[30] [33]Naturseelen

Der verlorene Bruder

Wie ein gezäumtes Wildroß
Mit weiten Nüstern lauscht,
Wenn frei durch Grases Wogen
Der Brüder Herde rauscht:
So horcht mein Haupt und taucht
Vom Fenster in die Nacht,
Wenn draußen freier Lüfte
Stürmender Drang erwacht.
Da neigen sich und flüstern
Willkommen Baum und Strauch,
Die heiße Stirn umschmeichelt
Des Regens kühler Hauch.
Und aus des Laubes Rauschen,
Aus Sturmes wogendem Laut
Tönt rührend eine Stimme,
Geschwisterlich vertraut.
Da ist mir, als erwach ich
Aus langem schweren Traum/
Ich bin ja euer Bruder,
Sturm, Regen, Fels und Baum!
Weh, daß ich mich verirrte
Von euch in fremdes Land,
Wo mich ein Fluch in banges
Gemäuer hält gebannt!
[33]
Nun steh ich hier und breite
Die Arme schmachtend aus,
Und lausch', in Weh verloren,
Dem lockenden Gebraus.
O könnt ich zaubern lernen/
Ich spräch ein kräftig Wort,
Entrollte stolz den Mantel
Und flög im Sturme fort.

[34] Pflanzenkind

Die Winterwolke flieht verdrossen
Den Himmel schmückt ein sanftes Blau.
Da lächeln goldig übergossen
Gehügel, Garten, See und Au.
An die entzückte Erde schmiegt
Liebkosend sich die junge Sonne;
Die zarten Glieder dehnt und biegt
Das Pflanzenkind in stiller Wonne.
Es schaut empor, sein Lächeln schmeichelt
Erquickend wie ein klarer Quell;
Und wie von Kinderhand gestreichelt
Wird mir die düstre Stirne hell.

[35] Wurzelgenossen

Tief in der Öde
Träumt eine Klause,
Umwogt von ewigem
Föhrengebrause.
Des Waldes Bäume
Sind treue Seelen,
Die kein Geheimnis
Dem Klausner hehlen.
Er lauscht versunken
In frommes Staunen,
Wenn Wunderstimmen
Aus Wipfeln raunen:
»O Klausner, wir alle
Sind Wurzelgenossen,
Dem einen heiligen
Busen entsprossen.
O Bruder Klausner,
Finde dich heim,
Wo uns alle vereint
Der selige Reim!
[36]
Ja reimt euch Seelen/
Bis jauchzend schallt,
Eine Riesenorgel,
Der Weltenwald!«
Der Klausner lauscht/
Und lallt die Weise
Zur Geige nach,
Inbrünstig leise ...
O süße Öde!
Träumende Klause,
Umwogt von ewigem
Föhrengebrause!

[37] Wandergänse in der Märznacht

Wie stumm der Föhrenforst! Aus Wolkenflor
Lugt scheu der Vollmond. Schwarze Klumpen kauern
In Moos und nebelgrauem Erlenmoor:
Wacholderbüsche. Wie versteinert lauern
Und brüten sie zum trüben Licht empor.
Ihr Düstern! Seid ihr noch von Winterschauern
Verstört und lahm? Hat Scheintot euch erstarrt,
Daß ihr nun bang des Auferweckers harrt?
Horch! Weint hier jemand? Wimmern ferne Eulen?
Wo bin ich? Schwarze Stämme. Sind es Säulen?
Sie wölben sich zum schauervollen Saal;
Und an der Decke schwelt die Ampel fahl.
Ach wohl, ich spür's, ich bin in einer Gruft!
Es haucht mich an mit kaltem Moderduft
Und ängstigt mir die Brust wie Todesqual:
Der Seufzer stockt ...
Da horch! Aus hoher Luft
Verworrner Ruf, geheimnisvoll Geraune.
Ist Rettung nah? Und wie ich aufwärts staune,
Da sieh/ am dämmerhaften Himmelsbogen
Kommt schattenhaft Gewimmel hergezogen,
Zum Keil gereiht/ Wildgänse, Wanderheere/
Ein Schlachtgeschwader, vorgestreckt die Speere.
[38]
Das stürmt so ungestüm, das ringt so hart,
Das rudert und das keucht, das gellt und schnarrt.
Nun saust ihr Fittich über mir und surrt ...
Vorbei!
Und noch ein Keil, und noch ein Keil!
Wie Wogen rauscht es. Lauter Wikinghorden!
Sieg, Helden! Sieg! Der kühnen Sehnsucht Heil!
Der starken Unrast Heil, die heim gen Norden
Euch treibt, zum trauten Nest an Felsenborden/
Wo nun das Moos erblüht, und schollenfrei
Im Sonnengold die Welle tanzt mit Rauschen ...
O Frühling, Heil! Fahrt wohl!
Vorbei/ vorbei!
Wie Traumgestammel noch ein wirrer Schrei/
Verschlungen von der Öde ... Starres Lauschen ...

[39] Seelenlos

Sie sagen, du hast keine Seele,
Arm bleiche Birkenmaid.
Du kauerst starr und stumm
Auf düster struppiger Heid.
Du kauerst in der Öde,
Ein ausgestoßen Kind.
Dein Haargezweige zaust
Der rauhe Märzenwind.
Sein mürrisch Brausen wogt
Durch Heidekraut und Ginster.
Ins weite Nebelgrau
Pilgern Wolken finster.
Eine Krähe treibt im Sturm
Taumelig vorbei;
Heiser und erstickt
Ihr grimmer Klageschrei ...
Kein Bettelkind, o Birke,
Ist also arm und bloß;
Es hat eine Seele, zu weinen/
Dich heißen sie seelenlos.
[40]
Und doch, in tiefer Öde
Spürst du die hohe Trauer
Als Seelenfrösteln süß,
Wollüstig kühlen Schauer.
Du kauerst starr und stumm
Auf düster struppiger Heid.
Sie sagen, du hast keine Seele,
Arm bleiche Birkenmaid.

[41] Blutbrüderschaft

Hier bei der Eichengruppe war's.
Der greisen Bäume knorrige Reckenglieder
Umsproß das bronzegelbe Frühlingslaub
Wie Kinderlocken zart.
Die schwarze Drossel schlüpfte durch die Äste,
Dem Liebchen flötend und ihr Nestlein planend.
Ein holdes Wunder, sprang aus violettem
Schlehdorn der mandelduftige Blütenschnee,
Und weich wie Mädchenkosen schmiegte sich
Der Rasen, mit Ranunkelgold verbrämt,
Um Torfmoor, dürres Schilf und Sumpfgelände.
Dort, wo noch jüngst der Öde Schauer hausten,
Erscholl der Fröschlein breites Lenzbehagen.
Und sieh, gespreizten Fittichs, nahte lüstern
Der erste Storch.
Vom Horizonte hob sich ein Gebirg
Aus Wetterdunst, im veilchendunkeln Schoß
Ein Tropfenmeer bereitend.
Und wie ein Jauchzen brach die Abendsonne
Hervor, purpuren das Gewölk benetzend,
Und schaute einmal noch mit Feuerblick
Tief ihren Frühling an ...
Da war's, da rührte mich der selige Tod:
Aus diesen Adern blutete die Seele,
[42]
Und rann erschauernd
Durch Eiche, Wolke, Wiese, Sumpf und Sonne.
Aus diesen Adern blutete die Seele,
Blutbrüderschaft zu schließen mit dem All ...
Und alles war nun mein/ und ich war sein/
Heimlich gehegt, ein süßer Herzensschatz.

[43] Einsamer Baum

Zersplissen ist mein Haupt
Vom schwarzen Wolkenwetter;
Herbstwind und Regen raubt
Die letzten toten Blätter.
So rag ich ganz allein
Aus ödem Heidekraut
Und träume von dem Hain,
Der weit verloren blaut.
Es packt mit grimmer Wucht
Mich wohl ein nächtlich Brausen;
Ich raffe dann mit Grausen
Zusammen mich zur Flucht/
Doch halten zähe Schollen
Mich an den Wurzeln fest./
Da steh ich nun mit Grollen
Und schüttle mein Geäst.

[44] Es will Abend werden

Säulengleich an des Hügels Saum
Träumt ein düstrer Wacholderbaum.
Drunten umflort sich die Kiefernheide
Schon mit blauendem Dämmerkleide.
Droben der Himmel leuchtet noch matt,
Grünlichgrau wie ein See und glatt.
Keusch wie Wasserrosenschnee
Blüht ein Stern im Himmelssee.
Sturmgewölke kommen geflogen,
Finster hüllend den Himmelsbogen ..
Säulengleich in Sturm und Dunkel
Träumt der Wacholder vom Sterngefunkel.

[45] Stimme der Mutter

Lag ich als Kind
Schlaflos ängstlich,
Sang die Mutter
Mit sanfter Stimme,
Bis der Schlummer
Träumende Augen
Leise mir schloß.
Längst verklangen
Die Wiegenlieder;
Wuchs der Mutter
Über den Kopf ...
Wer singt heut mir
Tröstliche Lieder?
Das bist du,
Hehre Stimme
Im Gebrause
Des Frühlingssturmes
Und im Flüstern
Fallenden Regens.
Lauschen will ich und liegen
Wie ein Wiegekind/
Singe, treue Mutter,
Schläfre dein banges Kind!

[46] Die hohe Föhre

Der drängenden Horde zwergiger Föhren
Vergißt die Gewaltige anzugehören.
Sie hebt das Haupt zur stürmenden Wolke/
Verloren über dem Nadelvolke,
Das nimmer den heiligen Sturm erlauscht,
Der einsam erhabene Stirnen umrauscht.
Sie aber sinnt/ und nickt/ und schaut
Ins Weite, wo dämmrig der Forst verblaut.
Zerrissenen Wolkengebirgen entrollt
Der sinkenden Sonne rotes Gold.
Das Föhrenhaupt erglüht verzückt/
Ins lodernde Feuermeer entrückt.

[47] Föhren glühen

Im frostigen Herbstgebrause,
Von Nebelregen umgraut,
Düster träumte die Föhre/
Wie eine verlassene Braut.
Auf einmal spaltet die Sonne
Blaugraue Wolkenfetzen,
Mit goldiger Abendflamme
Das Föhrenhaupt zu netzen.
Da rinnt durch starre Adern
Ein Hauch von Jugendglut;
Zum Antlitz wallt es zärtlich,
Stürmisch schmachtendes Blut.
Der Stamm und alle Zweige
Erglühen purpurrot,
Als weihe träumend sich die Braut
Dem Liebesflammentod.
Nun lischt der hehre Feuerball,
In Wolkenklüfte versunken ...
Die Föhre starrt dem Liebsten nach
Verzückt und flammentrunken.
[48]
Es war nur ein flüchtig Umfangen,
Ein Flackern; doch war's einmal
Und lohnt die Seufzer alle
In grauer Lebensqual.
So komm denn, Nacht und Öde,
Umhülle den Föhrenbaum/
Er trägt an seligem Herzen
Gestillter Liebe Traum.

[49] Die Silberpappel

Pappel, in deren Schattenrevier
Still geborgen ich ländlich wohne,
Breitgewipfelte Silberkrone,
Endlich wieder daheim bei dir!
Segne die schmachtende Stirne mir,
Die in schwatzender Menge Gewühl
Staubig ward und taumlig schwül/
Segne sie mit dem Kusse des Friedens!
Holde Rast, wo gastlich die frischen
Blätterschatten auf Gräsern sich kräuseln/
Wo in wogendes Wipfelsäuseln
Hurtige Schwalben ihr jauchzendes Zischen,
Ähren ihr sanftes Gelispel mischen/
Während die Sonne hinunterrollt
Und verklärend mit Purpurgold
Zärtlich die Wolke von Laub umkost ...
Heimische Pappel, Freundin, mein Trost!
Wenn in stummer heißer Nacht,
Ganz verloren in Gram und Grimme,
Meine Seele weint und wacht:
Hebt erlösend vor dem Fenster
Sich der treuen Pappel Stimme
Und verscheucht die Gramgespenster.
[50]
O du heimlich süßes Lauschen,
Ruhevolles Wipfelrauschen!
Dies Gewoge und Gewühle,
Aufgeregt vom hauchenden Wetter!
Dies Geplätscher derber Blätter/
Gleich dem Waldbach an der Mühle ...
O du Labetrunk voll Kühle!
Wenn aus Wolken Blitze lohen,
Reckt sich die Pappel ob Garten und Haus
Schirmend empor und spät hinaus
Weithin über die nebelgrauen
Wellenschlagenden Roggenauen,
Wo die flammende Wolke regnet/
Wie ein Patriarch
Seine schlafenden Völker segnet.

[51] Im Sommerwinde

Es wogt die laue Sommerluft.
Wacholderbüsche, Brombeerranken
Und Adlerfarren nicken, wanken.
Die struppigen Kiefernhäupter schwanken;
Rehbraune Äste knarren.
Von ihren zarten, schlanken,
Lichtgrünen Schossen stäubt
Der harzige Duft,
Und die weiche Luft
Wallt hin wie betäubt.
Auf einmal tut sich lächelnd auf
Die freie sonnige Welt:
Weithin blendendes Himmelblau;
Weithin heitre Wolken zu Hauf;
Weithin wogendes Ährenfeld
Und grüne grüne Auen ...
Hier an Kiefernwaldes Saum
Will ich weilen, will ich schauen/
Unter zartem Akazienbaum,
Der vom muntern Wind gerüttelt
Süße Blütentrauben schüttelt.
O Roggenhalme hin und her gebogen!
Wie sanft sie flüstern, wie sie endlos wogen
[52]
Zu blau verschwommenen Fernen!
Schon neigen sich und kernen
Viel Häupter silbergrün.
Andre blühn,
Duftend wie frisches Brot.
Dazwischen glühn
Mohnblumen flammenrot
Bei dunkelblauen Cyanen ...
Und droben wallen
Durch lichtes Blau
Wolkenballen,
Gebirgen gleich,
Halb golden und halb grau.
Frau Sonne spreitet
Den Strahlenfächer von Silberseide
Zur Erde nieder;
Dann taucht sie wieder
Aus schneeigem Wolkenkleide
Blendende Glieder
Und blitzt und sprüht
Verklärend Goldgefunkel
Auf Auen, wo lachend blüht
Vergißmeinnicht und gelbe Ranunkel
Und Sauerampfer ziegelrot ...
[53]
O du sausender brausender Wogewind!
Wie Freiheitsjubel, wie Orgelchor
Umrauschest du mein durstig Ohr;
Du kühlst mein Haupt, umspülst die Gewandung,
Wie den Küstenfelsen die schäumende Brandung/
O du sausender brausender Wogewind!
Nun ebbest du, so weich, so lind/
Ein Säuseln, Lispeln, Fächeln.
Bestrickte dich ein Sonnenlächeln?
Auch dein Gesäusel stirbt;
Dann/ lauschige Stille.
Nur noch die Grille
Dengelt und zirpt
Im Erlengebüsch, wo das Wässerlein träumt,
Von Lilien gelb umsäumt.
Ins Blaue weltverloren girrt
Inbrünstig die Lerche/ schwirrt
Taumlig vor Wonne
Zu Wolken und Sonne
Und girrt und girrt.
Da wird mir leicht, so federleicht;
Die dumpfig alte Beklemmung weicht.
All meine Unrast, alle wirren
Gedanken sind im Lerchengirren,
[54]
Im süßen Jubelmeer ertrunken.
Versunken
Die Stadt mit Staub und wüstem Schwindel;
Versunken
Das Menschengesindel;
Begraben der Unrat, tief versenkt
Hinter blauendem Hügel,
Dort wo hurtige Flügel
Die emsige Mühle schwenkt ...
Friede, Friede
Im Lerchenliede,
In Windeswogen,
In Ährenwogen!
Unendliche Ruhe
Am umfassenden Himmelsbogen!
Weißt du, sinnende Seele,
Was selig macht?
Unendliche Ruhe!
Nun bist du aufgewacht
Zu heitrer Weisheit.
Gestern durchwühlte dein Herz ein Wurm,
Und heute lacht
Das freie Herz in den Sommersturm ...
[55]
Friede, Friede
Im Lerchenliede,
In Windeswogen,
In Ährenwogen!
Unendliche Ruhe
Am umfassenden Himmelsbogen!

[56] Sonnenwende

Nun hat die Sonne glühend schwül
Des Himmels steilste Höh erklommen.
Johanniskraft, ein grau Gewühl
Von Wetterdunst, kommt hergeschwommen.
Schon dunkel grünt der Strauch und satt;
Vergilbt die Rasenspitzen hangen.
Noch einmal ruft der Kuckuck matt,
Dann ist ihm alle Lust vergangen ...
O weh, der junge Frühling ist gestorben.
Blaugrüne Motten ruhn erschöpft
Vom Liebesrausch auf Skabiosen;
Der Löwenzahn hat sich beköpft
Mit silbergrauen Flockenrosen;
Die Kiefern stäuben schweren Duft;
Im Espenwipfel zirpt die Meise;
Darüber zieht durch trübe Luft
Ein Habicht drohend seine Kreise ...
Ein unsichtbarer Schnitter wetzt die Sense.
Und horch, nun zischt und zischt der Schnitt
Und rafft die Halme, rafft die schmucken/
Und trifft und trifft mein Herze mit;
Bei jedem Takte muß es zucken.
[57]
Auch meine Wende kam! Ade,
Lichtgrüne Zeit, da ich gestiegen!
Nun geht's bergab! Es tut gar weh,
Wenn welk der Jugend Schwaden liegen ...
Und doch/ im Heuduft träumt es sich so süß!

[58] Herbstliche Eiche

Es nebelt. Knorriger Eichenheld,
Schon wird dein Lockenhaupt herbstlich bleich,
Und raschelnd die braune Eichel fällt.
Doch blüht dir heimlich ein Königreich.
Laß nebeln, dunkeln! Schlaf! Es ist spät!
Im Wintertraum küßt dich die Sonnenmaid,
Und aus den Keimen, die du gesät,
Sprießt tausendfach deine Jugendzeit.

[59] Novemberlaub

Auf stöhnender Föhre fidelt der Sturm
Heulende düstre Balladen;
Es schnaubt sein Odem, nebelfeucht
Von nordischen Seegestaden.
So trübe der Himmel, als wär's schon spät.
Die Wolken pilgern traurig.
Im Strudel taumelt verkommenes Laub
Um Baumgerippe so schaurig.
Ein letztes Blättchen am Dornenstrauch
Fröstelt in starrem Weh ...
O mach ein Ende, Novembersturm!
Deck zu, du wogender Schnee!

[60] Regenflüstern

Trüber Tag; die Traufe wimmert,
Tropfen rasseln an die Scheiben.
Brausend im Novemberwinde
Wanken dunkle Eiben.
Regensatte Wege formen
Wasserspiegel, drin die grauen
Wolken ihr verweintes Antlitz
Zittrig trübe schauen.
Über welkem Laub im Garten,
Krank gezaust das Köpfchen, trauert
Eine späte bleiche Rose,
Schmerzlich süß durchschauert.
Schmerzlich süß, vom Regenflüstern
Eingelullt, im schaurig herben
Sturme, eine stumme Blume,
Einsam, vornehm sterben.

[61] Novemberabend

Novemberabend kühlt und feuchtet.
Die Ferne stirbt in Dämmerduft.
Mit mattem Blinzeln nur durchleuchtet
Ein Stern die nebeltrübe Luft.
Gedämpfte Glockenlaute beben
Weich summend über Stoppelfeld.
Aus Wiesenniederungen heben
Sich dunkle Massen in die Welt.
Ein alter Pflüger mit dem Pferde
Zieht müde heim; die Pfeife glimmt.
Vom Schäferhund umtummelt, schwimmt
Mit Blöken dorfwärts eine Herde.
Mit qualmigdunkler Röte säumt
Der Himmel sich. Großleuchtend taucht
Der Mond empor ... Die Landschaft träumt/
Von Ruhesehnsucht überhaucht.

[62] Der Träumer

Ich war ein Kind/ mit großen Kinderaugen,
Die nur zu träumerischem Schauen,
Nicht zum Berechnen und zum schlauen
Erwerben taugen;
In dumpfen Stuben bangte mir, ich scheute
Gespräche nüchtern kluger Leute
Und stahl mich fort mit stiller Wonne
Zu Blumen, Gras und Sonne.
Da sog ich Luft wie ein Befreiter, lauschte
Den Bienen, Grillen, schwankendem Gesträuch,
Das wogengleich im weichen Winde rauschte;
Mit Staunen und Entzücken schaute
Mein Aug empor/ zu ihm,
Der tief und weithin blaute;
Und der betörte Träumersinn
Schwamm mit dem wunderbaren,
Wie Schneegebirge klaren
Gewölke sanft dahin.
So wuchs ich auf. Und allezeit getreu
Blieb meinem Aug das träumerische Schauen.
Doch ich bedachte nie: der Schatz der Auen
Sind nicht die bunten Blumen, sondern Heu;
[63]
Was blau und rot im Ährenfelde blüht,
Ist nicht dem Bauch des Erntesackes hold;
Und eines Dichters träumereich Gemüt
Trägt wenig Körnchen irdisch Gold.
Nun stehn die Äcker braun und stopplig nackt,
Geschorne Wiesen werden bleich und bleicher,
Und mir zum Spotte tanzt im fremden Speicher
Der plumpe Flegel trocknen Erntetakt.
Am Dornstrauch sitz ich, trübe wie der Himmel;
Verwelkte Blätter zerrt ein rauher Wind,
Scheucht mürrisch fort das raschelnde Gewimmel;
Und träumend starr ich nach/ ich dummes großes Kind!
Der Winter kommt. Ich werde frieren, darben
Und wie die arme Maus im Stoppelwald
Mich nähren von dem Abfall fremder Garben;
Vielleicht auch sterb ich bald ...
Mag sein! Doch schließ ich ohne Reue
Und segne dankbar meinen Träumerblick.
Er ließ mich lieben Flur und Himmelsbläue;
Und diese Liebe war mein Lebensglück.

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TextGrid Repository (2012). Wille, Bruno. Naturseelen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A9EA-4