[96] 6. Ich will!

Hoch stand ich auf dem Dach' und sah seltsamste Morgenglut:
Rings wogte über die Häuser hin ein Meer von Brand und Blut.
Es brüllte die schwarzrot qualmende Schlacht; mit zornigem Knattern schossen
Behelmte Feinde zu uns empor; doch es trotzten fest die Genossen
Wie Felsen im schlagenden Hagelsturm; verheerende Bomben schwangen sie
Und manchmal durch das Schlachtgetos' die Marseillaise sangen sie.
Ihr wollust-girrendes Mordlied pfiff eine Kugel an meinem Ohr;
Da bäumte sich meine Seele jäh, gleich wütiger Schlange, empor,
Den Sprengball zuckte die krallende Faust nach den feindlich stürmenden Massen
Und schmiß des Todes reißende Saat hinunter mit jauchzendem Hassen.
Und dumpf ...
[97]
Ein Rollen ... ein Peitschengeklatsch und

Getrappel ... goldflirrender Schein,

Und sieh! die Morgensonne stralt ins offene Fenster herein;
Im Bette lieg' ich; – es war ein Traum!
Nicht Kugeln, – die Schwalben girren
Und schießen um mein ländliches Dach, und droben im Mattblau schwirren
Lichtfrohe Lerchen. Durch thauige Flur trabt munter das Pferd mit dem Wagen;
Drauf sitzt der junge Bauer und schmaucht sein Pfeifchen mit Behagen.
Und fährt so sicher hinein in die Welt.
Ich aber, ich seufze und schwanke
Und bin auf bangem Lager hier ein zweifelnder Gedanke.
Noch hält der zornesglutende Traum mein Herz in banger Stockung,
Und schon umschmeichelt mich so süß des Lebens liebliche Lockung.
Da schwindelt mir; Verwirrung, Scham, sie überfluten heiß mich;
O ich vermessener, armer Thor! Was bin ich? Und was weiß ich?
Ich bin nur ein Halm im wogenden Feld und wähnte, ich sei das Feld;
Und ich wanke und schwanke in Lieb' und Haß, und mir däucht', ich bewege die Welt.
O ich Irrtum und schwächlicher Widerspruch! –
[98]
Und doch! Was hier erwacht
So grimm und kühn, ist Irrtum nicht, ist Zwietracht nicht, – ist Macht.
Ich bin die einige Macht, bin Lieb' und Haß miteinem Male,
So einig wie Kastanienfrucht und ihre Stachelschale.
Und die hassende Liebe, der liebende Haß, so in mir gährt und schafft,
Das ist der Menschheit Lebensdrang, ist dieweltbewegende Kraft.
Ich will! Und dieser Kraftstrom wird durch alle Zeiten wallen,
Wird Arme breiten sehnsuchtsvoll und Fäuste drohend ballen.
Ich will! Und wenn mein trotziger Mund auch längst im Tode schwieg,
Ich will! – Und ewig ist mein Kampf, und ewig ist mein Sieg.

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TextGrid Repository (2012). Wille, Bruno. Gedichte. Einsiedler und Genosse. Der Genosse. Im Kiefernforste. 6. Ich will!. 6. Ich will!. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A98D-3