[32] Der Genosse

[33] »Sieh, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen ...

Es wird eine Zeit sein, wo die Thränen abtrocknen von allen Angesichtern und die Schmach genommen ist von allen Völkern ...

Ihre Herren müssen heißen Herren ohne Land und all ihre Fürsten ein Ende haben; Dornen werden wachsen in ihren Palästen, Nesseln und Disteln in ihren Schlössern ... Und kein Geiziger wird Herr genannt werden ... Und kein Einwohner wird sagen: Ich bin schwach... Sie werden Häuser bauen und auchbewohnen, Weinberge pflanzen und deren Früchte auch essen; sie sollen nicht bauen, daß ein Anderer bewohne, und nicht pflanzen, daß ein Anderer esse; sie sollen nicht umsonst arbeiten... Wohlan alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser; und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und eßt; kommt her und kauft ohne Geld, umsonst beides, Wein und Milch ...

Und der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein, ihr Nutzen ewige Stille und Sicherheit, daß mein Volk in Häusern des Friedens wohnen kann, in sicheren Wohnungen und in stolzer Ruhe.«

Jesaias.

[34] Die kommende Sonne

»Mutter, gib mir die Sonne!«

Ibsen.


Es brennt in meinem Gehirn
Ein Traum mit gährender Glut,
Wie hinter Vesuvius' Felsenstirn
Der Erde fieberndes Feuerblut. –
Ich träume die kommende Sonne.
Und wie des Meeres Fluth empor
Zum lockenden Monde schwillt,
Wallt meine Seele schmachtend
Dem angebeteten Traumgebild
Entgegen – der kommenden Sonne.
In stummer Nacht, dem weichen Arm
Schläfernder Ruh entwunden,
Wälz ich mich mit heißem Sehnen,
Fülle mit Grübeln zögernde Stunden
Und harre der kommenden Sonne.
Vom Lager fahr' ich wild empor,
Wissende Bücher aufzuschlagen;
Ihr starren Züge, laßt mich lesen:
Wann wird umnachteten Völkern tagen
Die selig machende Sonne?
[35]
Es treibt mich auf die Gassen hinaus;
Da athmen die Gassen Moderluft;
Ein steinerner Sarg jedwedes Haus,
Die Stadt eine riesige Gruft. –
Erbarme dich, kommende Sonne!
Und schaudernd durch das Thor der Gruft
Flücht' ich hinaus auf offnes Feld,
Zu spähen, ob die finstre Luft
Ein Morgenschimmer nicht erhellt.
Ich ahne die kommende Sonne.
Und sieh, des Lichtes Halme schießen
Empor vom grauen Himmelsstrande,
Wie hinter schwarzem Schildesrande
Blutige Speere sprießen.
Das sind die Speere der Sonne!
Da weicht der Drache der Verwesung
Von seinem Nest, der Völkergruft;
Er faltet die zackigen Flügel
Und kriecht entsetzt in eine Schluft. –
Preis dir, siegende Sonne!
Nun taucht am froh erröthenden Himmel
Empor der rollende Feuerball.
Da zittert die Erde, da bersten
Die Riesensärge mit Donnerschall. –
Preis dir, erlösende Sonne!
[36]
Die toten Völker stehen auf
Und baden im goldig strömenden Licht;
Die Leiber blühen schön und stark,
Und geistig strahlt das Angesicht. –
Preis dir, erweckende Sonne!
Die Erde schimmert wie eine Braut
Im Schmuck der Blumen und Seen;
Hinter üppig grünenden Hainen
Marmorhäuser erstehen. –
Preis dir, verklärende Sonne!
Und aus den Thoren der Marmorstadt
Wallt des Volkes festliche Schaar,
Bringt Fahnen, selige Lieder,
Trunkene Blicke zum Opfer dar
Der entzückenden Göttin Sonne. – –
So brennt in meinem Gehirn
Der Traum mit gährender Glut,
Wie hinter Vesuvius' Felsenstirn
Der Erde fieberndes Feuerblut. –
Ich träume die kommende Sonne.

[37] Die leidende Stadt

»Eine der ersten Bedingungen zum Glücke ist ein Leben, in welchem die Beziehungen des Menschen zu der Natur aufrecht erhalten bleiben, d.i. ein Leben unter freiem Himmel, bei Sonnenlicht und frischer Luft, Gemeinschaft mit der Erde, mit Pflanzen und Tieren. – Betrachtet nun das Leben der Menschen, die nach der Lehre der Welt leben: Viele von ihnen erreichen das Greisenalter, ohne mehr als ein- oder zweimal im Leben den Sonnenaufgang und Morgen und ohne je die Wiesen und Wälder anders gesehen zu haben, als von der Kalesche oder vom Waggon aus, und nicht nur ohne je etwas gesät oder gepflanzt, oder eine Kuh, ein Pferd, ein Huhn aufgefüttert und aufgezogen, sondern auch ohne einen Begriff davon zu haben, wie die Tiere zur Welt kommen, wie sie aufwachsen und leben. Diese Menschen sehen nur Gewebe, Steine und Holz, das durch menschliche Mühe verarbeitet ist; sie hören nur Laute von Maschinen, Equipagen und Musikinstrumenten; sie riechen nur spirituöse Gerüche und Tabaksrauch; zu Händen und Füßen sind sie umringt von Gewebe, Stein und Holz ...«

Tolstoi.


Wolke – du weiße Taube im Blauen –
Willst du mich locken zu seligem Fluge
Über die jugendfröhlichen Wiesen,
Über der Wälder jubelnde Häupter,
Über den spiegelnden See? –
Ach ich kann nicht schwärmen wie eh'.
Über Wiesen, über Wälder
Seh ich finstre Schatten gleiten,
Trauerschatten ... mir wird so weh.
[38]
Wie ein Wandrer,
Der zur sterbenden Mutter eilt,
Vor Sorge nicht sieht die Gärten am Wege,
Und der Bäume, der alten Freunde,
Grüßendes Flüstern überhört:
So schwebt vom deutenden Hügel
Meine seufzende Seele
Achtlos über den Reiz der Flur
Zur fern gelagerten Stadt
Und umfängt die trübe Stadt
Mit leidender Liebe –
Wie der weinende Wandrer
Die kranke Mutter.
Leidende Liebe!
Kränze mein williges Haupt
Mit dornigen Träumen,
Laß mein durstendes Auge trinken
Meiner Geschwister Leiden! –
Mit Geliebten Leiden ist süß,
Und Vergessen ist Sünde.
Trübe Stadt, mürrische Schaar
Schwärzlicher Dächer in Dunst gehüllt,
Steinerne Nester brütender Uebel,
Feuchte Kerkermauern,
Bange Krankenkammern
Meiner bleichen Geschwister! ...
[39]
Dort am engen Giebelfenster
Trauert ein blasses Mädchengesicht
Gleich welkender Blume geneigt;
Durch die schmalen Finger
Schleicht der Faden schlangenhaft
Und heftet die matte Hand
An das peinliche Gewebe.
Finster wie ein Sklavenvogt
Schaut vom Hofe die Mauer zu.
Drunten im sonneschmachtenden Hofe
Sitzt auf kühlen Steinen ein Kind
Träumerischen Auges
Und spielt mit Hölzchen
Und pflanzt die Hölzchen in spärliche Erde
Und baut ein Gärtchen
Im sonneschmachtenden Hofe.
Heimlich aber schleicht das Siechthum
Und küßt des Kindes Wange.
Wo ist des Kindes Mutter?
Sie krümmt den schmerzenden Rücken
Am dunstigen Waschfaß,
Bis die barmherzige Nacht
Die müde Hand ergreift.
Der Vater aber steht
Auf staubiger Straße im Sonnenbrand
[40]
Und schwingt mit braunen Armen
Den eisenbereiften Stampfer
Zum Stoß auf ächzende Steine,
Um zu ersticken
Der Erde keimende Sehnsucht,
Halm und Blumen. –
Und Mutter Erde lockte so gern
Die Menschenkinder mit Halm und Blumen
Zu Kindesliebe und Kindesglück ...
O dornige Träume,
Schmiegt euch heiß und heißer
Um die Erlösung grübelnde Stirn.
Wilder lodre mein Sehnen,
Lauter rufe mein Flehen:
Erlösender Tag, erwache!
Früher hebt der erlösende Tag
Dann vom Schlaf sein muthiges Haupt;
Himmlisches Licht
Regnet auf die schmachtende Stadt
Die finstern Dächer vergoldend;
Wonnige Luft in Strömen
Bespült die dumpfigen Mauern
Und scheucht aus steinernen Nestern
Dunkle Wolken gespenstischer Vögel.
O selig,
Zu öffnen die Thore der Stadt,
[41]
Genesende Geschwister
Zu führen an den Händen
Zur mutterglücklichen Natur,
Die mit heißem Sonnenmunde
Die bleichen Kinder küßt!
Dann schwärmen wir
Hand in Hand,
Gelockt von fliegenden Wolken,
Den weißen Tauben im Blauen,
Über die jugendfröhlichen Wiesen,
Über der Wälder jauchzende Häupter,
Über den wonnespiegelnden See.

[42] Straße

»Das Licht in uns ist zur Finsternis geworden; und die Finsternis, in der wir leben, ist furchtbar geworden.«

Tolstoi.


An düster ragenden Häuserwällen
Durch flammenbesäte steinerne Schlucht
Branden die rasselnden Wagen, die Menschen –
Wie Wellen in klippiger Meeresbucht –
Der rote Vollmond taucht empor.
Die Menge wühlt und drängt und stößt;
Jedweden kümmert nur seine Not –
Wie auf dem Deck des lecken Schiffes,
Das in den Tod zu sinken droht –
Der rote Mond schaut düster drein.
Auf glattem Bürgersteige kauert –
Gleichwie am Felsenriff das Wrack –
Ein Mann mit vorgesunknem Kopfe,
Zur Seite einen Lumpensack –
Der Vollmond blickt mit düstrer Glut.
[43]
Die Leute auf dem Bürgersteige
Treiben vorbei und blicken kalt;
Die Pferdebahn beglotzt im Rollen
Mit grünem Auge die Gestalt –
Der rote Mond schaut düster drein.
Dort drüben lockt die blutige Flamme
Dem Schnapswirt manchen Gast ins Haus;
Und öffnet sich die dunstige Schenke,
Dringt Schelten und Gejohl heraus –
Der Vollmond blickt mit düstrer Glut.
Des Handelshauses Fensterreihe
Ist noch vom Gaslicht grell erhellt;
Papier und Pult und blasse Schreiber;
Der Chef durchzählt des Tages Geld –
Der Vollmond blickt mit düstrer Glut.
Nun heult vom Hofe die Maschine
Zur Vesper; da entläßt das Thor
Viel arbeitsmatte Blusenmänner;
Nur der Fabrikschlot stößt empor
Zum roten Monde schwarzen Rauch.
Ein würdiger Bürger kommt geschritten,
Den Lump am Steige trifft sein Blick;
Entrüstet mit dem Kopfe schüttelnd
Geht er zu Bier und Politik –
Und zornrot glüht der volle Mond.

[44] Gefallen

»So und soviel Prozent, sagt man, müssen jährlich zu Grunde gehen. – Wahrscheinlich gehen sie zum Teufel, damit die übrigen frisch und gesund bleiben können. – Prozent! Wahrlich, schöne Erklärungen hat man jetzt ... solche beruhigend wissenschaftlichen Worte! Man spricht von Prozenten und braucht sich nicht zu alteriren.«

Dostojewskij.


Umhaucht vom Silberdufte
Des üppig blühenden Mondes,
Erschauert leise des Parkes
Glänzendes Laubgesproß –
Wie träumende Seelenjugend
Im Kusse lichter Gedanken.
Über den Wipfeln fern das Nachtgewölk
Flammt bisweilen von Blitzen –
Dem dumpfen Schläfer gleich,
Den heiße Leidenschaft
Zuckend rührt.
Aus Büschen und frischen Halmen
Atmet der süße Mai;
In lauschiger Blättertiefe
Dichtet träumend die Nachtigall;
Und vom stolzen bleichen Hause
An des Parkes Saum
Aus erhellten Fenstern
Klingt Musik
Wie perlendes Glück.
[45]
Im Garten aber am Eisengitter
Steht ein schimmernder Blütenbusch
Traurig über die Stäbe geneigt;
Die weißen Blüten blicken
Wie bange Kinderaugen
Auf ein dunkles Menschenbild,
Das zu des Busches Füßen
Draußen am Gittersockel
Reglos kauert.
Durch bebende Zweige fällt
Zerrissenes Mondlicht
Und huscht mit Scheu
Über des kauernden Mannes
Wüsten Rock und wirres Haar.
Seufzend streift vorbei der Nachtwind,
Und der weiße Blütenbusch
Sinnt in träumender Trauer:
»Arme Menschenblüte,
Die du gefallen liegst,
Verloren für die Sonne,
Das Angesicht verwüstet,
Auf Stein und Staub!
Welch liebeloser Gärtner
Ließ so dich darben, dürsten,
Daß du verwelkt, gesunken,
Zertreten bist in Staub und Stein?«
So sinnt in träumender Trauer
Der weiße Blütenbusch ...
Am Himmel aber flammt es
[46]
Und rollt und grollt,
Als rüsteten sich ferne Wetter
Zu heißem Zorne.
Das zarte Mondlicht flüchtet
Hinter finster ragende Wolken,
Und die Nachtigall verstummt ...
Nur vom stolzen Hause
An des Parkes Saum
Aus erhellten Fenstern
Klingt Musik wie perlendes Glück.
Aus der Thür des Hauses tritt
Ein Herr in feiner Tracht,
Grüßt zurück
»Gute Nacht!«
Und kommt gegangen,
Leise trällernd.
Mit kaltem Blicke
Streift er die Gestalt am Gitter
Und geht, sein Liedchen pfeifend,
Grade zur Laterne
An der Straßenmündung.
Die Flamme der Laterne flackert;
Trüber Staub
Wogt vorbei;
Rauschend, schaudernd schwanken
Des Parkes dunkle Wipfel;
Der weiße Blütenbusch
Sträubt entsetzt die Zweige,
Ringt mühesam zu fliehen
Und duckt sich sausend, klagend:
[47]
»Nun packt der Sturm mein schwankes Holz
Und schüttelt mich mit grimmer Faust;
Das junge Laub, den zarten Zweig
Trifft prasselnder Hagel, derbes Eis,
Und schlägt die weißen Blüten nieder
Zur gefallenen Menschenblüte.«
Grell am Himmel zuckt ein Blitz
Und flammt durch alle Wolken
Und flammt hernieder blendend
Durch des dumpfen Schläfers
Geschlossne Augenlider
In einen wüsten Traum.
Und der Mann auf hartem Stein
Hebt verstört vom wüsten Traum
Sein wirres Haupt empor,
Richtet stöhnend schwer sich auf
Und blickt mit wilden Augen
Hinan zu flammenden Wolken
Und sieht statt flammender Wolken
Zornglühende Gesichter,
Geballte Riesenfäuste,
Hört es droben krachen
Gleich zersprengtem Erze
Und dröhnen dumpf wie stürzende Mauern
Und hört vom stolzen Hause
Aus erhellten Fenstern
Musik wie perlendes Glück
Durch das tobende Wetter höhnisch klingen.

[48] Vorstadtlerche

»Bist du in dunkler Nacht, wenn Alle du verlassen,

Geschritten schon durch einer Weltstadt wirre Gassen? ...

Du schreitest lässig heim. Scharf in die Stille fallen

Hörst du mit müdem Ohr der eig'nen Tritte Hallen

Und klar ihr Echo an den Wänden ...

Doch sieh die Häuser dort, wie sie im tiefen Schatten

Sich schweigend, drohend-ernst fest aneinander gatten –

So steht das Schlechte eng zusammen

Und birgt sich feig in dunklen dumpfen Ecken,

Um langsam immer weiter sich zu strecken,

Wenn rings erlöschen will der Wahrheit Flammen ...

Und wie ein Moderduft weht es um deine Stirn,

Und heißer jagt dein Blut durch dein ermattet Hirn,

In deinen Ohren tönt ein langgezogenes Hallen ...

Da packt ein Schauder dich, und du gehst schneller, schneller –

Und jagst dem Morgen zu, der stetig heitrer, heller

Die Angst von deinem Herzen lacht ... –

Bist du in dunkler Nacht, wenn Alle du verlassen,

Geschritten schon im Geist durch des Jahrhunderts Gassen?...«

(John Henry Mackay.)


Stumm lag die Straße unter schwarzem Laken;
Verschlafen blinzten der Laternen Flammen;
Die öden Pflastersteine schraken
Vor meinem Schritt zusammen.
Doch mir im Haupte brandete das Blut,
Und üppig blitzten die Gedanken –
Des Hochgespräches kühne Brut,
Bei dessen wild erhabener Glut
Ich mit den Freunden saß, in feierlicher Nacht ...
[49]
Und staunend schaut' ich die Gedankenpracht
Und fühlte staunend meines Herzens Weihe;
Und meine Seele wuchs zu hehren Sternen, –
Wie Rauchschwall wirbelnd sich gen Himmel breitet.
Und wie ich schlafen sah die dunkle Häuserreihe,
Bedünkt ich mich ein Heiland,
Der liebewach sein schlummernd Volk durchschreitet.
Doch als ich öffnete des Hauses Thor,
Da gähnte schwarz das Haus wie eine Gruft;
Und als die finstern Treppen ich empor
Getastet bis zum Stockwerk unterm Dach,
Da hauchte mir das enge Schlafgemach
Entgegen drückend schwüle Luft.
Beklommen streckt' ich mich zu Bett
Und suchte Schlaf. Doch heiß war meine Stirn,
Und rastlos grübelte das müde Hirn.
Dann aus der dunkeln Ecke kam geschlichen
Die Angst und kroch mit ekler Gier empor
Und drückte meine Brust und würgte mich;
Und meine Glieder waren totenstarr,
Und eine Stimme zischelte mir ins Ohr:
»Ohnmächtiger Narr!
Der du ein Held
Und Heiland dich bedünkt,
Da liegst du nun gefällt,
Von meiner Faust gefaßt,
Wie all dein kummerbleiches Volk,
Das hingestürzt von Tageslast
Rings unter dumpfen Dächern modert ...«
[50]
Und wie es zischelnd höhnte,
Und wie im Finstern drüben
Mein Doppelgänger wimmerte und stöhnte,
Da brach mein Herz, da sank mit hohlem Dröhnen
Mein Sarg in schwarze Erde;
Der Deckel preßte meine dumpfe Stirn,
Und die Gedanken starrten im Gehirn. – –
Was zwitschert heimlich in der Ferne
So süß und morgenfrisch?
Was spür' ich wie ein Liebchen schleichen
Vom Fenster durch das lauschig stille Zimmer?
Bist du es, Dämmerung? Ja! Du bist es, Liebchen!
Schon grüßen mich mit geisterhaftem Schimmer
Der Tisch, das Polster und die Uhr ... Ihr bleichen,
Vom Tod erstandnen Freunde! Ja, es tagt!
Wie wonnig meine nachtgequälten Augen
Des Lichtes zarte Rieselquelle saugen!
Und wie in lichtgetränkten Wolkenräumen
Die Lerche selig zwitschert! –
O laß mich lauschen, laß mich selig träumen,
Zärtlicher Vogel ...
Die bange Nacht
Verschlief dein Köpfchen, flügelgeborgen,
In dunkler Ackerfurche der Vorstadt.
Doch als mit hauchendem Kusse der Morgen
Dein Flaumkleid rührte, bist du erwacht
Und sehnsuchtsvoll auf schlafgestärkten Flügeln
Emporgeschwirrt zu frischen Morgenlüften,
Wo zwischen grauen Wolkenhügeln
[51]
Aus rotbesäumten Schlüften
Des Tages goldne Quelle bricht.
Und auf zum jugendlichen Licht
Mit nie versiegender Liebeslust
Jubelt die zärtliche Sängerbrust:
»Wie bist du süß! Wie bist du süß!«
O Lerchenlied,
So labefrisch und rein
Wie Blumenthau!
So funkelhell
Wie junger Sonnenschein,
Der über die entzückte Au
Rotglühend blitzt!
Aus glutverklärten Fenstern lauscht
Manch trostverschmachtet Ohr
Erquickt zu dir empor.
Und du
Schwebst mit der hilflos matten,
Wehmütig frohen Seele
Von bangen Straßenschatten –
Du lieber kleiner Heiland –
Empor, empor
Zu seligem Ruhe-Eiland.

[52] Die Wolkenstadt

»Und ich, Johannes, sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, ... aus dem Himmel herabfahren, zubereitet als eine geschmückte Braut ihre Manne.«

(Offenbarung Johannis.)


Über rußbestaubten Dächerwogen,
Straßendunst und dumpfem Werkgetose,
Über all dem bang beladnen Volke
Schwebt die Wolke
Blendend weiß, wie eine Riesenwasserrose
Über schwarzem Kolke.
Und hernieder blickt die Reine
In den düstern Hof, wo zwischen Mauern,
Ungeliebt vom Sonnenscheine,
Ein gebeugtes Weib die Jugend muß vertrauern
Bei der Nadel fieberhaftem Rasseln. –
Blasses Weib, erhebe dein Gesicht
Zu der Wolke hehrem Licht!
Und ihr Werkelmänner arbeitsheiß,
Laßt das Hämmern, laßt des Schwungrads Treiben,
Tretet an die trüben Werkstattscheiben,
[53]
Trocknet von der Stirn den Schweiß,
Andachtsvoll den Blick erhoben
Zu der weißen Wolke droben!
Alle, die durch graue Gassen
Grübelnd hasten und einander hassen
Um ein karges, hartes Brod,
Die um armen Leibes Not
In das Morgen schaun mit Bangen,
Die gebrochen und verlassen
Hüsteln mit gehöhlten Wangen,
Die den Tod verzweifelnd suchen,
Oder hinter Eisenstangen
Schmachtend fluchen, –
All die Fensteraugen jener langen
Häuserreihen sollen aufwärts schauen
Zur verklärten Wolke.
In dem matten, wasserblauen
Abendhimmel schwimmt das selige Eiland
Ruhevoll und glänzend weiß,
Wie auf Hochgebirgen keusches Eis.
Sanfte Thäler thun sich droben auf; ich schaue
Seidenzarte, schneeige Hyazinthenfelder,
Auf den Hügeln duftige Apfelblütenwälder
Und dazwischen, blitzend gleich dem Thaue,
Alabasterne Paläste.
Um Geblüm und Blütenäste
Hauchen Lüfte, frisch wie auf der Alpenaue,
Und da singt es wie von Kinderstimmen.
[54]
Doch wo weilen sie, die auf den Himmelsthronen
Rein und selig wohnen?
Dort an weißer Hügel Rändern
Stehen sie in schimmernden Gewändern,
Eng geschaart. Und sieh, die Einen
Hüllen ihr Gesicht und weinen,
Andre schauen starr und trauernd,
Oft zusammenschauernd,
Wie entsetzt, hernieder
Auf der Weltstadt wüste Riesenglieder,
Die in Staub und Sünde angstvoll keucht.
Und in liebendem Erbarmen
Möchten sie die Stadt umarmen:
»Arme trübe Schwester, hebe
Deinen Blick zu uns und schwebe
Sehnsuchtsvoll empor,
Wie ein frisch erblühter Silberfalter
Sonnetrunken aufwärts fliegt,
Während grau und leer sein alter
Puppenschrein im Staube liegt.«

[55] Auf Leben und Tod

Denn wenn den Schnee zum ersten Mal ein Blümlein sieht,

Dann wundert sich's, daß also weiß der Schnee,

Und Blümlein spricht: »Mich wird der Schnee doch nicht verletzen,

Mir weh thun nicht; – er ist so weiß!«

(Der Rhapsode der Dimbovitza.)


In üppigen Sonnenfluten
Badet sich der Park,
Der mit glänzendem Blättergewoge
Grausteinerne Häuserwälle bespült.
Aus schattiger Straßenmündung strömt,
Buntblitzenden Wellen gleich,
Blütenfarbig geputztes Volk:
Mädchen mit buntbebänderten Hüten,
Blühenden Augen, schimmernden Zähnen.
Das Plaudern plätschert
Der Ruhebank vorbei
Unter lila blühendem Flieder,
Wo ich sitze bei spielenden Kindern.
Im Strauche flötet die Nachtigall;
Fernes Konzert
Weht mit Düften süß heran
Und zittert in meiner Seele ...
[56]
Sanftes Mädchengesicht
Unter schüchternem Sommerhut,
Blaues Blütenauge,
Ich könnte dich lieben!
Doch zages Träumen hält mich fest,
Und dich entführt die Flut ...
Und wieder wehen mit Fliederduft
Accorde schmachtend, schwellend;
Und meine Seele zittert
Von süßem Sehnsuchtsschauer.
Sieh, das Weib
Im dunkeln Kleide,
Stolz,
Mit rundem Busen
Und schwarzer Augenglut!
Mein Herz entbrennt
Und pocht in wilder Sehnsucht.
Was brennst du so?
Ist das die Seele,
Die heiß umschlingend
Dein zehrend Schmachten stillt?
Soll ich ihr folgen, pochendes Herz? –
Ich wag' es nicht;
Mir wird so schwül und bang.
Denn vielleicht – was weiß ich! –
Blüht Gift im dunkeln Auge
[57]
Und verzehrt mir qualvoll
Wangen und Seele. –
So ist die Liebe!
Auf Leben und Tod!
Oder ist dies Strahlenauge
Mir Quelle ewiger Wonne? –
So geh zur Quelle, schmachtendes Herz!
Sonst verspült die Flut dein Glück! –
Ja, ich gehe!
Noch eine Sehnsuchtswelle,
Und hingerissen folg' ich,
Zu lieben auf Leben und Tod ...
Doch wehe! Mir schwindelt;
Ich wanke, zu stürzen
In glitzernde Wellen
Des Menschenstromes.
Halt dich fest, bethörte Seele!
Jedwede liebliche Welle
Ist Liebe auf Leben und Tod! –
Doch horch, die Nachtigall lockt so heiß,
Berauschend wehen Musik und Duft,
Und Menschenaugen blühen so schön ...
Wohlauf in den Strom der Seelen,
Zu lieben auf Leben und Tod!

[58] Geschieden

»Zwei einsame Menschen

Sie irren durchs Leben,

Sie irren und suchen

Und suchen und streben ...

Zwei einsame Menschen

Sie treffen zusammen,

In einander fluten

Ihre Seelen und Flammen ...

Doch ...

Sie müssen sich trennen ...

Und weiter sie schreiten,

Die Ketten klirren –

Zwei einsame Menschen

Sie suchen und irren.«

(John Henry Mackay.)


Sie ist gegangen ... horch,
Die Flurthür fällt ins Schloß!
O mein geschlagenes Herz!
Es fühlt ein wildes Stechen,
Zuckt wie ein röchelnd Lamm
Und möchte brechen.
Nun haucht mich kalt die Öde an;
Wie eine Sterbekammer ist die Stube,
Wenn der zugedeckte Sarg
Schwankend schied –
Gramverstummt, frostig, leer.
[59]
Ihr meine Augen, starrt nicht mehr
In dieses eisige Grauen,
Schließt euch fest wie Totenaugen!
Nach Innen will ich schauen:
Hier im Tiefgeheimen
Seh ich zärtliche Augen von Einst,
Sanfte Hände fassen mein Haupt,
Auf meinen Lippen glühendes Saugen ...
O bleibe, liebewarmer Mund!
So wird mein schmachtend Herz gesund, –
Wie flammenroter Mohn,
Aus thauiger Flur geraubt,
Vom Welken heimlich sich erholt
Am Kusse des Wassers im Glase
Und von der heimischen Wiese träumt ...
Träumen will auch ich,
Von meiner Wiese träumen –
Von dir, mein Lieb – –
Ein Stübchen mit lichten Gardinen,
Über die graue Straße hoch
Emporgehoben zum sonnigen Blau,
Wo weiße Wolken weiden
Und blitzende Tauben kreisen ...
Auf dem Sofa sitzen du und ich;
Vor uns auf dem Tische ruht die Zither,
Und mit schüchternen Fingern tippst du
Auf die Saiten.
Ich schaue den Fingerchen zu,
Damit sie nicht fehlen, und zähle den Takt.
[60]
Doch mich verwirrt dein Händchen –
Ich möchte das Händchen drücken
Und wag' es nicht.
Nur um die irren zu leiten,
Ergreif ich die Finger
Und drücke leise,
Wie zaghaft bittend.
Da werden die Finger so schwach,
Das Händchen liegt bebend in meiner Hand,
Dir glühen die Wangen, die Augenlider
Sinken schamhaft schmachtend nieder,
Der Busen wogt ... O seliges Flammen,
Da wir uns schmiegten wild zusammen,
Als müßten küssend wir verschmelzen. –
So lebten wir fortan
Im Stübchen, Frau und Mann,
Von Gardinen versteckt
Den neugierblickenden Fenstern
Der Häuser gegenüber.
Wenn ich in feierlicher Nacht
Von Hochgesprächen mit den Freunden
Heimkehrte wie berauscht
Und klopfenden Herzens sacht
Betrat das dunkle Stübchen,
Dann grüßt vom Lager mein Liebchen,
Liebewach, im Dunkeln lächelnd;
Und zärtlich knie' ich nieder,
[61]
Und weich und warm
Schlingt sich um meinen Hals dein Arm;
Wir kosen und küssen ... gute Nacht!
Dann such' ich friedevoll mein Bett
Und liege stumm im Dunkeln ...
Doch die Gedanken schwärmen
Ameisenhaft im Haupte;
Und drüben hör' ich Liebchen
Sehnlich atmen.
Da wallt mein Blut so heiß ...
O komm, mein Lieb, o komm
Und sei die wilde Flamme,
Die den Seligen verzehrt
Und erst erlischt,
Wenn draußen über Dächerwogen
Im Morgengrau die Vorstadtlerche zwitschert ...
Vorbei! Zerrissen, zerstoben
Wie zarter Morgentraum!
Kalt blickt die Welt
In meine thränenden Augen;
Und meine Thränen wandeln nicht die Welt. –
O warum
Kann Liebe nicht leben
Wie auf der Flur ein Vogelpaar?
Die treue Flur
Gibt Halme zum Nest und Körnchen.
[62]
Doch zwei Menschenherzen
In steinerner Stadt
Brauchen Stube und Kleider und Brod;
Und die Stadt ist so grausam hart ...
Weinendes Lieb,
Geh von deinem armen Schatz,
Der dich nicht kleiden und speisen kann;
Weinendes Lieb, fahr wohl! –
So bist du fortgegangen ...
Ich und die Stube wir sind allein,
Blicken uns an so leer,
Beide vor Gram ganz stumm ...
Welch garstiges Gesumm,
Bösartig dumpfes Rollen
Tönt drunten von der grauen Gasse!
Höhnst du, steinerne Stadt? –
Wie ich dich hasse,
Grausame Gasse,
Brandende Menschenmasse!

[63] Liebchen Gold

»Möchte doch lieber Zigeuner sein,

Als Mammonbeschnüffler im güldenen Schrein.«

(Detlev von Liliencron.)


In kalter Kammer, matt erhellt,
Auf elend knochigem Polster lieg ich,
Die Füße frostig, den Magen vergällt,
Und starre zur mürrischen Decke empor ...
Geld!
Rundes blondes Liebchen Gold,
Sei dem Schmachtenden hold!
Laß dein Stimmchen mir erklingen
Süß und fein
Wie Kristallglas,
Gefüllt mit gelbem Wein!
Deinen schlangenglatten kühlen Leib
Möcht ich streicheln;
Das soll der fieberigen Seele
Wie Quellenkühlung schmeicheln.
Ginge doch die grämliche Thüre auf,
Und mein Goldchen wäre da,
Und Goldchen sagte: »Ja,
Dein bin ich, dein!
Und heute soll die Hochzeit sein.«
[64]
Wie wollt ich springen kummerfrei!
Freunde, Freunde, hurtig herbei!
Wein her, köstliche Schüsseln her!
Laßt uns schlürfen mit Lippen und Augen,
Wonnevoll, wie durstige Wurzeln
Üppige Regenfluten saugen!
Laßt uns taumeln die Nacht entlang
Mit Gesang und Gläserklang:
»Liebchen Gold soll leben!«
Erwach' ich dann im Bette,
Und hellt ein Schimmer
Den rauschgetrübten Kopf, –
Wo bleibt Frau Sorge,
Die gestern noch im Junggesellenzimmer
Hüstelnd schlich?
Ausgehüstelt hat Fau Sorge!
Liebchen Gold
Ist mir hold!
Auf, glückseliges Gemüt!
Neue Freuden sind erblüht.
Auf zur Hochzeitsreise! –
Am Wagenfenster vorbei
Kommen Felder geflogen,
Fächerhaft ausgespreizt,
Wiesen und Hecken und Dörfer;
Blaudämmernde Hügel wogen;
Wald und Fluß rauscht vorbei.
[65]
Mit uns eilt die stralende Sonne
Und des Himmels blauende Wonne.
Da ... in Bergesschacht
Rollen wir dumpf donnernd;
Der Tag erlischt; lang herrscht die Nacht;
Und Haupt und Augenlider
Sinken schläfrig nieder ...
Neu zum Licht erwacht,
Schau' ich staunend ein Alpenthal,
Felsen und Tannen;
Droben glüht ein Schneeberg-Greis
Im Abendstral
Trunken vor Lust;
Schäumend stürzt der Gießbach
Von seiner Felsenbrust.
Hier will ich atmen, trinken
Rauhe Lust,
Bis der Schnee
Stürmisch wirbelnd flockt,
Und mich weiche Sehnsucht
Nach Italien lockt;
Finsternis und Frost, ade! ...
O weh!
In kalter trüber Kammer,
Auf elend knochigem Polster ...
Rauchige Decke, grämliche Thüre...
Verhauchter Traum, ade!
[66]
Grausam sprödes Lieb!
Ich härme meine Wangen hohl,
Zergrüble mir
Die Stirne weh nach dir;
Möchte gehn zu Waldesgründen
Und die Wünschelrute finden;
Die soll erspüren
Gitter und Mauern,
Wo Goldchen sich verbirgt;
Da will ich nächtlich lauern,
Liebchen zu entführen.
Doch sieh! Bei Liebchens Gitterfenster
Steht schon ein Mensch und harrt.
Das ist – ich bin erstaunt, erstarrt –
Mein Freund! Du hier?
Vor meines Liebchens Thür? –
Da droht sein Aug' und rollt:
»O nein! Mein ist das Gold!«
Und blitzt wie Messerstich nach mir ...
Ach! Freundesmord! –
Und schmerzgeschnitten wank' ich fort.
Ich blute ... Tückische Dirne Gold!
Du aber wirst mit Gier genossen
Vom grauen Geizhals droben hinterm Gitter;
Und morgen fährst du in Karossen
Mit Gecken und Schurken, stellst dich feil
Im Börsensaale, wo Gefeilsche gellt,
[67]
Machst tausend Händlergesichter geil...
Metze der Welt! –
Elend will ich auf dem hagern
Polster lagern
Im kalten Dunkelkämmerlein;
Träumen von einer Blume,
Weiß und rein ...

[68] Im Angesicht des Berges

»Wehe euch... ihr Heuchler, die ihr gleich seid den übertünchten Gräbern, welche auswendig hübsch erscheinen, inwendig aber voller Totenbein und Unflat sind!«

(Jesus.)


Ich blicke schweigend auf das weiße Tuch
Und tippe sinnend mit dem Tafelmesser;
Weingläser klirren, eine Dame lacht,
Die beiden Diplomaten reden wichtig,
Und Seidenroben duften nach Parfüm.
Doch über die Terrasse weht ein Hauch
Aus waldiger Bergesschlucht so kühl und rein;
Tief atmend schlage ich die Augen auf.
Da übergipfelt sich der krause Wald
Den Berg hinan, da lagern grüne Matten
An Felsgehängen, und mit schroffem Stolz
Erhebt der Riese himmelan sein Haupt.
»Entzückend!« lispelt meine Tafeldame,
Die Gouvernante.
[69]
«Ceterum censeo,
Ich muß es stets betonen, Herr Minister,
Erhöhen wir den Schutzzoll! Unser Staat,
Verlassen Sie Sich drauf, wird ausgesogen.
Das einzige Rettungsmittel ist mein Antrag.«
Wie offen blickt das Deputirtenauge –
Nur blitzt es heimlich drin: »Wenn es gelingt,
O köstlicher Profit!«
Ein Vogel kreischt und schlägt mit starkem Fittig
Und wiegt sich spähend über Wald und Schlucht;
Dumpf tost der Gießbach zwischen Felsgeblöck,
Und eine Wolke schattet.
Geil grinsend drückt die alte Excellenz
Die Patschhand seiner Dame an den Weißbart.
Die Gnädige lächelt wie ein Kind – und denkt:
»Hat erst mein Mann die Stelle in der Tasche,
Dann, Herr Protektor ... warte, alter Ekel!«
»Entzückend!« lispelt meine Tafeldame
Durch ihre falschen Zähne; »o Natur!«
Und blickt hinan zum Angesicht des Berges, –
Das sich verfinstert und in Wolken hüllt.
Nur auf der Matte ruht noch goldnes Licht;
Das lächelt mich wehmütig an. Ich schlage
Die Augen nieder auf das weiße Tuch
Und tippe sinnend mit dem Tafelmesser.

[70] Die Vogelscheuche

»Doch das tote Haupt,

Blut- und feuerbedeckt,

Wild und drohend dort am Zweig

Richtend aufgesteckt, –

Lautlos gellt sein Schrei

In die heiße Welt des Lichts:

Nichts von dem war mein,

›Nichts und ewig Nichts!

Sah die Sonne nur

Kochend in heißem Hof,

Wenn von schwülem Dunst

Wie von Gift sie troff.

Hier in Lumpen häng' ich,

Und ich klage – klage – klage

Über meines Lebens

Leer und stumpf verbrachte Tage ...‹

Bleicher Kläger du,

Toter Richter dort,

Auf mein Haupt die Schuld,

Schuld an diesem Mord!

O, auf unser aller Haupt

Fällt dies Menschenblut,

Und auf unsrer Seele brennt

Deine Todesglut.

Düster gellt dein Fluch,

Deines Mundes Klage,

Mitten in unsres Lebens

Goldne Maientage ...«

(Julius Hart.)


Der Lenzwind stürmt dem Gutshof zu
Durch Zeilen schwanker Pappeln
[71]
Und läßt auf braunem Ackerland
Die Vogelscheuche zappeln.
Am Pappelwege sitzt ein Strolch;
Der knotet an einem Strick
Und legt die Schlinge zur Probe
Zerrend um sein Genick.
»Die hält! Ach wohl, nun kannst du gehn
Aus dieser verdammten Welt.
Nur schade, daß hier unterm Gurt
Noch immer der Hunger bellt!
O Schande, mit Bauchweh zu verrecken!
Giebt Keiner den letzten Happen? – –
Vielleicht ist drüben im Hofe
Bei den Knechten was zu erschnappen.« –
Und müde humpelt die hungerfahle
Dürre Lumpengestalt zum Gutshof,
Drängt das Thor behutsam auf,
Spähend vorgestreckt den Kopf ...
Verdammt! Da steht der Gutsherr,
Reitstieflig, zornrot das feiste Gesicht;
Er pfeift dem Hunde gellend;
Schon rennt das Vieh, die Zähne gefletscht ...
Hastig zugeschlagen das Thor!
Fort! mit schlotternden Knieen ...
Fern hält der Arme zitternd, keuchend,
Und schüttelt die Händeknochen:
»Warte nur! Was ein Sterbender flucht,
Ist nicht in den Wind gesprochen.
[72]
Ihr Reichen rafft uns alles weg
Und freßt es in den Magen,
Und wollt uns selbst den Abfall
Nicht gönnen zum Benagen?«
Wutglotzend, knirschend hastet er
Auf braunes Ackerland
Zur Vogelscheuche und zerreißt
Ihr zundriges Gewand;
Dem Holzgerippe zieht er an
Den eignen Lumpenrock
Und seinen schäbigen Filzhut
Stülpt er über den Stock;
Und schaut sein Werk mit Grinsen an:
»Du dürres Lappenluder,
Du gleichst fürwahr mir bis aufs Haar
Als wie ein Zwilligsbruder.
Das bin ich selbst! Nun kann ich
Dem reichen Hunde trotzen
Und, wenn mein Leib als Aas verwes't,
Die Satten frech beglotzen.« –
Am Weg ein greiser Pappelbaum
Mit niedrigem Geäst,
Der hilft dem Strolch zu sich herauf
Und hält die Schlinge fest:
»Hinein den Hals, du Menschenkind!
Ich will dich treulich henken.
Spring ab! Nun mag der tolle Wind
Die zuckende Leiche schwenken.« – – –
[73]
Doch drüben auf dem Ackerland
Da flattert des Toten Rock,
Schüttelt die schlaffen Arme grimm
Und zerrt an seinem Stock;
Er möchte würgelustig
Zum Hals des Feindes zappeln ...
Der Lenzwind aber wächst und heult
Bedrohlich in den Pappeln.

[74] Aufruhr

»Und hörst du ein Brausen nicht, grollend und hohl?

Horch, das ist das Echo von künftigen Tagen;

Es kommt, uns die Kunde der Zukunft zu sagen ...«

(John Henry Mackay.)


An meinem Lager hält die Nacht
Schweigend ihre Leichenwacht.
Nur draußen über Häuserdächer streift
Ein ruheloser Luftgeist, –
Wie Trauergewandung
Über Sargesdeckel schleift.
Unter den Dächern
Modert es zahllos
Wie unter herbstlichen Bäumen
Gestorbenes Laub ...
Die Völker sind tot!
Wohl sickert warmes Blut
Durch ihre Adern,
Wohl heben sie im Morgengrau
Augenlider und Häupter:
Doch mürrisch wie Gefangne;
Und mürrisch strömt es durch die Straße
[75]
Zu kerkerhaften Mauern,
Wo Menschenleiber sich wandeln
Zu Räderwerk und Balken,
Zu stumpfen Riesenmaschinen,
Die stampfen und schaffen und stampfen,
Bis draußen der sonnige Tag
Wehmütigen Blicks zur Neige geht.
Und wieder auf die Straße strömt es,
Aufthun sich die dumpfigen Häusersärge,
Die Völker strecken sich nieder
Und liegen tot.
Nur heimlich in den Häupten
Keimen Träume, –
Wie krankhaft bleiche Keime
An Wurzelknollen, die im Keller lagern,
Sehnlich tasten
Nach warmem Sonnenbade. –
An meinem Lager hält die Nacht
Finster ihre Leichenwacht.
Doch draußen über die Dächer
Geht ein Seufzen;
Das wird zum Stöhnen,
Zu murrender Klage;
Zornig stößt ein Wind das Haus,
Ein andrer Wind heult auf,
Und heran stürmt es
Bedrohlich brausend,
Wie tobende Aufruhrrotten.
[76]
Thüre schlottert, Fenster rasselt,
Luke klappt, Dachsparren knarren,
Losgelöste Ziegel scharren
Übers Dach und krachen auf das Pflaster.
Aus schnarchendem Schlaf in Federn
Schrickt der Bürger empor
Und horcht,
Wie's im Kamine schaurig heult
Und durch den Thürspalt zischt:
»Herbei, und schlüpft in die Kammer!
Blaset den Narren, blaset!«
Und wie am Kirchthurm droben
Die Wetterfahne ängstlich kreischt, –
Bis ein wuchtiger Windstoß
Von verbogener Stange
Die Rostige abbricht;
Sie schollert übers Kirchendach
Und prasselt auf das Pflaster
Dem Pfarrer vor das Fenster.
Der Straßenwächter fährt zusammen,
Entweicht zur nahen Hausthür
Und schmiegt sich fröstelnd in die Nische.
Drüben an der Anschlagsäule
Zerren spöttische Geister
Am Papierbefehle
Der hohen Obrigkeit
Und wirbeln den Fetzen mit Straßenspreu.
[77]
Hinter der Mauer im Hofe
Hebt der einsame Baum
Zu den Lüften flehende Arme
Und stöhnt und wimmert:
»Nehmt mich mit!
Reißt mich aus!
Fort aus steinerner Wüste,
Aus dumpfigen Kerkermauern
Hinaus ins himmlische Freie
Zu sonnefrohen Geschwistern!

[78] Sonnentod

»Morgen fallen die Blätter, und ich

Denke kommender Ernten Gold;

Und so herrlich wird sein kommender Ernten Gold,

Daß wir nimmer gedenken fallender Blätter.«

»Wenn alle Blätter gefallen sind,

Dann bleiben am Baum noch zwei oder drei,

Und diese Blätter denken den ganzen Winter dran,

Daß sie den Kummer haben sollen,

Unterm Frühlingshimmel zu fallen.«


(Der Rhapsode der Dimbovitza.)

Fern in Winterdunst versunken
Liegt die graue Stadt. –
Auf bereifter Wiese
Träumt ein Frühgeborener
Von einer Stadt des Lichtes. – – –
In frostigen Dünsten, die zum Himmel qualmen,
Verblutet die Sonne.
Ein weißes Birkenkind mit bebenden Reisern
Starrt bang in die Blutung:
O stirb nicht, Mütterchen Sonne!
[79]
Im zarten Gezweige hängt
Rotkehlchen mit blutiger Brust,
Das Gefieder schaudernd gesträubt:
Die Sonne stirbt, –
Wie Blätter und Mücken starben!
Ein karges Weilchen am Nachmittag
Erhob sie sich und schaute matt
Und schräge über die Wiese;
Dann ward sie ein verweintes Auge,
Und nun ein Tropfen Blut ...
Sie stirbt, – wie jüngst die Blätter starben.
Lebwohl, lebwohl!
Deine Kinder behalten dich lieb.
Sieh, drüben das Häuschen,
Das oft du belächelt,
Grüßt dich wehmütig
Mit glühender Fensterscheibe ...
Und dicker qualmen die frostigen Dünste.
Anfangs müssen sie leuchten wie Nordlicht;
Doch ihr rauchiger Schleier siegt,
Und düster blutend,
Gleich verglühender Kohle,
Erstickt im Qualme die Sonne.
Russige Wolken ragen empor,
Die auf riesigen Rumpfen
Unendliche Flockenlasten zusammentragen,
Die Welt zu verschütten.
[80]
Dämmrung stürzt lawinengleich
Von Wolkengebirgen;
Aus Wolkenklüften haucht der Frost
Schneidend über frierende Gräser.
Krächzend und flügelklatschend
Hastet die Krähe hinweg;
Rotkehlchen ist fort, wie sturmverweht;
Die verwaiste Birke erschauert,
An den Wimpern erfrorene Thränen ...
Die Sonne ist tot! – – –
In Finsternis versunken liegt die ferne Stadt.
Auf erfrorener Wiese
Träumt ein Frühgeborener
Von einer Stadt des Lichtes.

[81] Im Feuernest des Herdes

»Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir weise werden!«
(Moses.)

»Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde ...

Darum fürchten wir uns nicht, wenn gleich die Welt unterginge, und die Berge mitten ins Meer sänken.«

(Psalmist.)


Im Feuernest des Herdes ruht
Verloren mein düstres Auge;
Und grübelnd starrt die Glut
Zurück mit rotem Auge. –
Glut, was starrst du?
Draußen an der Mauer rüttelt
Der Sturm mit drohendem Gebraus;
An morschen Gliedern
Zittert das Haus, –
Wie ein zagender Greis.
Ein Bangen kommt geschlichen
Und flüstert in mein Ohr;
Und zur Decke huscht
Scheu mein Blick empor:
Wenn die Decke birst, –!
[82]
Da raunt es und zischelt:
»Ja, ducke dich nur
Und drehe die Augen nach oben!
Sieh die Faust der Vernichtung erhoben!
Horch, wie die Balken stöhnen!
Sie ahnen, daß dies Haus
Einst im Sturze dröhnen
Wird wie ein gefällter Riese.
Wenn dann der aufgewirbelte Staub
Sich senkt auf wüste Trümmer,
Kommt das Unkraut
Mit tastender Wurzel
Geschlichen und wühlt sich
In morsches Gestein;
Halb vergraben aber im Schutt,
Lugt zum mürrischen Himmel empor
Mit leeren Augenhöhlen
Ein bleicher Schädel –
Dein bleicher Schädel!
Dein kostbar Haupt!« – –
Mein Haupt! –
Was ich bedient mit täglicher Plage,
Wie eine Mutter ihr einziges Kind,
Was ich beim Rascheln der Gefahr
Geschirmt mit zuckendem Arm –
Das liegt nun hoffnungslos verworfen
Zwischen Schutt und hämischem Unkraut,
Wie ein zertrümmertes Thongefäß! ...
[83]
Im Feuernest des Herdes ruht
Verloren mein angstvoll Auge;
Und grübelnd starrt die Glut
Zurück mit rotem Auge.
Glut, was starrst du? –
Da sprüht es in dem roten Auge
Begeistert auf;
Heiliges Feuer wallt empor
Und stürzt auf meine Seele
Wie einer Sturmflut Woge;
Und die Flammen singen summend
Wie Orgelton, wie Sturmesbrausen:
»Gieb es auf, dein nichtig Haupt!
Dann magst du es getrost verlieren.
Sei gleich uns, verbrenne dich!
Viele tasten im Dunkeln und frieren.
Sieh die fromme Flammenrose
Blätterüppig blühen,
Licht und Wärme, Liebesgaben,
Ihrem Kelch entsprühen! –
Selig, wer aus enger Hülle
Freudig sich erhebt,
Zu erhabenen Himmelsweiten
Selbstverloren schwebt!
Wie ein stiebend Aschenstäubchen
Flieht die Todesnot ...
Überselig ist die Liebe,
Ist der Opfertod!«

[84] Im Kiefernforste

»Ein Fremdling trat in meine Wohnung.

Ich reichte ihm die Hand;

Er setzte sich an meinen Herd und hielt

Die Stirne in den Händen

Und frug: ›Hast du der Ochsen viel?‹

Und seine Füße waren voll von Staub. –

Ich habe nicht gefragt: Von welchem Dorf bist du?

Er hatte seinen Sack zu mir dahingesetzt,

Und dieser Sack enthielt blos einen Stein.«

(Der Rhapsode der Dimbovitza.)

»Es zehrt
An aller Mark der Sünde fressend Feuer;
Ein jeder ist verschuldet jeder That,
Und jeder trägt auf seiner Seele ungeheuer,
Was jeder je an Schuld und Frevel that.
Ihr stoßt den Einen tief hinab in Nacht,
Den Andern hebet ihr empor zum Licht, –
Lehrt ihr die Blinden, was sie sehend macht?
Und trocknet ihr der Weinenden Gesicht?«
Julius Hart.

1. Versammlung

Wie ruhevoll ist eure Versammlung
Braunhalsige Kiefern mit dunkelbuschigem Haar!
Ihr schweiget, weil euch wohl ist
In träumerischem Frieden.
[85]
Erquickend kraftvoll duften eure Nadeln,
Dazu der violette Thymian,
Die struppigen Wachholderbüsche,
Die knabengleich bei Hochgewachsenen stehen.
Es ist so still, ich höre meinen Atem;
Ein kleiner Vogel nur schlüpft ziepend im Geäst,
Auf zarter Birke zirpt die Grille leise,
Und wenn der Wind sich sanft erhebt,
Durchwallt ein hauchend Sausen die Versammlung,
Und alle Kiefernhäupter nicken,
In würdevoller Eintracht sinnend. –
Ich weiß mir einen andern Wald;
Der wogt im mächtigen Saal; die Wipfel
Sind finstre Proletarierköpfe.
Die Leuchter an der Decke flammen trübe,
Von rauchig schwülem Dunste halb erstickt.
Nun schrillt die Glocke, stumm wird das Gebrause, –
Wie wenn ein Wald vor dem Gewitter schweigt!
Der Führer steht erhöht; wie schwarze Wolken
Ballt er Gedanken heiligen Zorns zusammen;
Und Spannung hält gefesselt die Gesichter,
Und Blitz auf Blitz durchzuckt die Männerherzen, –
Bis gleich dem Hagel wilder Beifall prasselt,
Und Rufen tönt und donnergleiches Grollen ...
O Sonne hinter den Kiefern,
Rotglühende Abendsonne!
Wie schwimmst du mit Entzücken
Im angestralten Himmelsteiche!
[86]
Du bist entzückt, weil du so schön
Den Himmel und das Land bestralst.
In tiefen, trunkenen Zügen
Und leise schwellend, saugst du
Den goldigroten Atem ein
Und hauchst ihn liebend
In langen Strahlen durch der Kiefern Gassen.
Da duften, überstäubt von Glanz, inbrünstig
Strohblume, Haidekraut und Thymian;
Voll Ehrfurcht steht der struppige Wachholder,
Die hochgewachsenen Kiefernstämme gleißen
Wie glühende Stangen, ihre Häupter starren
Andächtiglich mit staunendem Sausen
Hinein in des hehren Weltenfeuers
Blendend großen Tropfen...
O Sonne, brich mit deiner Glut
Auch in den andern Wald,
Wirf deine Strahlen in Gesicht und Augen
Verhärmter Menschen,
Entzückend und erlösend!
Bald, o Sonne, bald!

[87] 2. Arme Leute

Bei düstern Haidekiefern
Stehn spärlich magre Ähren,
An dürrem Sande saugend,
Verzweifelnd, sich zu nähren.
Da kauert ein lehmig Häuschen
Mit Düngerhaufen und Karren;
Kläglich meckert die Ziege,
Und struppige Hühnchen scharren.
Aus der Thüre humpelt ein krummer
Kleinbauer, emporzuspähen
Zur bleiern schleichenden Wolke,
Zu hungrig krächzenden Krähen.
Nur karge Mitleidszähren
Vermag die Wolke zu schenken;
Dann schleicht sie trübe weiter,
Ohne Kraft zu tränken. –
Selber arm und traurig,
Folg ich der weinenden Wolke
Und denk an arme Leute
Und leide mit meinem Volke.

[88] 3. »Verurtheilt zu lebenslänglichem Galgen«

Ich habe geträumt! – Noch pocht mein Herz
Von Gram und Grimm empört,
Und Thränen der Ohnmacht netzen mein Kissen.
Ich ward mishandelt unerhört! ...
Doch ruhig! Still! Es war ein Traum!
Wie dumpf die Stube! Der Mond scheint hell
Wie bläulich brennender Schwefel
Und tüncht an die kalkige Wand
Mein bäuerlich Fenster grell;
Im morschen Holzgetäfel
Pickt ein Wurm oder nagt ein Mäuschen;
Draußen pfaucht ein Käuzchen
Gedämpft im Kiefernforst ...
Was hab ich nur geträumt? –
Ich ward geknebelt von viehischen Schergen,
Vor raubtieräugige Richter geschleppt;
Die schrieen funkelnden Auges: »Schuldig!«
Eine Menschenmenge brüllte: »Schuldig!«;
Es war eine ganze Welt.
Doch mein Herz schluchzte: »Nein!
Ich bin rein, wie Jesus rein!«
Und eine starke Stimme sprach:
»Verurtheilt zu lebenslänglichem Galgen!«
Und die Menge johlte: »Zu lebenslänglichem Galgen!«
[89]
Nun packten mich die Henkersknechte
Und schleiften mich zum Galgen;
Ich ward mit der Schlinge gewürgt;
Doch ohne zu sterben!
Und täglich sollt ich so
Den Galgen leiden, ohne zu sterben,
Im Herzen die Stimme der Unschuld. –
Sei ruhig, Herz, und poche nicht!
Zerblasen ist alle Gefahr;
Es war ein Schaum, ein Gaukeltraum! –
Ach wohl, es war Gedankenschaum,
Und doch – so bitterlich wahr!
Die Schergen, die Richter, die Henker, den Galgen,
Ich kenne sie insgesammt,
Kenne die Welt, die mich verdammt
Zum Galgen Zeit des Lebens.
Wie heißt der Galgen? Mangel, Not,
Sorge um Stube, Kleider und Brod,
Knechtung, Schmähung reinsten Strebens!
Verfluchte Welt, die mich umfängt,
Tagtäglich an den Galgen hängt,
Verfluchte Welt! ...
Auf! Hinaus! Ich halt es nicht aus
Auf dem Lager in dumpfiger Kammer,
In traumdurchdünsteter Folterkammer.
Hinaus in die nächtliche Landschaft! ...
[90]
Hu, wie glutig
Der Mond in zackiger Wolke rollt!
Gleich der Augenkugel blutig
Von feuerschwangrem Drachen
Mit aufgerissenem Rachen!
Das Auge blinzelt, scheint zu brechen,
Zwinkert dann mit tückischem Stechen,
Rollt wieder auf und glotzt mich drohend an.
Drache, nun erkenn' ich dich!
Du bist der Fürst der verhaßten Welt,
Die mich am Galgenstricke hält;
Und während Kröten und Unken
Heulten und schnurrten in Moor und Gaasen,
Hat dein zorngeblähter Bauch
Schwüler Träume giftigen Hauch
Mir ins Fenster geblasen ...
Ha, was seh ich!
Du hast dein Auge verloren,
Zackiger Drachenleib,
Und bist geschwärzt vom Tod!
Da liegt die Augenkugel triefend rot
Auf düsterm Kiefernforste,
Dem rauchige Brunst entloht –
Ein glühendes Ei im brennenden Neste!
Ja brenne nur, unholde Veste
Der alten Welt, sammt Galgen und Henkern!
Mit Flüchen will ich deine Funken
Schüren, bis du in Asche gesunken. – – –
[91]
Nun allen Sorgen fern,
Wend ich mich um –
Zum Morgenstern,
Der leuchtend groß wie eine weiße Wasserrose,
Verzückt wie ein Prophet,
Am milchigen Himmel steht.
Wölkchen schwimmen goldfischgleich;
Das graue Korn erschauert;
Freudig blitzt es auf im windgekräuselten Teich;
Erwachte Wasserspatzen
Zwitschern froh und schwatzen
Im frisch durchhauchten, wogenden Rohr;
Und aus thauversilberten Halmen
Steigt die Lerche, das Auge im Glanz, empor
Mit seligem Tirili.

[92] 4. Die Sonnenblume

Auf sandiger Haide am Kiefernforst
Kauert ein Häuschen gedrückt
An Fenster, Dach und Lehmgewand
Verwahrlost und zerstückt.
Des bretternen Stalles Thüre klafft, –
Verkauft sind Schaafe und Ziegen;
Im Dünger ein letztes Hühnchen scharrt,
Und mürrisch brummen die Fliegen;
Und in der Stube, da quarrt das Kind,
Das Weib, das zornige, schilt,
Des Häuslers Stimme, trunken und rauh,
Lästert dazwischen wild ...
Am Fenster die schlanke Sonnenblume
Erbebt in geheimem Leid;
Aus Schutt und Unkraut strebt sie scheu
Und starrt in die Ferne weit.
Dort hinter vergilbtem Kartoffelkraut
Und blondem Stoppelhaar
Erglänzt der Himmel so goldig zart,
Wie Gesang so wunderklar.
[93]
Im Dufte dort mit schmetternder Glut
Verblüht die Abendsonne; –
O schmachtende Seele, starre hinein
Und trinke dir einzige Wonne! –
Und die Blume – am taumelnden Sonnenball
Hängt schwärmerisch starr ihr Angesicht,
Ihr gelbumlodertes frommes Gesicht,
Versunken im Licht, ertrunken im Licht.
Die breiten graugrünen Blätter spreitet
Sie sehnlich in zitternder Scheidetrauer,
Und hinter der sinkenden Sonne gleitet
Ihr Sinnen hinunter mit Andachtsschauer.

[94] 5. Der Mohnkopf

Im herben Wind, am Dornenzaun,
Bei toten, raschelnden Ranken,
Verödet muß dies Greisenhaupt
Die trüben Tage durchwanken.
Und aschendürr und aschenfahl,
Von Gram gebeugt, hinab
Zur wüsten Erde starren:
Du meiner Hoffnung Grab! –
Ach wohl, im Sommer! – als flammend heiß
Im Blauen die Sonne stand,
Da war von üppigen Träumen
Mein jugendlich Haupt entbrannt.
Ich loderte glutig und dünkte mich selbst
Solch herrlicher Flammenbronnen
Und wollte im Herbste Garten und Flur
Besäen mit roten Sonnen.
Doch als er kam, der Herbst – da ward
Ich zage wie welkendes Laub,
Und als ich neigte mein Haupt zur Saat,
Da war manch Körnlein taub.
[95]
Und etliches fiel auf dürres Gestein,
Der Vogel hat es gepickt,
Und etliches wird, wenn es keimt, zertreten
Oder von Dornen erstickt.
Und etliches hat der barsche Sturm
Geschleudert – weiß nicht wohin –
Auch den vermessenen Jugendtraum
Gezaust mir aus dem Sinn. –
Nun steh ich hier am Dornenzaun
Bei toten, raschelnden Ranken
Und muß mit ödem Greisenhaupt
Die trüben Tage durchwanken.
O Jugend, du fliegst kühn und rasch,
So wie die Schwalbe schnellt;
Doch, gleich der Schnecke träge, schleicht
In Ewigkeit die Welt.

[96] 6. Ich will!

Hoch stand ich auf dem Dach' und sah seltsamste Morgenglut:
Rings wogte über die Häuser hin ein Meer von Brand und Blut.
Es brüllte die schwarzrot qualmende Schlacht; mit zornigem Knattern schossen
Behelmte Feinde zu uns empor; doch es trotzten fest die Genossen
Wie Felsen im schlagenden Hagelsturm; verheerende Bomben schwangen sie
Und manchmal durch das Schlachtgetos' die Marseillaise sangen sie.
Ihr wollust-girrendes Mordlied pfiff eine Kugel an meinem Ohr;
Da bäumte sich meine Seele jäh, gleich wütiger Schlange, empor,
Den Sprengball zuckte die krallende Faust nach den feindlich stürmenden Massen
Und schmiß des Todes reißende Saat hinunter mit jauchzendem Hassen.
Und dumpf ...
[97]
Ein Rollen ... ein Peitschengeklatsch und

Getrappel ... goldflirrender Schein,

Und sieh! die Morgensonne stralt ins offene Fenster herein;
Im Bette lieg' ich; – es war ein Traum!
Nicht Kugeln, – die Schwalben girren
Und schießen um mein ländliches Dach, und droben im Mattblau schwirren
Lichtfrohe Lerchen. Durch thauige Flur trabt munter das Pferd mit dem Wagen;
Drauf sitzt der junge Bauer und schmaucht sein Pfeifchen mit Behagen.
Und fährt so sicher hinein in die Welt.
Ich aber, ich seufze und schwanke
Und bin auf bangem Lager hier ein zweifelnder Gedanke.
Noch hält der zornesglutende Traum mein Herz in banger Stockung,
Und schon umschmeichelt mich so süß des Lebens liebliche Lockung.
Da schwindelt mir; Verwirrung, Scham, sie überfluten heiß mich;
O ich vermessener, armer Thor! Was bin ich? Und was weiß ich?
Ich bin nur ein Halm im wogenden Feld und wähnte, ich sei das Feld;
Und ich wanke und schwanke in Lieb' und Haß, und mir däucht', ich bewege die Welt.
O ich Irrtum und schwächlicher Widerspruch! –
[98]
Und doch! Was hier erwacht
So grimm und kühn, ist Irrtum nicht, ist Zwietracht nicht, – ist Macht.
Ich bin die einige Macht, bin Lieb' und Haß miteinem Male,
So einig wie Kastanienfrucht und ihre Stachelschale.
Und die hassende Liebe, der liebende Haß, so in mir gährt und schafft,
Das ist der Menschheit Lebensdrang, ist dieweltbewegende Kraft.
Ich will! Und dieser Kraftstrom wird durch alle Zeiten wallen,
Wird Arme breiten sehnsuchtsvoll und Fäuste drohend ballen.
Ich will! Und wenn mein trotziger Mund auch längst im Tode schwieg,
Ich will! – Und ewig ist mein Kampf, und ewig ist mein Sieg.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Wille, Bruno. Der Genosse. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A9A2-2