Schwäbische Pfarrhäuser

1. Das freundliche Pfarrhaus

Ein freundliches war es gewiß. Es ist schon so schön hellgelb angestrichen und steht hoch oben im Dorf, recht ausdrücklich, damit es weithin gesehen werde, um den zahlreichen Pilgern vom nahen Städtchen eine freundliche Aufnahme zu verheißen. Und wenn man über den begrasten Kirchhof schreitet, der, längst nimmer benützt, nur noch ein Tummelplatz ist für Kinder und Hühner, wie freundlich steht's da im reinlichen Hofraum, mit dem Nußbaum zur Rechten, der sich so dicht ans Haus anschließt, daß man seine Früchte vom Zimmer aus pflücken kann; mit dem Garten zur Linken, dessen Büsche und Bäume neugierig über die niedrigen Nebengebäude, die Stallungen für Hühner, herausgucken! Mit fröhlichem Gebell und zutraulichem Schweifwedeln sprang einem da Azor, der getreue Haushund, entgegen, ein wahrer Ausbund von Hund, ein garstiges Vieh zwar, aber höchst gastfreundlicher Natur, denn an jedem Besuch hüpfte er[178] hoch empor aus lauter Vergnügen. Als Kinder konnten wir's ihm freilich nicht verzeihen, daß er Stachelbeeren fraß wie ein Mensch, sonst aber war er unser guter Freund. Armer Azor! Er mußte sein Leben lassen bei einer Hundemusterung und hatte doch kein Unrecht auf seiner ehrlichen Hundeseele, als daß er acht Jahre alt war! Das wäre auch nicht geschehen, wenn wir dazumal schon Öffentlichkeit und Mündlichkeit gehabt hätten.

Aber wir können nicht im Hof stehen bleiben; treten wir in den Flur, der zum Ergötzen der Kinder mit einer Schaukel versehen ist. Da prangte als beständiger Willkomm noch ein großer, prächtig gemalter Vers, von Tannenreis umkränzt, mit dem der Pfarrer vor Jahren einst von seiner Gemeinde empfangen worden war:


»Noch ehe er kam,
War sein Herz voll Huld uns zugetan;
Die Vorsehung schenkte uns ihn,
Und wir vereinigen uns heut mit ihm.«

Nun aber die Treppe hinauf, wo uns oben schon der Hausfrau freundliche Stimme begrüßt, in die große, wohnliche Stube, die vielerlei Zwecke in sich vereint, die Salon, Studierzimmer, Speisesaal und Audienzgemach zugleich war. Da stand die stattliche Gestalt des Pfarrherrn ans Fenster gelehnt, eingehüllt in eine bläuliche Rauchwolke, die von ihm ausging und über das ganze Zimmer ein angenehmes Düster ausgoß. Er war ein standhafter Raucher (leidenschaftlich würde zu seinem sonstigen geruhigen Wesen nicht passen); Priester und Altar zugleich, dampfte er den lieben langen Tag, und nur ein einzigmal, in einer Stunde tiefsten Leides, sah ich sein Pfeifchen erloschen. Jetzt aber stellt er's einen Augenblick beiseite, um mit lauter, voller Stimme seine Gäste zu begrüßen.

Und nun legt man die überflüssigen Hüllen ab und setzt sich recht gemütlich um den runden Tisch, und ich möchte wohl wissen, wem's da nicht behaglich geworden wäre. Man fühlte sich so recht geborgen aus allem Gewühl und Getreibe des Lebens draußen, und die einfache Bewirtung: Kaffee, Butter, [179] Brot und Obst, ließ man sich jederzeit so trefflich schmecken, als ob man gerade nur zum Schmausen gekommen wäre. Es war kein Wunder, daß man sich so wohl fühlte, denn willkommen waren alle Gäste, junge und alte, zu jeder Zeit, zu jeder Stunde, und es gibt kein angenehmer erwärmendes Gefühl als das, ein gern gesehener Gast zu sein. Niemals durfte man mit der heimlichen Angst die Glocke am Haus ziehen, daß nun droben ein Türauf- und -zuschlagen, eine gedämpfte oder laute Küchenkonferenz angehe, bis die Pforte sich öffne. Ja sogar der Samstag, dieser Tag häuslicher Plage und Unbequemlichkeit, dieser herbe Durchgang zu der Ruhe des Sonntags, hatte im freundlichen Pfarrhaus seinen Stachel verloren, weshalb auch eben an diesem Tag die stärkste Wallfahrt dahin war. Und nicht nur bei hellem Tageslicht suchte man das freundliche Pfarrhaus heim, nein, auch die schönsten Mondscheinpartien wurden in klaren Winternächten dahin gemacht, und ein warmer Tee nebst delikaten Apfelküchlein belohnte die späte Mühe.

Zu den übergeschäftigen Hausfrauen gehörte die Pfarrfrau nicht, obgleich sie die Finanzangelegenheiten des Hauses in aller Stille mit ruhiger Umsicht verwaltete; auch hätte ihre zarte Gesundheit wohl kaum ein sehr bewegliches Treiben gestattet. Drum hatte man auch im Pfarrhaus nie den peinlichen Eindruck, als ob jetzt die Leute Leib und Leben dran setzten, einen Kaffee zustande zu bringen. Da gab's kein stundenlanges Verschwinden der Hausfrau, unterbrochen durch kurzes atemloses Auftreten mit irgend einem Erfordernis. Nein, das gab sich alles wie von selbst; noch ehe die häusliche Wirksamkeit in die Hand der Töchterlein überging, saß die Frau Pfarrerin geruhig da, mit ihrem roten Strickkorb, ein langsam vorrückendes Strickzeug in der Hand, und lieh ihr Ohr den Gästen, während sie mit strahlenden Blicken fast unverwandt ihren Mann betrachtete, der in ihren Augen der Inbegriff aller männlichen Schöne und Herrlichkeit war, so wie er wiederum sich gar nichts Anmutigeres und Vollkommeneres vorstellen konnte als eben seine Frau. Ob das andern Leuten auch so erschien, das tut nichts zur Sache. Genug, sie waren selig in diesem Glauben, [180] und von dieser steten unverwelklichen Glückseligkeit des Ehepaares, die es mit innigem Genügen erfüllte, ging auch die Lebensluft von Freude und Frieden aus, in der es einem so wohl wurde im Pfarrhause.

Eine Studierstube brauchte der Pfarrer nicht. Zwei Tage lang hatte er einmal eine gehabt, da hielt er's aber nicht aus. »Warum soll ich wo anders sein, wenn ich bei dir sein kann?« Seitdem etablierte er sich mit seinen Pfeifen und Büchern (in welch beiden Stücken er keinen großen Luxus trieb) im einzigen Wohnzimmer bei seiner Frau, und weder sein Geist noch sein Amt hat darunter Not gelitten. Ein neues philosophisches System hat er nun zwar nicht ausgeheckt, auch nicht Chaldäisch und Sanskrit getrieben; aber ein grundgescheiter Mann war er doch, der über alle Erscheinungen im Gebiete des Lebens und Wissens ein gutes gesundes Urteil hatte.

Seine Passion war neben dem Rauchen noch das Schachspiel; es war gerade recht für sein gutes Phlegma, so eine halbe Stunde lang zwischen den Rauchwolken durch das Schachbrett zu betrachten, ehe er sich zu einem Zug entschloß. Hie und da begegnete es ihm, auch etwas zerstreut zu sein; wie er denn einmal in eine große Gesellschaft eintrat, statt des Stocks den Besen in der Hand, an dem er vor der Tür die Schuhe gereinigt hatte; – ich sehe noch das erstaunte Gesicht, mit dem er sich umsah, als sein höflicher Gruß mit einem schallenden Gelächter erwidert wurde.

Die Seelsorge, die Audienzen, die der Pfarrer seinen Bauern gab in ihren verschiedenen Lebensangelegenheiten, sie konnten nur gewinnen durch die stille Anwesenheit der Frau Pfarrerin, die, in alle Verhältnisse eingeweiht, da und dort ein Wort zur rechten Zeit einschaltete, am eifrigsten, wo es galt, einen Ehemann zu seiner Pflicht, eine Frau zur Geduld und Sanftmut zu ermahnen. Des Pfarrers Predigten, die er niemals studierte, was seine Frau als besonderen Ruhm anführte, hatten eine einfache Kraft und Wahrheit, die ihre Wirkung nicht verfehlten und manchmal gerade am rechten Fleck einschlugen, mehr als die beststudierte Rede.

[181] Die Gemeinde lag beiden sehr am Herzen; sie betrachteten sie fast mit der parteiischen Vorliebe, mit der Eltern das eigene Kind samt seinen Tugenden und Fehlern ansehen, und konnten's nicht leiden, wenn gerade ihr Dorf so oft zum Gegenstand des Gespöttes der Nachbarorte wurde.

Es ist unverkennbar, daß, wie ganze Nationen und Provinzen, so auch einzelne Dörfer, und seien sie noch so nah beisammen, ihren eigentümlich ausgeprägten Charakter tragen, was vielen Anlaß zu zahlreichen Neckereien und oft blutigen Händeln zwischen Nachbarorten gibt. So war nun das Dorf, wo das freundliche Pfarrhaus stand, Weindorf wollen wir's nennen, weit berühmt wegen besonderer Betriebsamkeit und Sparsamkeit der Bewohner. Man hätte glauben sollen, sie verstehen zwei Tage aus einem zu machen. Wenn ungünstig Wetter in der Ernte oder zur Heuzeit einfiel und im ganzen Bezirk der Ertrag verdorben war, – die Weindörfer hatten den ihrigen immer noch bei Sonnenschein eingebracht; wenn eine Überschwemmung den Wiesen am Neckar drohte und die kaum eine Viertelstunde entfernten Stadtbewohner sich zur Ruhe legten und seufzten: »Schad um den schöna Mist, wo's Wasser furtnemmt!« waren die Weindörfer Wiesen mit Laternen besät, bei deren Schein die Bewohner ihren Dünger bis aufs letzte Hälmchen wieder heimholten. Man sagte ihnen freilich auch nach, daß kein Weindörfer nach Haus komme, außer er bringe etwas »Gemaustes« mit, und daß man in den Weindörfer Weinbütten Fische fangen könne, weil sie nämlich den neuen Wein mit Neckarwasser vermehren; das aber ließ die Pfarrerin nie gelten. Sie hob dagegen mit Glanz hervor, wie fleißig ihre Weindörfer Männer seien und wie friedlich die Ehen; auch rühmte sie mit Recht, daß das ganze große Dorf nur einen einzigen Bettelmann besitze, der »umgeätzt« wurde; und das war erst noch ein grober Bettelmann, der den Weibern, die ihn speisten, den Küchenzettel kritisierte und sich nichts gefallen ließ. Als einst zwei fremde Bettelkinder am Pfarrhaus schellten und wir ihnen das Almosen brachten und im Spaß zuriefen: »In Weindorf ist's Betteln nicht Mode,« da jammerte [182] die gute Pfarrerin: »Das hättet ihr nicht sagen sollen, die nehmen's jetzt gewiß übel und kommen nimmer.« Schade, daß sie nicht erlebt hat, wie leicht versöhnlich die Bettelleute unsrer Tage in diesem Punkte sind!

So fern der Pfarrer von allem Sektenwesen war, so hielt er doch die »Stillen im Lande«, die Pietisten seines Orts, die er als seine besten Bürger rühmte, hoch in Ehren und vermied neben all der schlichten Geradheit seines Wesens alles, was ihnen Anstoß geben konnte. Es wurde einst der Geburtstag des jüngsten Töchterleins gefeiert; ihre Freundinnen aus der Stadt hatten ein sehr rührendes moralisches Stück aus Weißes »Kinderfreund« einstudiert, um sie zu überraschen. Die Pfarrerin hörte von dem Plan und bat uns freundlich, die Aufführung in der Stadt zu veranstalten: »Wißt ihr, Kinder, um des schwachen Bruders willen!« So zogen denn die Pfarrtöchterlein zur Stadt; die Aufführung gelang vortrefflich: der edelmütige Töffel und das bescheidene Dortchen kamen zu Ehren, die stolzen Edelmannskinder wären um ein Haar ertrunken, und die hochmütige Frau von Grünthal besserte sich; hernach zogen Schauspieler und Publikum hinüber über Neckar und Wiesen ins freundliche Pfarrhaus und verzehrten dort gemeinsam einen Kessel voll Reisbrei mit Zucker und Zimt; das Fest war gefeiert, und der »schwache Bruder« blieb geschont.

Das Dorf hatte sich durch strenge Altgläubigkeit von jeher ausgezeichnet. Als früher längere Zeit bei Taufen die übliche Frage: »Widersaget ihr dem Teufel?« usw. verbannt war, wandten sich die Weindörfer bei jeder Taufe ans Konsistorium mit der Bitte, sie nach der alten Formel vollziehen lassen zu dürfen. Der ewigen Bittschriften müde, ermächtigte das Konsistorium den betreffenden Dekan, diese Erlaubnis zu geben, was dieser dem Pfarramt mit den lakonischen Worten mitteilte: »Einem verehrlichen Pfarramt wird kund gemacht, daß die Weindörfer den Teufel von nun an beim hiesigen Dekanatamt zu sechsunddreißig Kreuzer Sportel haben können.«

Alles Weltgeräusch und Getümmel, alle Zänkereien und [183] Streitigkeiten, aller kindische Neid, die tausenderlei Eifersuchten, die sonst zumeist in kleinen Kreisen das Leben bewegen und verderben, waren für unser Pfarrhaus nicht vorhanden. An dieser seligen Genügsamkeit, an diesem herzlichen Wohlmeinen glitten alle die Stacheln des Lebens unvermerkt ab, und keine Sorge für die Zukunft fand Raum. Wenn auch der Pfarrer mit den Freunden die Zeitereignisse besprach, zu tief konnte man nicht in Kombinationen oder Befürchtungen eingehen, denn in getroster Zuversicht schaute das freundliche Gesicht der Pfarrfrau drein: »Gebt nur acht! Ich meine, es wird schon alles wieder recht und gut werden.«

Die Liebe des Paares erhielt sich in immergrüner bräutlicher Frische, ohne allen sentimentalen Anflug hatte sie eher etwas Kindliches. Nach dreißigjähriger Ehe betrachtete die Pfarrerin ihren Liebsten noch mit demselben strahlenden Entzücken wie an jenem Weihnachtsabend, wo er als Vikar ihr sein wertes Selbst zur Bescherung angeboten, was sie ohne lange Bedenkzeit angenommen hatte. Wie die zärtlichste Braut begleitete sie ihn mit ihren Blicken, wenn er ohne sie das Haus verließ, solange sie ihn vom Fenster aus sehen konnte, oder harrte seiner Rückkehr; begleitete sie ihn auf einem Gang, von dem sie früher als er umkehrte, so suchte sie sorgsam seine Fußstapfen auf, um in diesen zurückzugehen. Sie war unerschöpflich in neuen Benennungen für ihn: »Du Glücklichmacherle«, »du Gottlobunddankmannle« usw. Auch hielt sie's für gar keine Verletzung ihrer Frauenwürde, wenn sie ihrem Mann, so oft ihr's einfiel, die Hand hinstreckte: »Ich dank' dir eben recht schön, daß du mich genommen hast.« Auch hat sie der Pfarrer darum gar nicht geringer geschätzt, sondern hoch und wert gehalten als sein Kleinod, und ihre Zärtlichkeit mit reichem Maße zurückgegeben, wenn er gleich menschlichem Ansehen nach etwas bärenhaft dreinschaute.

Mit Studien und Lektüre hat die gute Pfarrerin sich nicht viel geplagt, aber sie hatte mit hellem und harmlosem Blick ins Leben gesehen; ihr Buch waren das Herz und die Gedanken ihres Mannes, und darin hatte sie nicht vergebens gelesen; es [184] hat niemand klassische oder ästhetische Bildung bei ihr vermißt. Ihr häusliches Glück und die Vortrefflichkeit ihres Mannes bildeten ein unerschöpfliches Gesprächsthema für sie, mit dem sie wunderbarerweise andre nie ermüdete, weil man sich selbst in das Element dieses Glücks wie in eine warme Lebensluft versetzt fühlte. Auch hätte sie die Seligkeit, in deren Besitz sie sich so reich fühlte, gern aller Welt gegönnt; nie hat der heilige Ehestand eine feurigere Lobrednerin gehabt als sie; ein junges Ehepaar, ein zärtliches Brautpaar zu sehen, war ihr eine recht innerliche Herzenserquickung.

Es wachten auch in diesem glücklichen Hause alte, lang' eingerostete Herzen wieder auf, und manchem im Alltagsschlendrian verknöcherten Ehepaar fiel es im Bereich dieser überströmenden Liebe auf einmal ein, sich auch in der Zwischenzeit wieder die Hand oder einen Kuß zu geben, was sonst nur jährlich dreimal, an Weihnachten und an den beiderseitigen Geburtstagen vorkam. Das junge leichtfertige Volk freilich, das lachte oft recht von Herzen ob dieser alten Bräutlichkeit; tat aber ganz, als ob's daheim wäre, schlug vom Zimmer aus Nüsse vom Baum, plünderte den Garten, solange es etwas zu plündern gab, erzählte sich Geschichten in der Rosenlaube und zog jederzeit vergnügt und befriedigt heim, von der Pfarrfamilie und dem zuvorkommenden Azor begleitet bis an das Ufer des Flusses, der Stadt und Dorf trennt.

Noch ein stilles, freundliches Element weilte in der traulichen Hinterstube, die ehrwürdige Mutter des Pfarrers, recht ein Bild eines frommen, friedlichen Alters; ihr zur Seite ihre vielgeschäftige Tochter, die sorgsame Tante Klara, der schaffende Genius des Hauses, die Geheimrätin bei allen Staats- und Hausaffären, die Bildnerin der heranwachsenden Töchter. Denn auch ein Paar junge lebendige Blüten waren dieser glücklichen Verbindung entsprossen, zwei rosige Töchter, des freundlichen Hauses lieblicher Schmuck. Die eine wuchs heran als rastlos tätige Martha, zu beständigem Erstaunen der ruhigen Mama, um dereinst als tüchtige Pfarrfrau eine zweite, noch reichlicher illustrierte Auflage des elterlichen Glücks zu veranstalten. [185] Die zweite, ein zartes, anmutiges Blümchen, war nicht für die Erde bestimmt; im schönsten Alter jungfräulicher Blüte schlossen sich ihre sanften blauen Augen für die Erde. Das freundliche Kind hatte wohl nie geahnt, daß sie den ersten schweren Kummer über das freudenhelle Elternhaus bringen sollte. – Aber auch deine männliche Gestalt, du guter Pfarrherr, lehnt nicht mehr am Fenster, von bläulichen Wolken umwallt.

In ein freundliches Pfarrhaus wollte ich euch führen; so laßt uns leise die Türe schließen, ehe es dunkel wird darin!

2. Der Haselnußpfarrer

Das war ein seltsamer Kauz und wäre es wohl in jedem Stande gewesen, darum möchte ich ihn keineswegs als Typus des seinigen zeichnen; weil er aber doch einmal ein Pfarrer gewesen, so möge er hier seinen Platz finden, schon um seines Hauses willen, das gewiß der geistlichen Pflicht der Demut und Niedrigkeit in reichem Maße nachgekommen. Am besten ist's, wir begleiten, um Eingang ins Pfarrhaus zu erhalten, einen seiner Vikare, deren er gar viele gehabt, bei seinem ersten Eintritt; denn sonst ist es äußerst selten aufgesucht worden.

Es war im Sommer 18 .., als ein neuernannter Vikar mutigen Schrittes in das ihm noch gänzlich unbekannte Dorf einzog, dessen Pfarrer er infolge höherer Weisung zum Gehilfen gesandt wurde. Das Pfarrhaus aufzufinden, war aber keine leichte Sache, wenn man einem nicht zuvor gesagt hatte, es sei das baufälligste Haus im Ort. Unter Anleitung des Büttels, der zugleich Gänsehirt war und eben seine Schar heimgetrieben hatte, kam der Vikar aber doch damit zustande. Klein war das Haus eben nicht, sah aber höchst trübselig und wirklich lebensgefährlich aus; denn es war auf einer Seite mit Seilen an einen daneben stehenden starken Lindenbaum gebunden.

Der Vikar fragte nach dem Herrn Pfarrer und der Frau Pfarrerin. »Die Frau«, hieß es, »ist über Feld, der Herr aber [186] sind im Garten.« So ging er denn, ihn dort aufzusuchen, und dachte sich einen ehrwürdigen Herrn, zwischen Blumenbeeten und Obstbäumen umherwandelnd. Dem war aber nicht so, und einen solchen Garten hatte er noch nie gesehen. Ein halb Viertelmorgen war mit lauter Haselnußstauden, hohen und niedrigen, bepflanzt, nichts dazwischen als schmale Pfade. Inmitten dieser Haselnußwildnis wandelte der Pfarrer, eine dürre, starkknochige Gestalt mit einer bedeutend roten Nase und lederbraunem Gesicht, und erspähte prüfenden Blickes den Grad der Reife seiner Nüsse. Er empfing seinen neuen Vikar ziemlich kühl und schien es mißliebig aufzunehmen, daß man ihn in diesen Hain eingelassen hatte, führte ihn auch alsbald in das Wohnzimmer.

Dort war indes die Frau Pfarrerin von ihrem Gang auf den Markt der benachbarten Stadt angekommen, eine gleichfalls magere, höchst ungut aussehende Dame, die sich, nachdem sie einen himmelanstehenden Hut abgelegt hatte, in einer vergilbten Filethaube präsentierte und den Vikar fragte, ob er nicht Tee wolle, wenn es ihm nicht zu spät sei vor dem Nachtessen. Natürlich dankte er dafür.

Sonderlich wohl ward es dem Vikar nicht diesem Ehepaar gegenüber, zwischen dem ein außerordentlich kühles Verhältnis zu bestehen schien. Heiterer und gemütlicher Natur, versuchte er aber doch einen fröhlichen Ton anzuschlagen und gab alte Universitätsspäße zum besten, was wirklich beim Pfarrer einen gurgelnden Ton hervorrief, der ein Lachen vorstellen sollte; und auch die Frau Pfarrerin, der das besonders zu behagen schien, versuchte ihre Muskeln zum Lächeln zu verziehen.

Nach dem Nachtessen brach der Pfarrer plötzlich auf, und der Vikar sah ihn, mit einem schweren Kruge versehen, die Treppe hinabsteigen. Auch ihm wurde nun sein Gemach angewiesen, das im obersten Stockwerk gelegen war und so unerquicklich, dürr und trocken aussah wie das ganze Haus; er konnte seinen Stern nicht besonders preisen, der ihn unter dieses Dach geführt.

Sein Verhältnis zu der Frau Pfarrerin schien sich indes recht erträglich zu gestalten, während der Pfarrer sich auf den nötigsten [187] Verkehr beschränkte und besonders ängstlich bemüht schien, ihn von seiner Studierstube fernzuhalten, in welcher er den Tag über und abends fast alle Zeit zubrachte.

Als eines Tages der Pfarrer nach dem Nachtessen abermals verschwunden war, begann die Pfarrerin ganz zutraulich: »Herr Vikar, ich höre, Sie verstehen sich auf die Physiognomien und sehen den Leuten an, wie lange sie noch leben werden.« Der Vikar gab zu, daß er sich hie und da damit befaßt und namentlich bei Kranken oft einen richtigen Blick gehabt habe. »Nun, meinen Sie, daß ich oder mein Mann zuerst sterben werde?« Als der Vikar, erstaunt über eine so ruhig gestellte Frage dieser Art aus dem Munde einer Gattin, die Antwort schuldig blieb, fuhr sie mit schauerlicher Gelassenheit fort: »Sehen Sie, ich und mein Mann haben gar nie zusammengepaßt; ich hätte ihn nicht genommen, wenn mir's nicht um einen eigenen ›Unterschlauf‹ (Obdach) zu tun gewesen wäre. Seit wir geheiratet sind, hat er mich nur erzürnt: wenn ich fett koche, will er mager essen; habe ich eingeheizt, sperrt er die Fenster auf; will ich Bohnen pflanzen, pflanzt er Haselnüsse. Ich ärgere mich nun schon lange nicht mehr; aber ich muß oft denken, es wäre fast am besten, wenn der liebe Gott eins von uns zweien zu sich nähme, ich könnte dann nach Nürtingen ziehen.« Der Vikar, der nicht wußte, ob er über diese gottergebene Ehefrau lachen oder weinen solle, zog sich aus der Sache, so gut er konnte, und meinte, der Herr Pfarrer sehe noch sehr robust aus; doch habe man freilich Exempel, daß auch die kräftigsten Leute schnell wegsterben – und so weiter.

Ein Rätsel, dessen Lösung ihn täglich beschäftigte, war für den Vikar des Pfarrers Studierstube, zu der niemand Zutritt hatte; selbst Bauern, die zu ihm wollten, wurden stets die Treppe hinaufgewiesen. Ums Leben gern hätte er gewußt, was er eigentlich dort trieb: theologische Studien schwerlich, denn seine Gelehrsamkeit war ziemlich verrostet, und seine Predigten mahnten an die Gebeträder der Buddhisten, welche dieselbe Leier mechanisch abrollen. Hatte er einmal gar nicht studiert, so verkürzte er die zur Predigt bestimmte Zeit damit, [188] daß er nach Verlesung des Evangeliums anhob: »Dieses Evangelium ist so schön und so schön, daß ich's eurer Liebe noch einmal vorlesen muß,« und so fort. Klassische Studien trieb er wohl ebensowenig; denn seine ganze Kenntnis der alten Sprachen schien darauf eingeschrumpft, daß er das Wort Vikarius durch alle Fälle deklinierte: »Das ist des Herrn Vikarii Glas«; »schenke dem Herrn Vikario ein«; »Herr Vikarie, ich wollte Sie noch fragen«; »hat Sie den Herrn Vikarium gesehen?« – Was ging denn aber vor im geheimnisvollen Gemach, aus dem nur hie und da dumpfe, brummende Musiktöne in stiller Nacht heraufdrangen?

Da ereignete sich's einmal, daß das Pfarrpaar, das man fast nie zusammen erblickte, weil sie stets daheim blieb, wenn er ausging, und fortging, wenn er dablieb, eine gemeinsame Einladung zu einem Hochzeitsfest annahm. Zudem fügte es sich, dem Vikar äußerst erwünscht, daß man am selben Tage eine nötige Notiz aus einem der Kirchenbücher verlangte, die unter des Pfarrers Gewahrsam waren. Dieser hatte zwar den Schlüssel mitgenommen; aber Bäbel, die alte Hausmagd, erbot sich, mit dem Hauptschlüssel zu öffnen. Mit erwartungsvollem Schauder, fast wie Annchen in Blaubarts Stube, trat er in das geöffnete Heiligtum.

Siehe, da standen auf einem Tisch die sehr wenigen Bücher, deren der Pfarrer sich bediente; zwei lange Pfeifen, ein tüchtiger Krug; daneben lehnte eine mächtige Baßgeige, und an allen Wänden der Stube lagen Säcke, mit Haselnüssen gefüllt. Bäbel bemerkte sein stummes Erstaunen: »Ja, der Herr Pfarrer brechen immer selber alle die Haselnusse und essen sie auch allein.« – »So, deshalb bleibt er so lange auf?« – »Ja, und da kriegen sie Durst von den vielen Nussen, und den da«, auf den Krug zeigend, »trinken sie aus. Sie übersehen sich aber nie, sie können's gut vertragen, man spürt ihnen gar nichts an,« fügte sie entschuldigend hinzu.

So war's also entdeckt, das dunkle Geheimnis! Jeden Abend um halb neun Uhr zog der Pfarrer samt seinem Krug, den er eigenhändig mit rotem Wein gefüllt, in die untere Stube, [189] schwelgte dort in Haselnüssen und baßgeigte dazwischen, bis der Krug leer war. Das also war's, was des Pfarrers Leben ausfüllte, was ihn stumpf machte fürs Wissen, lau im Beruf, gleichgültig gegen häusliche Freudlosigkeit! – Ein so seltsames Surrogat für Glück war dem Vikar noch nie vorgekommen.

Das konnte man dem Pfarrer nicht nachsagen, daß er neuerungssüchtig oder anspruchsvoll in betreff seiner Wohnung sei.

Das Mansardenzimmer des Vikars war allen Unbilden der Witterung ausgesetzt und an einem schönen Wintermorgen mit einem solchen Schneehügel bereichert, daß es nötig wurde, für längere Zeit einen gemeinsamen Schlafsaal zu errichten, was der annoch lebende Totengräber des Orts bezeugen kann.

Der Pfarrer nahm solches Mißgeschick mit großer Gelassenheit auf. Seit das Pfarrhaus durch den Lindenbaum wieder gestützt worden war, lebte er geruhig darin fort, versunken in seine Haselnüsse, bis eines schönen Morgens, da die Hausbewohnerschaft eben am Frühstück saß, der Zimmerboden ohne besondere Veranlassung hinunterbrach und sämtliche Mitglieder des Hauses, Herr und Frau, Vikar und Bäbel, rasch und sicher in den darunter befindlichen Kuhstall versetzte. Das war eine große Überraschung; die Frau Pfarrerin richtete sich zuerst auf, sie war weich gefallen, und sah nach, ob sie noch keine Veranlassung habe, nach Nürtingen zu ziehen; aber auch der Herr Pfarrer waren unverletzt; nur der Vikar lag härter und wirklich gefährlich unter einer Kuh.

Sobald man sich notdürftig erholt hatte, ward ein Bote ans Königliche Kameralamt abgesandt mit einem Bericht dieser merkwürdigen Begebenheit. Besagtes Amt kam tags darauf in höchsteigener Person mit einem Werkmeister, um den Schaden einzusehen und aufzunehmen. Die Herstellung des eingebrochenen Zimmerbodens sollte unverzüglich in den Bauüberschlag fürs nächste Jahr, die der zerschmetterten Fenster aber in den fürs nachfolgende aufgenommen werden, wenn der Pfarrer den Beweis erbringen könne, daß die Fenster durch Ausheben nicht noch hätten gerettet werden können. Auf des Pfarrers dringende Vorstellung, daß er sein Zimmer nicht entbehren [190] könne, ward ihm gestattet, es einstweilen auf eigene Rechnung herstellen zu lassen, mit der Bedingung, daß er die Stube wieder in statum quo setze, falls das Haus an einen andern übergeben würde, noch ehe die Herrschaft den Bauüberschlag genehmigt hätte.

Der Stubenboden wurde wiederhergestellt; die Herzen des Ehepaars schienen sich aber auch durch diese tragische Katastrophe nicht näher gekommen zu sein. Dem Vikar gefiel's je [191] länger je weniger; er ward es immer mehr satt, die trübselige Frau Pfarrerin zu unterhalten, während der Pfarrer seine Orgien in der Haselnußkammer feierte. So zog er denn ab, sobald es sich tun ließ.

Sein Nachfolger, ein hagebüchener, ausgedienter Vikar, war, scheint es, die verwandte Seele, die dem Pfarrer lange gefehlt hatte. Er begleitete des Pfarrers Baßgeige mit dem Violoncell, und ihm ward die Gunst gewährt, deren sich noch kein Sterblicher erfreut hatte: er durfte teilnehmen an den Schwelgereien unter den Nußsäcken; auch mußte von nun an der Krug allabendlich noch einmal aufgefüllt werden.

Nach Jahr und Tag führte den ersten Vikar sein Weg wieder in die Gegend. Da beschloß er denn, den Pfarrer wieder aufzusuchen und ihn mit einem Säckchen extraschöner Aug'stnüsse zu erfreuen. In der Nähe des Orts aber traf er mit dem hagebüchenen Vikar zusammen, der soeben seine Bestallung als Amtsverweser daselbst erhalten hatte. – Der Haselnußpfarrer und seine Frau waren an einem und demselben Tage gestorben.

3. Das töchterreiche Pfarrhaus

In einer freundlichen Gegend Schwabens hatte ein neuberufener Pfarrer seine junge Frau noch nicht lange in sein Pfarrhaus eingeführt. Da träumte ihm in einer Nacht, er finde in seiner Stube einen verdeckten Korb; als er dessen Deckel lüftete, da flogen zwölf Täubchen heraus, die setzten sich auf den Boden und verwandelten sich alsbald in zwölf zierliche Mädchen. Mit Lachen erzählte er seiner Frau diesen Traum; die meinte aber, das wäre der Ehre doch gar zu viel.

Als nach Jahresfrist ein rundes Mägdlein in der Wiege lag, da hätten Vater und Mutter lieber einen Knaben gesehen, weil ihnen die zwölf Täublein wieder zu Sinn kamen. Aber das Töchterlein war das erste, und darum doch wichtig und hoch willkommen. Es wurde ein großartiges Tauffest veranstaltet; es wurden Gäste geladen, so viel das Pfarrhaus faßte,[192] und Torten, Kuchen und Schinken in Hülle und Fülle gebacken und gesotten. Der jungen Mutter schien gar kein Name interessant und schön genug, bis sie sich endlich für Alwina entschied. »Es ist gut, daß du mit A anfängst,« sagte lächelnd der Pfarrer, »so reicht's eben das halbe Alphabet, bis alle die zwölf Täublein da sind.« Zu Paten wußte man so viel Onkel und Tanten, Freunde und Freundinnen, die auf diese Ehre Anspruch machten, daß die kleine Alwina am Ende ein ganzes Dutzend Paten und Patinnen und einen langen Nachschweif von Namen zu deren Ehren erhielt und ihr kleines Bettchen ganz bedeckt war mit silbernen Löffeln.

Als nun im nächsten Jahre die kleine Alwina die Wiege einem Schwesterlein räumen mußte, da wurde die Taufe schon stiller begangen; die Mutter aber wollte nicht vorrücken im Alphabet und nannte das zarte Wesen mit den himmelblauen Äuglein Angelika.

Bei dem A mochte man doch nicht stehen bleiben; auf die Angelika folgte zwar eine Amalie, Agnes, Anna und Adelheid; dann aber kam's ins B mit einer Beate und Berta. Die ganze Familie lamentierte über den großen Mädchensegen im Pfarrhaus; immer stiller und einfacher wurde das Tauffest begangen, immer weniger Paten gebeten, da man die Onkel und Tanten doch nicht alle Jahre um einen Löffel bringen wollte. Bei den zwei Töchterlein, die nach der Berta kamen, bat man nur noch einen alten ledigen Großonkel zu Gevatter, der zugleich bestimmte, daß man sie Lotte und Luise heißen solle, da die Mutter müde war, sich auf romantische Namen zu besinnen.

Als nun endlich am Konfirmationstage der Alwina das elfte Töchterlein getauft werden sollte, da lebte auch der ledige Großonkel nicht mehr, und Alwina, stolz und glücklich über ihre neue Würde, wurde die einzige Patin des Schwesterleins. Vom Namen war noch gar nicht die Rede gewesen; erst als nach langem Streit um die Ehre, das Kindlein zu tragen, Berta unter Amaliens Aufsicht mit dem Täufling den ansehnlichen Kirchenzug anführte, erst da fragte der Vater die Mutter: »Nun, wie soll das Kindlein heißen?« – »Friederike, wie [193] meine Mutter,« sagte nach kurzem Besinnen die Pfarrerin. – »Eine Friedenreiche!« sprach der Vater, als er Berta mit dem Kindlein noch an der Mutter Bett führte.

»Das wird gut sein,« meinte die Mutter mit wehmütigem Lächeln, indem sie auf den großen Mädchenzug blickte, »ein andrer Reichtum wird ihr doch nicht zuteil!«

»Einen andern braucht sie nicht,« sagte der Vater freudig, küßte die verzagende Mutter, ehe er mit dem weißgeschmückten Herdlein zur Kirche schritt, und legte ihr die Bibel aufs Bett. War es nun Zufall, war es Absicht des Vaters, sie schlug die schönen Worte der Bergpredigt auf: Ihr sollt nicht sorgen und sagen, was werden wir essen, was werden wir trinken usw. Die Worte drangen ihr bis ins innerste Herz, es war, als ob sie sie heute zum erstenmal läse; auch ihre Seele wurde friedereich, lächelnd sah sie den zwei Kleinsten zu, die noch nicht zur Kirche gelassen werden konnten und am Boden spielten; und als ihre acht weißen Täubchen, die blühende Alwina an der Spitze, mit der kleinen Friederike aus der Kirche zurückkamen, da küßte sie das Kindlein viel inniger als zuvor, reichte ihrem Manne getrost die Hand und sagte leise: »Der Herr wird's versehen!« Und keiner Fürstin Wochenbett kann sorgsamer behütet, liebevoller bedient sein als das der Mutter, wo die vier größeren Mädchen, deren junge Kräfte früh geübt worden waren, sich in die Pflege teilten.

Das Tauffest der kleinen Friederike blieb nun wirklich das letzte; ein zwölftes Täubchen kam nimmer auf den Pfarrhof geflogen. Der Familienjammer verstummte allmählich, und man ließ Pfarrers selbst zusehen, wie sie mit ihren elf Mädchen zurechtkommen werden; hie und da fiel es doch einer freigebigen Frau Patin ein, ein abgelegtes Kleid ins Pfarrhaus zu schicken; namentlich galt das mädchenreiche Haus als ein vortrefflicher Ableiter für alte Hüte, woran es der guten Mama fast zu viel werden wollte.

Nun müßt ihr aber nicht glauben, der Pfarrer und seine Frau haben ihre Kinder geradezu für Lilien auf dem Felde angesehen, die da nicht arbeiten und nicht spinnen, und der [194] himmlische Vater ernähret sie doch. Sie wußten wohl, daß gerade darin die Menschenkinder reicher als die Blumen vom himmlischen Vater begabt worden sind, daß er ihnen zwei Arme und zwei Füße gab, mit denen sie sich ordentlich regen und rühren können um ihr täglich Brot. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was für ein lebendiges Wesen und Treiben und Gewimmel in dem Pfarrhause war. Der Mädchensegen des Pfarrers war weit und breit bekannt worden; sein Landesherr selbst hatte ein Einsehen gehabt und ihm eine einträgliche Pfarre mit einem recht geräumigen Hause gegeben, so daß die elf Täublein doch Brot und Dach und Fach darin fanden.

Ich denke, wenn ihr sie alle ein wenig kennenlernen wollt, so ist's am besten, ihr bringt einmal einen ganzen Tag mit mir im Pfarrhause zu und seht selbst, wie die elf Pfarrtöchter erzogen wurden.


Es ist ein schöner, sonnenklarer Septembermorgen; um halb sechs Uhr läutet der Vater das Morgenglöcklein zum erstenmal, um sechs erscheinen fix und fertig in reinlichem Morgenanzug Amalie und Anna. Die erste ist für diese Woche Kuchimuz, die zweite Aschenbrödel – so heißen bei den Schwestern allemal die zwei, die für Küche und Hausreinigung zu sorgen haben.

Während nun Amalie Feuer macht und das einfache Frühstück bereitet und Anna das große Zimmer lüftet und reinigt, geht's oben in den Stüblein der Mädchen schon recht lebendig her. In jedem der vier Zimmerchen, welche die zehn Älteren zusammen bewohnen, – die Kleinste schläft noch in der Eltern Zim mer – ist immer den Großen eine Kleine beigegeben, die sie zu besorgen und anzukleiden haben. Alwina, der Mutter geheime Rätin, jetzt neunzehn Jahre alt, hat sich schon zu dieser begeben, um Haushaltungsangelegenheiten mit ihr zu besprechen; denn die gute Mutter ist nun, wie's die Mädchen nennen, pensioniert, sie selbst darf sich nimmer mit mühsamer Arbeit anstrengen, was ihre zarte Gesundheit auch nicht ertrüge; sie hat aber genug zu tun, bis sie denkt und sorgt für alle. Die kleine sanfte Beate, die in aller Stille zuerst aufgestanden [195] ist, hat sich schon zu Angelika geschlichen, die wegen ihres besonders zarten und feinen Aussehens und ihres etwas vornehmen Wesens die Prinzessin im Hause genannt wurde. Angelika war keine Freundin vom Frühaufstehen, und wenn Alwina, ihre Schlafgenossin, sie zweimal geweckt hatte, so legte sie erst noch zum drittenmal das Köpfchen hin. So kam sie oft zu spät, was ihr vom Vater, der wollte, daß die älteren Schwestern mit gutem Beispiel vorangehen sollten, schon manchen Verweis zugezogen hatte. Drum schlüpfte die freundliche Beate, wenn sie konnte, in ihr Zimmer, half ihr beim Anzug und Aufräumen, daß sie doch noch mit den andern zum Frühstück kam. Dafür war aber auch Beate der schönen, begabten Angelika besonders lieb und erhielt manch liebliches Bildchen von ihrer kunstfertigen Hand, denn Angelika war eine geschickte Zeichnerin.

Um halb sieben tönte des Vaters Glocke zum zweitenmal, und nun eilte groß und klein die Treppe hinab. Gefehlt aber war's, wenn oben nicht alles in Ordnung verlassen wurde. Kuchimuz und Aschenbrödel hatten auch das Amt, die oberen Stüblein zu untersuchen, und waren Betten und Zimmer nicht im reinen, so traf die Schuldige zwei Tage lang das höchst unbeliebte Geschäft, die Schuhe zu putzen, das sonst nach Tagen abwechselte.

Nun versammelte sich alles in der großen, hellen Wohnstube. Da saß schon die Mutter mit dem Nesthäkchen Friederike; und es gab einen Jubel und Trubel, bis »das Kind, das Kleinsele, das Goldkäferlein«, und wie alle seine Beinamen hießen, jeder Schwester den Morgengruß und -kuß gegeben hatte.

Jetzt rief der Vater: »Still!« und nahm die Bibel aus Beatens Händen, um daraus eine schöne, kraftvolle Stelle zu lesen und mit einem kurzen, herzlichen Gebete den Tag zu beginnen. Da war's so still und feierlich im Zimmer, selbst die Kleinste stand mäuschenstill neben der Mutter, die großen Augen unverwandt auf den Vater gerichtet.

Nach geendetem Gebet geht Amalie mit ihrer Gehilfin Anna ab; sie kommen zurück, jede mit einer dampfenden Schüssel [196] Milchsuppe, die mit bestem Appetit von der Gesellschaft verzehrt wird, obgleich Berta und die Prinzessin Angelika mit einiger Sehn sucht an den Kaffee denken, der an Sonntagen und Geburtsfesten aufgetischt wird. Vater und Mutter essen aber die Milchsuppe, obgleich sie nicht wie die Kinder von jung auf daran gewöhnt waren, zufrieden mit; darum findet es groß und klein natürlich. Der Vikar, seit drei Jahren der treue Gehilfe des Vaters im Amt und Unterricht der Kinder, der bekam freilich Kaffee, er wurde ihm aber aufs Zimmer gebracht. Während die Gesellschaft frühstückt, wollen wir sie etwas näher ins Auge fassen.

Oben, neben der rüstigen, kräftigen Gestalt des Vaters sitzt die Mutter, ein wenig bleich, ein wenig müde, aber mit liebevollem Lächeln den blühenden Kreis überschauend; ihr zur [197] Seite das Nesthäkchen, drum müssen wir mit diesem anfangen. Das ist eben, wie alle zehn Schwestern versichern: das Kleinste, das Schönste, das Liebste, das Kind, das Allernettste, und es ist wahr, es ist ein herziges Dinglein und hat sich wunderbarerweise nicht verwöhnen lassen durch all die viele Liebe, mit der es überströmt wird.

Neben ihr sitzt Alwina, die Älteste, ein recht blühendes, stattliches Mädchen mit hellen schwarzen Augen; sie ist, wie schon gesagt, der Mutter rechte Hand und steht sehr in Respekt bei den Geschwistern. Sie ist überall gewandt, die Küche aber ist nicht ihre Liebhaberei; darum vertauscht sie gern die Rolle des Kuchimuz mit Amalie, der das Kochen ihr Leben ist, und präsidiert dafür in der Nähstube.

Auch Angelika wird von der Küche häufig dispensiert, seit unter der Leitung des Vikars ihr Zeichentalent sich so ausgebildet, daß ihre Arbeiten von Kennern bewundert werden. Angelika ist wohl die schönste der Schwestern, obgleich fast etwas zu zart; der Glanz ihrer himmelblauen Augen, das durchleuchtende Rot ihrer Wangen flößen Sorge für ihre Gesundheit ein; sie ist so bewundert und geliebt von den jüngeren Schwestern, daß keine eifersüchtig wird, wenn bei Angelika die Mutter oft ein Auge zudrückt und von der strengen Geschäftsordnung etwas nachläßt.

Nun folgt der Kuchimuz Amalie, die Wangen stark gerötet vom Kochfeuer, eine etwas gedrungene Gestalt und ganz und gar keine Schönheit, aber so flink und rührig, daß es eine Freude ist, sie anzusehen. Amalie ist ein Küchengenie ersten Ranges, so jung sie ist, und von der Wassersuppe bis zur Mandeltorte gerät alles unter ihrer Hand. Mehr als einmal schon ist des Herrn Doktors Equipage aus der Stadt vorgefahren, in der Amalie im Triumph abfuhr, umringt von Tortenmödeln und Bratpfannen, um bei einer Taufe oder sonstigem Familienfest die Leitung der Küche zu übernehmen. Dabei ist sie entschlossenen Charakters, und obgleich das Studieren nicht ihre Sache ist, führt sie doch eine gute Feder zu Familien-und Geschäftskorrespondenzen.

[198]

Auf Amalie folgt Agnes, groß und schlank, mit ziemlich dunkler Haut; von ihr wäre nicht viel zu sagen, da sie selbst nicht viel sagte, wenn sie nicht eine Stimme hätte wie eine Nachtigall. Niemand würde diesem etwas unbeholfenen Wesen, diesem schüchternen Mund ansehen, welche Fülle herrlicher Töne ihm entquellen kann. Die Agnes ist sehr ruhigen Gemütes. »Zufriedenheit ist mein Vergnügen!« singt ihr die lustige Alwina zu; sie kommt nur aus der Fassung, wenn Lottchen und Luise Privatstudien auf dem ohnehin geringen Piano treiben, oder wenn Anna, die eine äußerst unverdrossene Sängerin ist, gar zu falsch singt. Ihr höchster Wunsch, ihre liebste Hoffnung geht dahin, daß der Vater ein neues Klavier anschaffe, eine Tat, die aber noch aufs große Los ausgesetzt ist. Bis jetzt hat sie ihre Studien nur beim Vater und Dorfschulmeister gemacht; nächsten Frühling aber darf sie zur Tante in die Residenz, um dort Stunden zu nehmen.

Die Anna, gegenwärtig Aschenbrödel, sieht gar nicht wie ein solches aus; sie ist ein äußerst appetitlich kleines Persönchen; ihre Schürze, die sie zu Ehren ihres Amtes trägt, ist wie frisch gefallener Schnee, und einen staubigen Fleck auf einer Kommode sieht sie auf vierzig Schritte. Den Schwestern allen ist bang, wenn an Anna die Reihe der Zimmervisitation ist. Daneben ist sie Garteninspektorin, und ob gleich jedem der größeren Mädchen ihr Teil Arbeit im Garten angewiesen ist, so ist sie es doch vor allen, die lebt und webt unter den Blumen, Stauden und Gemüsen; beim ersten Sonnenblick im Februar zieht sie's schon hinaus in den Garten, ob noch nichts zu machen sei; die junge Anna verkehrt fast mit allen Pfarrfrauen der Nachbarschaft und ist in einem beständigen Austausch von Rosenablegern und Nelkenstöckchen begriffen.

Die vierzehnjährige Adelheid, »Fräulein Allwissend«, auch »Büchergeier« genannt, verspräche ein nettes Gesichtchen zu werden, wenn sie nicht ihr aufgeworfenes Näschen gar zu keck in die Welt hinausstreckte. Adelheid hat nur eine Leidenschaft auf der Welt: lesen und immer lesen. Sie liest sitzend, stehend und gehend; ins Bett, zur Arbeit und auf Spaziergänge versucht [199] sie Bücher zu schmuggeln, sie liest Kinderbücher, Romane und Weltgeschichte, Gutes und Schlechtes; nur an einer Abhandlung über das Pfandrecht, die ihr einmal in die Hände gefallen war, ist sie schnell erlegen. Der Mutter macht diese blinde Lesewut viel Kummer; der Vater aber und der Vikar, deren talentvollste Schülerin sie ist, hoffen mit Gottes Hilfe diese Lesegier in Lernbegier umzuwandeln, und dann könnte noch etwas Rechtes aus der Adelheid werden.

Die stille, unscheinbare Beate wird wohl ganz übersehen im Kreis der Schwestern, und doch vermißt man das Kind überall, wo es nicht ist. Nicht talentvoll, nicht in Geschäften gewandt wie die Schwestern, ist dies stille Kind doch der Segen des Hauses; sie hat ihr Herz früh zu der ewigen Heimat wenden lernen, darum ist sie auch ein guter Engel für ihre Heimat auf Erden. Adelheid und Beate sind die Lieblinge der kleinen Geschwister, wohl vor allem, weil sie so schön zu erzählen wissen; aber wenn Adelheid alle Wunder der »Tausendundeine Nacht« vor ihrem staunenden Ohr vorübergeführt hat, so lauschen sie doch noch lieber den schönen, einfachen Bibelgeschichten, die Beate so lieblich, so ansprechend, so lebendig wiedergibt, als ob sie selbst sie miterlebt hätte.

Die zwölfjährige Berta ist ein zierliches, gewandtes Mädchen und hat schon eine fleißige, geschickte Hand; nur putzt sie sich gar zu gern und sieht so sehr oft in den Spiegel, daß zu fürchten ist, die leidige Eitelkeit werde ihre sonstigen guten Eigenschaften ersticken.

Lottchen und Luise, neun und acht Jahre alt, »die Unmüße« genannt, sind ein paar wilde Dinger, etwas träg zum Lernen und zur Arbeit, stets bereit, wo es gilt, einen Unfug anzustellen, so daß die älteren Schwestern genug zu tadeln und zu klagen haben; gutmütige Kinder übrigens, noch höchlich vergnügt mit den dreimal gewendeten alten Kleidern, welche die ganze Skala der Schwestern durchlaufen haben und die ihnen Alwina noch mit roten Litzen aufputzt.


[200] Und nun wir die Schwestern kennen, so laßt uns vollends zusehen, wie sie ihr Tagewerk vollbringen. Wenn gefrühstückt ist, geht der Vater mit ein paar freundlich ermunternden Worten in sein Zimmer; Anna nimmt das Frühstücksgerät zum Reinigen fort, Alwina und die Mutter gehen in die Arbeitsstube, wo große Schneiderei begonnen ist, um Arbeit für alle zuzurüsten; Amalie sorgt für die Küche und hilft Anna später im Garten, für die andern aber beginnen die Lehrstunden beim Vater und Vikar.

Der Vikar, ein sehr geschickter, talentvoller junger Mann, war der sehr verehrte Lehrer der Mädchen, und Lob und Tadel vom Herrn Vikar wogen noch schwerer als selbst vom Vater. Die Mädchen durften und sollten alles lernen, was den Kopf aufhellt und was fürs Leben tauglich macht, wenn sie irgendwie Lust und Fähigkeit dazu hatten. Den Religionsunterricht, dem die Mutter und alle Mädchen beiwohnten, hatte sich der Vater allein vorbehalten; sonst teilten sich die Lehrstunden je nach den übrigen häuslichen Geschäften der Mädchen.

Die drei ältesten, von den jüngeren die »heiligen drei Könige« genannt (Agnes war der Mohrenkönig), hatten nur noch Französisch, Englisch und Geschichtsstunde. Anna war stets vergnügt, wenn sie durch Geschäfte von den Lehrstunden abgehalten war, sie blamierte sich gar zu oft vor den Kleinen; sie hatte einmal in der Geographiestunde den Rigi für den höchsten Berg in Europa erklärt und Galizien als die Hauptstadt von Ungarn angegeben. (Die Schwestern gaben ihr schuld, daß sie drei Stunden buchstabieren müsse, bis sie einen Brief zustande bringe; in ihrem Hausrechenbuch stehe Michl statt Milch, auch habe sie auf ein Geburtstagsgeschenk für den Vater einmal geschrieben: »Von mir gans allein gemacht«; – so schlimm war's aber doch nicht.)

Angelika hat ihren Zeichenlehrer schon weit überholt, und während die Mutter oft darüber seufzt, daß sie stundenlang in ihrem verschlossenen Stübchen sitzt und zeichnet, statt zu nähen, malt sie ganz im stillen die niedlichsten Sachen auf Holz, die sie durch des Vikars Vermittlung sehr gut in die Stadt verkauft. [201] Wie herzlich freut sie sich auf alle die Weihnachtsüberraschungen, die sie mit ihrem gesammelten Sümmchen den Eltern und Schwestern wird bereiten können!

Alle aber, groß und klein, gelehrt und ungelehrt, freuen sich, wenn um zwölf Uhr das Tischglöcklein tönt, besonders heute, wo Amalie die Kochwoche hat. Da ist's eine Herzenslust, das muntere Völkchen sich um die lange Tafel scharen zu sehen; und wenn der Mutter Auge oft etwas bänglich die endlose Mädchenreihe überläuft, so begegnet es wohl dem getrosten Blick des Vaters, der mit inniger Freude auf seinen munteren Töchterlein ruht und der ihr zuversichtlich zu sagen scheint: »Was unser Gott erschaffen hat, das wird er auch erhalten.« Wenn die einfache Tafel aufgehoben ist, geht's dem schönen Sonnenschein zulieb in den Garten; da ist ein halb Stündchen der Erholung gegönnt, und jedes unterhält sich, wie es ihm am besten dünkt.

Vater und Mutter sitzen behaglich in der Laube; der Herr Vikar hat seine Lehrerwürde abgelegt und bemüht sich, ein [202] Sträußchen zu pflücken, das er aber, wie Adelheid meint, ganz gegen Recht und Gerechtigkeit der Alwina überreicht, während sie doch das erste Recht auf eine Belohnung hätte; Angelika sitzt an ihrem Lieblingsplätzchen, einer Rasenbank im Gesträuch, und ist »verzückt«, wie es die Schwestern nennen, wenn sie so in sich versunken dasitzt und in die Wolken sieht. Anna und Amalie erscheinen erst, nachdem Zimmer und Küche in Ordnung sind und sehen zu ihrem Schrecken, wie Lottchen und Luise eben im höchsten Diensteifer eine Katze aus den Gemüseländern jagen und diese ärger zusammentreten, als zehn Katzen hätten tun können; Anna, außer aller Fassung gebracht, greift nach dem Rechen, um das ungebetene Hilfskorps in die Flucht zu schlagen. Berta hat sich eine Efeugirlande um den Kopf gewunden und bemüht sich sehr, das einzige Fenster des alten Gartenhauses als Spiegel zu benützen, um zu sehen, wie ihr der Schmuck steht. Agnes hat sich zwischen die grünen Äste eines leicht ersteigbaren Nußbaums zurückgezogen und singt mit heller Stimme, während sie Nachlese hält, Ingeborgs Klage nach eigener Komposition:


»Aus ist des Sommers Lust,
Stürme durchwehen des Meeres Brust,
Ach und wie gerne da draußen
Hört' ich es brausen!«

Adelheid sitzt auf dem Boden hinter der Laube mit dem »Lichtenstein«, den ihr des Försters Tochter geliehen, allzeit in stiller Sorge, die Mutter möchte sie urplötzlich aus dieser neuen Welt aufjagen; Beate aber spielt mit dem Kleinsele, das vor Lust aufjubelt, daß es die große Schwester haschen kann.

So belustigt sich jedes in seiner Weise bis halb zwei Uhr, wo der Rückzug ins Haus beginnt, und nun geht's mit Ernst an die Arbeit. Die Schneiderei ist kein Spaß; aus sieben alten Kleidern müssen sechs neue gemacht werden, nur die vier Großen und Kleinsele bekommen ganz neue. Alwina schneidet zu und probiert an; die andern nähen um die Wette, sogar die »Unmüße« werden angehalten, zu zertrennen und Fäden auszuzupfen, [203] und das Nesthäkchen will auch ein Puppenkleidchen machen, wobei es Nadeln verliert und sich ins Fingerchen sticht. Dazwischen stimmt Agnes ein Lied an, in das all die Stimmchen zart und grob, falsch und richtig einfallen, oder erzählt Adelheid, wobei sie die Kleinen als aufmerksame Zuhörer hat.

So geht es recht fleißig zu bis zum Schlag vier Uhr, für den die Kleinen ein äußerst scharfes Ohr haben; dann verschwindet Alwina und kommt zurück mit dem Brotlaib und Obstkorb; das Vesper wird verteilt und mit allgemeiner Zufriedenheit verzehrt.

Nach dem Vesper werden die »Unmüße« entlassen, sie dürfen die Kleine mitnehmen und sich in Garten und Hof umtreiben, bis sie unter Adelheids Aufsicht ihre Lektion lernen müssen.

Die andern aber bleiben fleißig beisammen bis zur Dämmerung, wo noch ein kurzer Spaziergang gemacht wird. An schönen Sonntagen werden immer weite Gänge unternommen, Werktags reicht die Zeit nicht dazu.

Mit einbrechendem Dunkel sammelt sich alles in der Wohnstube, Beate bringt die Kleine zu Bett, der Vater nimmt seinen Ehrenplatz am Ovaltisch ein, Amalie und Anna bringen das Teegerät und den duftenden Tee mit neugebackenem Brot. Da geht's nun heiter und lebendig her; die »heiligen drei Könige« haben genug zu tun, bis sie die Gesellschaft versorgen und den »Unmüßen« betrüglicherweise lau Wasser statt des erhitzenden Tees unter die Milch mischen (erst die konfirmierten Töchter sind zum Tee aufgestiegen); der galante Vikar nimmt aber der Alwina für eine Weile das Geschäft ab.

Nun der Tee getrunken ist, marschieren die »Unmüße« in ihre Betten ab; das Gerät wird auf dem Seitentisch flink und in aller Stille gereinigt, die große Lampe wird angezündet, die Schwestern sitzen mit dem Strickzeug um den Tisch, und nun wird's recht still und recht behaglich, der gute Engel der friedlichen Häuslichkeit zieht durchs Zimmer.

Adelheid, der die Abendstunde ihr Höchstes ist, bringt jetzt das Buch, und der Vikar beginnt die allabendliche Vorlesung. Der Vater ist sehr sorgsam in Auswahl der Bücher für seinen [204] gemischten Zuhörerkreis; bald sind es Reiseschilderungen, die den kleinen Kreis in ferne fremde Welten tragen; bald sind es geschichtliche Bilder, die sie in vergangene Zeiten zurückversetzen; bald merkwürdige Erlebnisse und wunderbare Führungen aus dem Leben frommer Menschen oder eine schöne herzerhebende Dichtung. Fragen und Bemerkungen dazwischen sind erlaubt, und würden all die Zwischengespräche mit den Büchern wieder abgedruckt, so würden sie noch viel dicker als Campes Robinson. In der Regel ist das Publikum äußerst aufmerksam; wer aber schläft und doch noch nicht zu Bette gehen will, der wird verurteilt, ohne Licht etwas aus des Vaters oberem Zimmer zu holen.


So wäre nun demnächst ein Tag zu Ende, und ihr meint wohl, er gehe wie alle andern Tage damit aus, daß die Leute zu Bett gehen und schlafen? Ja, nur Geduld, heute geschieht noch etwas ganz Besonderes. Man las in Mungo Parks Reisen, und während dieser unermüdliche Forscher nach der Nilquelle spürte, war Alwina sanft eingeschlafen. Der Vater, der gerade las, sah auf, weil er an ein unaufgeschnittenes Blatt kam, und bemerkte die Schlafende. »Alwina,« rief er, »geh einmal auf mein Zimmer und hol mir mein beinernes Papiermesser von meinem Pult!« Hocherrötend fuhr Alwina auf: »Ich habe nicht geschlafen, gar nicht,« und wurde fast böse über dem herzlichen Gelächter der andern. Doch machte sie sich sogleich auf, um das Messer zu holen, schon hört man sie draußen im Gang nach dem Weg krabbeln; noch ehe sie aber ganz oben sein kann, fällt's plötzlich dem Vikar ein: »Ach, Herr Pfarrer, ich habe mir heute erlaubt, Ihr Papiermesser zu nehmen; Fräulein Alwina kann es im Dunkeln nicht finden, erlauben Sie, daß ich ihr leuchte!« Und rasch hatte der galante Vikar ein Licht angezündet und flog die Treppe hinauf; aber es dauerte unendliche Zeit, der Mungo Park stand immer am Nilufer, kein Vikar, keine Alwina, kein Papiermesser kam. »Angelika, nimm den Wachsstock und siehe, wo sie bleiben!« [205] sagte die Mutter. Angelika ging, aber sie kam auch nicht mehr; da wurde der Vater ganz ungeduldig: »Anna, geh du! Du findest im Dunkeln den Weg.« So ging auch noch die Anna, und schon glaubten die Kinder, es gehe wie in dem Märchen von der klugen Else, und sie alle, nebst Vater und Mutter, werden noch nach müssen. Siehe, da geht die Türe auf! Angelika und Anna schreiten voran mit Kerze und Wachsstock und mit dem Jubelruf: »Vater, Mutter, ein Brautpaar!«, hinter ihnen führt der Vikar Alwina an der Hand, die glüht wie eine Purpurrose, und er fragt schüchtern: »Lieber Herr Pfarrer, wollen Sie mir nicht Ihre Tochter Alwina anvertrauen?«

Das war ein Erstaunen! Die Schwestern hielten vor Verwunderung den Atem an; jetzt ging erst der Adelheid ein Licht auf, warum Alwina ein Sträußchen bekommen und nicht sie, obgleich diese das französische Gedicht heute viel schlechter vorgetragen hatte.

Die Mutter hatte wohl schon so etwas geahnt, der Vater aber nicht; der Vikar war der einzige Sohn reicher Eltern und hatte die Zusicherung, eine gute Pfarre zu bekommen; dem stand die Wahl unter den Töchtern des Landes offen, – wie würde er wohl eine von seinen armen elf Mädchen wählen? Den Vikar aber dünkte die frische, fleißige und frohherzige Alwina reicher als alle Prinzessinnen der Welt.

Nun, zu bedenken war da wenig; mit Freudentränen nahm die Mutter, mit Lächeln der Vater die Hände der beiden. »Gott segne euch, meine Kinder,« sprach der Vater, »mit Frieden und Freude, wie er uns gesegnet hat!« – »Und mit weniger Mädchen,« flüsterte ihm doch die Mutter ins Ohr.

»Aber werden auch Ihre Eltern einverstanden sein?« fragte besorgt die Mutter; der Vikar versicherte, er habe längst die freudige Zustimmung der Seinen, da er diesen Entschluß schon lange im Herzen trage, aber bis jetzt noch nicht Gelegenheit gefunden, sein Wort anzubringen.

Wie es gekommen, daß über des Vaters Falzbein die beiden sich so schnell gefunden, das blieb noch ein Rätsel. Jetzt aber war der Damm des Schweigens bei den Mädchen gebrochen; [206] [208]lächelnd, jubelnd, errötend grüßten sie den neuen Schwager. Anna und Adelheid schlichen sich beiseite, um zu sehen, ob es nicht möglich wäre, noch einen Punsch zu brauen; der Vater aber schlug endlich, um den fröhlichen Lärm zu bewältigen, einen Choralgesang vor; der neue Bräutigam mußte sich aus Klavier setzen, Agnes, die heute mit einer wahren Engelstimme sang, stimmte den schönen Choral an:


»So führst du doch recht selig, Herr, die Deinen.«


Und so schloß dieser wichtige Tag im Pfarrhaus mit Dank und Freude.


Nicht alle Tage hatte bisher solch ein Jubel geschlossen, das sagt das verbleichte Gesicht und die matte Gestalt der Mutter, die etwas gefurchte Stirn des Vaters. Viel mühevolle Tage, viel schlaflose Nächte hatte es gekostet, bis diese blühende Töchterschar auf eigenen Füßen stehen, mit eigenen Händen sich regen konnte; bis sie fröhlich und frisch wie Ölzweige den Tisch umgaben. Aber auch diese Tage und Nächte waren vorübergegangen; Geduld, Gottvertrauen und Liebe waren als köstliche Saaten unter Sturm, Frost und Regen aufgekeimt.

Nicht jeder Tag war so wie dieser in vollkommenem Frieden verlebt worden. In den elf Köpfchen und Köpfen wohnten elf Sinne, von denen oft jeder recht haben wollte; in den elf Herzen keimte neben der guten Saat auch viel Unkraut. Daher war der Friede gar vielfach gefährdet, so daß die sanfte Mutter nicht immer imstande war, zu schlichten, und der Vater ein kräftiges Schiedsrichteramt üben mußte.

Aber jeder Morgen war begonnen worden mit herzlichem Gebet, und der Nachklang davon ließ nicht so bald schlimme Geister aufkommen.

Jeder Abend war mit Gebet und Gesang beschlossen worden, und eines der Kinder hatte am Schluß das Gebet des Herrn gesprochen, und wer von Herzen gebetet: »Vergib uns unsre Schuld, wie wir vergeben«, über dessen Groll wird keine Sonne untergehen.

[208] Und wißt ihr, welcher Segen für eine ganze Herde ein einziges Schäflein werden kann, das ganz dem Hirten eigen ist?

Ein solches war Beate, die stillste, die schwächste, die unscheinbarste, die unbegabteste der Schwestern. Sie war der Friedensengel, sie die süße Quelle, die nichts Trübes und Bitteres in sich aufkommen ließ; die es leise wegspülte, wo es bei andern sich angesetzt. Wenn es unter den Kleinen einen Streit gab um Spielzeug oder Obst und dergleichen, da war es Beate, die mit lächelndem Gesicht ihren Anteil zum Opfer brachte oder das von allen Verschmähte für sich nahm; wo die Mädchen sich zankten um das Recht, mitzudürfen, da war sie stets bereit, dazubleiben, und hatte immer einen Grund, warum sie besonders gern daheim war; bei den gemeinsamen Spielen hatte sie nie einen Willen als den, der zum Frieden führte; das abgetragenste Kleid fand sie noch recht nett, den angebrannten Brei allzeit noch gut; nichts war für sie gleichgültig, was andern unangenehm war; nichts vergaß sie, was andern Freude machte.

Sie selbst wußte es nicht, und die andern ahnten es nicht, welches Kleinod dies stille Kind für sie alle war. Die Mutter aber wußte es und dankte Gott mit Freudentränen für diese Perle.


Was aus den elf Schwestern geworden, ist nun freilich die wichtigste Frage, und da wir nicht dem Lebensgang jeder einzelnen folgen können, so erfahren wir es wohl am sichersten aus einem Briefe, den zehn Jahre nach jenem Verlobungstag Alwinas Amalie den Schwestern aus – Amerika schrieb.

Vier Jahre waren schon vergangen, seit die elf Schwestern als Waisen das geliebte Vaterhaus verlassen hatten, ohne andern Reichtum als der Eltern Segen, Gottes Schutz, genügsame Herzen und fleißige Hände. Vater und Mutter ruhten im Grabe. Den kräftigen Vater hatte ein Nervenfieber weggerafft, das ihn an einem Sterbebette ergriffen; dieselbe Krankheit riß der Mutter zarten Lebensfaden ab, ehe sie das Weh fassen konnte, das ihr mit dem Tode des geliebten Gatten geschehen war. Sie starb mit Bewußtsein, aber ein trostreicher Engel [209] schien ihr sonst so verzagtes Herz gestärkt zu haben. Denn als ihr brechendes Auge auf die weinende Töchterschar um ihr Lager fiel, da schaute es mit zuversichtlichem, strahlendem Blicke nach oben; segnend breitete sie die Hände über ihre Kinder, und von den erblaßten Lippen klangen die trostvollen Worte: »Gott wird euch nicht verlassen.«

Und nun zu Amaliens Brief, der an Alwina, als an die Familienälteste, gesandt wurde.


»Geliebte Schwestern!


›Gott wird Euch nicht verlassen‹, war das segnende Abschiedswort unsrer lieben Mutter, und es ist bis auf diesen Tag in Erfüllung gegangen. Dich, liebe Alwina, hat er an den eigenen glücklichen Herd geführt und Dein Haus gesegnet, daß es noch Zuflucht und Heimat für die Schwestern werden kann.

Friederike, das Nesthäkchen, der Mutter und unser Liebling, ist unter Eurer Obhut geborgen; Luise, der Unmuß, findet bei Deinen Mädchen und Bübchen genug zu tun für ihre flinke Hand und noch flinkere Zunge; und Lottchen, der Unmuß Nummer zwei, kommt nun sogar als glückliche Braut unter Dein Dach, um bei Dir für den Ausbau ihres Nestchens zu sorgen und von Dir einst zum Altar geleitet zu werden.

Sage ihr, der lieben Braut, jetzt die Hauptperson, vor allem unsre herzlichsten Glückwünsche. Nach der herben Dienstzeit unter der gestrengen Frau Geheimrätin wird ihr der Aufenthalt bei Dir und dereinst unter dem eigenen Dach besonders wohltun. Wir freuen uns, ihr hier einen Beitrag zur Bestreitung ihrer Ausstattung senden zu können; geben ihr aber den freundschaftlichen Rat, allen Luxus zu vermeiden, da ihr Zukünftiger dem Lehrstande angehört, der ja jederzeit reicher an geistigem als leiblichem Besitz ist. Das glückliche Brautpaar soll sich das Warten nicht verdrießen lassen; Lottchen ist ja noch erstaunlich jung.

Gott hat uns nicht verlassen, möchte ich aufs neue beginnen. Er hat Agnes und mich glücklich übers Meer geführt, als wir vor vier Jahren anfingen einzusehen, daß übergenug Mädchen [210] im Vaterland sind, und auszogen, unser Heil in der Neuen Welt zu suchen. Er hat uns guten menschlichen Schutz zugewendet, er hat unsern Fleiß gesegnet, so daß wir noch zweien von Euch ein Asyl bei uns anbieten konnten und die Mittel, es zu erreichen.

Anna und Berta sind wohlbehalten hier angekommen; wir wollten Euch nicht schreiben, bis wir unsern vierfachen Lebensplan für die Zukunft festgestellt hatten. Nun aber möchte ich, Ihr könntet unsre neue kleine Residenz sehen! Wir haben ein kleines, sehr freundliches Haus in einer Vorstadt Bostons gemietet; der hübsche Garten daran gestaltet sich bereits prächtig unter Annas Hand, die von Sonnenaufgang bis Abend darin steckt. Mit den Blumen und Gemüsepflanzungen, zu denen sie Samen gebracht, hoffen wir seinerzeit glänzende Geschäfte zu machen; unsre heimatlichen Rosen und Nelken sollen Aufsehen erregen in der Neuen Welt.

Berta sitzt bereits in einem Meer von Hüten, Hauben und Bändern; ich hatte sie zuvor schon so gut empfohlen, und ihre Geschicklichkeit macht meiner Empfehlung solche Ehre, daß sie sich ein dienstbares Geistlein zur Hilfe wird beilegen müssen, das schon in dem Töchterlein einer armen eingewanderten Familie gefunden ist.

Agnes wird um mehr Musikstunden gebeten, als sie annehmen kann; Ihr würdet staunen, wenn Ihr hören könntet, wie herrlich ihre Stimme sich erhalten und ausgebildet hat! Das letzte Konzert allein hat ihr reichliche Ernte gebracht, mehr als unser vereinter Beitrag für Lottchens Aussteuer beträgt; sie liebt aber das öffentliche Auftreten und die geräuschvollen Demonstrationen des hiesigen Publikums nicht und zieht ihren viel mühsameren, aber stilleren Wirkungskreis vor. Darum hat sie auch mit unsrer vollen Beistimmung einen neuen, sehr glänzenden Antrag auf die Bühne entschieden ein für allemal abgelehnt.

Meine Kunstbäckerei, um meine eigene werte Person nicht zu vergessen, geht ganz splendid; unsre vaterländischen Zuckerbrezeln, Gugelhopfen und Fleischpastetchen sind hier meist [211] gerner gesehen als leider unsre lebendigen Landsleute. Hie und da geruhe ich auch noch, wie vorzeiten daheim, mich im Wagen holen zu lassen, um das Arrangement großer Diners zu übernehmen, ziehe aber gleich unsrer Agnes die Tätigkeit daheim vor.


Ein jeder treib' es, wie er's kann,
Ein kleiner Mann ist auch ein Mann.

Wie unaussprechlich wohl es uns ist, seit wir nun ein vierblätteriges Kleeblatt bilden, das könntet Ihr Euch erst recht vorstellen, wenn's Euch möglich wäre, am Abend einen Blick in unser drawing room zu werfen, wo wir nach abgetaner Tagesarbeit uns um unsern Teetisch setzen, der stets mit einem Abfall meiner Kunstprodukte reichlich versorgt ist. Wir haben uns wohl immer liebgehabt, liebe Schwestern; aber ich meine, den ganzen herrlichen Segen der Familienbande lernt man doch erst in der Fremde kennen.

Ich muß manchmal an die Tante Kommerzienrätin denken. Als ich sie vor vier Jahren um einen Vorschuß zu unsrer Auswanderung bat, da schob sie ihre Brille hinauf und sah mich verwundert und geringschätzig an: ›Hm, hm, ist meiner Zeit nicht der Brauch gewesen, daß Mädchen auswandern; wer schaffen will, findet im Vaterland sein Fortkommen.‹ Nun, die Tante kann recht haben; doch zweifle ich, ob mein Hausjungferngehalt und der Agnes Musikstunden uns je im Vaterland zu einer so unabhängigen und sorgenfreien Existenz geholfen hätten.

Bei allem verhehle ich Euch nicht, liebe Schwestern: Wir haben eine Heimat hier, aber kein Vaterland. Es kommt kein Sonntag, wo nicht eine recht innige Sehnsucht in uns erwacht nach deutschem Glockenklang, nach einem deutschen Kirchenlied und einem deutschen Familienkreis. Und im stillen sei's gesagt: So oft wir uns am Wachsen unsrer Ersparnisse erfreuen, so wächst die Hoffnung, daß wir dereinst früher oder später die Früchte unsres Fleißes in der lieben Heimat mit Euch genießen können.

[212] Mehr und mehr überzeuge ich mich, daß Angelikas Talent ihr hier weniger als im Vaterland Früchte tragen würde, selbst wenn ihre zarte Gesundheit die Seereise ertragen könnte. In diesem Land der Bewegung und des Wechsels nimmt man sich kaum Zeit, zu einem Bilde zu sitzen: Daguerrotype, die in drei Minuten fertig sind, das ist amerikanischer Geschmack. So ist es viel besser, sie lebt wie bisher ihrer Kunst und pflegt ihre Gesundheit, was ihr ja umso viel leichter wird, seit sie im Hause der edlen, kunstsinnigen Gräfin eine Heimat gefunden. Ihre lieben seelenvollen Bildchen haben auch hier schon manches Auge und manches Herz erfreut; ihr teures Abschiedsgeschenk: Eure und der Eltern Bilder, sind und bleiben die schönste und liebste Zierde unsres schönsten Zimmers.

Aber wird die Welt umgekehrt, daß unsre bescheidene Schwester Beate zu so hohen Ehren kommt? Von Königin und Prinzessinnen umarmt und beschenkt, und zur Vorsteherin weiß nicht wie vieler wohltätigen Anstalten ernannt wird? Ist sie denn nicht vor Demut in die Erde versunken ob solchen Ehren, und wie nimmt sich denn die diamantenbesetzte Uhr auf dem unsterblichen dunklen Merinokleid unsrer lieben soeur grise aus? Wir könnten hier wohl auch solche Engel brauchen, liebe Beate, aber ihrer sind auch in der Heimat nie zu viel. Gehe du fortan als Engel des Trostes durch die Reihen der Leidenden, in die Kämmerlein der Bedrängten! – Ich freue mich von Herzen, daß Du in dem Hause des würdigen Dekans auch die Freuden des Familienlebens nicht vermissen darfst.

Adelheid wird, wie ich denke, nicht zögern, den ehrenvollen Ruf an die Erziehungsanstalt der Hauptstadt ihrer Hauslehrerinnenstelle vorzuziehen, die, so einträglich sie war, doch eine freudlose und undankbare geblieben ist. Wir freuen uns herzlich dieser Wendung, die zwei unsrer lieben Schwestern wieder zusammenführt. Auch Adelheid tut besser, im Vaterlande zu bleiben; Erzieherinnen dieser Art werden hier weder gesucht noch geschätzt; die jungen Damen aus höheren Kreisen werden in Pensionen ›schnellgebleicht‹.

Noch eins sei Euch im Vertrauen gesagt: Wenn wir dereinst [213] den schönen Plan ausführen, ins Vaterland zurückzukehren, so wäre möglich, daß wir nimmer vollzählig kommen. Ein Sohn des Doktor M., der unser treuer Schutz auf der Überfahrt war, spricht besonders häufig bei uns ein, seit die Schwestern hier sind, und er gibt Anna nicht undeutlich zu verstehen, wie gut eine so rüstige, gewandte Frau für seine Farm passen würde. Was soll aber aus unserm Garten werden, wenn Anna sich dereinst entscheidet, auf die Farm zu ziehen!

Auch mit Berta weiß man nicht, wie es werden wird. Ein längst hier angesiedelter Landsmann, der in unsrer Nachbarschaft wohnt, hat immer etwas zu fragen und zu sagen bei uns und unterhält sich überaus gut mit der fleißigen Putzmacherin. Er treibt ein sehr blühendes Gewerbe, welcher Art, schreibe ich aber noch nicht; Eure verwöhnten Näschen könnten sich noch in angeborenem Vorurteil rümpfen; hier denkt man darüber anders. Einstweilen nur so viel, daß er ein sehr gebildeter und sehr frommer Mann ist; er scheint fast zu ernst für unsre heitere, flüchtige Berta, und doch findet er großes Gefallen an ihr und scheint zu glauben, daß oft auch in glatter, zierlicher Schale ein guter Kern stecken kann.

So habe ich nun, wie die Mutter pflegte, uns alle an den Fingern zusammengezählt, und wenn ich so unsern Lebensgang bis hierher überdenke, so bleibt mir nichts zu sagen übrig als das freudige Wort: Der Herr hat's wohl mit uns gemacht! Wir haben frühe daheim gelernt, uns zu fügen und uns zu rühren; das Brot, das für sechs verwöhnte Kinder nicht ausgereicht hätte, hat elf genügsame großgezogen. Wir haben, gedankt sei es unsern frommen Eltern, frühe gelernt, ein Bürgerrecht droben zu suchen; so waren wir nie heimatlos, noch ehe wir ein Plätzchen auf Erden gefunden, wo wir unser Haupt niederlegen konnten; wir haben frühe gelernt, mit unserm Pfunde zu wuchern und unsre Kraft zu brauchen, so daß die vielbejammerten elf Mädchen nun besser geborgen sind als manches einzige Töchterlein reicher Eltern.

Ob uns allen zusammen noch ein Wiedersehen auf Erden bestimmt ist? – Ich wage es kaum zu hoffen, es liegt in Gottes [214] Hand. Wir alle aber haben die Hoffnung auf ein noch seligeres Wiedersehen, wo unserm treuen Vater das schöne Wort vergönnt sein wird: ›Ich habe der keines verloren, die du mir gegeben hast.‹«

4. Das gastfreie Pfarrhaus

»Ist das grünliche Haus dort ein Gasthof?« hätte in Endersbach wohl jeder Fremde gefragt, wenn nach Endersbach andre Fremde gekommen wären als eben in das grünliche Haus. Wer aber in das sanfte, fast schüchterne Gesicht der Hausfrau sah und die abziehenden Gäste beobachtete, die niemals mit langem Gesicht und leerem Geldbeutel, sondern stets mit heiterer Miene und vollgepfropften Taschen abzogen, der konnte allmählich erraten, daß das kein Wirtshaus sei, sondern das Pfarrhaus des Orts.

In der Tat, es würden viele Gasthäuser für einen Zulauf dankbar sein wie den, mit dem das Pfarrhaus zu Endersbach gesegnet war. Selten verging ein Tag, wo nicht zu Fuß, zu Roß oder zu Wagen Gäste eingesprochen hätten, höchst mannigfaltige Gäste: flüchtig einkehrende aus der nächsten Umgegend, »nur so auf einem Spaziergang«, die man dann mit einiger Mühe zum Längerbleiben nötigen mußte; Gäste über Mittag, Gäste über Nacht; recht dauerhafte, solide Gäste, um Luftkuren, Wasserkuren, Traubenkuren zu brauchen; perennierende Gäste sogar, die das Landleben recht aus dem Grunde kennenlernen wollten, die sich beim Buttern beteiligten, indem sie frisches Butterbrot in Menge verschlangen, beim Melken, indem sie kuhwarme Milch tranken; die sich mit einem Buch in der Hand beim Grasmähen in das duftende Heu legten, wenn es eben zusammengerecht war; die in der Ernte die ersten Ernteküchlein aßen und im Herbst Trauben verzehrten, als müßten sie sich vorsehen bis an ihr Lebensende.

Da waren frühaufstehende Gäste, die den guten Pfarrer um seinen Morgenschlaf brachten; langschlafende Gäste, denen man den Kaffee bis neun Uhr warm halten mußte; trübselige Gäste, [215] die man aufheitern und schonend behandeln sollte; lustige Gäste, deren Gelächter den Trübseligen die Nerven angriff; Kindergäste, die das Obst unreif abrissen, des Pfarrers Lieblingskatze in den Schwanz kneipten und das Schwein in den Garten ließen; alte Gäste, die keinen Kinderlärm ertragen konnten: kurz, Gäste von allen Arten und Sorten, die sich aber zuletzt unter dem gastlichen Dache des Pfarrhauses so friedlich vertragen lernten, als ob sie bei jenem Künstler in die Schule gegangen wären, der Katzen und Ratten, Tauben und Marder aus einer Schüssel speisen ließ.

Aber warum dieser erstaunliche Zulauf zu dem Pfarrhause? War es ein Muster von Eleganz, von komfortabler Einrichtung? War es ein Palast an Umfang? War es ein Sitz besonderen Geistesreichtums? Oder blühten liebliche Töchter darin? Nichts von alledem. Der Pfarrer spielte zwar Violine, war aber kein Paganini noch Ole Bull; die Pfarrerin war ein guter, aber kein schöner Geist; das Pfarrhaus ein alter Rumpelkasten; Kinder hatten sie keine als eben die, die ihrer gerade bedurften. Wo also stak der Zauber? Das ist schwer zu sagen, wenn er nicht in der lautern Güte, der selbstvergessenden Liebe und ungeschminkten Herzlichkeit bestand, mit der hier alle Gäste aufgenommen und beherbergt wurden.

Hier waren alle willkommen, nicht die zumeist, die ihnen Vergnügen und Unterhaltung brachten; nein die, denen man geben, helfen und nützen konnte; und für die Freude, die Pfarrers andern bereiten durften, waren sie so kindlich dankbar, als hätte man ihnen das Größte gegeben. Was ihnen selbst angenehm und behaglich war, das hatten sie lange vergessen; daß sie nie mehr ruhig und in gewohnter Weise leben konnten, daran dachten sie nicht, sie hatten keine gewohnte Weise mehr. Wenn es regnete, fiel ihnen nie ein, daß sie nun doch vielleicht einmal hätten in Ruhe bleiben dürfen; nein, sie beklagten nur die etwaigen Gäste, die bei solchem Wetter unterwegs sein könnten. Hatten sie an einem schönen Tage sich gerüstet, auch einmal einen Besuch zu machen, und wurden vor dem Hause von einem Gegenzug besuchender Nachbarn abgeschnitten, ach, [216] da war's noch das größte Glück, daß sie nicht schon früher ausgegangen waren.

Eben dieser selbstvergessenden Güte wegen wurden sie auch nicht bloß heimgesucht von Freunden und Verwandten, vom Herrn Dekan auf der Visitation, vom Herrn Oberamtmann, wenn er Ruggericht, vom Notariatsassistenten, wenn er eine Teilung im Ort hatte: nein, sogar umherziehende Krämer, geistliche Kolporteure und dergleichen Leute suchten ein Obdach in dem mildtätigen Hause; selbst für auswärtige Maurergesellen, die im Orte arbeiteten, fand sich noch ein Dachstübchen, und für die armen fremden Weiber, die im nahen Wald Erdbeeren [217] und Himbeeren sammelten, wie für unzählige Handwerksburschen wenigstens ein Freitisch.

Auf Eleganz und Komfort konnte dabei natürlich nicht immer Rücksicht genommen werden. Das Sofa des Wohnzimmers hatte schon seinen siebenten Überzug zerrissen, da mußte man aufs Dauerhafte sehen. Der Raum des Pfarrhauses war für eine gewöhnliche Menschenfamilie berechnet, nicht für ein Weltbürgerobdach. Darum ging es hie und da eng genug zu, und die Betten, so reichlich sie auch vorhanden waren, mußten oft geteilt werden. Aber es hätten steinerne Herzen sein müssen, die nicht aus dieser warmen Liebesquelle ein Tröpfchen Genügsamkeit in sich aufgenommen hätten. Unter allen Mühen und Verlegenheiten, die aus dem Konflikt verschiedenartiger Gäste hervorgingen, wandelte die Pfarrfrau mit demselben sanften, freundlichen Gesicht, überall aufmerksam, wo sie einen Wunsch erspähen, einem Mangel abhelfen könne. Selbst der Garten schien etwas von der Gabe überkommen zu haben, immer geben zu können, ohne arm zu werden; denn kein Gast wurde ohne einen duftigen Blumenstrauß oder süße Früchte entlassen, und doch blühte und duftete es drunten unermüdet fort.

Die Pfarrmagd war immer in Eile, stets im Amtseifer, selten ward ihr's so gut, sich in behaglichem Geplauder wo verweilen zu können, und eine Pfarrmagd plaudert doch so gern! Sie ist so eine Art von Standesperson und sich ihrer Würde stets bewußt; ein Abglanz vom Nimbus des Pfarrhauses umfließt auch ihr Haupt, und wenn der Pfarrer Sonntags recht erwecklich predigt, so schaut sie triumphierend in der Kirche herum: »Nicht wahr, mein Herr sagt's euch!« Die Pfarrmagd in Endersbach aber konnte nicht oft sich in Ruhe dem Bewußtsein ihrer Würde hingeben; sie hatte nicht nur für die Gäste des Hauses zu sorgen, ihr ward auch das angenehme Amt, im ganzen Dorfe die Freude- und Hilfebringende zu sein.

Ihr müßt nämlich nicht glauben, über den Fremden seien die eigenen Ortskinder vergessen worden, gewiß nicht. Da war heute eine Wöchnerin, die eine kräftige Suppe brauchte; dort eine andre, der eine süße Weinspeise wohlgetan hätte; morgen [218] eine Frau in gesegneten Umständen, die besonderes Gelüste nach einem gebratenen Huhn verspürte, oder ein altes Weib, das nichts mehr als Kaffee vertragen konnte; drüben lag der Nachbarin krankes Mädchen, das nur gekochtes Obst genoß, unten im Dorfe der genesende Michele, der alles aß und nie genug hatte. Für sie alle reichte die Küche des Pfarrhauses, auf welcher der Segen jenes geweihten Ölkrügleins ruhte.

Ein Hauptreiz des Aufenthalts im Pfarrhause war auch, daß jedermann alles treiben durfte, was ihm zusagte, und in diesem Punkte vereinte es die schwäbische Gastlichkeit mit der freieren englischen Sitte. Man gab, was man hatte und konnte; man verlangte und erwartete nichts, als daß die Gäste vergnügt seien. Die Pfarrerin hätte womöglich noch einen Fischteich angelegt und eine Jagd gepachtet, um etwaige Jagd- und Fischliebhaber zu befriedigen. Die Gäste benutzten auch solche Freiheit zur Genüge und trieben, was ihr Herz begehrte. Nicht nur, daß sie spazieren gingen, spielten, sangen, ja sogar tanzten, wenn es ihnen einfiel (wobei die Frau Pfarrerin sogar die Läden schloß, um keinen Anstoß zu geben): die Kinder warfen Scheiben ein, fielen Löcher in den Kopf und brachen Arme und Beine; Jünglinge und Jungfrauen fingen glückliche und unglückliche Liebschaften an; eine besuchende Frau kam in die Wochen, um dem kinderlosen Ehepaar auch den Genuß von ganz kleinem Kindergeschrei zu verschaffen, und ein langweiliger alter Herr starb sogar zu Gast, nachdem er sich zuvor wochenlang hatte verpflegen lassen.

Die Pfarrmagd hatte natürlich auch ihre Gäste auf eigene Hand, Brüder, Basen, Paten und sonstigen Anhang, und es war recht anständig vom Hofhund, daß er nicht auch größere Zusammenkünfte mit befreundeten Hunden veranstaltete.

Gleich beim Beginn seines jungen Ehestandes hätte der Pfarrer seine Gastfreundschaft beinahe teuer bezahlen müssen. Es kam eines Tages ein seltsam und düster aussehender Mann in sein Dorf, der sich als Missionär zu erkennen gab und den Wunsch aussprach, hier eine Missionsstunde zu halten. Der Pfarrer räumte ihm bereitwillig die Kirche ein, ungeachtet ihm [219] der Mann mit seiner düstern, heftigen Frömmigkeit nicht gefiel. Da das Wirtshaus des Ortes schlecht war, so boten ihm die guten Pfarrleute die Wohnung in ihrem Hause an, obwohl sie auf dieser ihrer ersten Stelle so beschränkt im Raume waren, daß die junge Frau ins Zimmer ihrer Mutter ziehen mußte, um dem Gaste im Schlafzimmer bei ihrem Manne Platz zu machen.

Inmitten der Nacht wacht die Mutter an einem ängstlichen Traume auf; jetzt erst beunruhigte sie's, daß man den Pfarrer so ganz allein mit dem seltsamen Fremden gelassen. Sie steht endlich auf, um hinabzugehen und an der Türe zu lauschen; da alles still ist, geht sie wieder hinauf und legt sich zu Bette. Am frühen Morgen trafen sie den Missionär nicht mehr, der vor Tag abgereist war; der Pfarrer aber beklagte sich, daß ihn der unruhige Gast beinahe ganz um den Schlaf gebracht habe, da er die halbe Nacht im Zimmer auf und ab gegangen.

Nach langen Jahren, als der sonderbare Gast fast ganz vergessen war, kam ihnen in einem Missionsblatt der Bericht eines fremden Missionärs zu. Er erzählte darin, daß er sich vor Jahren auf einer Reise durch Deutschland in einer besonders trüben, heftig aufgeregten Gemütsstimmung befunden habe. Einmal sei er in einem Pfarrhause mit ungemeiner Güte aufgenommen und in des Pfarrers eigenem Schlafzimmer beherbergt worden. Da, in stiller, schlafloser Nacht, sei ihm der Gedanke gekommen, ob er nicht am besten täte, den Pfarrer so in all seiner Herzensgüte, in der Fülle seines Glückes aus dem Leben zu schaffen, ehe ihn der Hauch dieser bösen Welt vergifte. Er habe die ganze Nacht mit diesem Gedanken gerungen, ihn aber zuletzt niedergekämpft und sich vor Tage entfernt, um ihn nicht am Ende doch noch auszuführen. Die guten Pfarrleute überlief's kalt, wenn ihnen die schauerliche Liebeserweisung einfiel, die ihnen zugedacht gewesen war; ihr gütiges Herz ward aber dadurch nicht abgeschreckt.

Ein so unheimlicher Besuch hat nie mehr die gastliche Schwelle überschritten, und erst die Hand des stillen Gottesboten, der stets zur rechten Stunde kommt, hat das unsichtbare [220] Schild eingezogen, das dieses Pfarrhaus zu einem so gesuchten Gasthofe machte: eine offene Hand und ein liebevolles Herz.

5. Das fromme Pfarrhaus

Damit soll nun nicht gesagt sein, daß dieses das einzige seiner Art gewesen sei. Gewiß aber trug es vor vielen den Stempel des Geistes, der überall und zumeist in einem Pfarrhause regieren soll; und scheint auch die Art und Weise, wie sich diese Frömmigkeit kundgab, etwas schwärmerisch, so hat sie sich doch als probehaltig bewährt.

Es waren nun mehr als fünfzig Jahre, seit der Pfarrer zu B. sein Amt begonnen und seine junge Frau in sein Haus eingeführt hatte. Kein sonnenheller Tag war es gewesen, und kein fröhliches Geleite hatte das junge Paar zur eigenen Wohnung geführt. Aus dem Wagen hoben sie sorgsam die gichtkranke Mutter des Pfarrers, die, nachdem sie lange ein bitteres Gnadenbrot am Tische übelwollender Verwandten genossen, nun im Hause ihrer Kinder wieder eine Heimat finden sollte; und am Fenster des Hinterstübchens stand eine düstere, bleiche Gestalt, die stieren Blickes den Ankommenden entgegensah. Es war die geisteskranke Schwester der jungen Frau, die bereits mit ihrer Wärterin aus der Irrenanstalt angekommen war. Die Schwester wollte sie von nun an zu sich nehmen und die Wirkung ihrer liebevollen Pflege auf Schwermütige versuchen, da sie diese nicht mehr im Irrenhause lassen konnte, weil das Kostgeld bereits das kleine Vermögen der Kranken aufgezehrt hatte. – »Das ist meine einzige Mitgabe,« sagte die Frau in wehmütigem Tone zum Gatten, als ihre Augen auf das Jammerbild fielen. – »Du hast noch einen reichen, reichen Vater,« antwortete dieser getrosten Mutes.

Und als die Mutter bequem in einen Sessel gebettet, auch die Schwester geholt und ans freundlichste Plätzchen gesetzt worden war, da kniete das Ehepaar nieder, der Pfarrer sprach ein feuriges, glaubensvolles Gebet; darauf erhob sich die volle, [221] glockenreine Stimme der Pfarrfrau zu dem schönen Choral: »Nun danket alle Gott«, und als sie die Worte sang:


»Der ewig reiche Gott woll' uns in diesem Leben
Ein immer fröhlich' Herz und edlen Frieden geben,«

da klangen die Töne so trostvoll, so innig zuversichtlich hinauf zum stillen Abendhimmel, daß, wer es hörte, denken mußte, diesem Hause sei ein wunderbares Heil widerfahren.

Die Pfarrerin, eine edle, aber schon etwas verblühte Gestalt, war wenig jünger als ihr Mann, der doch bereits die vollkommene Reife erreicht hatte, zu der bei uns die Diener der Kirche kommen, ehe sie Amt und Beruf erlangen. Vor vierzehn Jahren hatte sie der schüchterne Jüngling zuerst gesehen, die jugendlich blühende Tochter eines verehrten Lehrers, und damals kaum gewagt, seine Augen zu dem schönen Mädchen zu erheben. Als er seine Studien vollendet hatte, schied er von ihr, ohne seine Liebe zu gestehen; aber im Herzen trug er sie als unerreichbaren Stern. Vier Jahre nachher traf er mit ihr im Postwagen zusammen. Sie hatte den Vater verloren und war auf dem Weg in die Fremde, um in der entsagungsreichen Stelle einer Hauslehrerin die Mittel zum Unterhalt ihrer Mutter zu suchen. Hier erst lernten sie sich kennen, hier erst ahnten sie beide den tieferen Zusammenklang ihrer Seelen. Aber was konnte ein armer Vikar einem mittellosen Mädchen bieten? So sah er denn schweren Herzens die Geliebte ziehen, in der sicheren Meinung, sie sei ihm nun verloren; denn er hielt es für unmöglich, daß solch ein Kleinod nicht viel begehrt sein sollte. Habe nicht bang, mein guter Vikar, einarmes Mädchen kann beim allerhöchsten Wert geruhig in ungestörter Einsamkeit verbleiben.

Acht Jahre verflossen wieder, und der dreiunddreißigjährige Vikar hatte endlich ein Amt errungen. Da war Marie sein erster Gedanke, Marie, die auch seiner armen kranken Mutter gewiß eine gute Tochter sein würde, und er begann nach ihr zu forschen.

Sie hatte noch nicht lange ihrer Mutter die Augen zugedrückt [222] und war im Begriff, aufs neue den Wanderstab zu ergreifen, da es nun galt, für die Erhaltung der schwermütigen Schwester zu sorgen. So durfte er schon wagen, der ganz Einsamen seine Hand, seine bescheidene Heimat anzubieten. Daß die Zeit, daß Mühe und Leid indes ihre Blüte verzehrt, das machte ihn nicht irre; er hatte »in ihrem Auge den Strahl des ewigen Frühlings gesehen«, und der war noch nicht erloschen. Selig empfing er ihr Jawort und führte sie mit der kranken Mutter und der unglücklichen Schwester an den eigenen Herd.

So umwölkt war der Himmel am Beginn ihrer Ehe, aber der siegende Strahl eines mächtigen Gottvertrauens brach durch. Dieses Gottvertrauen war nicht von der Art wie das so vieler leichtherzigen und sorglosen Gemüter, die da unter ihrem täglichen Brot nicht nur wie Luther »Essen, Trinken, Kleider, Schuhe« und so weiter verstehen, sondern auch gut Essen und Trinken, schöne Kleider und weiche Schuhe, und die der guten Zuversicht sind, der liebe Gott sei dazu da, ihnen all dies anzuschaffen und daneben überhaupt alles wieder gut zu machen, was sie dumm und leichtsinnig gemacht; die wie der heilige Krispin den Armen spenden, was sie, nicht ihrem eigenen Munde, sondern andern Leuten in irgend einer Weise abgenommen; die imstande sind, das Tuch vom Halse zu verschenken, und sich morgen ein hübsches neues dafür kaufen. Nein, dieses Paares Gottvertrauen war mit der äußersten Genügsamkeit, mit der strengsten Selbstverleugnung gepaart, und darum hat es sie nie getäuscht.

Ihre Hausordnung war einfach und wechsellos. Jeder Morgen, jeder Nachmittag wurde von sämtlichen Hausgenossen mit einem gemeinsamen Gebet auf den Knien begonnen, jeder Abend damit geendet. Hie und da mochte wohl ein alter Universitätsgenosse, der den Pfarrer heimsuchte, etwas stutzig werden, wenn er eben nach Tisch seine Pfeife anzünden wollte, um mit dem Pfarrer zu rauchen, und nun statt dessen dieser niederkniete zum Gebet und die klare Stimme der Pfarrfrau ein geistliches Lied anstimmte. Und doch trug diese bei uns etwas ungewohnte Andacht so sehr das Gepräge der Innigkeit [223] und Wahrheit, daß jeder, mochte er nun gesinnt sein, wie er wollte, herzlich oder doch ehrfurchtsvoll miteinstimmte.

Rastlos tätig war der Pfarrer in den Arbeiten seines Berufes, und es schien unbegreiflich, wo er Zeit und Kraft hernahm, neben den regelmäßigen Gottesdiensten noch Erbauungsstunden für Junge und Alte, Bibelerklärungen und häusliche Andachten zu halten; wie er stundenlang sein Ohr jedem besonderen Gewissensanliegen leihen konnte, das ihm vorgetragen wurde, und wieder Nächte durchwachte am Bette todesbanger Kranken, in der Hoffnung, vor dem Erlöschen noch einen Trostesstrahl in ihre Seele fallen zu lassen. Und ebenso wunderbar dehnbar schien die Zeit und die Kraft der Pfarrfrau, die mit einem zarten Körper die kranke Mutter pflegte; in evangelischer Demut die mühsamsten Arbeiten mit der Magd teilte; eine Kleinkinderschule beaufsichtigte, zu der sie ihren unteren Hausraum hergegeben hatte; daneben dem Manne beistand, wo es galt zu helfen und zu trösten, – und doch noch Stunden dem hoffnungslosen Bestreben widmen konnte, die verdunkelte Seele der Schwester aufzuhellen. Und sie war dabei stets heiteren Mutes; mit leichtem, leisem Tritt wandelte sie von einem zum andern, und keines schien sich verkürzt.

Daß in solcher Weise das Pfarrhaus auch zu einer Herberge der Verlassenen, zur Vorratskammer der Hungrigen wurde, läßt sich leicht denken; hier jedoch war es nicht ganz vom Vorwurf einer gewissen Parteilichkeit freizusprechen. Mit einer frommen Miene, mit ein paar biblischen Sprüchen, mit gewissen geistlichen Schlagwörtern von »Erweckung und Bekehrung« und dergleichen konnten auch unwürdige Heuchler sich vom Pfarrer leichter Aufnahme und Hilfe verschaffen als andre einfache Leute, die ihm noch »unerweckt« schienen. Da war es gut, daß die Pfarrfrau hierin etwas schärfer sah und hie und da die Übergüte ihres Mannes ein wenig eindämmen konnte. Sie war's, die dem wandernden Bruder Jeremias die Branntweinflasche aus der Tasche zog und schweigend vorhielt, als er eben erzählte, wie er seinen Leib kasteie und statt Wein zu trinken das Geld dafür der Mission bringe. Sie hatte den neuerweckten [224] Juden durchschaut, der nach einer Weihnachtspredigt des Pfarrers sich diesem vorstellte als dürstend nach dem Licht des Evangeliums, welcher Durst ihn schon zuvor bei sieben verschiedenen Pfarrern angewandelt hatte, von denen er sich allemal während der Zeit des Unterrichts freihalten ließ. Sie hatte die fromme Bärbel, die zu ihr kam und verkündete, der Geist habe ihr geoffenbart, daß die Frau Pfarrerin sie acht Tage lang speisen werde, tüchtig Holz tragen lassen, also daß ihr der Geist schon am dritten Tage offenbarte, sie solle wieder heimgehen; und als der krumme Schuster, der alle Versammlungen besuchte und sein Handwerk liegen ließ, ihrem Mann einen gepolsterten Sessel aus dem Wohnzimmer abgebettelt hatte, »weil seine armen Kindlein nichts hätten, um darauf zu sitzen«, hatte sie ihm diesen auf der Treppe abgenommen und ihm dafür einen hölzernen Stuhl verehrt mit dem Bemerken: darauf lasse sich viel besser arbeiten.

Wovon die Pfarrleute lebten, das schien auch rätselhaft. Das Einkommen war klein, und der Veranlassungen zur Mildtätigkeit gab es so viele; und doch sah man keinen Mangel und hörte keine Klage. Aber die Pfarrerin legte auch niemals die Hände in den Schoß und öffnete dazu den Mund, auf daß ihr Gott gebratene Tauben hineinfliegen lasse; nein, sie rührte die Hand und schloß den Mund lieber, als daß sie ihn zu überflüssigem Begehren aufgetan hätte.

Die kranke Mutter ging bald zur Ruhe, mit mehr als Kindestreue gepflegt, die Schwester aber lebte noch lange Jahre fort, trübsinnig und still; nur selten konnte ihr das unermüdet liebevolle Bemühen der Pfarrerin einen hellen Funken entlocken; beim Gesang allein wurde oft ihr Blick klarer.

Sechs Kinder hatte die Pfarrfrau geboren; wie es schien, mehr zur Prüfung ihrer Geduld als zur Lust und Freude. Fast alle waren zarte, schwächliche Geschöpfe. Drei Jahre nacheinander trug man jeden Frühling eine kleine Leiche aus dem Pfarrhaus. Keine Klage ging über die blassen Lippen der Mutter; sie selbst schmückte die Lieblinge für den Sarg, sie selbst ging festen und stillen Trittes hinter der Bahre her, und [225] ihre Stimme tönte vernehmlich im Grabgesang. – Drei Kinder blieben ihnen: Samuel, ihr erster und einziger Sohn; Maria, ein schönes, blühendes Mädchen, und die bleiche, kränkliche Dorothea, ein kümmerliches Geschöpf, verkürzt an Leib und Seele, deren Dasein ein beständiges Hinwelken schien.

Dem Samuel hatte die ernste Zucht des Vaterhauses schlecht zugesagt, und als er in die Welt hinauskam, schien er zwiefältig einholen zu wollen, was er daheim versäumt an Lebenslust. Aus dem niedern Seminar schon entwich er, um sich einer herumziehenden Schauspielerbande anzuschließen, und es läßt sich denken, welche Freude der Vater hatte, als man ihm seinen Samuel im Kostüm des Karl Moor bei Nacht und Nebel daherbrachte. Doch das wurde vergeben und vergessen, und mit Mühe und Not gelang es, Samuel ins berühmte theologische Stift zu Tübingen zu bringen. Aber nicht zu sagen ist es, wie viel Unfug er hier verübte, bis er zuletzt, nach Karzer und Ultimatum, inmitten der Nacht abgefaßt wurde, als er dem Stift entsteigen wollte, um einem Kommers anzuwohnen.

So brachte man den erschütterten Eltern die hoffnungsvolle Frucht nach Haus, und nun entstand die große Frage: Was soll aus ihm werden? Alles mögliche wollte man aus dem Samuel machen: er sollte Kaufmann werden, Apotheker, Schreiber, Buchbinder – es ging alles nicht, er war zu keiner geordneten Tätigkeit zu bringen. So blieb am Ende nichts übrig als Amerika, dieser große Abzugskanal verdorbener Menschenkräfte. Der Pfarrer tat sein Äußerstes, um die nötige Summe zur Überfahrt aufzubringen, und begleitete ihn selbst aus dem Lande. Bei diesem Abschied war es zum erstenmal, daß man die Pfarrerin weinen sah, als ob das Herz ihr brechen wollte; zum erstenmal versagte ihr die Stimme, als sie das Abendlied anstimmte. Aber kein Morgen und kein Abend verging seitdem, ohne daß der Pfarrer ein besonderes Gebet für den verlorenen Sohn zum Himmel geschickt hätte, ein Gebet so feurig und kräftig, daß man glauben mußte, es vermöge die Wolken zu zerreißen. Und es ist nicht unerhört geblieben.

Jahre vergingen ohne Nachricht von Samuel; vergessen war [226] [228]er nicht, aber niemand wagte mehr, etwas von ihm oder für ihn zu hoffen, als die Mutter allein. Nach langen Jahren kam endlich ein Brief von ihm, eine Freudenbotschaft, wie noch keine im Pfarrhaus eingekehrt war. Samuel hatte nicht, wie man zu sagen pflegt, »sein Glück gemacht«; der Goldsand Kaliforniens war noch nicht bekannt; er war jetzt Pfarrer und seine Mittel zu bescheiden, als daß er nur an einen Besuch im Elternhaus hätte denken können; aber sich selbst hatte er wiedergefunden, sein Kindesherz und seinen Gott. Er hatte wunderliche Schicksale gehabt, der Samuel; er hatte sein Brot gesucht als Steinklopfer, als Hausknecht, als Laufbursche, bis er einmal im Dienst eines Bilderhändlers zu einer alten Frau kam. Das Mütterchen betrachtete ihn mit wehmütiger Freundlichkeit, und beim Abschied fragte sie ihn ernst, ob er nie etwas Besseres gewesen. Da brach die Rinde, die sein rohes, selbstsüchtiges Jugendleben um sein Herz gelegt und die von der bitteren Not und Verlassenheit wohl schon lange war gelockert worden. Und der Sorge dieses ehrwürdigen Mütterleins war es gelungen, ihn für ein neues Leben zu gewinnen. Das war ein freudeheller Tag im Pfarrhaus, und »Nun danket alle Gott« klang am Abend von den Lippen der Mutter fast so hell wie vor dreißig Jahren.

Die blühende Maria faßte mit Zustimmung der Eltern den Entschluß, einem Missionär nach Afrika zu folgen, und von dem fröhlichen Kinderkreis war allein die blöde, unschöne Dorothea übrig. Alle Kraft der Liebe, eine Treue und Geduld, die kein Menschenauge erkennen kann, wandte die Mutter auf die Entfaltung dieser wenig versprechenden Blüte, und die Mühe war nicht verloren. Als die Mutter, wenige Jahre nach dem Freudentage, den ihr Samuels Brief gebracht, die Augen schloß zur ewigen Ruhe, da konnte sie das sonst so scheue, ungenießbare Geschöpf zurücklassen als einen stillen, freundlichen Hausgeist, der allen diente und von keinem etwas begehrte. Und ob sie auch nur leise und schüchternen Tones das Abendlied anstimmte, des Vaters ungebrochene Stimme fiel ein, und es ist doch zum Himmel gedrungen.

[228] Gar still war es freilich im Pfarrhause geworden; aber in ungebeugter Kraft versah noch immer der Pfarrer sein Amt, unermüdet war er, an den Betten der Sterbenden zu beten, an die Herzen der Lebenden zu pochen. – Mehr als fünfzig Jahre hatte er sein Amt geführt. »Sie sollten einen Gehilfen nehmen, Herr Pfarrer,« meinte der Dekan, der mit Bewunderung die Leistungen des mehr als achtzigjährigen Mannes prüfte. – »Ich will selbst wirken, solange es Tag ist,« war die Antwort; »wenn es Nacht wird, so wird der Herr mich heimrufen.«

Am folgenden Sonntagnachmittag schritt er aufrecht und freundlich wie immer in der Kirche unter den Kindern umher; da auf einmal wankten seine Schritte, kaum erreichte er noch den Altar, und mit dem Rufe: »Amen!« sank er zusammen. – Der Herr hatte ihn heimgerufen, ehe die Nacht einbrach.

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TextGrid Repository (2012). Wildermuth, Ottilie. Schwäbische Pfarrhäuser. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A808-8