müde war für tiefe Studien, Lieder und Geschichten auswählte oder dichtete für die verschiedenen Kinderkreise und die Rechnungen für ihre Arbeitsschule führte.

Wie schön und genußreich wurden dadurch die stillen Feierstunden, wo sie als gelehrige Schülerin dem geliebten Lehrer lauschte und seine Strenge so liebenswürdig fand wie seine Güte, wo sie gemeinsam sich ergehen konnten in den Zaubergärten der Poesie, der Musik, wo ihre Seele ruhte im tiefsten, innigsten Einklang über die heiligen Wahrheiten des Lebens. Die Mama Regierungsrätin durfte ihre Nachsicht nie bereuen und kehrte stets mit neuer Befriedigung von jedem Besuch bei »ihrer Tochter, der Baronin«, nach Hause zurück, wenn ihr auch die eigentliche Quelle dieses Glücks verborgen blieb.

So ist denn Elisabeths Leben ein Leben von ungetrübtem Sonnenschein, voll edler Beschäftigungen und idealer Genüsse? Ach nein, auch die Sonntage wurden manchmal unterbrochen von langen trüben Stunden und endlosen Nächten, die Elisabeth an dem Lager ihres Gatten verwachte in verhaltenen Tränen, in tiefer Angst vor dem plötzlichen Tod, den die Ärzte als möglich prophezeit.

Wohl war er ihre geistige Stütze, ihr Leiter und ihr Halt auf dem Weg zum höchsten Ziel; aber es gab auch Zeiten, wo das Leiden, die Schwäche des Körpers seine Seele verdunkelten. Wenn ein Pulsschlag regen Lebens durch die Völker zog, wenn Genossen seiner Jugend in tatkräftigem Wirken, in neuen Bahnen auf dem Gebiet des Wissens die Lorbeern pflückten, die der Traum seiner Jugend gewesen, und er mußte [315] in tatenloser Stille, als der Pflegling seiner Frau, daheim bleiben, – da konnte selbst ihre sanfte Stimme, ihr lieblicher Gesang nicht immer den Dämon der Schwermut bannen. Und wenn er sie bat: »Oh, bete du für mich, daß Gott mir auch eine Stunde Gesundheit, volles, kräftiges Lebensgefühl schenkt!«, und ihre innigen Gebete blieben unerhört, – da flossen wohl in der Einsamkeit ihres Zimmers heiße Tränen des Mitleids, wie sie sie nie geweint um eigenes Leid; und wenn sie aus fröhlichen Familienkreisen kam, wo ein kräftiger Mann mit gesunden Kindern scherzte und spielte, da konnte doch oft die eigene Heimat sie still dünken und die Zukunft einsam.

Aber die Sonne inniger Liebe, starken Glaubens bricht siegreich durch jede Nacht; sie fühlt sich geliebt, wie selten ein Weib geliebt ward, sie weiß, daß in jedem Morgen- und jedem Abendgebet ihr Gatte Gott dankt für sie als für seinen höchsten Segen.

Und wenn es Stunden gibt, die schwersten und bittersten ihres Lebens, wo selbst ihre warme, reiche Liebe dem Gatten nicht alles vergüten kann, so erhält sie eben das demütig und führt beide immer wieder zur rechten Quelle alles Trostes. Immer tiefer, immer reicher haben sie hier schöpfen gelernt, immer mehr versteht sie Mariens Worte: »Das schönste Los ist, das uns lehrt, am unmittelbarsten in Gottes Augen zu schauen,« und durch all die leisen Schatten und stillen Tränen, die ihr Erdenglück noch begleiten, tönen ihr wie heiliger Orgelklang die Worte: Ein Brautstand für die Ewigkeit.

Ernst, der Seminarist, hat nun seine Studien beendet; er ist Pfarrgehilfe im Dorf Ellershausen und der schönen Burgfrau treuer Gehilfe bei ihren Reformen im Dorfe. Elisabeth ist noch das Ideal seiner Gedanken, die Dame seiner Lieder, ohne daß sie oder sonst eine sterbliche Seele je etwas davon geahnt haben. Aber es ist ein stilles Lieben, ein schmerzloses Entsagen ohne Wunsch und ohne Klage. Er hat ein Märchen gelesen von der weißen Wasserrose, die ein Schwan von fern umzieht mit leisem Gesang. Er gedenkt nicht zu vergehen im [316] Singen wie der Schwan; er gedenkt der weißen Blume, die nie sein eigen wird, wert zu bleiben in frischem kräftigem Leben. Und wenn er dereinst der Braut, von der er noch nicht weiß, wo sie für ihn erblüht, ein reines und unentweihtes Herz entgegenbringt, eine warme Seele für das Schöne und Edle, nicht verkühlt und nicht befleckt vom Hauch der Welt, so dankt er es der weißen Blume, die es nie geahnt hat und nie erfahren wird, was sie ihm geworden.

[317]

Tote Treue

Allzu tief versinkt oft in der Wehmut

Fesselloses Sehnen, wessen Wille

Sich nicht lauter zu der Sonne wendet.

Täuschend hüllet wohl verborgnen Bannes

Schmerzgefühl sich in der milden Klage,

In der stillen Sehnsucht Trauerkleider.

Schone nicht, zerreiße solche Flöre!

Treuer Wille wieget mehr als Wehmut.

A. Knapp.


Es war ein grauer Herbstabend; seltsame, gespenstische Wolkengebilde zogen in raschem Flug am Horizonte hin; die Zeit der wehmütig schönen Herbsttage war vorbei, über die Erde zog nicht mehr das süße schmerzliche Weh des Scheidens, mit dem sie dem schwindenden Sommer das Geleite gibt; es war das dumpfe Vermissen, mit dem nach einem Abschied der Zurückbleibende in ein verödetes Haus zurückkehrt. Etwas von diesem Gefühl schien sich auch in den Zügen, im freudlosen Blick einer Frau zu spiegeln, die, selbst noch nicht im Spätherbst des Lebens, am Fenster des Pfarrhauses zu Düsterfeld saß und dem Zug der fliegenden Wolken nachblickte.

Sie war gar manchen Tag schon dagesessen, seit der Pfarrer sie als seine allbewunderte, schöne Braut in dieses Zimmer eingeführt; aber niemand hatte in langen Jahren ein glückliches Lächeln, einen frohen Blick auf diesem schönen, regelmäßig gebildeten Gesicht gesehen; nie, auch als junge Frau nicht, hatte sie sich in helle, farbige Gewänder gekleidet, der einzige Wechsel ihrer Toilette war von Schwarz zu Grau, von Grau zu Braun. Ihr Wohnzimmer selbst trug den starren, farblosen Charakter ihrer eigenen Erscheinung: sauber erhaltene Möbel, mit grauem Tuch bezogen, die Tische, Kommoden und Schränke ohne Staub, aber auch ohne ein Zeichen, daß das Zimmer von lebendigen Menschen bewohnt war, alles wohl verschlossen und aufgeräumt. Da lehnte in der Fensterecke keine Pfeife, [318] die gezeigt hätte, daß sich's der Hausherr hier zuweilen behaglich mache; kein vergessenes Arbeitsgerät, an dem man gesehen, daß die Hausfrau etwa ein Weilchen an des Mannes Seite gearbeitet und geplaudert hatte; kein Buch, kein Blumentopf, kein Spätblümchen aus dem Garten, der auch zur Blütenzeit wenig Blumenflor zeigte – eine leblose Ordnung; es schien alles im Zimmer so gewachsen und seit Jahren nicht verrückt worden zu sein.

Und auch im ganzen Umkreis des Hauses wehte dieser kühle, austrocknende Hauch. Die geraden Beete des Gartens wurden zwar im Sommer unter der Aufsicht der Frau Pfarrerin mit Küchengewächsen bepflanzt; aber kein Blumenbeet ziegte Spuren der freundlichen Liebhaberei einer Hausfrau; in den Rabatten wuchs fort, was etwa schon unter dem früheren Pfarrer gepflanzt worden war; die Laube, früher der Sammelort gemütlicher Freunde, der Tummelplatz einer mutwilligen Kinderschar, war längst zusammengefallen; der Hof vor dem Hause glich einem begrasten Kirchhof, die Läden, die nach vorn gingen, waren immer geschlossen; wer noch veranlaßt war, das unfreundliche Haus zu betreten, der mußte durch eine Hintertür eingehen.

Es bestand hier aber noch nicht der lebendige Verkehr, der sonst wohl ein Pfarrhaus zum Mittelpunkt des Dorfes macht. Keine Nachbarin schlüpfte mit einer Schürze voll Eiern in das Pfarrhaus, um bei der Gelegenheit der Frau Pfarrerin ihr Herz ausschütten zu können; kein Kind mit linkischer Höflichkeit, ängstlich und vergnügt zugleich, daß es ins Pfarrhaus durfte, brachte von der Mutter ein Metzelsüppchen, das mit freundlichen Worten und einem kleinen Geschenk vergolten wurde; kein verschämtes Brautpaar stellte sich lächelnd und errötend den Blicken der Frau Pfarrerin dar und hörte ihre herzlichen Glückwünsche und Ermahnungen an; keine bekümmerte Mutter bat zutraulich um ein Labsal für ihr krankes Kind. Das kühle, teilnahmlose Wesen der Frau, das die Leute für lauter Hochmut hielten, hatte längst die meisten verscheucht; nur die Bettler gemeinster Sorte, die mehr auf großes Geschenk als auf [319] gute Behandlung sehen, und Leute, die amtlichen Verkehr mit dem Pfarrer hatten, betraten noch das versteinerte Haus.

Und wo war denn der Pfarrer, der beneidenswerte Besitzer dieses geordneten Anwesens, das Haupt dieses geräuschlosen Hauses? Der saß oben in seiner Studierstube und rauchte seine Pfeife und studierte, und in dem Zimmer daneben saß der Vikar und rauchte seine Zigarre und studierte auch. So saßen sie vom frühen Morgen, wo ihnen das Frühstück aufs Zimmer gebracht wurde, bis zum Mittag, wo die Magd zum Essen rief. Die Mahlzeiten selbst trugen ein gewisses freudloses Gepräge; keine besondere Überraschung, kein abgelauschtes Leibgericht unterbrach die regelmäßige Wochenordnung, in der sich die Speisen folgten. Freilich litt man auch nie unter den Drangsalen einer Wäsche oder Hausreinigung; alles war regelmäßig, ordentlich und kühl. Schweigsam wurde die Mahlzeit eingenommen, schweigsam machte der Pfarrer mit dem Vikar einen Spaziergang nach Tisch, bis sich jeder wieder in seine Rauchhöhle zurückzog, wenn nicht ein amtliches Geschäft den einen oder den andern abrief oder wenn sie sich nicht durch einen Gang in die ziemlich entlegene Stadt für die trostlose Öde ihres Aufenthaltes entschädigten.

Nur ein Gegenstand im Wohnzimmer war ein Augentrost für den Vikar wie für jeden, der genötigt war, es zu betreten, eine frische grüne Oase inmitten einer Sandwüste, auf der das Auge gern ausruhte. Es war das Bild eines jungen, hochgewachsenen, blühend schönen Mädchens in der idealen Kleidung, mit der sich zu Anfang dieses Jahrhunderts geistvolle Künstler dem Ungeschmack der Mode zu entziehen wußten. Ein schmuckloses weißes faltiges Gewand umschloß die schlanke Gestalt, die blonden Haare schmückten Kornblumen, und in der einen ausgestreckten Hand hielt sie einen vollen Lorbeerkranz, wie bereit, um einen Sieger zu krönen. Der junge Vikar war von Anfang an so niedergedrückt worden durch die Eisluft des Hauses, daß er nie nach dem Bild zu fragen gewagt hatte. Der Pfarrer hatte ihm aber anvertraut, es sei das Porträt seiner Frau aus jungen Tagen, das diese schon lange in eine [320] obere Kammer habe verbannen wollen; er habe aber durchgesetzt, daß es bleibe. Seitdem war es ein fortgesetztes Studium für den Vikar, das ihm die trostlose Einförmigkeit des Tages etwas verkürzte, in den steinernen Zügen der früh gealterten Matrone die Spuren des schönen Jugendbildes zu suchen und sich auszudenken, wie es wohl gekommen, daß diese jugendliche Viktoria zu dem grauen Steinbilde geworden, das hier Haus und Herzen verdüsterte.


Ein ungewöhnliches Ereignis unterbrach heute die gewohnte Stille des Abends. Der Bote, der Briefe und Zeitungen von der Stadt brachte, war wie gewöhnlich in des Pfarrers Stube hinaufgestiegen; die Pfarrerin las keine Zeitungen und erhielt keine Briefe; nicht daß sie gar nicht gelesen hätte, sie galt sogar für eine gelehrte Frau, sie las Griechisch und Latein und hatte ihre regelmäßige Abendstunde, die sie der Lektüre der Klassiker widmete; aber die Ereignisse der Gegenwart ließen sie ohne Interesse und Teilnahme. Es war daher wirklich eine Begebenheit, als der Pfarrer, kurz nachdem der Bote das Haus verlassen, eilig zu seiner Frau herabkam, und sie selbst sah etwas verwundert von ihrer Arbeit auf.

»Ein Brief von Julie,« sagte der Pfarrer, dessen Stimme von tiefer Bewegung zeugte. – »Von Julie?« fragte die Frau, ließ die Arbeit sinken und griff nach dem Brief; »es sind ja erst acht Tage, seit sie geschrieben.«

Julie war ihr einziges Kind, seit lange bei der Großmutter, und sie hatte die Erlaubnis oder die Weisung von der Mutter, alle vierzehn Tage regelmäßig zu schreiben, was ebenso regelmäßig beantwortet wurde. Der Brief enthielt in den unschuldigen, fast noch kindischen Zügen einer jungen Mädchenhand die wenigen Worte:


»Liebe Eltern, die gute Großmutter ist tot. Sie ist in dieser Nacht ganz unerwartet sanft eingeschlafen, nachdem sie noch abends ihr Lieblingslied gebetet hatte: ›Wer weiß, wie nahe mir mein Ende.‹ Ich kann Euch nicht sagen, wie betrübt es hier ist. Übermorgen ist die Beerdigung; ich hoffe, der liebe [321] Vater kommt und nimmt mich mit nach Hause. Tante Meier ist hier, die alles besorgt. Ich freue mich zu Euch.

Eure tiefbetrübte

Julie.«


»Meine gute alte Mutter! Gott sei gedankt für ihr sanftes Ende!« sagte der Pfarrer im tiefsten Leid; auch die Augen der Frau waren feucht, sie hätte wohl gern einen Weg gefunden über den Eissee zwischen ihren Herzen. – »Du wirst morgen früh abreisen müssen,« sagte sie; »soll ich mit dir gehen?« – »Ich kann dir's nicht zumuten,« sagte der Pfarrer; »du weißt, es ist kein ordentliches Gefährt hier, ich muß sehr früh gehen und schnell reisen, das wäre zu anstrengend für dich.« – »Wie du willst,« sagte sie wieder kurz und schickte sich an, für den Trauerflor und die Vorbereitungen zur Reise zu sorgen.

Der Pfarrer war zur Abreise gerüstet; er gehörte nicht zu den verwöhnten Männern, die wie ein Kind überall der Dienste und Pflege einer zärtlichen Hand bedürfen; er hatte lernen müssen, für sich selbst zu sorgen; nur was so eigentlich nach strengem Recht ins Gebiet der Hausfrau gehörte, daran ließ es diese nicht fehlen. Und doch schien diesen Morgen ein etwas weicheres Element zwischen die Gatten eingedrungen, ging doch der Pfarrer zu seiner Mutter Leiche. Aber wenn dies der Frau den Wunsch erregte, ihm etwas Liebe und Teilnahme zu zeigen, so verkühlte ihn wieder der Gedanke, wie er nun das letzte liebende Herz verliere und wie auch die Mutter wenig Liebe und Freude genossen habe von dieser Tochter. Es ist so schwer, die Brücke zu finden, die entfremdete Herzen wieder zusammenführt!

»Ich bringe Julie mit zurück,« sagte der Pfarrer, dem in der Hoffnung auf das lange vermißte Kind ein plötzlicher Freudenstrahl aufging. – »Natürlich,« sagte die Mutter. – »Nun, sorge nur,« fuhr der Vater fort, »daß das arme Kind, das aus dem Trauerhause kommt, einen freundlichen Eintritt in die Heimat hat. Richte ihr ein hübsches Stübchen ein, das [322] ist eine Freude für junge Mädchen. Im Alkoven bei dir hat sie nicht mehr Platz, sie muß doch auch ihre Siebensächlein unterbringen können; die untere Hinterstube ist so groß und kalt, die neben mir hat der Vikar; es bleibt wohl«, setzte er etwas zögernd hinzu, »nur das obere Hinterstübchen übrig, das hat auch die freundlichste Aussicht.«

Der Pfarrer hatte [323] lange nicht so viel mit seiner Frau gesprochen; sie hatte ein freundliches Abschiedswort, einen herzlichen Gruß an die Tochter auf den Lippen gehabt, des Pfarrers letzte Worte verschlossen ihr wieder Herz und Mund.

»Also darauf ist's abgesehen!« murmelte sie, als der Pfarrer abgefahren war; »die letzte Erinnerung will man mir nehmen!« Und mit ihrem gleichmäßigen, geräuschlosen Schritt ging sie hinauf in das obere Stübchen, wirklich das freundlichste des Hauses, das unbetretene Heiligtum, zu dem nur sie den Schlüssel hatte. Das Zimmer enthielt in einer Ecke zusammengestellt wenige Möbel und Betten, die eben nicht im Gebrauch waren. Eine Wand aber war freigelassen, nur ein weißbedecktes Tischchen, fast wie ein Altar, stand daran; an der Wand aber war eine Kriegstrophäe aufgehängt, einige Waffen, eine Fahne, eine Feldbinde, wie sie die Lützowschen Jäger getragen; darunter in einem Zypressenkranze hing ein kleiner Schattenriß.

Die Pfarrerin, die so lange schon glaubte, keine Tränen mehr zu haben, brach in Weinen aus, als sie die Trophäe betrachtete, zum letztenmal, wie sie dachte. »Auch das noch!« sagte sie sich mit der finsteren Genugtuung eines freudlosen Herzens, das im Unglück schwelgt; »auch das Letzte soll ich hingeben!« Und leise und langsam löste sie eines um das andre ab und legte es in einen Koffer; nicht ein Gedanke in ihrer Seele an ihr einziges Kind, dem sie eine freundliche Heimat bereiten sollte; sie dachte nur anihr begrabenes Leid, an das schwere Unrecht, das ihr widerfahren, als sie den Koffer schloß, die letzte Spur von dem Trauerschmuck des Zimmers entfernte und dann langsam herabstieg und der Magd Anweisung gab, wie sie das Zimmer zu rüsten habe. Dann sank sie auf das Sofa, deckte ihr Gesicht mit den Händen und kehrte noch einmal zurück in die Vergangenheit, zu dem lange begrabenen Liebesfrühling ihres Herzens.


Jenes schöne Bild an der Wand war seiner Zeit keine Lüge gewesen. So jung, so schön, so blühend und hoffnungsreich [324] hatte Elise einst ins Leben hinausgesehen, die jetzt so erstarrt, so freudlos, so wenig freudebringend in so dumpfer Resignation von einem Tag zum andern hinlebte. Ein reicher, goldener Frühling war ihr beschieden gewesen, und kein Maler könnte die glühenden Farben wiedergeben, in denen sich ihr junges Herz einst die Zukunft ausgemalt hatte – die Zukunft, die nun Grau in Grau so öde vor ihr lag.

Die Poesie des Herzens ist nicht an äußere Umgebungen gebunden; kühle, steinerne Städte haben poesiereiche Gemüter groß gezogen, und doch ist für eine innerlich reiche Natur gewiß die Kindheit und Jugend auf dem Lande genußvoller und schöner als in der Stadt. Die Wonne der Einsamkeit, des unbewußten, träumerischen, ungesuchten Verkehrs mit der Natur ist so fruchtbringend für die innere Entfaltung, und Elise hatte diese unverkümmert in reicher Fülle genossen.

Sie war die Tochter eines wohlhabenden Landpfarrers und teilte den Unterricht des Vaters, die Freuden des Elternhauses mit einem einzigen Bruder. Ihre Erziehung war von der anderer Mädchen sehr verschieden. Der Vater, der früher Lehrer gewesen, wollte die Kinder allein unterrichten; er teilte ihnen mit, was er selbst wußte; neue Sprachen waren Nebensache, aber Griechisch und Lateinisch konnte er nicht früh genug den Kindern beibringen, um ihnen die Schätze des klassischen Altertums aufzuschließen, und obgleich Elise ein Jahr jünger war als ihr Bruder, so hielt sie doch durch rasche Fassungskraft und glühenden Eifer gleichen Schritt mit ihm.

Statt Kindermärchen und Romanen war Cornelius Nepos, Livius und Julius Cäsar die erste geistige Nahrung des Mädchens, und was diese Schulbildung ihr hätte Trockenes geben können, das ersetzte ihre eigene poetische Begabung, die durch die anmutige Umgebung ihres Heimatsorts genährt wurde. Auch wehte damals neben dem trockenen Rationalismus in Glaubenssachen ein sentimentaler Hauch durch die gebildete Welt, dem kein Herz sich ganz entziehen konnte.

Einen Nachteil hatte Elisens Erziehung: die Mutter hatte zu wenig Einfluß auf sie. Gewiß ist es schön und gut, wesentlich [325] und fruchtbringend für die innere Entwicklung, wenn der Vater sich der Erziehung der Töchter annimmt; wo aber diese väterliche Erziehung den Einfluß und die Geltung der Mutter zurückdrängt, da entsteht leicht ein gewisser Vaterkultus, der ein sicheres Zeugnis einer einseitigen Bildung ist, wo er sich findet. Es hat etwas Verletzendes, wenn »der Vater« das dritte Wort im Munde eines Mädchens ist, wenn die töchterliche Zärtlichkeit gegen ihn einen empfindsamen, die väterliche einen ritterlichen Anstrich hat und die Mutter nichts als die gute Frau ist, die kochen darf und Strümpfe flicken und ihre talentvollen Töchter bewundern. Es mag dies oft durch die Verhältnisse, durch den Bildungsgrad der Mutter bedingt sein, es sieht auch zuzeiten recht hübsch aus, aber es ist und bleibt etwas Verkehrtes.

Elise fügte sich freilich auch den Wünschen der Mutter, soweit sie der Vater unterstützte; sie nahm sich häuslicher Geschäfte an, wo es nötig war, und ihr Verstand und ein natürliches Geschick unterstützten sie hierin; aber ihre Seele legte sie nie in diese kleinen Sorgen, sie lebte in der Welt des Altertums, in Träumen von großen und herrlichen Taten, von ungeheuren Entsagungen und Opfern für das Vaterland.

In den Lehrstunden beim Vater wurden die Alten studiert, auch nachdem der Bruder auf eine Schule gekommen war; mit ihm, der von dem nicht entlegenen Gymnasium gar häufig in der Heimat verweilte, las sie neuere Dichter, berauschte sich in ihrer glühenden Sprache und machte begeisterte Pläne zur Hebung und Rettung des Vaterlandes, dessen Erniedrigung und Unterdrückung damals schon begann. Aber wenn sie allein war, allein an den anmutigen Ufern des Flusses, der an ihrem Heimatsort vorbeifloß, allein auf der kleinen felsigen Anhöhe, wo sie sich von wilden Reben eine Laube gebildet hatte, und hinausblickte in die duftige Ferne, in das sonnige Land, da wachte ein weiches, klopfendes Mädchenherz auf, und goldene, süße Bilder einer schönen Zukunft stiegen vor ihr empor. Sie träumte von der verwandten Seele, in der sie die schönere, reichere Seite ihres eigenen Wesens wiederfinden würde; von [326] einer Sonne, die alle verhüllten Blüten ihres tiefsten Innern zum Leben entfalten werde; von einer Eiche, die sie als Efeu umranken könnte. Man nannte sie stolz, – sie wollte es sein; aber ach, mit welch unendlicher Demut wollte sie sich neigen vor dem »hohen Stern der Herrlichkeit«, der ihr einst aufgehen mußte! Und während dieser geträumte Stern reich sein sollte an tiefem Wissen, an Talenten und geistigen Schätzen aller Art, sollte er zugleich ein Vorbild ritterlicher Herrlichkeit sein, ein Kämpfer für die Freiheit des Vaterlandes.

Wenn sie aus solcher Welt der Träume von ihren einsamen Gängen nach Hause zurückkehrte und die Mutter sie bat, doch nach der Suppe zu sehen, oder sie mit dem Seufzer empfing: »Nun denke aber, jetzt schickt der Julius heute seine Waschkiste, nachdem man vorige Woch' die große Wäsche gehabt!«, da lächelte sie mitleidig wie eine Göttin aus Wolken über diese kleinlichen Sorgen. War sie einmal eine Frau,sie wollte zeigen, was eine schöne, freie Häuslichkeit sei, unbeengt von diesen Mühseligkeiten, die sich ja nebenher abmachen ließen. Die Mutter war eine herzliche, gemütliche Frau von einfacher Bildung und gesundem Verstand; aber seit der Geist der Tochter seinen hohen Flug genommen, seit der Vater nur in Bewunderung seines Kindes aufging, fühlte sie sich mehr und mehr zurückgedrängt, verschüchtert, wohl manchmal auch verbittert, wenn sie nicht wieder in der Zärtlichkeit ihres Sohnes Trost gefunden hätte. Das geduldige Lächeln, mit dem Elise ihre Lehren und Bemerkungen anhörte, wenn sie je noch solche aussprach, brachte sie mehr aus der Fassung, als der entschiedenste Widerspruch getan hätte. Sie schwieg, und wenn sie die Geringschätzung ansah, mit der Elise sich abwandte von den kleinen Lebenssorgen, die in das Gebiet der Frau fallen, von allen Menschen, die nicht in die höhere Klasse der Wesen gehörten, zu der sie sich zählte; wenn sie sah, wie die Tochter unter Menschen umherwandelte im beständigen Gefühl, »unter Larven die einzige fühlende Brust« zu sein, da seufzte sie bedenklich: »Wer da steht, der sehe zu, daß er nicht falle!«

[327] Gegen alle Männer, die in ihren Bereich kamen, und gegen ihre Aufmerksamkeit blieb Elise kalt. In ihrem Tagebuch stand:


»Einmal nur, doch dann zu Lust und Qual,
Neigt mein Herz zu seines Herrschers Wahl,
Und sein Reich wird Ewigkeiten dauern.«

Der Herrscher sollte kommen. – Der Bruder war zur Universität abgegangen. Ein hochgeehrter Verwandter des Hauses war Professor in Jena, und dies bestimmte die Eltern, ihn dorthin zu senden. Die Trennung war schmerzlich, aber die Korrespondenz mit dem fernen Bruder wurde nun erst recht eine Quelle des Genusses für Elise. Das rege geistige Leben, das damals, von den höchsten Geistern angeregt, unter allem politischen Druck fortglühte, die wachsende Sehnsucht nach Abschüttelung des fremden Jochs, die Hoffnungen für die Zukunft des Vaterlandes, die kaum wagten, sich in geheimnisvollen Andeutungen auszusprechen, – das alles hielt sie in beständiger Aufregung. Sie glaubte oft den schleppenden Gang der Alltäglichkeit nicht mehr ertragen zu können. Glück, und Glück in unerhörter, wunderbarer Gestalt, forderte sie vom Himmel, und in jugendlicher Vermessenheit bot sie dem Geschick ihr ganzes Leben zum Opfer an, wenn sie nur einmal, nur einmal recht und voll glücklich gewesen sei.

Es war im März, in den ersten goldenen Tagen, wo die Sehnsucht nach dem heranziehenden Frühling fast noch süßer und mächtiger ist als die volle Schönheit des Frühlings selbst; wo das Herz einen unaussprechlichen Zug in die Weite fühlt, wo die hellsten Träume von der Zukunft wach werden, während ein Herbsttag, und sei er noch so sonnig und schön, nur wehmütig-süße Erinnerungen weckt. Elise war spät erst vom Spaziergang zurückgekommen und saß beim eben angezündeten Licht am Tisch mit den Eltern, da tönten die Hufschläge rascher Pferde durchs Dorf herauf. »Um Gottes willen, Feuerreiter!« rief die Mutter. In dem Augenblick hielten die Reiter vor dem Pfarrhaus, und laut und heftig wurde die Hausglocke gezogen. Erstarrt vor Schrecken, vor Furcht einer nahen Trauerbotschaft, [328] [330]blieb die Mutter sitzen. Elise eilte rasch mit dem Licht hinunter und öffnete die Haustür, während Knecht und Magd in der Küche bestürzt herumrannten und sich in abenteuerlichen Vermutungen erschöpften.

Zwei junge Männer sprangen von schäumenden Pferden; das volle Licht des Mondes fiel auf die schöne, edle Gestalt eines Jünglings, der sich, glühend vom raschen Ritt, vom Rosse schwang und wie träumend das blühende, schlanke Mädchenbild anstarrte, das mit der Kerze vor ihm stand und in dem einen Augenblick begriff, daß hier die wunderbare Erfüllung aller ihrer Träume vor ihr stehe. »Elise!« rief der andere, als er abgestiegen war, und Elise hielt den Bruder umschlungen.

Nun kam der Vater, und aus lauter Angst folgte ihm die Mutter, es kam der Knecht und kam die Magd; es ging an ein Fragen, Verwundern, Ausrufen; Julius bat aber um Stille, übergab dem Knecht die Pferde und führte den Freund schnell ins Haus. Während der alte Johann die schönen abgehetzten Tiere zum alten, gesetzten Pfarrgaul in den Stall brachte, hatten sich die unerwarteten Gäste in der Stube gesetzt; die Mutter, noch zitternd vor Schrecken, hielt ihres Sohnes Hand in der ihren und vermochte kaum zu sprechen; Elise, die der Herzensinstinkt mit einemmal zur flinken Hauswirtin gemacht, flog leicht und rasch hin und her und brachte alles, was das gut eingerichtete Haus zur Stärkung und Erquickung der müden Reiter vermochte. Der Fremde folgte ihren anmutigen Bewegungen mit leuchtenden Blicken.

Der edle Elfer des Pfarrkellers hatte die Reisenden gestärkt; Julius zog die geschäftige Elise neben sich nieder und begann: »Nun sollt ihr hören, warum wir hier sind. Vater! Elise! die Zeit der deutschen Schmach ist vorüber. Da lest die Worte eines Königs!« Und mit erhobener Stimme las er den Aufruf des Königs von Preußen an sein Volk. Elise hing an seinem Munde mit strahlendem Gesicht. »Und nun, Vater,« schloß Julius, »ist die Stunde gekommen, wo es keinen Beruf mehr gibt als den Kampf fürs Vaterland; hier bin ich nun, mir euren elterlichen Segen zu erbitten; mit meinem Freund, [330] Graf Falkenschwerdt, trete ich in ein Freikorps, das sich mit Bewilligung des Königs bildet. Gott segne unsre Waffen, Gottmuß sie segnen, es gilt der guten Sache!«

Die Mutter faltete erschrocken die Hände und blickte todbleich mit nassen Augen auf ihren Liebling, den Sohn ihres Herzens, der aus dem ebenen, gebahnten Pfad eines bürgerlichen Berufs auf einen felsigen, halsbrechenden Weg fortgerissen wurde. Jetzt schon kämpfte ihr Herz den Schmerzenskampf des letzten Abschieds. Elise weinte nicht, sie bebte nicht, sie sah den Bruder und den Fremden mit glänzenden Augen an als Geweihte fürs Vaterland; kein Wort der Abmahnung kam auf ihre Lippe, kein Gedanke der Furcht in ihre Seele, – es mußte sein; ein berauschendes Gefühl von Glück kam über sie, nun endlich war sie eingetreten in die Welt des Großen und Wunderbaren, von der sie seither nur geträumt.

»Du vergißt, Julius,« sagte der Vater nach langem Nachdenken, »daß du als mein Sohn Untertan eines Fürsten bist, der noch verbündet ist mit Napoleon.« – »Auch das ist vorgesehen,« sagte Julius. »Der Oheim, der meinen Entschluß billigt, hat mich förmlich adoptiert; dadurch bin ich Untertan eines andern Staates, und nicht lange wird es mehr dauern, so wird jeder deutsche Fürst stolz sein, deutsche Söhne, deutsche Krieger und nicht Tyrannensklaven seine Untertanen zu nennen. Wir müssen hier noch meinen Entschluß geheim halten; nur wollte ich nicht ins Feld ohne euren Segen.«

»Auch ich«, begann der Fremde, der indes geschwiegen, »habe mit dem Bedenken eines allzu zärtlichen und allzu vorsichtigen Vaters zu kämpfen; meine Mutter lebt nicht mehr, mein Vater glaubt noch nicht an das Gelingen unsres großen Werkes. Nur unter fremdem Namen ist mir vergönnt am Kampfe teilzunehmen, von dieser kleinen Reise mit meinem Freund darf ich nur unter dem angenommenen Namen zurückkehren, unter dem ich mich bei Ihnen eingeführt. Mein wahrer Name bleibt verschwiegen, selbst für Sie, bis wir zusammen als Sieger zurückkehren.« Seine Augen begegneten denen [331] Elisens; sie brauchte keinen Namen zu wissen von dem, dessen tiefste Seele sie erkannte.

Es wurde den begeisterten Jünglingen nicht zu schwer, die Einwilligung des Vaters zu erringen, der selbst ein Mann von deutscher Gesinnung war und der auch einsah, daß es einen Punkt der inneren Entwicklung gibt, wo ein elterliches Machtwort, das den Willen brechen wollte, ein ganzes Leben brechen würde. Die Mutter gab mit schwerem Herzen ihre Einwilligung; sie setzte keinen Ehrgeiz darein, eine Spartanerin zu sein; der Kampf mochte ja ganz recht sein und gut, das wollte sie zugeben, aber warum sie ihren einzigen Sohn drangeben sollte, ehe seine Pflicht und sein König ihn dazu beriefen, das konnte sie eben nicht einsehen.

Die jungen Männer hatten am andern Morgen wieder abreisen wollen; der Zustand ihrer Pferde machte dies nicht möglich, und so wollten sie noch einen Tag zugeben. Julius war über den Aufschub ungeduldig, er hätte das Abschiedsweh, vor dem ihm selbst bange war, lieber mit einemmal überwunden; die verweinten Augen der Mutter taten ihm weh. Aber der sonst ebenso kampfdurstige Falkenschwerdt war sehr bereit dazu, und Julius ahnte mit Lächeln den Grund: erwußte ihn, als, da sie endlich nach Mitternacht ihre Ruhestätte suchten, Oskar ihn mit mehr als Freundesliebe umarmte; er wußte ihn, und er freute sich darüber. Kein Gedanke an den mit Orden bedeckten Staatsmann, den Vater seines Freundes, stellte sich verdüsternd und abkühlend vor das leuchtende Zukunftsbild, das vor seiner Seele aufstieg; er dachte an eine Zeit, wo es nur Deutsche, nur befreite Brüder eines großen Vaterlandes geben werde, nicht Bürger und Barone, Staatsräte und Pfarrer.

Der Pfarrer schlief wenig in dieser Nacht, er schritt lange auf und ab in tiefem Sinnen; die Mutter saß wach auf ihrem Bette und betete: »Ist's möglich, Herr, so nimm den Kelch von mir; wo nicht, so geschehe dein Wille!« Auch Elise konnte nicht schlafen; sie erhob sich vom Lager, sie sah hinaus in die helle Mondnacht und sah weiter und weiter hinaus in eine Zukunft [332] voll wunderbarer Ereignisse, voll ungeahnter Freuden, während die müden Jünglinge längst schliefen und träumten von Schlacht und Siegen.

Einen Tag verweilten sie noch im Pfarrhaus, einen Tag, dessen Inhalt lange Jahre aufwog. Die Eltern, besonders die Mutter, wollten den Sohn noch recht genießen vor dem Abschied, der, so bangte ihnen allen, der letzte sein konnte. Julius verstand die Mutter viel besser, als je die Schwester getan, und wenn sie mit schwimmenden Augen ins kleinste Detail einging über die Strümpfe, Socken und Unterleibchen, die sie ihm nachschicken wollte, so verstand er darin das Mutterherz so gut, als ob sie die schönste gefühlvolle Rede gehalten hätte, und wenn sie ihn schüchtern bat: »Aber nicht wahr, Julius, wenn man schießt, so stellst du dich nicht gerade vorn hin und denkst auch an deine Mutter?« so wandte er sich nicht verächtlich von so feigem Rate ab, er küßte lächelnd ihre Hand und sagte: »Ich denke an meine Mutter, gewiß, gewiß, in jedem Augenblick.«

Elise störte heute nichts, die ganze Welt schwamm in rosigem Licht, und während ihre Seele glühte von großen Gedanken, entfaltete sie eine weibliche Liebenswürdigkeit, eine häusliche Sorgfalt und Geschäftigkeit, die ihrem oft so zerstreuten, stolzen Wesen sonst abging und die ihr nun einen neuen Reiz gab. Es war keine Verstellung, keine Koketterie, es war die gehobene Stimmung des Herzens, die sie mit einemmal zum ganzen Weibe machte. »Aber, Elise, du bist ja wie ein Engel,« sagte der Bruder leise und lächelnd. – »Gott mache mich glücklich, und ich will ein Engel werden!« rief Elise. Ihr ganzer Sinn lag in diesen Worten, sie setzte ihre Veredelung der Vorsehung als Preis für das Glück, das sie forderte.

Julius wollte an dem schönen Märztage die Lieblingsplätze seiner Knabenzeit noch einmal besuchen. Alle gingen mit, selbst die Mutter, obgleich sie den ganzen Tag zu sorgen hatte, um Julius womöglich noch alle seine Leibgerichte zu bereiten. Die Eltern gingen voran mit Julius, Elise und Falkenschwerdt folgten. Sie fühlten sich in einem so bedeutenden Augenblick [333] über alle Schranken des gesellschaftlichen Zwanges weggehoben und tauschten in glühenden, lebensvollen Worten alle Erinnerungen, alle Träume, alle Hoffnungen ihres jungen Lebens aus. Sie sprachen kein Wort von Liebe, aber ihre Blicke, die sich begegneten, ihre Hände, die ineinander ruhten, sprachen deutlicher als Worte, und als am Morgen des Abschieds Elise sich aus des Bruders Armen wand und Oskar die Hand bot, da zog dieser sie an sich, drückte einen Kuß auf ihre Stirn und flüsterte: »Und kehre ich als Sieger zurück, so reiche diese Hand mir des Sieges Preis!«

Die Jünglinge ritten fort, nicht so rasch, wie sie gekommen waren, aber siegesmutig, kampfbegierig, reich an Hoffen. Über die Zurückbleibenden senkte sich das schwere bleierne Gefühl des Alleinseins, das Bewußtsein einer unendlichen Lücke, während jene freudig in die Welt hinauszogen, der eine reicher um ein seliges Gefühl. Zum erstenmal fast seit der Kinderzeit umschlang Elise die Mutter und legte ihr Haupt an diese treue Brust, und die Mutter verstand sie, aber sprechen mit ihr wollte sie nicht; sie wollte den Himmel nicht trüben, den sich der Tochter Seele malte, wo vor ihren Augen noch so viele Wolken und Nebel lagen.

Während die Welt draußen immer mehr bewegt wurde von Krieg und Kriegsgeschrei, war das Leben im Pfarrhaus äußerlich ein gar stilles, innerlich aber, zumal in Elisens Seele, reich an tiefer, mächtiger Bewegung. Zeitungsnachrichten, die freilich damals oft noch langsam ihren Weg in abgelegene Pfarrhäuser fanden, und die Briefe des Bruders waren ihr einziges Lebenselement. Die Bildung des Lützowschen Freikorps, dem die zwei Freunde beitraten, die feierliche Einsegnung desselben in der Kirche zu Rochau, seine ersten Waffentaten begleitete Elise mit ihrem glühenden Anteil, mit ihren Tränen und ihren Gebeten. Jedem Brief des Bruders war ein Gruß, irgend ein bedeutsames Wort von Oskar beigefügt; Pläne für die Zukunft ließen sich freilich nicht machen, wo der Augenblick so stürmisch und so inhaltreich war.

Elise lebte ganz in den jungen Helden, ihre einsamen Gänge [334] [336]führten sie immer auf die Felsenhöhe, wo sie am weitesten hinausblicken konnte; sie dachte und träumte nur von dem seligen Augenblick, wo sie die rückkehrenden Sieger begrüßen würde. Die Eltern gestatteten ihr, ihre einzige Freundin in der Residenz zu besuchen; dort ließ sie ihr Bild malen, für den Bruder, wie sie sagte; Vater und Mutter dachten wohl mit der Tochter an mehr als an den Bruder, als sie sich des schöngelungenen Bildes freuten, doch sprach keines darüber. Der Lorbeer war zu früh gewunden.

Der Sommer, der alle diese Hoffnungsblüten der Reife entgegenbringen sollte, brachte ihnen die Todessichel. Im Juni, inmitten des Waffenstillstandes, währenddessen die jungen Kämpfer hätten Kräfte sammeln sollen, wurde das Lützowsche Korps über fallen, die schönste Blüte der deutschen Jugend fiel – unter deutschen Waffen.

Elise und die Eltern harrten mit Sehnsucht auf Kunde von dem Sohn; da kam ihnen durch den Oheim die Botschaft von seinem Tod und zugleich all sein kleiner Nachlaß, seine Waffen, seine Uhr und seine Schreibtafel, in die er, wie es schien, mit sterbender Hand die Worte geschrieben: »Lebt wohl alle! Elise, Oskar ist gefallen ...« Auf spätere Nachfragen erfuhr auch der Pfarrer, daß Graf Falkenschwerdt unter den Gefallenen bei Kitzen sei. Seinen wahren Namen hatten sie nie erfahren.

Da brachen Zeiten großen und tiefen Leides über das Pfarrhaus herein, Tage, in denen die Zeit unbeweglich wie eine schwarze Wolke über uns hängt, wo das Herz nicht glauben will, nicht tragen will, was es doch hinnehmen muß. Die Mutter fand in der Tiefe eines frommen Gemüts am leichtesten Trost für das unsägliche Leid, mit dem sie ihren einzigen Sohn begrub; der Vater, der an so vielen Sterbebetten, an so vielen Gräbern gestanden hatte, bereit mit dem Trost des ewigen Wortes, – ach, er fand, wie es so viel leichter ist, andern zu predigen als sich selbst. So reich, so schön, so mannigfaltig sind die Trostworte für Leid und Tod in der Schrift, daß uns nichts leichter dünken sollte, als zu leiden und mit dieser Hilfe das Leid zu überwinden; aber ach, wo Schriftworte[336] nicht das Amen sind auf ein beständiges, stilles Herzensgebet, wie starr, wie tot stehen sie in der Stunde des Jammers vor unsern Augen! Wie tausendmal wiederholt sich in unserm Innern die Antwort jener alten Frau, die ihren Sohn verloren, auf die Ermahnung des Geistlichen: »Und wenn ich die ganze Bibel auswendig lerne, er kommt eben doch nicht wieder!« Wohl der weichen Seele, die still hält und den Blick nicht abwendet von der dunkeln Tiefe, bis sie die Perle darin gefunden; wohl der starken Seele, die in der Dämmerung ringt mit dem Herrn mit den gewaltigen Worten: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!«

Elise begehrte nicht zu ringen mit ihrem Schmerz, sie suchte nicht nach den Perlen in der dunkeln Flut; sie empfand dieses Leid, das so viel gewaltiger war, als sie je hätte ahnen können, wie einen Hohn des Schicksals auf die stolze Forderung ihres Herzens umeine Stunde voller Seligkeit für ein Leben voll Schmerz.

Ihr Schmerz war ihr einziger Kultus; ihr Stolz war, daß ihr Jammer so tief sei, daß niemand ihn fassen könne; sie verschmähte, teilzunehmen an den Klagen der Eltern, sie konnte, selbst von der Mutter, nicht die leiseste Hindeutung auf ihren besonders schweren Teil an der Trauer aller ertragen; eine Königin des Jammers zog sie sich stolz ab von allen und begrub sich in ihr Leid. Sie suchte alle Stellen auf, wo sie an dem einzigen Frühlingstag ihres Lebens mit ihm gewandelt war; das stillste Plätzchen im Garten weihte sie besonders seinem Andenken; mit dem Schattenriß, der Haarlocke, mit einem feurigen Gedicht, den einzigen Andenken, die ihr Julius von ihm nach und nach geschickt, konnte sie tagelang dasitzen ohne Tränen, ohne Klage, nur froh, wenn nichts sie störte.

Vater und Mutter mußten jeden Versuch aufgeben, sie zu trösten. Wenn der Vater, zwar mit gebeugtem Haupt, aber doch getreulich wie sonst seinem Berufe nachging; wenn die Mutter, eifrig wie zuvor, wenn auch mit gar stillem Wesen, ihre Geschäfte besorgte, so galt das Elise nur für einen Beweis, daß eben in ihre Seele das Leid gar nicht so tief eingedrungen [337] sei, und wenn die Mutter sie weinend umfaßte und fragte: »Soll uns denn ein Schlag beide Kinder geraubt haben?« so hatte sie keine Antwort als: »Beide, arme Mutter, beide.«

Sie hatte keinen Trost, keine Hoffnung als die Gewißheit, daß sie bald sterben, daß sie drüben ihrem geliebten Helden den Lorbeerkranz bieten dürfe, den sie hier vergebens für ihn gewunden. Sie schwelgte recht in ihrem Schmerz, in der Gewißheit, daß er in kurzem ihr Leben aufreiben müsse. Aber sie lebte fort. Ihr Gesicht war blaß, aber ihre Wangen blieben voll, ihre Gestalt zerfiel nicht; sie fand, daß der Tod am gebrochenen Herzen doch ein seltener sein müsse.

So vergingen Jahre; wie im Traum horchte sie den großen Zeitbegebenheiten, die in stürmischem Wechsel vorüberzogen, dem rauschenden Flügelschlag des deutschen Adlers, bis er mit gebundener Schwinge sich niedersenkte. Der Vater war gestorben, die Mutter zog mit Elise in die kleine benachbarte Stadt.


Es war ein allgemeines Erstaunen, als sich die Kunde verbreitete, Elise sei die Braut des jungen Pfarrers Stern, der früher schon ein Nachbar ihrer Eltern gewesen und sich der verwitweten Mutter mit treuer Freundschaft angenommen hatte.

Elise selbst konnte sich wohl die Gründe dieses Entschlusses, den sie nur nach langem und schwerem Kampf gefaßt, nicht recht zergliedern. Zunächst sah sie den Entschluß als ein Opfer an, das sie den Wünschen der Mutter brachte, obgleich sie bis jetzt nicht sehr aufopfernd gegen die Wünsche der Mutter gewesen war. Sie kannte Stern seit lange, sie hatte um seine Absicht gewußt, wenn er sie auch früher nie gegen sie ausgesprochen; sein ernstes, einfaches, mannhaftes Wesen flößte ihr Achtung ein, aber an die Möglichkeit, sich je zu verheiraten, hätte sie nie gedacht.

Sie hatte diese ganze Zeit her so still, so einsam gelebt wie immer; nur gegen eine Freundin hatte sie nach den ersten [338] Zeiten tiefsten, einsamen Jammers ihr Leid in Briefen ausgeschüttet; seit diese sich verlobt und sie nicht mehr auf die volle Sympathie hoffen durfte, hatte sie sich auch von ihr zurückgezogen; jede Zerstreuung, selbst die harmloseste, dünkte sie ein Unrecht. Und doch fand sie es allmählich schwer, vom Leide allein zu leben. Sie hatte sich müde geweint; den himmlischen Trost, der uns das Leid nicht entführt, sondern es uns verklärt zum ewigen Besitze gibt, hatte sie nicht gesucht und nicht gefunden; die Ausübung der täglichen Pflichten, die sie gleichgültig, ohne Liebe und Treue verrichtete, gab ihr nicht Trost und Freude; der gesellige Verkehr der kleinen Stadt endlich, über den sie sich so hoch erhaben dünkte, war ihr unerträglich; sie verstand es nicht, Liebe zu gewinnen, sie suchte es auch nicht, und doch gibt es kein Herz, das nicht vertrocknen müßte, wo es sich nicht geliebt und geschätzt fühlt.

Stern hatte die Mutter immer von Zeit zu Zeit besucht, und Elise hatte ihre Kälte und Geringschätzung gegen alle Männer, die nicht den Tod fürs Vaterland gesucht hatten, so weit überwunden, daß sie zugegen blieb, wenn er da war, und mit mehr Interesse in seine Gespräche einging als je im Verkehr mit andern. Nun begab es sich, daß er eine angenehme Stelle erhielt, und obwohl er vielleicht an mancher Tür einen freundlicheren, willigeren Empfang hätte hoffen dürfen als bei Elise – wie einmal des Menschen Herz ist: das schwer zu Erreichende steigt im Wert –, er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß dieses schöne, reichbegabte Wesen in einer gewaltsam festgehaltenen Trauer verkümmern sollte, und er wagte die Bitte an Elise, ihn zu ihrem Freund, zu ihrem berechtigten Beschützer fürs Leben zu wählen.

Das Mädchen ist noch nicht geboren, für das in der ernst gemeinten Werbung eines rechten Mannes nicht etwas Wohltuendes läge. Nicht lange zuvor hatte Elise in ihr eigenes Ohr die schnippische Bemerkung eines jungen Mädchens gehört: »Und wenn sie sich noch so königlich hinstellt, am Ende wird sie eben doch eine alte Jungfrau, wie ordinäre Leute auch.« – Ob diese kleinliche Äußerung auch in einer so großartigen [339] Seele beitrug, einen Weg für Sterns und der Mutter Wünsche zu bahnen, wer weiß es? Elise schrieb ihm:

»Ich erkenne den Edelmut, der in Ihrem Anerbieten liegt: meine Mutter unterstützt Ihre Wünsche, aber mein Herz ruht im Grabe. Was ich Ihnen noch bieten kann, meine Achtung, meine Treue, das reicht nicht hin, um ein Menschenleben auszufüllen. Bedenken Sie wohl, was Sie wagen, und wählen Sie sich lieber ein Wesen, das Ihnen ein ganzes, volles Herz entgegenbringt!«

Der Pfarrer antwortete ihr: »Liebe Elise, ich will Ihrem Herzen und Ihrem Willen keine Gewalt antun; wenn Sie aber den Entschluß fassen, sich mir anzuvertrauen, so baue ich auf mein redliches Streben, um Ihre Liebe zu werben, auf die stille Macht der Häuslichkeit. Verhüte Gott, daß ich die Liebe gering schätze! Aber ich glaube, sie muß kommen, wo zwei gute Menschen in demselben Streben eines Weges gehen. So bitte ich Sie denn zunächst nur um Ihr Vertrauen, ich will all Ihr Leid, zukünftiges und vergangenes, treulich mit Ihnen tragen.

Fern sei es von mir, Ihnen die Erfüllung meiner Wünsche als Pflicht vorzustellen; aber glauben Sie wirklich, daß Sie Gott zu nichts anderem berufen, als einen Toten zu beweinen? Daß das Leben nicht noch höhere und, so Gott will, süßere Aufgaben für Sie hat? – –«

Kapitulieren ist immer gewagt. Elise gab nach, sie wußte nicht wie, und sagte dem Pfarrer ihre Hand zu, wenn er glaube, glücklich werden zu können ohne ihr Herz. Stern nahm sie getrost und freudig an. Er wollte sie fürs Leben gewinnen, er wollte sie zur Tatkraft zurückführen, er wollte sie glücklich machen, und schließlich – das redlichste Herz hat einen unausgesprochenen Hintergrund – er liebte sie und wünschte ihren Besitz und glaubte darum von Herzen gern alles, was für seine Wünsche paßte. Ob seine Annahme sicher war, daß zwei gute Menschen, die mit gutem Willen zusammen ihres Weges gehen, sich auch glücklich machen müssen, das sollte die Zeit lehren. Es bleibt allezeit ein gewagtes Experiment, eine Verbindung [340] zu schließen in der Zuversicht, die Liebe werde nachkommen; es hat schon manchmal fehlgeschlagen.

Einen sonnigen Brautstand hatte Stern nicht; gar zu oft kämpfte Elise wieder mit der Reue über das, was sie die Untreue ihres Herzens nannte; gar zu oft tauchte die ritterlich schöne Gestalt ihres Jugendideals neben der ernsten, schlichten des Geistlichen auf. Ein toter Rival ist gefährlicher als ein lebender, weil auch die reinste Frauenseele im Andenken an einen Geschiedenen keine Untreue sieht. Der Abstand in der äußeren Erscheinung beruhigte aber Elise wieder. EinFreund nach einem Geliebten, das war doch mindere Untreue. Stern trug ihre wechselnden Stimmungen mit vieler Geduld, auch war er meist abwesend an seinem neuen Berufsort, und im schriftlichen Verkehr ebnete sich das Verhältnis viel harmonischer. Es ist, zumal in jungen Jahren, wo man sich selbst zu wenig kennt und zu viel auf sich vertraut, gar leicht, sich in Tagebüchern und Briefen in schönen und edeln Gefühlen so recht zu ergehen. Auch die entsagende Seele Elisens, die reine Achtung, die stille Pflichterfüllung, die ruhige Freundschaft, die sie ihrem künftigen Gatten zubringen wollte, nahmen sich gar schön aus auf dem Papier, und es war alles redlich gemeint. Und aus eigener Kraft, aus den Tiefen ihrer starken Seele allein wollte Elise das stille, harmonische Dasein gestalten, das vor ihr lag; aus eigener Kraft wollte sie, selbst freudlos, als milder, freudespendender Engel durchs Leben gehen, bis sie an der Pforte des Himmels der verklärte Heldenjüngling, der allein ihr Herz besessen, empfangen würde. Das war ihr selbstgeschaffener Glaube, mit der Vorsehung hatte sie sich so ziemlich abgefunden; seit sie ihres Herzens seligste Hoffnung begraben, glaubte sie sich in vollem Recht, für ein verarmtes Erdenleben eine selige Ewigkeit zu fordern. Sie bedachte nicht die Worte: »Wer da nicht hat, von dem wird genommen auch das er hat.«


Elise war nicht in die Ehe getreten als die steinerne Niobe, als die sie jetzt ihr Haus verkältete. Sie hatte den Willen gehabt, [341] ihren Gatten glücklich zu machen, soweit ihr das möglich war. Und als er sie einführte in die Räume ihrer neuen Heimat, wo die Hand ihrer Mutter alles freundlich geordnet hatte, als er sie bat, auf seine Liebe zu vertrauen und an eine glückliche Zukunft zu glauben, da blickte sie ihm mit inniger Zuversicht ins Auge und sagte aus vollem Herzen: »Es wird gut gehen.«

Stern und Elise hatten gewünscht, daß die Mutter ihre neue Heimat teile; aber diese hielt es für viel besser, daß die jungen Leute sich allein zusammenfänden, und behielt ihren bisherigen, nicht allzu fernen Wohnsitz bei. Das freie Schalten und Walten im eigenen Besitz, die leichten Sorgen des kleinen Haushalts, die kindliche Freude des Gatten an der eigenen Häuslichkeit, seine Bewunderung und Zufriedenheit mit allem, was seine Frau tat, belebten und erwärmten ihr Herz, und sie suchte oft mit Reue ihren Kultus des Leides mühsam wieder hervor, zu dem sich nicht wie sonst ihr Herz von selbst hinwandte.

Flitterwochen, Honigmonde, das sind kindische Bezeichnungen für die erste Zeit des Ehestandes; es sollte ein schönerer Name dafür gefunden werden, aber einen eigenen Namen verdient sie, und es ist lächerliche Pedanterie, dieses erste warme Gefühl des Glücks hemmen und abkühlen zu wollen, damit es nachher nicht weniger schön komme. Es ist aber auch kindische Begehrlichkeit, gerade in dieser Gestalt, in dieser Neuheit und Frische das Glück festzuhalten, dessen innerer Besitz reicher ist und schöner als sein erster Anblick, wenn auch minder glänzend. Mit leuchtendem Auge, mit frohem Herzen sieht der Bergmann die Silberader glänzen im dunkeln Gestein; er muß sie freilich noch herausarbeiten, glühen und läutern, bis das Silber rein und ganz zu Tage kommt; wollt ihr ihm darum die Freude des ersten Anschauens mißgönnen, die ihm Mut gibt und Freudigkeit zu der ersten Arbeit?

Ihr gebt dem Kinde am Weihnachtsabend Spielsachen, Arbeitsgeräte, Kleidung, die durch das ganze Jahr seine Freude werden sollen. Wollt ihr ihm den Jubel, das Entzücken der [342] ersten Stunde der Bescherung rauben und die Gaben alle klug verteilen durchs ganze Jahr, damit ja nicht auf einmal der Freude zu viel werde? – Freilich ist es des Kindes Schuld, wenn es seine Reichtümer in den ersten Tagen achtlos verschleudert und zerbricht und sich so die Freude des Jahres nimmt; und solche Kinder sind wir nur gar zu oft.

Elise machte sich das stille Wohlgefühl, das im eigenen Hause über sie kam, fast zum Vorwurf, und gleichsam zur Sühne suchte sie in den Gesprächen mit ihrem Mann die Erinnerung an den Bruder, an Oskar, an jenen einen sonnigen Tag, an die lange Nacht, die ihm folgte, wieder hervorzurufen. Der Pfarrer hätte gut getan, mit Liebe und Interesse in diese Erinnerungen einzugehen; es war das erste Mal, daß sie sich aussprach gegen irgend eine Seele; seine Teilnahme hätte ihr wohlgetan, das mächtigste Gefühl ihres Herzens wäre zu beider Eigentum geworden und hätte so keine Scheidewand mehr zwischen ihnen bilden können; aber wenige Männer verstehen, wie die weibliche Offenheit eine Bürgschaft für ihren Frieden, eine Quelle für ihr Glück werden könnte. Er wurde ungeduldig über die wiederkehrenden Beziehungen auf die selige und schmerzliche Vergangenheit, eine verzeihliche männliche Eifersucht regte sich, die die geliebte Frau auch nicht mit einem Toten teilen wollte. Diese Eifersucht nimmt im Grunde keine Frau übel, aber sie sprach sich bei ihm nur in einer kurz angebundenen oder ablehnenden Weise aus, mit der er ihre Ergießungen abschnitt, und das verletzte sie tief; es war der Anfang zu der allergefährlichsten, unheilbarsten Krankheit des ehelichen und weiblichen Glücks, zu dem Unverstandensein. »Er versteht mich nicht; was die Seele meines Lebens ist, das läßt ihn kalt,« dachte Elise mit bitterem Herzweh. Sie weihte das Oberstübchen, in dem sie die Waffen des Bruders und alle Reliquien aus der kurzen Zeit ihres Liebesfrühlings sammelte, zum Heiligtum ihrer Trauer; da las sie die Freiheitslieder aus jenen Tagen, die Totenopfer für die gefallenen Helden, und wenn sie herabstieg nach einer solchen Trauerstunde, in der sie freilich [343] nicht immer die rechte Stimmung fand, und der Mann dann ungeduldig fragte: »Wo warst du denn wieder?« da antwortete sie mit dem kalten Schweigen, das später der Fluch seines ehelichen Lebens wurde.

Doch kam das nur allmählich; es war dieser stille Totengarten in ihrem Herzen zunächst das einzige, was Elise für sich allein behielt, alles andre wollte sie gern mit ihrem Manne teilen. Sie war als Kind und Jungfrau lernlustig und strebsam; selbst in den Tagen ihres Leides war die Beschäftigung mit Büchern, mit Wissenschaften der einzige belebende Gast gewesen, den sie zu dem Heiligtum zugelassen hatte. Durch ihre Erziehung schon war ihrem geistigen Leben eine ernstere Richtung gegeben worden als die gewöhnliche Strebsamkeit, die sich begnügt, da und dort vom Schaum des Wissens zu nippen. Für Frauen zugestutzte Lehr- und Bildungsmittel waren ihr nicht zugänglich gewesen, gründliche Studien der Geschichte, der alten Klassiker hatten sie allein beschäftigt. Nach des Vaters Tode hatte sie es schwer gefunden, ohne männliche Hilfe weiterzugehen, und sie hatte sich nun gemeinsame Studien als den Hauptreiz einer Ehe der Freundschaft gedacht, als sie endlich ihren Entschluß gefaßt. Nun ist es gewiß nicht nötig für den Wert einer Frau und das Glück ihres Mannes, daß sie Latein versteht und Griechisch treibt, aber ein absolutes Hindernis ist es doch sicherlich auch nicht. Der Pfarrer aber schätzte zwar weibliche Bildung und hatte sich auch der Seltenheit halber in den griechischen Heften seiner Braut ergötzt; eigentlich aber hatte er vor weiblichem Wissen ganz den hergebrachten Abscheu der Männer, die nie so ehrlich und so tief auf den Grund der Verhältnisse geblickt, um zu erkennen, daß wertlose Ehen, freudlose Häuslichkeiten gewiß mehr auf Rechnung flacher, vergnügungsüchtiger als lernlustiger Weiber zu schreiben sind. Er wollte seiner Frau in nichts Zwang anlegen; er selbst gehörte nicht zu den Männern, denen ihr Beruf Handwerk und die Wissenschaft Handlangerin ist; er gab sich mit Eifer ernsten, tiefgehenden sprachlichen und theologischen Studien hin; wenn er aber müde von Amtsgeschäften und Studien [344] mit der Pfeife zu seiner Frau herabkam, so wollte er ausruhen in einer leichten Unterhaltung oder in behaglichem Schweigen, das Männern so viel genußreicher ist, als Frauen begreifen können. Kam dann seine Frau mit dem griechischen Wörterbuch, mit Plato und Plutarch angezogen, so wurde ihm angst und bange. »O Schatz, nur heute nicht mehr studieren!« hieß es fast jeden Abend. »Willst du mit Gewalt Klassiker lesen, so gibt's Übersetzungen genug; komm, setz dich zu mir und erzähle mir was Schönes!« Elise trug schweigend, mit gekränkter Würde die Bücher weg und holte ihr Strickzeug. »Unverstanden!« tönte es abermals in ihrer Seele, und die Mauer zwischen den beiden Herzen wuchs unbemerkt höher und höher und warf ihren Schatten in das kaum angepflanzte Gärtchen häuslichen Glücks.

Ach, sie hätten sich so leicht helfen können! Wenn der Pfarrer einmal versucht hätte, mit freundlichem Sinn in die Studien seiner Frau einzugehen, er hätte wohl gefunden, daß das Lehramt bei einer geliebten, empfänglichen weiblichen Seele etwas blühender und erfreulicher ist als trockenes Schulmeistern, und die Klassiker, die alten Genossen seiner Schuljahre, wären ihm, aufgefaßt von einem lebendigen, poesiereichen Gemüt, vielleicht erst wieder lieb und wert geworden. Und hätte sie mit liebevollem Sinn ihres Mannes Bedürfnis verstanden und zunächst und vor allem für die traute Behaglichkeit des häuslichen Herdes gesorgt, wie leicht wäre es ihr geworden, leise und allmählich die ernsten Geister der alten Tage, ihre lieben Dichter und Schriftsteller, an diesen Herd einzuführen und ihn damit zu verschönern!

So aber versäumte jedes das liebevolle Eingehen auf die Wünsche des anderen. Sie dachte: »Also nur zur ersten Magd will er mich machen. Dazu bin ich gut; das Reich des Geistes soll mir verschlossen sein.« Und er dachte: »Ich hätt's doch eben besser bedenken sollen; sie ist am Ende doch eine kalte Natur und keine Hausfrau.«

Eine Hausfrau – das war eine weitere Klippe dieses ehelichen Glücks. So viel Vertrauen haben die meisten Männer, [345] daß sie denken, mit dem Hochzeittag müsse auch die Braut zur perfekten Hausfrau werden. Sie schlagen vielleicht einen Beruf zu leicht an, der die Aufgabe und das Studium eines ganzen Lebens ist, sind aber im ganzen in ihrem Recht, wenn sie von der Frau verlangen, was sie ihr zutrauen und was nötig ist.

Die Haushaltungskunst war nie Elisens Studium gewesen. Sie hatte daheim getan, was nötig war, und es für entsetzlich kleinlich gehalten, großes Gewicht auf kleine Genüsse und Mängel des täglichen Lebens zu legen. Der Pfarrer aber, der Sohn einer Mutter, die weit und breit für das Muster einer guten Hausfrau galt, legte eben sehr großen Wert auf die Hausfrauentüchtigkeit und konnte sich von einer verbrannten Suppe, von einem zerbrochenen Teller, über die seine Frau mit überweiblicher Seelengröße wegsah, fast allzusehr ärgern lassen.

Elise hatte den Willen, ihre Pflicht zu erfüllen, aber nicht die Demut, ihre Fehler einzusehen. Das unbehagliche Gefühl, das ihr doch das Bewußtsein einer Versäumnis machte, schob sie auf Rechnung ihres Mannes. Wo sie aber auch wirklich ihr Unrecht fühlte, da fehlte ihm die Großmut, die sich eben in den allerkleinsten Fällen gegenüber den Versehen andrer am schönsten zeigen kann und die bei feinen Gemütern nie verloren ist. Kleine Vorfälle, fast zu klein, um genannt zu werden, endeten in gegenseitiger Bitterkeit, und viele Nadelstiche geben eine Wunde.

Nicht daß Elise sich nicht zuzeiten all der schönen Vorsätze am Beginn ihres Ehestandes erinnert hätte; sie konnte sich oft wieder ganz in die Gefühle der edeln, hingebenden Gattin hineinleben; aber es schien ein neidischer Dämon, jede Blüte ehelichen Glücks im Keime zerstören zu wollen. Der Unstern des Pfarrers, der nicht eben zu den poetischen Naturen gehörte, führte meist selbst die Störung herbei. Einst an einem Winternachmittage saß Elise allein daheim, ihr Mann war in einer Amtsverrichtung auswärts; sie dachte auch einmal an die Gegenwart, nicht wie sonst immer an die Vergangenheit, sie dachte an ihren Mann, an seine Berufstreue, seinen redlichen, [346] ehrenhaften Sinn; sie fühlte, wie manches sie indes verfehlt, und beschloß, ihm nun gewiß auch mit Aufopferung eigener Wünsche den eigenen Herd recht behaglich zu machen. Sie holte eigenhändig seine Pantoffeln und seinen Schlafrock, um sie zu wärmen; sie wollte abends ein Brettspiel mit ihm machen, eine alte Liebhaberei von ihm; sie fing an, sich auf seine Rückkehr zu freuen wie noch nie. Endlich läutete er, sie ging ihm bis zur Tür entgegen; aber ehe sie ihn begrüßen konnte, fing er in etwas ärgerlichem Tone an: »Aber ich bitte dich, Elise, was soll das heißen? Jetzt ist das Holz noch nicht im Schuppen, noch im Hof aller Nässe ausgesetzt, und ich wollte es schon vor acht Tagen im Trockenen haben; wozu hat man eine Magd?« – »Ich kann es ja selbst tun,« sagte Elise gereizt, »wenn das so unendlich wichtig ist, daß du keinen andern Gedanken mit nach Hause bringst.« – Abermals geärgert über ihren gereizten Ton, überhörte er den leisen Vorwurf in ihren Worten und steigerte sich recht in Verdruß über das verwahrloste Holz hinein. Auf Elisens aufflammende Vorsätze war das kaltes Wasser; sie hüllte sich wieder in ihr gekränktes Schweigen, auch als der Pfarrer, der die Pantoffelaufmerksamkeit bemerkt, gern wieder eingelenkt hätte. »Unverstanden, unverstanden!« tönte es wieder in ihrer Seele. Das Bild des ritterlichen Grafen, des Lebens voll seliger Harmonie, das sie an seiner Seite geführt hätte, stieg wieder vor ihr auf, und die Scheidewand wuchs immer höher. Sie hatte sich einst nicht ohne schweren Kampf entschlossen, Stern ihre Hand zu geben, ihre Idee von ewiger Treue gegen den Toten aufzuopfern. Mit dem Irrtum so mancher Frauen meinte sie, für dieses Opfer von seiner Seite ganz besondere Anerkennung, besondere ritterliche Huldigung erwarten zu dürfen. Stern aber meinte einfach, mit dem Ja am Altare sei seine Frau eben seine Frau geworden und habe ein Recht an all seine Liebe und Treue, seinen Schutz und seine Fürsorge, aber an außerordentliche Anerkennung von seiner Seite dachte er nicht. Wie bei den meisten Männern sollten die weichen und zarten Saiten bei ihm erst von liebender Hand zum Klange geweckt [347] werden, Elise aber erwartete schon entgegenkommende Klänge.

Der Pfarrer hatte ein unglücklich schwaches Gedächtnis für Geburtstage, er war überhaupt kein Freund von Festfeiern und hätte am liebsten gehabt, wenn man den seinigen ganz vergessen hätte; Elise aber, in deren Elternhaus man Bekränzungen, Blumen und Familienfeste liebte, war an aufmerksame, feierliche Begehung des ihrigen gewöhnt. Der erste Geburtstag, den sie im Ehestand feierte, mahnte sie gar schmerzlich an all die vergangenen mit ihren Freuden, ihren Träumen, ihren Tränen; heute fühlte sie sich recht liebebedürftig. Sie hatte sich sorgfältig angekleidet und erwartete den Gatten und seinen Glückwunsch; er mußte von der Brautzeit her noch das Datum ihres Geburtstags wissen. Da öffnete sich die Tür, der Mann erschien, ziemlich im Negligé, und bot ihr den Ärmel seines Schlafrocks dar: »Nun bitte ich dich, Elise, erbarme dich einmal über den zerrissenen Ellbogen, seit vierzehn Tagen treibe ich's jetzt, ich blamiere mich vor den Bauern; und höre, könntest du denn nicht ein einzigmal selbst nachsehen, wenn die Magd bei mir einheizt? Das ist ein unsinniger Holzverbrauch bei sechs Grad Wärme draußen.« Das waren nun schreiende Mißlaute in Elisens gehobene Stimmung, und statt mit einem gemütlichen Scherz, mit einem freundlichen Vorwurf die Saiten wieder zu stimmen, ließ sie sie lieber abreißen und machte so die künftige Harmonie unmöglich. »Unverstanden, allein auf der Welt!« In diesem Gefühl nahm sie mit der Würde einer tiefgekränkten Unschuld nach dem Frühstück den leidigen Schlafrock in Kur und sprach kein einziges Wort, so daß der verblüffte Pfarrer nicht begriff, was es für ein Verbrechen sein könne, von seiner Frau einen so natürlichen Dienst zu verlangen. Daß sie solche häufig wiederkehrende Mißlaute durch etwas mehr Aufmerksamkeit vermeiden könnte, fiel Elise nicht ein; sie hüllte sich nur immer ins Gefühl ihrer beleidigten Würde und tat ihre Pflicht zwar genauer, aber in immer kälterer, unlieblicherer Weise.

Freilich kam an jenem verhängnisvollen Geburtstag noch [348] eine Schachtel mit Geschenken von Elisens Mutter, auch eine Sendung von feinem Flachs von der Mutter des Pfarrers, einem guten, etwas zeremoniösen alten Frauchen, mit einer sehr höflichen Gratulation an die »liebwerte Frau Söhnerin« und einer Mahnung an den Pfarrer: »Lieber Christian, Du [349] wirst doch Deiner Frau Geburtstag nicht vergessen? Ich weiß, Du hast für solche Tage ein kurzes Gedächtnis; bei uns tat das nichts, aber eine junge Frau erwartet einige Attention ...« Da war's nun dem Pfarrer herzlich leid, daß er den Tag so prosaisch begangen hatte; er hätte die Sache gar gern wieder gutgemacht und kam mit einer humoristischen Entschuldigung. Aber Elise war so unnahbar, so ruhig und kalt im Bewußtsein des Unverstandenseins, daß er, seinerseits auch gekränkt, sich zurückzog und dieser Tag die trennende Kluft wieder erweiterte.

Gute Worte geben, das war nicht des Pfarrers Sache, alle Arten von Szenen, auch Versöhnungen, waren ihm in der Seele zuwider. »Wenn man weiß, wie man miteinander dran ist, wenn man sich lieb hat und das Rechte will, wozu solche Umstände? Da kann sich jedes selbst zurechtfinden.« Es lag dem zum Teil ein gesunder Sinn zu Grunde. Frauen lieben Szenen, Versöhnungen, alles, was innerlich erregt, und können wohl je und je die Güte des Mannes mißbrauchen, der allzu bereitwillig in jede Schattierung ihrer Stimmungen eingeht. Aber er vergaß wie viele Männer, daß über diesem gesunden Sinn, der alles Eingehen und Aussprechen über die innere Welt der gegenseitigen Gefühle vermeidet, gar oft die Poesie des Verhältnisses verloren geht, die neben der unvermeidlichen Prosa beschränkter bürgerlicher Verhältnisse gar wohl ihre Rechte wahren dürfte; er vergaß, welche Macht ein zartes, liebevolles Wort über ein Frauenherz hat und wie es auch dem starken und stolzen Mann gar gut ansteht, zuweilen freundlich einzugehen selbst in eine Schwäche der Frau, ihr aus einer gedrückten Stimmung zu helfen, ihr auch in kleinen Drangsalen die Stütze einer kräftigen Hand zu leihen.

Diese Trockenheit so vieler Männer, die sich mit dem innerlichen »Gutmeinen« begnügt, löst nun freilich ein so tief gegründetes heiliges Verhältnis nicht; aber sie macht es nüchtern, prosaisch, die kleinen Blüten des Lebens sterben ab, und es bedarf wieder großer, tiefer Erregungen, für die freilich die Vorsehung sorgt, um den Gatten die ganze heilige Bedeutung ihres Verhältnisses zum Bewußtsein zu bringen.

[350] Elisens Natur war aber nicht für ein gewöhnliches Verhältnis geschaffen; zu stolz, zu sehr gewöhnt, ihr eigener Mittelpunkt zu sein, versuchte sie keinen der Fäden wieder anzuknüpfen, die in so kleinlichen Mißverständnissen abrissen. So gingen sie weit und weiter auseinander; der Pfarrer, dessen warmer, gemütlicher Natur die Liebe ein so tiefes Bedürfnis war, sah mit Schrecken die immer wachsende Entfernung, und sie büßten beide schwer den Irrtum, mit dem sie die mächtige, gewaltige Bedeutung der Ehe nicht begriffen, in der es kein Halbes geben kann, kein zurückbehaltenes Gefühl, keine nachzuholende Liebe. Wohl ist sie ein Wachsen und Werden, eine Schule, in der man nicht auslernt; aber das ganze Herz, den ganzen Willen muß man dazu mitbringen, sonst ist die meiste Schulzeit verloren.

Das mächtigste Medium, die reichste Kraft der Ausgleichung, ein gemeinsamer Glaube, war nicht zwischen den beiden. Elise hatte von der Vorsehung Glück gefordert, volles, seliges Glück als Preis ihrer Veredelung; ihr Unglück sah sie nun, um einen irdischen Vergleich zu brauchen, als vollgültige Freikarte zum Himmel und seiner Seligkeit an; weiteren Strebens glaubte sie sich entbunden. Das tiefe, heilige Mysterium des Glaubens, nach dessen Verstehen bei der rationalistischen Richtung ihres Vaters nie ein Sehnen in ihr geweckt worden war, blieb ihr fremd. Wenn sie die Predigten ihres Gatten hörte, der in die Glaubenswahrheiten tiefer eindrang, der sich nicht begnügte, auf selbst gezimmertem Floß über eine Tiefe zu gleiten, deren unermeßliche Schätze er ahnte, so tat sie es nur, um sich daraus einen Maßstab zu bilden, an dem sie haarscharf all sein Tun und Lassen, sein Reden und Schweigen maß! In ihr eigen Herz ließ sie sich nie von seinen Worten führen, und glaubte sie je, etwas in seiner Predigt zu finden, das auf ihre Fehler, auf ihren Herzenszustand deutete, so erbitterte sie das nur. Des Pfarrers Herzenswunsch und sein stilles Gebet war, diese verdüsterte, verstörte Seele auf deneinen Weg leiten zu können, auf dem auch gebrochenen Herzen Licht und Frieden aufgeht; aber wie selten ein Arzt gern im Hause verordnet oder ein[351] Richter gern Streitigkeiten in der Familie entscheidet, so liebte auch er nicht, zu predigen in der Wohnstube; was sein Herz bewegte, das vertraute er dem Kanzelworte an, und da verfehlte es seine Wirkung bei demeinen Herzen, für das es eben bestimmt war. – Elise sah mehr und mehr ihre segenslose, freudenlose Ehe als Strafe für die Untreue an dem Ideal ihrer Jugend an; immer leidenschaftlicher gab sie sich dem Kultus ihrer Erinnerungen hin, und immer weniger bemühte sie sich, noch eine Blume häuslichen Glückes zu pflegen.


Eine Hoffnung ging dem Hause auf, die Hoffnung auf ein junges, neues Leben, und beide Gatten knüpften daran eine hellere Aussicht für die Zukunft, obwohl sie nie darüber sprachen. Elise hoffte auf einen Sohn; der sollte Oskar heißen, den wollte sie erziehen zu einem kraftvollen, schönen, feurigen Knaben, zum Abbild ihres begrabenen Helden; seine junge Seele wollte sie nähren mit all den Träumen, die sie schlafen gelegt, mit all den Hoffnungen für Größe und Freiheit des Vaterlandes, die nun untergegangen. Der Pfarrer machte keine Pläne, aber er hoffte, ein junges, frisches Leben sollte sein düsteres Haus erhellen, das verschlossene Herz seines Weibes auftauen und sie mit der Gegenwart versöhnen.

Das Kind war eine Tochter, und der erste Blick auf das kleine Gesicht zeigte auffallende Ähnlichkeit mit dem Vater. Elisens Mutter, die bei ihr war, begriff nicht, wie eine junge Mutter mit so wenig Freude ihr erstes Kind aufnehmen könne; aber es war so. Elise hatte gar nicht an ein Mädchen gedacht und sah in dem kleinen Wesen bereits ein beklagenswertes Opfer des Schicksals. Und nun ihr die Hoffnung auf ein Abbild ihres Jugendgeliebten entschwunden war, hegte sie sein Andenken mit neuer Treue und fertigte Gatten und Kind mit kalter Pflichterfüllung ab. Die kleine Julie wuchs fröhlich und ahnungslos in diesem starren Boden auf; es war freilich nicht möglich, daß die Lieblichkeit der ersten kindlichen Entfaltung nicht hie und da der Mutter Herz gewonnen, ihr Auge erheitert hätte; aber je mehr bei späterer Entwicklung das Kind [352] des Vaters Eigentümlichkeiten zeigte, je mehr es sich instinktmäßig diesem zuwandte, desto mehr verkühlte die Mutter wieder. Es war dem kleinen Kinde schon ein Fest, wenn es der Vater in seine Stube nahm, und sie streckte von weitem die Ärmchen gegen ihn aus; sobald sie ein wenig gehen konnte, kroch sie ihm nach und siedelte sich in einer Ecke der Studierstube an, wo sie sich an alten, wurmstichigen Kupferwerken ergötzte, die als Inventarstücke auf der Pfarrkanzlei lagen. Einmal hatte die Mutter die vierjährige Julie mit in ihr Heiligtum genommen; aber sie riß die Feldbinde herab und nannte den Schattenriß einen »wüsten schwarzen Mann«; von da an blieb ihr die Stube verschlossen. – Das allmähliche Abwenden des Kindes galt Elise nur für einen neuen Beweis, wie arm [353] ihr Dasein sei und wie sich die gebrochene Treue gegen den Geliebten auch daran räche, daß ihr nicht einmal ihres Kindes Herz gehöre.

Der Pfarrer aber lebte auf in seinem Töchterlein, und wenn Elise Vater und Kind im Garten fröhlich miteinander lachen hörte, so schloß sie den Laden und wandte sich mit tiefer Bitterkeit ab, obgleich sie selbst verweigerte, mitzugehen, weil der Vater das Kind von ihr gefordert hatte. Der Vater unterrichtete Julie selbst, das war aber keine besonders lohnende Arbeit. Die Kleine lernte langsam, mehr aus Gehorsam als aus Lust, und obwohl im täglichen Leben ein munteres, aufgewecktes Kind, zeigte sie doch keine rasche Fassungskraft. Dagegen lernte sie sehr früh stricken von der Großmutter und spinnen von der Magd und war gar emsig und wichtigtuend mit ihren kleinen Händen. – »Eine ganz gewöhnliche Natur, gut zu einem verwaschenen und verflickten Dasein,« entschied die Mutter bei sich und ließ sie gewähren.

Elisens Mutter starb bald, tief bekümmert über die freudlose Ehe der Tochter; die Mutter des Pfarrers aber, eine herzensgute Frau, glaubte bei ihren seltenen Besuchen in des Sohnes Hause mit übermäßiger Höflichkeit und Rücksicht gegen die Frau Söhnerin alles gutmachen und ausgleichen zu können; aber sie blieb auch »unverstanden« gegenüber der kalten, unnahbaren Weise ihrer Schwiegertochter und ging wieder nach Hause, je früher je lieber, in lauter Herzensangst, der Sohn möchte bei ihr klagen über seine Frau, und da hätte sie doch nicht gewußt, was sie ihm entgegnen sollte.

Nicht umsonst hat die Gastlichkeit der Pfarrhäuser so guten Klang. Den geselligen Verkehr des Landlebens trifft am wenigsten der Vorwurf, den man unserem süddeutschen Leben nicht mit Unrecht macht, daß sich die Erholungszeit der Männer und Frauen in Wirtshaus- und Visitenleben teilt. Hier trifft man noch gemütliches Beisammensein ganzer Familien, und der Pfarrer, der daran immer besonderes Wohlgefallen gefunden, hatte sich als Vikar schon auf sein eigenes Pfarrhaus gefreut und wie gut er's da den Freunden machen wollte.

[354] Sobald es sein konnte, hatte er denn auch seine junge Frau in der Nachbarschaft eingeführt, glücklich im Gedanken, wie man seine Wahl preisen werde. Elise aber war der Ruf großer Gelehrsamkeit und eines eigentümlichen Wesens vorangegangen, und das legte den Pfarrfrauen einen Zwang auf. Sonst begannen gewöhnlich Männer und Frauen ihre Gespräche gesondert, und da kam man dann von häuslichen Angelegenheiten, von Küche und Garten etwa auf Erziehungsfragen, wobei die Männer ein Wort mitredeten, auf Amtserlebnisse, an denen die Frauen teilnahmen, und so spielte sich allmählich die Unterhaltung zusammen und gewann durch die Männer an Ernst und Tiefe, durch die Frauen an Leben und Frische. Bei Elisens Einführung aber wollte es nicht recht von statten gehen. Unsern meisten Männern wird's angst und bange, sobald sie fürchten, daß eine Frau Anspruch auf gehaltvolle Unterhaltung von ihrer Seite mache. Die Frauen erwarteten vergeblich, daß die gelehrte Frau Pfarrerin ein geistreiches Gespräch aufbringe, von dem sie profitieren könnten. Endlich unterhielten sie sich halblaut über die nächstliegenden Angelegenheiten, bis sie allmählich in Eifer kamen und die gelehrte Frau vergaßen; die Männer hielten sich gesondert mit einer zufällig sehr materiellen Disputation. Der Pfarrer sah seine Frau immer schweigsamer, immer unverstandener in dem belebten Kreise sitzen und fühlte sich selbst immer peinlicher, wo ihm sonst so wohl gewesen war. Frühzeitig brach er auf; Elise war sehr willig dazu. Sie gingen lange schweigsam dahin, bis die Frau anhob: »Aber ich bitte dich, wie kannst du in solchen Kreisen Genuß finden, wo Männer einen ganzen Nachmittag vom Obstzehnten reden und Frauen von Hanf und Flachs!« – »Ich versichere dich, so ist es nicht immer, wir haben schon viele genußreiche, gemütliche Unterhaltungen zusammen gehabt; aber je und je muß man sich auch über solche Dinge verständigen, und sie sind oft nur die Brücke zu tieferen Lebensfragen. Du bist doch selbst ein Pfarrtöchterlein, bei euch daheim wird man auch nicht lauter druckfertige Dialoge gehalten haben.«

[355] »Ich habe mir daheim schon die Freiheit genommen, mich von jeder gehaltlosen Unterhaltung zurückzuziehen, und das werde ich auch ferner tun.« – »Wäre es nicht freundlicher, wenn du in solche Gespräche eingingst und versuchtest, ihnen eine bedeutendere Wendung zu geben?« – »Danke, zur Reformation fühle ich mich nicht berufen; ich bin lieber allein mit meinen eigenen Gedanken.« – Arme Frau! deine eigenen Gedanken waren oft eine recht traurige Gesellschaft.

Bei jedem weiteren Versuch, Elise mit dem geselligen Verkehr der Nachbarschaft zu befreunden, benahm sie sich so vornehm, empfing die Gäste unter ihrem eigenen Dache so kühl, daß das Pfarrhaus bald vereinzelt blieb. Gras wuchs im Hofe und Moos auf der ungastlichen Schwelle. Der Pfarrer, der keine Gastfreundschaft annehmen wollte, die er nicht erwidern konnte, der sich auch vor bedauernden Blicken und Fragen fürchtete, beschränkte sich auf den geselligen Verkehr, der ihm je und je an öffentlichen Orten zugänglich war, und erst als sein Töchterlein heranwuchs, fühlte er wieder mit tiefer Herzensbitterkeit, wie freudlos und öde sein Haus sei, das nicht einmal dem Kinde Umgang mit gleich erzogenen Altersgenossen gestattete.

Julie fühlte diese Lücke nicht, sie tummelte sich fröhlich mit Bauernmädchen, die die »Pfarrjungfer« mit großer Liebe und Verehrung betrachteten. Der Vater gab sich zufrieden, als er beobachtete, wie kindlich harmlos und gut gesittet dieses fröhliche Treiben war; die Mutter aber, die ihre Kindheit nur mit Büchern, mit der süßen träumerischen Einsamkeit und dem geliebten Bruder geteilt hatte, fand in der Freude des Kindes an Spiel und Gespielen nur wieder einen neuen Beweis ihrer geringeren Natur und ließ es gleichgültig gewähren. Die Mutter des Pfarrers faßte eine unaussprechliche Liebe für das Enkeltöchterlein; sie wohnte in einer kleinen Stadt, die immerhin mehr Gelegenheit zu Umgang und Unterricht für Julie bot als das Dorf und das freudlose Elternhaus, und als sie älter und hinfälliger wurde, entschloß sich der Pfarrer zu dem schweren Opfer, das Licht seiner Augen, die einzige Blume, [356] die aus dem öden Boden seiner Häuslichkeit sproßte, ziehen zu lassen und sie der Mutter zu übergeben. Elise willigte ohne Widerstand ein; konnte sie doch nie hoffen, bei dem Kinde Sympathie für ihre Gefühle zu finden; fast fühlte sie sich erleichtert, als mit Julie das letzte Band entfernt war, das sie an die Gegenwart knüpfte; denn ihr Verkehr mit dem Gatten war allmählich ein so kühler und entfernter geworden, daß er keinen Teil mehr an ihrem innern Leben hatte.


So waren schon Jahre über das Pfarrhaus hingegangen. Wie das Schloß Dornröschens stand es versteinert und verwachsen, aber die Herzen drin schlummerten nicht in unverwelkter Jugend, die nur auf den erweckenden Kuß wartet; sie selbst wurden verwachsen und versteinert. Selbst das Andenken an die Liebe ihrer Jugend stand in Elisens Herzen wie ein steinernes Grabmal, um das keine Rose blüht, das kein Grün umrankt, und nur in seltenen Stunden noch wachte das begrabene Leid auf und sah sie mit lebendigen Augen an.

In der Umgegend hatte man sich über das seltsame Haus, über das eigentümliche Verhältnis des Ehepaars müde gesprochen, man ließ es stehen und gehen; nur der junge Vikar wurde bedauert, den sein Geschick und der Wille der Behörden unter dieses trübselige Dach führten, als ein anhaltendes Unwohlsein den Pfarrer nötigte, sich nach einer Hilfe umzuschauen.

»Geben Sie acht, Sie versteinern in kurzer Zeit,« warnte man den jungen Mann. »Aus dem Haus trägt keiner eine lebendige Seele davon.« Vikar Wolker aber war ein junger Mann, für den eben das Ungewohnte einen gewissen Reiz hatte. Während einiger Jahre, die er als Hofmeister in einer edeln Familie und auf Reisen zugebracht, hatte er den Schulstaub abgeschüttelt und doch die Frische des Herzens und den Ernst der Gesinnung bewahrt, die so köstliche Mitgaben zu seinem heiligen Amte sind, und ihm bangte nicht für seine lebendige Seele.

Etwas ängstlich war ihm aber doch am ersten Abend seiner [357] Ankunft zu Mute, als er über den grasigen Hof schritt und, unkundig des Seiteneingangs, an der verrosteten Glocke der Vordertür zog, deren Ton gellend durch das schweigsame Haus schallte. Auch dem Pfarrer, der seit Jahren in stumpfer Gewohnheit das Joch seiner trübseligen Häuslichkeit trug, war es bange, einen Fremden einzuführen. Elisens erster Empfang war übrigens, neben allem Würdevollen, doch viel freundlicher, als er erwartet hatte. Sie ahnte wohl, welche Meinung der junge Mann von ihr mitbrachte, und war trotz der Versteinerung Frau genug, um zu wünschen, daß sie einen besseren Eindruck mache.

Bei Tische aber versank sie wieder in das alte Schweigen, während der Vikar sich in Betrachtung des schönen Mädchenbildes versenkte, das ihm noch lange nachher der einzige Lichtpunkt des Hauses blieb. »Sie waren Hofmeister?« unterbrach der Pfarrer die Stille. – »Ja, drei Jahre, in der Familie eines schlesischen Grafen,« erwiderte der junge Mann lebhaft. »Es war die reichste und segensvollste Zeit meines Lebens.« Eine eigentümliche Bewegung lebte in den Zügen der Pfarrfrau auf, und der junge Mann, dem das Herz warm wurde in Erinnerung, schilderte beredt das schöne, edle Familienleben jenes Hauses, das reiche, ausgebreitete Wirken des Grafen, die stille Liebenswürdigkeit der Gräfin, das schöne, innige Verständnis zwischen beiden Gatten, bis ihm endlich das Schweigen seiner Zuhörer zum Bewußtsein brachte, daß er wohl eine Taktlosigkeit begangen, indem er das Bild einer so glücklichen Häuslichkeit in einem Hause des Unglücks entwickelt hatte. Aber Elisens Augen waren naß, als sie ihm gute Nacht sagte, und wie sie, von mannigfachen Gedanken bewegt, sich zur Ruhe legte, da hörte sie noch bis tief in die Nacht den Schritt ihres Mannes oben, der rastlos hin und her ging, aufgeregt von dem Bilde eines Glücks, das ihm kein verlorenes, ach, ein nie gefundenes Paradies war. Aber wenn sich der Gatte fragte: »Wie weit ist es meine Schuld, daß es so gekommen?« so verschloß dagegen Elise ihr Herz den anklagenden Gedanken, die aufsteigen wollten, und sagte sich nur: »Und ein solches Leben [358] hätte ich leben können, so reich, so selig!« Und sie wandte die Selbstanklage um in eine Anklage des Geschicks.

Der Vikar fügte sich allmählich dem Haushalt ein, und wenn er auch für seine einsamen Stunden und für freundlichen Verkehr nach außen seine lebendige Seele beibehielt, im Hause selbst kam bald, mit seltenen Ausnahmen, der Geist der Schweigens über ihn. Und doch schien ihm der Aufenthalt nicht so drückend, wie andre wohl glaubten; ein geheimnisvolles Interesse, das jenes schöne Bild vor allem wach erhielt, fesselte seine Phantasie, und er glaubte sich nicht zu täuschen, wenn er in den steinernen Zügen der Pfarrfrau, in ihrem sonst so düsteren Blick doch hie und da etwas wie Interesse und Teilnahme für sich fand.

[359] Aber viele Stunden gab es, wo er sich wie verzaubert in einem verzauberten Hause vorkam, und es berührte ihn recht angenehm, als der Pfarrer bei seiner Abreise zu der Mutter Begräbnis gelegentlich erwähnte, daß er seine Tochter mit nach Hause bringen werde. Wenn nun diese Tochter das Ebenbild der schönen Viktoria im Wohnzimmer wäre! Ein so holdseliger Engel, der müßte den Bann lösen, der auf dem Elternhause lag, und noch größere Wunder wirken. Er wagte aber nicht, während der wenigen Tage, die er mit der Pfarrerin allein war, ihrer Tochter zu erwähnen; wie leicht hätte sie seine Gedanken erraten können!


Elise hatte der Tochter Zimmerchen bereitet, den Koffer mit ihren teuren Reliquien in ihren Alkoven gestellt; sie hatte Trauerkleider besorgt und erwartete nun die Rückkehr des Gatten. Es regte sich doch ihr Mutterherz, als am dritten Tage nach des Pfarrers Abreise der Wagen vorfuhr und ein junges Mädchen in tiefer Trauer die Arme um ihren Hals schlang und in innigem Tone unter Tränen rief: »Mutter, liebe Mutter, jetzt gehöre ich euch allein!« Sie hatte ihr Kind lange nicht gesehen, und nun sie sie oben beim Kerzenlicht betrachtete, konnte sie sich noch gar nicht darein finden, daß das ihre Tochter sein solle. Keinen Zug hatte sie von ihr und dem seligen Bruder, nach dem sie genannt war. Der Vikar, der das Geräusch der Ankommenden gehört, fand es selbst recht kindisch, daß sein Herz so klopfte, als er zum Abendessen hinabstieg; aber wie sehr fühlte er sich enttäuscht, wie gleichgültig wandte er sich nach höflichem Gruß von dem Bilde ab, das so gar nicht seinem Ideal entsprach! Nicht eine Idee von der hohen, schlanken Gestalt, den goldblonden Locken, dem lilienweißen Teint und den tiefblauen Augen der Viktoria im Bilde: ein blühendes, brünettes Gesichtchen, dunkle, unschuldige, runde Kinderaugen mit dem bläulichen Weiß, das nicht durch Nachtwachen und Tränen, auch durch keine tiefen Studien vergilbt war, eine weiche, rundliche Gestalt, dunkle, gescheitelte Haare: »ganz wie das Jugendbild meiner Mutter!« versicherte der[360] glückliche Vater. Das war dem Vikar ganz gleichgültig, was kümmerte ihn das Jugendbild der seligen Frau Bürgermeisterin? Er hatte ein anderes, ein ganz anderes Jugendbild vor der Seele gehabt! Julie hatte sich gar kein Bild von dem Vikar entworfen und kümmerte sich im jetzigen Augenblick wenig um ihn; sie fand es mehr störend als erfreulich, einen Fremden im Elternhause zu treffen, dessen Schatten sie längst vergessen hatte. Der Schmerz um den Tod der Großmutter, der erste ihres jungen Lebens, war ein so überwältigender, daß sie glaubte, gar nie mehr recht froh werden zu können, und gleichgültig war gegen jede äußere Erscheinung.

Dieses Leid war nun schon beim Eintritt ins Elternhaus ein Band, das sie näher zum Vater als zu der Mutter zog. Elise hatte die Schwiegermutter gern gehabt, wie man so sagt; aber ihre Gegenwart in früheren Zeiten war ihr stets wie ein stiller Vorwurf gewesen, ihre zeremoniöse Höflichkeit war ihr langweilig; sie blickte nicht tief genug, um als Quelle derselben ein feines und liebevolles Gemüt zu erkennen, und so war ihr Leid um den Tod der alten Frau ein sehr vorübergehendes. Bei dem Vater aber goß Julie ihre ganze kindliche Trauer aus; sie wurde nicht müde, von der Großmutter zu erzählen, von ihrer Güte, von der Freundlichkeit, mit der sie die Fröhlichkeit der Jugend gefördert hatte, von ihrem sanften Tod, und der Vater wurde nicht müde, ihr zuzuhören.

Elise war nicht so gleichgültig gegen die Liebe ihres Kindes, wie es scheinen mochte; mit einem bitteren Weh fühlte sie, wie Vater und Tochter zusammenhielten, aber sie war zu stolz gewesen, um etwas zu tun, ihres Gatten Liebe zu gewinnen: sollte sie nun werben um die ihrer Tochter? Stiller und kälter als je zog sie sich ab von Juliens schüchterner Zärtlichkeit, die ihr wie ein Almosen schien, das sie ihr zuwenden wollte; so wagte diese keine herzliche Annäherung mehr, und wieder war Elise »allein auf der Welt«.

Der Mutter kaltes, zurückhaltendes Wesen lastete freilich als ein schwerer Druck auf Juliens offener Seele; der einsame Winter dünkte sie, die an heiteren Mädchenverkehr gewöhnt [361] war, oft unerträglich lang. In der ersten Zeit paßte die Stille zu ihrer Trauer; aber Julie war jung, und ein junges Herz trägt nicht zu lange das Gewicht des Kummers, zumal wenn der Verlust ein so natürlicher ist. Sie machte sich zuerst bittere Vorwürfe, daß sich leise und allmählich so viel andre, junge, helle Gedanken in das dunkle Trauerstübchen ihres Herzens einschlichen; dann aber gedachte sie auch der Worte der sterbenden Großmutter: »Mußt dich nicht so um mich grämen, Kind; denke du an mich in Liebe und Freude, denke an mich, wenn du zum blauen Himmel aufsiehst, und nicht an mein dunkles Grab!« Und sie ließ den Sonnenschein herein, und hie und da hörte man wieder ein fröhliches Mädchenlied, wenn sie, wie sie tags zehnmal tat, die Treppen hinaufsprang zum Vater.

Der Vikar mochte nun braune Augen und runde Wangen noch so gering schätzen, das mußte er doch gestehen, daß das junge Mädchen in das düstere Haus gekommen sei wie ein frisches Waldbächlein über ein dürres Heideland, und es geschah wohl je und je, daß sein Blick von den blauen Sternen der gemalten Viktoria sich auf die runden klaren Kinderaugen wandte, in denen freilich noch keine Welt von Hoffnungen untergegangen war.

Julie war just nicht, was man eine poetische Natur nennt; sie hatte einen gesunden Blick für die praktische Seite des Lebens, die »Sehnsucht nach einem unbekannten Etwas« war ihr wenigstens nie zum Bewußtsein gekommen, und der Zauber einer Mondnacht hatte sie nie zu Tränen bewegt. Aber ihr ganzes Wesen war zu ursprünglich und frisch, als daß nicht die reinen Elemente der Natur, Licht und Luft, Blumen und Sonnenschein unbewußt auf sie gewirkt hätten. Der Vikar hatte sich freilich eine weibliche Seele viel sensibler, poesiereicher, zarter besaitet gedacht; aber Juliens vertrauensvolle Offenheit, die kein Mißverständnis zuließ, ihre unverwüstliche gute Laune, ihre heitere Geschäftigkeit, was der Engländer household virtues nennt, fand er mehr und mehr liebenswürdig. Sein Arbeitszimmer stieß an das des Pfarrers; in die [362] tiefsten Studien versunken, hörte er doch den elastischen Schritt auf der Treppe, den Ton der frischen Stimme, mit der sie irgend eine kleine Wichtigkeit zu verkünden hatte.

Unten freilich herrschte bei Tische meist noch das alte Schweigen; aber die starre Ordnung des Zimmers war unterbrochen durch ein zierliches Arbeitskörbchen, durch ein paar Blumentöpfe, die Spuren einer jugendlichen Hand zeigten; auf Spaziergängen begleitete Julie den Vater, und der Vikar schloß sich natürlich mit Vergnügen an. Freilich hielt sich Julie bei jedem schmutzigen oder schreienden Kinde auf, um ihm die Nase zu putzen, das Tüchlein fester zu binden und es zufrieden zu stellen; auch war sie bald auf dem Laufenden mit den Familienangelegenheiten der Nachbarn und konnte eine tiefsinnige Erörterung über das Wohl Deutschlands mit einer sehr praktischen Frage unterbrechen: »Wie wär's, Vater, wenn du dem Michel Geld vorstrecktest zu einem neuen Karren? Er könnte mit Fuhrwerken doch am meisten verdienen.« Aber in ihrer Prosa lag so viel Selbstloses und Liebevolles, daß man ihr die Gleichgültigkeit gegen tiefere Lebensinteressen wohl vergeben konnte.

Alle religiösen Zweifelsfragen, der Kampf der Geister, der damals wie fast jederzeit die geistige Welt bewegte, lagen ihr fern; mit demütiger Kinderseele gab sie sich ihrer Bibel hin, nahm sich aus dem gepredigten Wort, was ihre Seele bedurfte, und konnte die Möglichkeit eines Zweifels gar nicht begreifen. Der junge Mann, der eben jetzt noch mit den Wogen rang, durch die zumal der Theologe sich durchkämpfen muß, bis er sein Schifflein in die sichere Strömung gebracht, die zum rechten Port führt, hatte nie geahnt, wie unendlich wohltuend ein solch klares, zweifelloses Gemüt für eine ringende Seele ist, und nun erst wurden ihm die Worte klar: »So ihr nicht werdet wie die Kinder, so habt ihr keinen Teil an mir.«

Und Julie? – Nun es zeigten sich durchaus keine Symptome geheimen Herzwehs bei ihr, keine stille Schwermut, keine träumerische Zerstreutheit; nur fand man die Leibgerichte des Vikars auffallend oft auf dem Tisch – die Leitung [363] der Küche hatte die Mutter ihr überlassen –, und wenn sie den Vater zum Spaziergang abholte, pflegte sie wohl ein paarmal den Kopf zu drehen nach der Tür des Vikars und auf der Treppe zu zögern. Wenn dieser nicht erschien, fragte der Vater: »Siehst du nach etwas?« und sie antwortete: »O nein, ich glaubte nur, deine Tür sei nicht recht geschlossen.« Meinte dann der Vater: »Der Vikar kommt uns vielleicht nach, er ist noch beschäftigt,« so sagte Julie äußerst gleichgültig: »Ja so, ich habe gar nicht an ihn gedacht,« und wenn die Mutter ein Mutterauge gehabt hätte, so hätte sie wohl je und je zu solchen Zeiten ihr tiefes Erröten gesehen.

Es brauchte keinen langen Winter, bis der Vikar mit sich dahin ins klare gekommen war, daß es schade wäre, diese frische Blume daheim verkommen zu lassen, und daß sie wenn keine poetische Geliebte, so doch eine recht liebe Hausfrau geben müsse; aber freilich, die Zeit war noch fern, wo er nach einer Hausfrau zu blicken hatte, und vor einer langen Brautschaft hatten ihn Papa und Mama redlich verwarnt. Julie war noch jung genug, noch so jung, daß er wohl mit einer Werbung warten konnte; er hätte indessen doch gern gewußt, woran er mit ihr sei, aber eben das war schwer zu erfahren.


Der Frühling schien in diesem Jahre ungewöhnlich früh zu kommen, schon der Februar brachte so schöne, goldene, sonnenwarme Tage, daß man ihm gern alles Gute glaubte und der tückischen Märzfröste und Aprillaunen nicht gedachte. An einem dieser Tage sah der Vikar Julie in das seither so öde Hausgärtchen treten; flugs eilte er nach, heute mußte alles Eis tauen. »Welch herrlicher Tag!« fing er an, »die ganze Luft voll Frühlingsahnung.« – »Und so prächtig warm,« sagte Julie. – »Setzen Sie sich nicht in die Laube?« fragte Wolker; er hatte die zerfallene selbst wieder ein wenig zurecht gezimmert. – »O, was denken Sie! Sehen Sie nur die Bank an!« rief Julie und öffnete die Gartentür, die auf die Straße führte. »Geschwind, Michele, Jakoble, holt eine Hacke, ihr könnt das alte Eis aus dem Wege fortschaffen. Gretle, willst du einen[364] Besen bringen und die Laube schön putzen? Im Sommer dürft ihr dann Stachelbeeren essen.« Und eine Schar Freiwilliger aus der Nachbarschaft trat ein und begann unter Juliens Direktion den Garten zu reinigen; da mußte denn der Vikar sein aufquellendes Herz wieder zurückdrängen, und er stieg etwas verdrießlich in seine Stube. Von droben aber mußte er doch wieder heruntersehen und sich gestehen, daß Julie sich allerliebst ausnahm, wie sie in ihrer flinken, munteren Weise das unbeholfene Korps befehligte, auch meinte er doch ein paarmal zu bemerken, daß sie gelegentlich ein klein wenig zu ihm hinaufblickte. Nun, die Welt ward schöner mit jedem Tag, der rechte Augenblick mußte schon noch kommen.

Ob Elise diesen keimenden Frühling in zwei jungen Herzen bemerkte, sah niemand; keine äußere Spur zeigte, ob nicht auch das Eis ihres Herzens zu brechen beginne. Es kamen die Märztage, in denen sie immer mehr noch als sonst sich von der Außenwelt abzog und versuchte, das steinerne Grabmal in ihrem Herzen mit neuen Blüten zu schmücken, die der erstarrte Grund längst nicht mehr treiben wollte. In diesen Tagen verließ sie manchmal das Haus, um einsam hinauszugehen, ob sie draußen nicht Keime des erstorbenen Frühlings finden möge. Ein blauer, schöner Märztag, noch schöner als jener im Februar, wo dem Vikar seine Erklärung mißlungen, hatte sie weit hinausgelockt; sie kam durch den Obstgarten zurück, an den das etwas höher gelegene Hausgärtchen stieß, und setzte sich, müde von dem ungewohnten Gang, auf einen Stein. Da hörte sie über sich in der Laube Stimmen; es schien, Julie und der Vikar seien oben; sie konnte hier nicht bemerkt werden, sie lehnte sich an die Mauer und hielt sich still. »Liebe Julie,« bat Wolker, »wollen Sie nicht ein klein wenig aufhören zu arbeiten? Ich möchte Ihnen vielerlei sagen.« – »Kann ich's nicht auch mit dem Strickzeug hören?« fragte das junge Mädchen mit einem Ton, dem man innere Befangenheit anmerkte. – »Ich habe unerwartet eine freudige Nachricht erhalten,« fuhr der Vikar fort, »und Sie sollen die erste sein, die sie erfährt. Mein edler Freund, Graf Arendsberg in Schlesien, [365] schreibt mir heute, daß die Pfarre auf seinem Gut frei sei, daß er mir sie schon lange zugedacht; er ist auf einer Reise hier im Land und will in den nächsten Tagen meine Antwort abholen.« – »Das freut mich von Herzen für Sie,« sagte Julie herzlich, aber nicht mit ihrer gewöhnlichen Lebhaftigkeit. – »Julie,« begann der junge Mann wieder im Tone tiefer Bewegung, »Schlesien ist nicht so schön wie Ihr Vaterland; aber das Pfarrhaus dort liegt wunderlieblich in Gärten und Bäumen, der Umgang mit der edeln Grafenfamilie könnte Ihnen an der Seite eines treuen Gatten die Heimat vielleicht etwas ersetzen, unser Leben könntesehr schön werden: Julie, könnten, wollten Sie es mit mir teilen?«

Die lauschende Mutter unten hatte vergessen die Jahre voll Leid und Trauer, die zwischen jenem Märztag lagen und diesem; zum erstenmal fühlte sie mit ihrem Kinde, ihr Herz klopfte fast hörbar, atemlos horchte sie auf Juliens Antwort. Es gab eine lange Pause. »Ich will Sie nicht drängen,« sagte endlich Wolker in gekränktem Ton, »noch weniger Sie betrüben mit meiner Bitte. Sie haben mir nie Grund gegeben, ein tieferes Gefühl zu hoffen; ich darf mich nicht beklagen über ein Nein.« – »Sie müssen mich wohl verstehen,« sprach Julie mit bebender Stimme, die allmählich fest und klar wurde; »ich habe es im Leben und in Büchern nie ertragen können, wenn sich die Leute mißverstehen. Gott weiß es, daß ich Sie lieb habe von ganzem Herzen und mit Ihnen gehen könnte bis ans Ende der Welt. Aber« – unterbrach sie eine freudige Bewegung Wolkers – »ich kann Ihnen nicht folgen, ich kann meinen Vater nicht verlassen, so lange er lebt. Ich weiß wohl, was Sie sagen wollen,« fuhr sie traurig fort, »es ist der Mädchen Bestimmung, Vater und Mutter zu verlassen, und mein Glück würde auch den Vater glücklich machen, aber er ist so allein. Ich weiß nicht, warum es so geworden ist zwischen den Eltern, aber so, wie es ist, kann ich ihn nicht mehr allein lassen; der Vater bedarf Liebe, mehr als Sie wohl denken, und das kann ich ihm geben; darum ist mir's gewiß, daß es Gottes Wille ist, daß ich bei ihm bleibe. Und vielleicht kommt auch bei [366] der Mutter eine Stunde, wo ihr Herz aufgeht, wo sie ihr Haupt gern an ihres Kindes Herz legen möchte und wo es ihr weh tun müßte, wenn ich so von ihr geschieden wäre, wie es jetzt ist.« Ihre Stimme brach in leisem Weinen. »Sie [367] müssen nichts mehr sagen,« sagte sie sanft, »ich habe alles wohl bedacht und bin gewiß, daß es so recht ist. Sie müssen mir nicht böse sein; denken Sie an mich in Liebe und Freundlichkeit, Gott läßt Sie gewiß noch recht glücklich werden, und um mich seien Sie nicht bange! Ich kann hier nichts anders machen, aber ich kann sie beide lieb haben, und Gott wird mir Kraft geben und Freudigkeit.«

Es ward still. Julie entfernte sich langsam, Wolker folgte ihr, und lange, lange nachher erhob sich die Mutter aus ihrem tiefen Sinnen und ging ins Haus zurück. Julie saß an der Arbeit, emsig wie immer, und wandte die rot geweinten Augen nach dem Fenster; sie besorgte Küche und Keller wie sonst, sie vergaß keines der kleinen Bedürfnisse, das sie allmählich dem Vater abgelauscht; nur ihre Stimme klang nicht mehr so hell wie zuvor, und über den klaren Kinderaugen lag es wie ein leichter Flor.

Das war das Kind, das die eigene Mutter gering geschätzt hatte, weil es nicht tiefen Geist, nicht hohe Gefühle zeigte nach ihrem Sinn! Noch verriet das bewegungslose Antlitz der Mutter keine Spur davon, daß ein milder Tauwind durch ihre Seele zog; aber wenn sie allein war, saß sie nicht mehr unbewegt still, sie schritt rastlos hin und her und drückte in heftigen Bewegungen und Selbstgesprächen die Kämpfe ihrer Seele aus.

Der Vikar hatte dem Pfarrer die erfreuliche Kunde seiner Anstellung mitgeteilt, und dieser war erstaunt über die Ruhe und Kälte, mit der er ein so seltenes Glück aufnahm. Sein Vaterherz hatte wohl auch noch an eine Frage gedacht, die sich an eine solche Mitteilung knüpfen könnte, und mit einem leisen Gefühl der Enttäuschung sah er die jungen Leute so fremd und kühl nebeneinander hingehen. Oft drängte es Wolker, ihm sein Herz zu öffnen und um seine väterliche Fürsprache zu bitten; aber Julie hatte ihn so ernst und herzlich gebeten, gegen den Vater zu schweigen, und so fügte er sich ihrer Bitte; aber er warf fast einen Haß auf das Ehepaar, dessen unnatürliches Verhältnis nun auch sein Lebensglück morden sollte.


[368] Wenige Tage nach jener inhaltschweren Stunde war Elise allein zu Hause; der Pfarrer hatte mit Julie einen großen Spaziergang unternommen, der Vikar war in die Residenz abgereist, um dort vielleicht den Grafen zu treffen und seine Entlassung bei der Behörde zu betreiben. Elise saß in tiefe Gedanken versunken, Gedanken, die wie ein lange eingedämmter Strom in den unbewegten See ihres bisherigen Trübsinns eingedrungen waren und alles lange Versenkte vom tiefsten Grunde aufwühlten. Sie hatte vor sich ihre Tagebücher liegen, von der ersten dämmernden Mädchenzeit bis zum Beginn ihres Ehestandes; länger waren sie nicht fortgeführt. Sie las die hochfliegenden Phrasen, in denen sie ihre Hoffnungen von der Zukunft, ihre glänzenden Träume, ihre edeln Vorsätze ausgesprochen. Hoffnungsgrün wie ein junges Saatfeld hatte das Leben vor ihr gelegen; was war jetzt die Ernte? Sie las ihre Klagen um den geliebten Toten, ihr Gelübde, ihr Leben, ihre ganze Seele als Totenopfer zu weihen, Gelübde, die sie noch auf der Schwelle des Ehestandes wiederholt hatte. Sie hatte es gehalten; alle Tatkraft, alle Liebeskraft hatte sie von diesem Opferfeuer verzehren lassen – jetzt lagen um sie Trümmer und Asche, ihr eigen Herz war verkohlt, ihre Häuslichkeit verödet. Sie dachte darüber nach, wie sie ihres Kindes Glück noch möglich machen könne, das so still, so klagelos seines Herzens Wunsch entsagt hatte; aber sie wußte keinen Weg mehr zu finden in ihres Gatten Herz.

Ein rascher Zug an der Klingel unterbrach ihr düsteres Brüten. Ein Fremder, eine unerhörte Erscheinung hier, stand unten und trat bald mit vornehmem Anstand ins Zimmer, eine hochgewachsene Gestalt, ziemlich bleich, das Gesicht etwas entstellt von einer tiefen Narbe über die Stirn, die sich bis in ein erblindetes Auge zog, und doch lag etwas sehr Einnehmendes in diesen Zügen, im ganzen Wesen des Fremden. Elise aber fühlte sich seltsam befangen, von ihrer sonstigen ruhigen Sicherheit verlassen und fuhr zusammen, als er anfing zu sprechen. Er stellte sich als Graf Arendsberg, den Patron Wolkers, vor, den er selbst habe aufsuchen wollen, um [369] mit ihm das Nötige über seinen Eintritt in die neue Stelle zu besprechen.

Elise gab ihm Antwort, sein Blick aber war auf ihr Jugendbild gefallen, das er wie verzückt anstarrte, ohne auf sie zu hören. »Elise!« rief er endlich in tiefer Bewegung und blickte verwirrt auf die ältliche Frau vor ihm, die ihn fest und lange aus ihren großen blauen Augen ansah und endlich langsam mit bebender Stimme fragte: »Und Sie sind Oskar? Und Sie leben?«

Elise war bleich und matt in einen Stuhl gesunken, der Graf bemühte sich um sie; befangen, ungewiß, welchen Ton er anzuschlagen habe, redete er sie als die Schwester seines teuren Freundes an, bat sie, sich zu beruhigen. Er fürchtete sich fast vor dem geisterhaften Blick dieser Augen, den sie keinen Augenblick von ihm abwandte. »Sie leben!« rief sie endlich mit herzzerschneidendem Tone. »Sie haben gelebt, während ich Ihren Tod beklagt habe mit unaussprechlichem Jammer! Oh, mein verlorenes Leben!«

Der Graf führte sie zum Sofa, denn sie war wie zusammengebrochen; er bemühte sich, seine Seele zu fassen unter dem überwältigenden Eindruck dieses ungeahnten Wiedersehens. Er setzte sich ihr gegen über und begann: »Wollen Sie mich ruhig anhören, liebe Elise?« Sie sah ihn immer an und nickte stumm.

Der Graf begann: »Daß ich Ihrer nicht vergessen, das sagt Ihnen dieses Wiedersehen selbst. Als wir schieden an jenem Märzmorgen, da begleitete mich ihr Bild als eine siegbringende Walküre in Kampf und Schlacht; es schwebte vor meinem brechenden Blick als der Engel mit der Palme, als ich an jenem unseligen Tage bei Kitzen an Ihres Bruders Seite, der noch aufrecht stand, niedersank. Eine tiefe dunkle Nacht deckte mir die Zeit nach jener Stunde, wo ich meine Seele Gott empfahl und meine Augen zu schließen glaubte zur letzten Ruhe. Ich habe erst lange nachher erfahren, wie ein treuer Diener eines Oheims, der nach mir ausgesandt war, den Totgeglaubten unter Leichen hervorgezogen und auf das Schloß [370] seines Herrn gebracht. Mein Auge war verloren, mein Gehirn tief verletzt; so lag ich lange Zeit, abwechselnd bewußtlos oder rasend, wie es schien fürs Leben verloren. Da ich unter falschem Namen ins Lützowsche Korps getreten war, wurde ich auch unter diesem in die Totenliste eingetragen; der Name Falkenschwerdt steht noch neben dem Ihres Bruders auf einem Kriegsmonument.

Nach vielen Wochen erwachte ich todesmatt unter der Pflege der Meinen, vor allem meiner Cousine Agnes, die als hilfreicher Engel an meinem Krankenbette ausgeharrt hatte. Agnes war durch den Wunsch unserer Eltern von jeher für mich bestimmt gewesen; aber jedem Zwang abhold, hatte ich mich bis jetzt immer von ihr abgewendet, da ihr stilles Wesen mir leer und unbedeutend schien. In den langen Tagen eines fast hoffnungslosen Siechtums, die meinem Erwachen folgten, lernte ich dieses Engelsgemüt kennen, das unverrückt in sanftem, stillem Geist seine Wege ging; ich entdeckte das reiche, innige Leben unter dieser ruhigen Außenseite, das seine Fülle und Kraft aus einer unversieglichen Quelle schöpfte.

[371] Ich hatte Sie nicht vergessen, Elise. Ihr jugendschönes Bild hatte mich in den wildesten Fieberphantasien nicht verlassen; es tauchte mit dem ersten schwachen Lebensgefühl in meinem Bewußtsein auf, aber es stand mir in unermeßlicher dämmernder Ferne, weit, weit in nebelhafter Vergangenheit, so unerreichbar fern wie meine Jugendkraft, mein Lebensmut. Ich sprach zu Agnes von Ihnen, und ihre stillen Augen ruhten sanft und freundlich auf mir, wenn ich ihr von jenem Frühlingstag erzählte; aber es klang auch ihr fast wie ein Märchen, das nicht zu verwirklichen ist.

Endlich und endlich genas ich; ich freute mich der neu erstandenen Freiheit des Vaterlandes, aber tätige Teilnahme an seinem Geschick war mir nicht mehr möglich. Mein Vater, der noch im Staatsdienst war, wünschte, ich sollte unser Gut übernehmen; er sprach keine Wünsche wegen Agnes aus, ich selbst fühlte, daß sie mir unentbehrlich zum Leben geworden war, daß eben sie in der sanften Klarheit ihres Wesens meine stürmische Natur am besten ergänze; aber ich konnte doch noch nicht ohne Skrupel in meines Vaters Wünsche eingehen. – Elise, ich will ganz wahr sein: Ihre liebliche Erscheinung begleitete mich nur noch wie ein lichter Jugendtraum. Es war Agnes, die mich feierlich erinnerte, daß jenes flüchtige Wort am Scheidemorgen, unser Zusammenhang durch den Bruder doch von tieferer Bedeutung als ein Traum gewesen sei, und auf ihre Bitte stellte ich Nachfrage nach Ihnen an durch den Gesandten ihres Vaterlandes, da ein Brief in Ihren Heimatsort, dessen Namen ich mich nicht genau erinnerte, unbeantwortet geblieben war. Ich hörte, Ihr Vater sei gestorben und Sie verheiratet. Ob diese Nachricht ganz richtig war oder ob sie der Gesandte nach meines Vaters Wünschen selbst ergänzt hat, weiß ich nicht; ich glaubte ihr damals und wollte Ihre Ruhe, Ihr häusliches Glück nicht mehr stören. Agnes zögerte aber noch lange, die Meinige zu werden; erst als ich durch meines Vaters Tod ganz allein dastand, gab sie mir ihre Hand. Sie ist der gute Engel meines Lebens geblieben, Elisens Bild hat mich begleitet in unverwelklicher Schönheit und Jugend; [372] und im Vollgefühl meines Glücks, meiner endlich wiedergekehrten Gesundheit habe ich oft Gott gebeten, auch den Morgenstern meiner Jugend zu segnen mit Friede und Freude, wie er mich gesegnet.

Der Wunsch, einmal, nun unser Leben sich dem Abend zuneigt, wieder von Ihnen zu hören, Sie vielleicht noch einmal zu sehen, bestimmte mich zumeist, Ihr Land wieder zu besuchen. Ich hatte Ihren Wohnort noch nicht erfahren können, als mich der Zufall jetzt eben zu Ihnen führte. Darf ich hoffen, daß auch Sie als Freundin meiner gedacht?«

»Als Freundin!« brach Elise, die ihm bis dahin lautlos zugehört, mit der lange verhaltenen Heftigkeit ihrer Natur aus; »als Freundin! Während Sie meiner gedacht in müßigen Stunden, waren Sie mein Morgen- und Abendgebet, mein Leben, mein Licht, meine Hoffnung, mein einziges Denken! Während Sie meiner vergessen hatten oder an mich dachten wie an ein kindisches Spielzeug, das Sie weggelegt, habe ich Sie beweint mit einer Trauer, wie sie noch kein Frauenherz getragen! Während Sie um eine andere geworben und froh waren, daß Sie mich mit einer kühlen Nachfrage abgefertigt, habe ich alle Männer fortgestoßen, die mir nahen wollten! – Ich habe mich auch vermählt, es ist wahr, und ich habe es bereut, tausendfach, mit heißen Tränen; aber ich war ein schutzloses Weib, und ich wählte einen Gatten, von dem ich hoffte, er solle als Freund meine Trauer teilen, mir helfen, Ihr Andenken heilig zu halten. Nicht wie Sie habe ich gefreit, um des Lebens Lust zu genießen; als ich fand, daß mein Gatte mein Herz und meine Trauer nicht verstehen konnte, habe ich mich verschlossen und abgewandt von ihm, mich verschlossen für jede Lebensfreude, selbst für das Mutterglück. Mein Leben war kein Garten wie das Ihre; es war ein Friedhof, auf dem ich keine Blumen pflegte als die um Ihr Grab – und Sie haben gelebt und sich des Lebens gefreut!« – Elise hatte aufgerichtet mit geröteten Wangen und funkelnden Augen gesprochen; nun sank sie wieder zurück, ihr weiblicher Stolz erwachte mit bitterem Gefühl, daß sie ein vergessenes, verschmähtes [373] Herz so offen dargelegt, und mit tonloser Stimme sagte sie: »Verzeihen Sie, Herr Graf, einen so unwillkürlichen Ausbruch längst vergangener Gefühle! Ich bitte, lassen Sie mich allein.«

»Ich lasse Sie nicht allein,« sprach der Graf mit tiefer Bewegung. »Gott vergebe mir meine Schuld an Ihrem zerstörten Dasein, das einst so herrlich aufgekeimt war! Ob das lange, schwere Siechtum, das meine Kräfte gebrochen, ob doch eine Unbeständigkeit meines Herzens die Schuld trägt, daß die erste Liebe meiner Jugend, die Liebe eines Tages, damals nicht mit der alten Kraft aus dem Sturm hervorgegangen – ich weiß es nicht; aber wohl hätte ich ernster die Bedeutung jedes Wortes aus jener Zeit erwägen und kein neues Band schließen sollen, ehe es zwischen uns ganz klar und wahr geworden wäre. Es war vielleicht eine mir unbewußte Falschheit meines Herzens, daß ich mich mit der Nachricht von Ihrer Vermählung so leicht zufrieden gab. Soweit die Schuld mein ist, will ich sie tragen und, wo ich kann, mit Gottes Hilfe sühnen. Aber wenn ich Ihnen nicht treu war, Elise, so war ich es meinem Gott; ich war es den heiligen Gelübden meiner Jugend, ich war es jedem ernsten und erhabenen Gefühl, das uns damals zusammengeführt, ich habe an Sie geglaubt und an Ihren Wert. Als ich hörte, Sie seien vermählt, da glaubte ich, daß Sie dem Manne, den Sie gewählt, ein gutes und treues Weib sein werden, treu in ihren tiefsten, innersten Gefühlen, und daß der Gedanke an die Liebe der Jugend erhebend und läuternd Sie begleiten werde, wie er mich begleitet hat. Ich habe oft noch der Stunde gedacht, wo unsre Herzen sich eins gefühlt ineinem Glauben, in einer Hoffnung, in einer jugendlichen Begeisterung; und wenn mir mit Gottes Hilfe gelang, mein Haus zu einer Wohnung des Friedens zu machen, das edle Herz zu beglücken, das sich mir zu eigen gegeben, Segen zu bringen in die Hütten der Armen, ein männlich Wort zu sprechen für die Rechte des Volks – da dachte ich auch an Sie, die Sie in Ihrem Kreise nach gleichem Ziele streben werden, und bat Gott, daß er Ihr Leben und Streben [374] segnen möge, wo Sie auch seien, und ich hoffte, daß eine Stunde kommen werde, hier oder dort, wo wir uns wiedersehen und jedes dem andern sagen dürfte: ›Ich bin deiner wert geblieben.‹ So aber wie heute habe ich mir unser Wiedersehen nie gedacht.«

Elise hatte ihr Gesicht mit beiden Händen verhüllt; heiße, bittere Tränen quollen dazwischen hervor. Endlich sah sie ihn an mit ihren verweinten Augen, nicht mit dem alten, starren Ausdruck, und sagte leise: »Ich bitte Sie, lassen Sie mich jetzt allein!« – »So können und dürfen wir nicht scheiden, Elise; ich will gehen, wenn Sie wollen, aber erlauben Sie mir, wiederzukommen?« – Elise nickte. – »So reise ich jetzt ab. Wollen Sie Wolker sagen, daß ich wiederkommen werde, weil ich ihn verfehlt? Darf ich hoffen, daß wir uns noch einmal freundlich begegnen?« Elise gab ihm schweigend die Hand; er schied zögernd.

Es war eine schwere Stunde für Elise, die sie nun durchkämpfte, eine Stunde bitterer Reue und Selbstanklage. Der Schleier der Selbsttäuschung war zerrissen, und ihr ganzes verfehltes Leben, das zerstörte Glück ihres Gatten, ihres Kindes, das Feld, das ihr der Herr zum Bauen gegeben und das sie wüst gelassen, das reiche Pfund, das er ihr anvertraut und das sie in finsterem Trotz begraben, das alles erhob sich zu schwerer Anklage gegen sie, und sie war der Verzweiflung nahe, als sie immer wieder und wieder den ken mußte: »Zu spät! zu spät!« Aber es ist ein heiliges Vorrecht des Menschen, sich selbst zu richten, und aus dem heißen Kampf der Reue und Buße ging ihr der Stern der Vergebung, des Trostes auf.

Sie zog sich zurück, ehe ihr Mann und Julie zurückkehrten; es war das nicht das erste Mal. Sie brauchte Einsamkeit, um fertig zu werden mit ihrem Herzen. Ihr Stolz war gebrochen, sie fühlte sich fast glücklich im Gefühl tiefer Demütigung. Auf Glück hoffte sie nimmer, das hatte sie unwiederbringlich verscherzt. Einst hatte es wohl eine Zeit gegeben, wo es an ihr gewesen wäre, einen inneren Einklang, ein Verstehen mit ihrem Gatten möglich zu machen. Dazu war es jetzt zu spät; aber sie wollte sich demütigen vor ihm, sie wollte seinem Willen leben, [375] sich geduldig und gehorsam fügen seinen Wünschen, seinen Eigenheiten, und auf dem Wege gänzlicher Hingabe, stiller Verleugnung Frieden suchen und Vergebung.

Es war Nacht. Julie hatte sich zur Ruhe gelegt, der Pfarrer schritt einsam in seiner Studierstube auf und ab, wie er schon so manche Nacht getan. Da öffnete sich leise die Tür. »Du bist's?« fragte er aufs äußerste erstaunt, als seine Frau über die Schwelle schritt. – »Ich habe noch mit dir zu reden,« sagte Elise mit weicher, sanfter Stimme, wie er sie fast nie von ihr gehört. Sie stellte das Licht auf den Tisch und setzte sich. Ihm war ganz bange, eine alte Furcht tauchte in ihm auf: er glaubte, sie sei irre.

»Unsere Julie und der Vikar haben einander lieb,« hob sie an, immer noch unsicher, wie sie anknüpfen sollte. – »Nun, wenn das ist, warum erklärt er sich nicht?« fragte der Pfarrer. – »Er hat sich erklärt,« fuhr Elise fort; »Julie aber hat ihn abgewiesen.« – »Warum denn? Das einfältige Kind!« – »Julie will dich nicht verlassen, weil sie fürchtet, dein Abend werde zu öde und einsam und dein Sterbebett verlassen, wenn du mit mir allein bleibst. Und da wollte ich dich fragen,« fuhr sie leise mit bebender Stimme fort, »ob du nicht doch das Kind ziehen lassen und es mit mir allein versuchen wolltest? Ich möchte mit Gottes Hilfe gut machen, was ich so lange versäumt. Ich weiß wohl, du kannst mich nicht mehr lieb haben, aber ...«

Ihre Stimme brach; der Pfarrer eilte zu ihr, er nahm ihre Hand, er richtete ihr gesenktes Haupt auf und sah ihr voll und herzlich in die Augen: »Und wer sagt dir das? Weißt du nicht, daß ich all mein Leben lang niemand geliebt habe als dich? Weißt du, wie manche einsame Stunde ich mit dem Schmerz gerungen, daß du mein und doch mir verloren seiest, und weißt du, daß ich dich doch lieb behalten habe? Aber meine Schuld ist, daß ich dich in früheren Tagen nicht genug, nicht so selbstlos geliebt habe, um dir Zeit zu lassen, mit deinem Herzen ins klare zu kommen. Ich wollte dich zu eigen haben, ehe dir selbst die rechte Freudigkeit gekommen, und das war eine Versündigung an der Ehe und an dir. Was mir sonst noch fehlt an [376] Poesie und Phantasie,« fuhr er in seinem alten, gutmütigen Ton fort, »da weißt du wohl, mußt du eben mein Leben lang Geduld mit mir haben und manchmal an meine Liebe glauben, ohne zu sehen.«

Lange, bis tief nach Mitternacht saßen die Gatten beisammen. Ein Gefühl von Frieden und Klarheit, wie sie es nie gekannt, in den seligsten Zeiten ihrer Jugend nicht, zog in Elisens Seele ein, als sie so an ihres Gatten Seite saß, das Haupt an seine Schulter gelegt, ihre Hand in der seinen, als sie in seine guten, treuen Augen sah und ihm alles, alles enthüllen konnte, was in den langen Jahren ihr Gemüt verdüstert, ihr Leben bedrückt hatte. Und sie fand hier so viel mehr, als sie gehofft und geglaubt hatte; sie fand sich geliebt, nicht als eine Idee, sondern ganz und gar so, wie sie war; eine Liebe fand sie, die ihr treu geblieben durch so viele Jahre der Verdüsterung, die sie und ihr ewiges Wohl auf dem Herzen getragen [377] hatte, auch wo sie nichts als Kälte gegeben, und Elise legte sich endlich zur Ruhe, so matt und so selig wie ein Kind, das nach langem, langem Umherirren sein Vaterhaus gefunden.

Der Vikar kam zurück; er hatte den Grafen nur einen Augenblick gesprochen und ihn, wie er sagte, sehr verändert gefunden, so unruhig, so bewegt; er hatte aber versprochen, ihn noch einmal hier zu besuchen. Elisens Blicke und ihres Mannes begegneten sich mit einem halben Lächeln. Ein tiefes Erröten, das auch die Matrone gut kleidet, zog über ihr Gesicht, und Julie, die zufällig diese Blicke bemerkte, blieb starr vor Erstaunen. Überhaupt wußten die zwei jungen Leute nicht, was mit den zwei alten vorgegangen war. Zwar waren beide, zumal Elise, schüchtern wie eine junge Braut; so selten wie zuvor richtete sie in Gegenwart andrer ein Wort an ihren Gatten, aber der Ton war ein so ganz andrer. Sie fuhr zusammen, wenn jemand eintrat und eben ihre Hand in der ihres Mannes lag, ein Julie unerhörter Anblick. Dann hatte die Mutter alle Augenblicke etwas zu fragen in des Vaters Stube und der Vater etwas vergessen in der Wohnstube, und einmal – nein, Julie täuschte sich nicht – hatte sie die beiden zusammen laut lachen gehört, als die Mutter einen Knopf an des Vaters Rock nähte, eine nie gehörte Musik im Pfarrhause zu Düsterfeld.

Auch dem Vikar, wenn er gleich seltener auf dem Schauplatz war, entging dieses Tauen des Eises und vor allem die fast überfließende Heiterkeit des Pfarrers nicht, und er wagte es auf einem gemeinsamen Gang, Juliens Gebot zu übertreten und dem Vater sein Herz zu öffnen, natürlich ohne ihrer Weigerung zu erwähnen. »Wollen einmal sehen, was meine Frau dazu sagt,« sprach der Pfarrer gut gelaunt und führte ihn zurück und hinauf in die Wohnstube.

Da saßen Mutter und Tochter fast so still wie sonst, aber in den bewegten Blicken, mit denen sie sich zuzeiten betrachteten, ließ sich ahnen, daß das Eis gebrochen sei und der erste Sonnenstrahl die Blumen wecken könne. »Was meinst du, Elise,« beann der Pfarrer in einem Ton, der Julie wie ein Traum[378] dünkte, »der neue Herr Pfarrer von Arendsberg tut unsrer Julie die Ehre an, um sie zu werben; willst du der Kleinen zureden?«

Julie erhob tief errötend die Augen schüchtern zu der Mutter; ermutigt durch den Blick, der ihr hier entgegenkam, flog sie auf, schlang die Arme um ihren Hals und verbarg ihr Gesicht an ihrer Brust. »Nun, Kleine, was bist du gesonnen?« fragte der Pfarrer. »Uns würde es freilich schwer, dich so weit ziehen zu lassen; aber die Mutter und ich, wir wollten's in Gottes Namen wieder allein miteinander probieren.«

Elise wand sich errötend aus dem Arme ihres Gatten, der sie umschlingen wollte, und ließ ihm die Hand. Und die zwei jungen Leute?


Nicht länger blieben sie stehen
Eins von dem andern fern,
Und was nun wär' geschehen,
Das wüßtet ihr wohl gern.

[379] Wer's aber nicht selbst erlebt hat, der kann sich's doch nicht recht vorstellen, und wer's erlebt hat, der weiß es noch ganz gut.


Nach zehn Tagen kam der Graf wieder, etwas bange, mit schwerem Herzen. Er konnte nicht recht klar mit sich werden, wie er denn mit Elise sprechen sollte und wie mit ihrem Gatten, und doch wollte er nicht so von ihr scheiden, wie er geschieden war. Er ließ wieder den Wagen in der Schenke und betrat klopfenden Herzens das Pfarrhaus. Aber siehe, da hieß es: »Der Winter ist vergangen, und der Regen ist weg und dahin, die Blumen sind hervorgekommen, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube läßt sich hören im Lande.« Er wußte nicht, träumte er jetzt oder hatte er früher geträumt, als er die hochgewachsene, stattliche Matrone so friedlich und freundlich bei ihrem Gatten auf dem Sofa sitzen sah, wie sie beide mit vergnüglichem Lächeln das junge Paar betrachteten, das eifrig flüsternd am Fenster tiefe, hochwichtige Geheimnisse verhandelte.

Er wurde vom Pfarrer mit großer Achtung und Herzlichkeit empfangen – wußte dieser doch, wie viel er ihm zu danken hatte; von Elise etwas schüchtern und befangen. Es ist nicht leicht, nach einem so bedeutungsvollen Begegnen die Brücke zum gewöhnlichen Verkehr zurückzufinden; aber ihr ganzes Wesen, das stille Friedenslicht, das in ihren Augen aufgegangen war, sagte ihm alles und das Beste, was er zu wissen wünschen konnte. Julie, die er mit Freuden als seine künftige Pfarrerin begrüßte, tat ihr Bestes, um in der Bewirtung des verehrten Gastes zu zeigen, daß sie trotz ihrer Jugend schon zur Hausfrau befähigt sei. Die Nachbarn blieben erstaunt vor dem Pfarrhaus stehen, als sie Fenster und Läden geöffnet sahen, um die milde Frühlingsluft einzulassen, und von oben fröhliche Stimmen und lautes Lachen hörten.

Beim Abschied reichte Elise dem Grafen die Hand und sagte leise: »Ich habe Frieden gefunden. Bitten Sie Ihre Agnes, daß Sie meinem Kinde eine Mutter sein möge!« Und er schied [380] von dem versöhnten Hause getrost und freudig mit innigem Dankgebet.

Julie ist mit ihrem Gatten in seine neue Heimat gezogen und hat an der Gräfin eine zweite Mutter gefunden. Elise wünschte zuerst, daß ihr Mann sich einen andern Berufsort suchen möge; aber sie fügte sich seinem Willen, der Gemeinde, in der sie so lange ein Stein des Anstoßes gewesen, nun auch das Bild eines friedlichen, freundlichen Pfarrhauses zu geben. Der Garten steht jetzt in Blüten, um die bedeutungsvolle Laube sind Rosen gepflanzt, das Ehepaar trinkt dort seinen Kaffee, und der Pfarrer raucht seine Pfeife; durch die hellen Fenster des Hauses scheint die Sonne, und der begraste Hof ist abgetreten von den Schritten gemütlicher Gäste, die sich ganz allmählich dem neu aufgegangenen Sonnenschein nachgezogen haben. Der wunderbare Wechsel im Pfarrhaus hat gar viel zu reden gegeben. Die allgemeine Annahme ist, daß er das Werk des Töchterleins sei; die Bauernweiber meinten, wie die jungen Leute so vergnügt gewesen, habe es die Alten »gekeit«, und sie haben es auch nachgemacht. Elise aber sagte einfach: »Der liebe Gott hat gut gemacht, was ich schlimm gemacht.«

[381]

Notes
Erstdrucke der einzelnen Erzählungen ab 1852 im Cottaschen »Morgenblatt für gebildete Stände«. Erstdruck der Buchausgabe: Stuttgart (Krabbe) 1855–1857.
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TextGrid Repository (2012). Wildermuth, Ottilie. Aus dem Frauenleben. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A7C1-C