[109] Vorstadtlerche

Stumm lag die Straße, unter schwarzem Laken.
Verschlafen blinzten die Laternenflammen;
Die öden Pflastersteine schraken
Vor meinem Schritt zusammen.
Doch mir im Haupte brandete das Blut,
Und üppig blitzten die Gedanken/
Des Hochgespräches kühne Brut,
Bei dessen wild erhabener Glut
Ich mit den Freunden saß, in feierlicher Nacht ...
Und staunend schaut ich die Gedankenpracht
Und fühlte staunend meines Herzens Weihe;
Und meine Seele wuchs zu hehren Sternen
Wie Rauchschwall wirbelnd sich gen Himmel breitet.
Und wie ich schlafen sah die dunkle Häuserreihe,
Bedünkt ich mich ein Heiland,
Der liebewach sein schlummernd Volk durchschreitet.
Doch als ich öffnete des Hauses Tor,
Da gähnte schwarz das Haus wie eine Gruft.
Und als die finstern Treppen ich empor
Getastet bis zum Stockwerk unterm Dach,
Da hauchte mir das enge Schlafgemach
Entgegen drückend schwüle Luft.
Beklommen streckt ich mich zu Bett
Und suchte Schlaf. Doch heiß war meine Stirn,
Und rastlos grübelte das müde Hirn.
[110]
Dann aus der dunkeln Ecke kam geschlichen
Die Angst und kroch mit ekler Gier empor
Und drückte meine Brust und würgte mich;
Und meine Glieder waren totenstarr.
Und eine Stimme raunte mir ins Ohr:
»Ohnmächtiger Narr!
Der du ein Held,
Ein Heiland dich bedünkt,
Da liegst du nun gefällt,
Von meiner Faust gefaßt/
Wie all dein kummerbleiches Volk,
Das hingestürzt von Tageslast
Rings unter dumpfen Dächern modert ...«
Und wie es zischelnd höhnte,
Und wie, bedrückt vom Alb,
Ich röchelte und stöhnte,
Da brach mein Herz,
Da sank' mit hohlem Dröhnen
Mein Sarg in schwarze Erde ...
Der Deckel preßte meine dumpfe Stirn,
Und die Gedanken wurden starr im Hirn.
Was zwitschert heimlich in der Ferne
So süß und morgenfrisch?
Was spür ich wie ein Liebchen schleichen
[111]
Vom Fenster durch das lauschig stille Zimmer?
Bist du es, Frühlicht? Ja, du bist es, Liebchen!
Schon grüßen mich mit geisterhaftem Schimmer
Der Tisch, das Polster und die Uhr ... Ihr bleichen,
Aus Nacht erstandnen Freunde! Ja, es tagt!
Wie wonnig meine nachtgequälten Augen
Des Lichtes zarte Rieselquelle saugen!
Und wie in lichtgetränkten Wolkenräumen
Die Lerche trunken taumelt!
O laß mich lauschen, laß mich träumen,
Zärtlicher Vogel ...
Die bange Nacht
Verschlief dein Köpfchen, flügelgeborgen,
In dunkler Ackerfurche der Vorstadt.
Doch als mit hauchendem Kusse der Morgen
Dein Flaumkleid rührte, bist du erwacht
Und sehnsuchtsvoll auf schlafgestärkten Flügeln
Emporgeschwirrt zu frischen Lüften/
Wo zwischen grauen Wolkenhügeln
Aus rotbesäumten Schlüften
Des Tages Goldflut bricht.
Und auf zum jungen Licht
Mit nie versiegender Liebeslust
Jubelt die schwärmende Sängerbrust:
»Wie bist du süß! Wie bist du süß!«
[112]
O Lerchenlied, du Labequell!
Laß Trillerperlen funkelhell
Auf dürre Seelenauen
Mir niedertauen!
Du Flatterpunkt im Blauen
Bist stärker als mein Flügelschwung,
Der rückwärts sank in Nacht und Grauen.
Vom glutverklärten Fenster lauscht
Mein trostverschmachtet Ohr
Erquickt zu dir empor.
Nun trage durch das Morgentor
Den Hingegebnen, hilflos Matten
Von bangen Straßenschatten
Empor, empor/
Du lieber kleiner Heiland/
Zu seligem Ruhe-Eiland.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Wille, Bruno. Gedichte. Der heilige Hain. Der Menge Qual. Vorstadtlerche. Vorstadtlerche. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A94A-A