Erstes Kapitel.
Der Haidekretscham.
Ein ansehnlicher Theil der beiden Lausitzen, namentlich die früher unter sächsischer Botmäßigkeit stehende Niederlausitz, ist mit unermeßlichen Kieferwaldungen bedeckt, welche unter dem Namen der großen Haide bekannt sind. Diese ungeheuren Wälder, auf deren feinem Sandboden nur Haidekraut und dürre Gräser Nahrung finden, erstrecken sich bis in die Nähe der Stadt Görlitz und bergen in ihrem schattigen Dunkel mehrere Städte und eine Menge Dörfer, so wie einzeln gelegene Häuser und Vorwerke. Hie und da unterbricht ein niedriger Höhenzug das einförmige Dickicht, von dem herab man die schwarze Waldung meilenweit übersehen kann. Am Fuße solcher meist kahlen Hügel haben sich an Waldbächen, [7] deren Gewässer grünen Wiesenbänder um die gelben Sandflächen winden, genügsame Menschen angesiedelt, um von Kohlenbrennerei, von Fischfang, dürftigem Ackerbau, Handarbeit und Bienenzucht kümmerlich zu leben. Ergiebiger wird der Boden der Haide an den Grenzen der Oberlausitz. Hier durchschneiden fruchtbare Thäler die rauschende Waldung, ansehnliche tiefe und bereits schiffbare Flüsse bewässern das umliegende Land und sichern den Anwohnern eine heiterere Existenz als ihren in den dürren Haideflächen versteckten Brüdern. Weiterhin gegen die Mark zu verliert sich das fruchtbare Erdreich wieder und die ganze Haide verwandelt sich in einen ungeheuren waldigen Moorbruch, den zahllose Flüßchen, Bäche, Kanäle und Teiche durchschneiden, und in welchem noch ein eigenthümliches Völkchen mit alterthümlichen Sitten still und zurückgezogen haust. Es sind die Bewohner des Spreewaldes.
Durch die ermüdende Oede jener sandigen Haide schleppte sich in den letzten Tagen des Septembers 1832 ein ärmliches Fuhrwerk, dessen gebrechlicher Bauart man es ansah, daß es polnischen Juden angehören müsse. Die Räder [8] waren theilweise ohne Schienen, eine zerlöcherte und mit hundert Flicken besetzte Plane von schmutzig grauer Leinwand war über halb zerknickte Reifen ausgespannt, um die darunter Sitzenden gegen Wind und Wetter zu schützen. In liederlichem Geschirr, an Strängen mit zahllosen Knoten und Troddeln, gingen drei muntere polnische Pferde, von denen zwei an die Deichsel, das dritte nach polnischer Sitte mittelst einer Kette an die Achse des Hinterrades gespannt war. Dies letztere Thier, jung und feurig, versuchte selbst in dem fußtiefen Sande häufig zu galoppiren, was ihm bei dem langsamern Schritt der beiden andern Pferde nicht recht gelingen wollte.
Vorn in der sogenannten Kelle saß ein untersetzter Kerl im langen schmutzigen Rock der gemeinen polnischen Trödeljuden. Ein struppiger Bart von unsicherer Farbe bedeckte sein ganzes blaurothes Gesicht, ein vielfach eingebogener Filzhut, hie und da zerbrochen, seinen Kopf. In Ermangelung eines Stützbretes für die Füße ließ er die in starken juchtenen Stiefeln steckenden Beine zu beiden Seiten der Deichsel herabbaumeln, so daß sie, wenn die Räder im Sande tief einsanken, oft den Boden streiften.
[9] Im Innern dieses Fuhrwerks saßen ein Greis und ein Jüngling von etwa siebzehn Jahren, und auf der an der Seite des Wagens angebrachten eisernen Stiege stand ein jüdischer Knabe von etwa funfzehn Jahren und hielt sich mit beiden Händen an den Tragreifen der Plane fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Dies polnische Fuhrwerk hatte in schräger Richtung auf einem der vielen tiefen Sandwege die Haide aus der Gegend von Priebus her durchschnitten und erreichte jetzt eine hochgelegene Waldblöße, über die eine etwas besser gehaltene Landstraße führte. Links am Fuße des Haidehügels in grünem, von vielen Gräben durchschnittenen Wiesengrunde lag ein Schenkhaus mit Stallung, Scheuer und Schuppen. Hinter den Wiesen sah das graue Dach einer Torfgräberhütte unter den Bäumen hervor, und weiter hin beschrieb die Haide einen schmalen Bogen, durch welchen man die blauen Wasserspiegel mehrerer großer Teiche im Abendschein blinken sah.
Die Sonne war dem Untergang nahe und ließ hinter blaugrauen Wolkenschichten eine Menge jener breiten Strahlen auf die Erde fallen, welche der Landmann für Vorzeichen nahen Regens [10] hält. Die breite schwarze Haide jenseits der Teiche ward dabei stellenweise blendend hell erleuchtet, während der Horizont purpurn erglühte und sowohl den interessanten Gebirgsknoten der weit bekannten Königshainer Berge, als auch die einsam gelegene hohe Doppelluppe der Landeskrone mit blitzendem Gold überströmte.
Nach dem Einerlei der Haide mußte dieser unerwartete Anblick einer fernen schönen Gebirgsgegend das Auge der Reisenden erquicken. Auch war der polnische Fuhrmann wirklich so überrascht, daß er unwillkürlich die Pferde anhielt und einige Sekunden die heitere Aussicht dummdreist angaffte. Mehr aber noch, als die farbigen Tinten der Abendbeleuchtung, schien dem Juden ein röthlicher Feuerschein in die Augen zu stechen, der aus dem unfern im Thale gelegenen Schenkhause vertraulich einladend heraufwinkte. Fragend sah er sich um nach dem Greise und zeigte dabei mit der Peitsche nach dem rauchenden Schornsteine der Thalschenke. Der Greis nickte bejahend und in leichtem Trabe flog das ärmliche Fuhrwerk den Sandweg hinab und lenkte in den offen stehenden Thorweg des Gehöftes.
[11] Ein Knecht, unter dem Schuppen mit Holzspalten beschäftigt, ging den Fremden entgegen behandelte aber den hastig fragenden Juden sehr kurz und machte sich mehr mit den hübschen wohlgenährten Pferden zu thun. Erst als der Greis mit seinem jugendlichen Begleiter abstieg und ihn in wendischer Sprache anredete, erheiterte sich sein Gesicht. Er reichte beiden Fremden die Hand, sagte ihnen ebenfalls auf wendisch, daß sie ein vortreffliches Nachtquartier bekommen sollten, und geleitete sie bis an die Hausthür, ein paar Bündel und Packen dienstfertig ihnen nachtragend.
Der Greis war ein hoch gewachsener, von der Last der Jahre nur wenig gekrümmter Mann. Er trug sich ziemlich altmodisch und vollkommen bäurisch. Kurze Beinkleider von schwarzem Leder bedeckten kaum das Knie, blauwollene Strümpfe schützten die Beine und grobe rindslederne Schuhe mit großen messingenen Schnallen umschlossen seine Füße. Außerdem trug er einen dunkelblauen Tuchrock, der von oben bis unten mit sehr breiten übersponnenen Knöpfen besetzt war, über der Brust aber bloß durch zwei silberne Heftchen zusammengehalten wurde und eine bis [12] an den Hals zugeknöpfte Weste von hellerem Tuch sehen ließ. Ein niedriger runder Hut mit sehr breiter muldenartig aufwärts gebogener Krempe bedeckte sein schneeweißes starkes Haupthaar. Als er diesen an der Schwelle des Hauses abnahm, mußte ein fingerbreiter Riemen von schwarzem Glanzleder, den der Alte um das Haar gelegt und vorn auf der Stirn mittelst einer Silberschnalle befestigt hatte, die einen auffliegenden Habicht darstellte, Jedermann auffallen. Dieser Riemen hielt die reiche Haarfülle des Greises fest zusammen und gab dem stramm Einherschreitenden eine überraschende Aehnlichkeit mit irgend einem Helden des Alterthums, wie wir sie aus Abbildungen auf antiken Münzen kennen.
Schon von dem Waldhügel herab hatte der Greis die am Wiesenrande liegende Schenke an ihrer ganzen Bauart, noch mehr an dem leuchtenden Heerd- oder Kaminfeuer für einen der vielen gastlichen Haidekretschame erkannt, die in den endlosen Wäldern zerstreut liegen. Er schien darüber sehr erfreut zu sein und seine strengen, tief gefurchten Züge, die in einem Zeitraume von mehr als achtzig Jahren vielen Kummer [13] und schweres Herzeleid erfahren haben mochten, heiterten sich etwas auf, als er in die Schenkstube trat. Es kam ihm Alles darin so bekannt vor, daß er den Arm seines jungen Begleiters drückte und auf der Thürschwelle stehen bleibend mit leiser Stimme zu ihm sagte: »Sieh, Paul, das ist die Heimath Deiner Väter!«
Der Wirth stutzte, als er diese obwohl in deutscher Sprache gemachte Bemerkung hörte und rückte mit größerer Eile, als er sonst zu thun pflegte, ein paar Schemel an den großen in der südlichen Stubenecke befindlichen Tisch. Inzwischen sah der Jüngling sich neugierig im Zimmer um, wo der umfangreiche Kachelofen mit dem großen hellpolirten kupfernen Ofentopfe, und daneben der in die Wand eingemauerte Kamin, auf dem ein knisterndes Kienfeuer hochauf loderte und die dämmernde Stube mit grellem Lichtschein beleuchtete, besonders seine Aufmerksamkeit zu fesseln schienen. Auf der Ofenbank dem Kaminfeuer zunächst saß eine bejahrte Frau mit hagerm, bleichem Gesicht und drehte rastlos beim Schein der Flamme die Spindel. Sie war in schwarze Stoffe gekleidet, nur um das ergrauende Haar, die Stirn mehr als zur Hälfte bedeckend, [14] hatte sie ein zwei Hände breites weißes Tuch geschlungen, das am Hinterkopf in zwei steif auslaufende ohrenähnliche Zipfel zu einem Knoten verknüpft war. Sie sah die Fremden mit großen neugierigen Augen an, ohne sie zu grüßen oder ihren Gruß zu erwiedern, und drehte dann emsig die Spindel fort, dann und wann leise mit sich selbst redend. Ihr ganzes Benehmen ließ errathen, daß sie geistesschwach oder vor Alter kindisch geworden sein mußte.
»Ich bitte um Nachtquartier für mich und meine Leute,« sagte jetzt der ernste Greis, am Tische Platz nehmend. »Eine gute Streu und ein Gericht Kartoffeln oder Haidegrütze werdet Ihr wohl für uns haben.«
»Für Euch gäb's wohl auch noch ein Stück geräuchertes Fleisch und frisches Sauerkraut,« fiel der Wirth ein, »und dazu möcht' ich Euch rathen, damit Euer Knecht nicht Hunger leiden darf. Mit Erlaubniß, Ihr kommt aus Polen?«
»Tief aus Polen!«
»Nun ich will hoffen, daß Ihr nicht zu den Rebellen gehört und Eure Papiere in Richtigkeit sind. Die Gensdarmen sind jetzt wachsamer und strenger als vor Jahr und Tag; denn die Haiden [15] stecken voll verlaufenen Gesindels, das sich heimlich über die Grenzen geschlichen hat.«
»Mein Paß steht Euch zu Diensten.«
»Daß mich Gott bewahre! Meinethalb frag' ich nicht, es geschieht blos der Sicherheit der Reisenden wegen. Gäb's nicht Gensdarmerie, mir zu Gefallen brauchten die Pässe, weiß Gott, nicht erfunden worden zu sein! Ihr seid kein Pole scheint mir?«
»Von Geburt nicht.«
»Sah's Euch gleich an, alter Vater! So ehrlich und treuherzig wie Ihr, sieht kein polnischer Bauer aus.«
»Muß ich denn gerade ein Bauer sein?« versetzte der Fremde. »Heut zu Tage trägt mancher einen Rock, der nicht auf seinen Leib gemacht ist.«
»Das trifft sich wohl, alter Vater, indeß wer so viel mit Menschen verschiedenen Schlages umgehen muß, wie der Wirth eines Haidekretschams, der bekommt ein scharfes Auge, glaubt mir's, und so leicht ist ihm nicht etwas weiß zu machen! Ja, ich wollte wetten, daß mehr altwendisches als deutsches Blut in Euren Adern fließt!«
[16] Der Greis sah den Wirth nach dieser Bemerkung mit seinen hellen dunkelblauen Augen scharf an, und da er einen ehrlichen Mann in ihm zu entdecken glaubte, nickte er und rief ihm den wendischen Gruß »Bomhai boh!« zu, denn bisher war das Gespräch deutsch geführt worden. Schnell und heiter entgegnete der Wirth »Wersh bomhasi!« schüttelte beiden Gästen die Hand und setzte mit Lebhaftigkeit und jener traulichen Freundlichkeit und sorglos-heitern Laune, die den Wenden eigen ist, die Unterhaltung fort.
Inzwischen war auch der jüdische Knecht mit seinem Sohne in das Zimmer getreten und hatte sich abseits vom Schenktische, dem Ofen gegenüber, an einen besondern Tisch gesetzt. Sie verlangten Schnaps und trockenes Brod mit Salz, das ihnen nebst einem Glase Bier ein junges Mädchen vorsetzte. Das Mädchen war stark und kräftig, strotzte von Gesundheit und schien sich um Druck und Noth der Zeit keine Sorge zu machen. Es richtete einige Fragen an die emsige Spinnerin, erhielt aber keine Antwort. Erst, als sie ziemlich heftig ihre Fragen wiederholte und dabei aus Versehen den Faden am Rocken zerriß, sah die alte Frau erzürnt auf. [17] Ein paar Sekunden schien es, als wolle sie eine Fluth von Schimpfreden über das Mädchen ausgießen, plötzlich aber ward ihr Gesicht wieder ernst, ein wehmüthiges Lächeln spielte um den reizlosen faltigen Mund, und den Faden wieder anknüpfend und mit größerer Emsigkeit die Spindel drehend, summte sie erst leise, dann immer lauter eine jener melancholischen Liederweisen vor sich hin, die noch heut bei den Wenden der Lausitzen in Gebrauch sind. Nachdem sie mehrere Verse unverständlich geflüstert hatte, erhob sie plötzlich ihre Stimme ganz laut und der fremde Greis verstand die Worte:
»Hinaus sie ihn trugen,
Viel Volk hinterher,
Jüdevoi!
Vor allen sein Liebchen
Ging zwischen zwei Andern,
Jüdevoi!
Das Mägdelein weinte
Und brach ihre Hände,
[18] Hier ließ sie die Stimme sinken, so daß die nächsten Verse den Zuhörern unverständlich blieben, dann aber, die Spindel heftig an sich reißend, an ihren Brustlatz stemmend und den Faden aufwickelnd, fiel sie wieder laut ein:
»Für mich starb der Liebste,
Für ihn will ich sterben,
Jüdevoi!
Hier hab' ich zwei Messer,
Die hat er gekauft mir,
Jüdevoi!
Eins senkte sie in sich,
Warf's and'r hint'r ihm her,
Jüdevoi!.
Begrabt nun uns Beide
Dort unter die Linde!
Jüdevoi!«
Abermals ließ sie die Stimme sinken und erhob sie erst beim letzten Verse wieder zu verständlichem Gesange, indem sie äußerst langsam in zitternden Tönen und Thränen vergießend mehr rief als sang:
[19]
»Sie liebten sich Beide –
In Eines verflochten,
Jüdevoi!
In Eines verflochten.«
Mit steigender Aufmerksamkeit hatte der junge Begleiter des Greises den Gesang verfolgt. Als nun die spinnende Alte am Schlusse des Liedes die Spindel auf ihren Schooß sinken ließ und schluchzend das Gesicht in die magern Hände drückte, sagte Paul, zu dem Greise gewandt: »Großvater, war das nicht meiner verstorbenen Mutter Lieblingslied?«
»Es war das Lied, das sie nimmer vergessen konnte, die arme Seele!« erwiederte die alte Wende. »Man kennt und singt es, so wenn die wendische Sprache reicht, zumal, wenn man ein selbst erlebtes Unglück zu beweinen hat. Aber wie, Herr Wirth, wie kommt die alte Mutter zu dem Liede?«
Der Wirth zuckte die Achseln. »David wäre viel zu erzählen,« versetzte er, »wenn ich Euch mit den Einbildungen einer schwachsinngen alten Frau unterhalten wollte. Wir sind darauf gewöhnt und lassen uns nicht mehr durch ihre Gesänge stören. Wohl zehn-und mehrmal täglich [20] pflegt sie das alte Lied abzuleiern, so oft sie ein junges Mädchengesicht erblickt. Es scheint, sie bildet sich dann ein, ihre Tochter stände vor ihr, die ein schlechtes Ende nahm in Folge einer leichtsinnigen Liebelei. Eine alte Klage aller Aeltern, die nie ganz aufhören wird, so lange es noch junge heißblütige Burschen gibt.«
Das Mädchen hatte unterdeß ein Linnentuch über den Tisch gebreitet, eine Schüssel kaltes Rauchfleisch und gewärmtes Sauerkraut aufgesetzt, und auch ein paar Gläser Bier eingeschenkt. Dann legte sie neue Kienspäne auf die Kaminplatte und fachte die Flamme mit ihrem Athem an, bis sie knisternd hoch aufflackerte und die geräumige Stube leidlich erhellte. Lichter wurden nicht angezündet, das Kaminfeuer mußte, so gut es gehen wollte, deren Stelle ersetzen.
»Nun langt zu, alter Vater, und Du, blonder Junge, sieh munter in die Welt!« ermahnte der Wirth seine Gäste, selbst zulangend und ein tüchtiges Rippenstück auf seinem hölzernen Teller, deren einen jeder Gast erhalten hatte, emsig zerlegend. »Wart Ihr lange in Polen?« fragte er den Greis. »Vordem ging viel Volks dahin, auch hier aus der Gegend. Man erzählte[21] sich Wunderdinge von dem billigen Leben in den polnischen Wäldern und von dem leichten Verdienst, den Einwanderer haben sollten, wenn sie die Feld- und Landwirthschaft verständen. Es muß aber doch nicht so gar herrlich gewesen sein, sonst hätten sie wohl schwerlich die martialische Revolution gemacht, die nun ein so klägliches Ende genommen hat! Habt Ihr auch darunter gelitten, alter Vater?«
»Persönlich bin ich verschont geblieben,« versetzte der Wende, »aber zwei meiner Enkel mußten den Aufstand mit ihrem Leben büßen. Doch laßt uns davon schweigen! Es ist nicht gut von Dingen reden, die nicht zu ändern sind.«
»Gedenkt Ihr Euch wieder ganz in Deutschland niederzulassen?« nahm der Wirth das Gespräch abermals auf, da es ihm nicht gemüthlich war, sein Mahl stillschweigend zu verzehren.
»Das hängt von Umständen ab,« erwiederte der Greis, »und vielleicht könnt Ihr mir selbst über Einiges, das für mich bestimmend sein dürfte, Aufschluß geben.«
»Von Herzen gern, Landsmann. Nur zugefragt und Ihr sollt Antwort haben, bis meine Zunge sich nicht mehr rühren kann.«
[22] »Ihr seid doch hier einheimisch?«
»Hier und aller Orten in der Haide bis hinauf an die Berge in den böhmischen Grenzen.«
»Da werdet Ihr vermuthlich in früherer Zeit von einem vielbekannten und in seiner Art berühmten Manne gehört haben, den man zu meiner Zeit nur den Maulwurfsfänger nannte von dem Gewerbe, das er trieb. Wißt Ihr wohl, wo und wann der Mann gestorben ist und ob seine Verwandten noch leben? Denn Kinder hat er meines Wissens nicht. Wenigstens war er niemals verheirathet.«
»So gerade heraus, alter Vater, kann ich auf Eure Frage nicht antworten. Es gibt hier in den Haiden mehrere Maulwurfsfänger, alte und junge, die sich alle nähren, viel herumkommen auf den Dörfern, bei Bauern und Herren leicht Quartier finden und alle, der Eine mehr, der Andere weniger, einen guten Ruf haben.«
»Derjenige, den ich meine, kann nicht zehn volle Jahre jünger sein, als ich. Er war nicht aus der Haide, auch kein Wende von Geburt, sondern ein rechter hartköpfiger Oberlausitzer. Bin ich nicht ganz irre, so lebten seine Aeltern auf dem Hahne unterm Hochwalde. Später zog [23] er aus dem Gebirge herunter und kaufte sich auf dem hohen Hübel zwischen Löbau und Herrnhut ein Häuschen. Den Ort nannten sie dazumal insgemein ›den Todten‹, weßhalb wir den Mann scherzweise oft den todten Maulwurfsfänger hießen.«
»Mein Gott, mein Gott, wie ist mir denn?« sagte der Wirth im Haidekretscham. »Gewiß, ich kenne den Mann und sicherlich leb er noch und treibt sein Gewerbe so sachte hin immer noch fort; wenn ich mich nur auf seinen Namen besinnen könnte.«
»Mit dem Spitznamen hieß er Pink-Heinrich, weil ihm des vielen Sprechens wegen die Pfeife häufig ausging und er fortwährend genöthigt war, aufs Neue Feuer anzuschlagen, was die Oberländer ›pinken‹ heißen.«
»Meine Seel', alter Vater, Ihr habt Recht!« rief erfreut der Wirth aus, das erhobene Glas wieder niedersetzend, ohne es zum Munde zu führen. »Der Mann lebt und wie Gesund und frisch wie ein junger Bursche und alert wie eine Forelle! Weiß Gott, wie er es macht, daß ihn nichts auf Erden anficht, weder Krankheit, noch Krieg, noch Kummer noch Arbeit! Er läuft wie ein Rebhuhn noch heut sein [24] sechs Meilen des Tages und schläft dann auf harter Bank besser, als mancher großmächtige König und Herr in seinen weichen Pfühlen! Ja das ist noch ein Mann, so unverwüstlich und herzerfreuend, wie die Berge, auf denen er jung geworden!«
Zustimmend lächelnd nickte der Greis freundlich mit dem Kopfe. »Ihr schildert den Pink-Heinrich meiner Jugend, den wackern Helfer in jeglicher Noth, den Freund aller Armen, Nothleidenden und Bedrückten und den unversöhnlichen, aber schlauen Feind rechtloser Gewalthaber! Er lebt! Gott, der Mann lebt! Und wißt Ihr, wo ich ihn treffen, ihn sprechen kann?«
Zwar kam es dem Wirth sonderbar vor, daß sein Gast, der seit langer Abwesenheit tief aus den Wäldern des zerrütteten, mit Blut gedüngten, rechtlos unterjochten Polen kam, mit solchem Jugendfeuer von einem Manne sprach, der in der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr Geltung hatte, als der gemeinste Tagelöhner, indeß war er doch auch zu gutmüthig und mittheilsam, als daß er einen Gast, der noch dazu von Stamm sein Landsmann war, nicht die gewünschte Auskunft hätte geben sollen.
[25] »Wenn Euch daran gelegen ist, den Maulwurffänger zu sprechen,« versetzte er nach kurzem Besinnen, »so könnte ich Euch wohl einen Ort nennen, wo Ihr ihn sicher trefft, wenn die Witterung nicht ganz zum Davonlaufen schlecht wird. Das Häuschen auf dem Todten hat er längst verkauft, weil's ihm zu einsam gelegen war und er die Aussicht nicht mehr leiden konnte. Sie hatten ihm nämlich in den ersten zwanziger Jahren oder noch früher kaum eine Viertelstunde von seinen Fenstern am Saum des Waldes ein Rad aufgepflanzt und darauf die Gebeine eines Mordbrenners geflochten, der wohl ein halbes Dorf aus gemeiner Rache in Asche gelegt hatte. Das verdroß ihn und so zog er in das letzte sächsische Dorf auf der Straße von Löbau nach Reichenbach. Was ihn bewegen mochte, gerade diesen Ort zu wählen, weiß ich nicht anzugeben. Es muß aber wohl eine besondre Bewandtniß damit haben.«
»Wie so?« warf der Greis fragend ein.
»Ich vermuthe dies blos, weil der Mann so lange ich ihn kenne, und das mögen jetzt an die zwanzig Jahre her sein, alle Sonntage, dir Gott werden läßt, und an denen nicht Hagen [26] oder todbringendes Schneewetter die Wege ungangbar macht, in die Königshainer Berge wallfahrtet. Kennt Ihr den Todtenstein?«
»Ob ich ihn kenne!« sagte der Greis, die Hände faltend und seine großen blauen Augen mit schauerlichem Ernst zum Himmel aufschlagend.
»Nun seht,« fuhr der Wirth fort, den die geheimnißvolle Schweigsamkeit des alten Wenden immer mehr anzog, »heut ist Sonnabend, will's Gott, und wenn Ihr morgen in der Frühe mit Eurem ungläubigen Kutscher aufbrecht und die Richtung nicht ganz verliert, auch Euer gottserbärmliches Gerüll von Wagen nicht auf unsern mitunter holprigen Wurzelwegen zerbricht, so mögt Ihr in den ersten Nachmittagsstunden am Fuße der Königshainer Berge ankommen. Macht Ihr Euch dann auf den Weg und geht schnurstracks nach dem Todtensteine, den Ihr in einer guten halben Stunde vom Gasthofe aus erreichen könnt, so werdet Ihr unter irgend einer der vorspringenden Felsenkanten den Mann, den Ihr sucht, in stilles Nachdenken verloren sitzen sehen! Ob er ein Anhänger des lieben Heidenthums ist, das vor alten Zeiten in der Gegend gehaust haben soll, oder ob er heimlich Schätze gräbt[27] oder gar mit den Geistern und Holzweibeln Verkehr treibt, die um die schauerlichen Klüfte schweben und ihre unheimlichen Weisen singen, das weiß ich nicht und mag's auch nicht wissen! Aber ich will kein Wort wendisch mehr sprechen, wenn Ihr dem Pink-Heinrich nicht am Todtensteine begegnet!«
Sichtlich erheitert reichte der alte Wende dem Wirth die Hand über den Tisch, dankte und trank ihm nach altwendischer Sitte zu. »Gott segne Euch und Euer Haus für diese Auskunft!« sagte er. »Ruhiger, als ich glaubte, lege ich jetzt mein weißes Haupt auf das Stroh nieder, das auf dem Boden meiner theuren Heimath gewachsen ist! Schwere, traurige, furchtbare Schicksale vertrieben mich daraus und ich verließ sie mit der lähmenden Gewißheit, sie nie mehr wieder zu sehen. Aber der Herr hat es anders mit mir beschlossen. Er will vielleicht die Wunden, welche seine prüfende Hand meinem armen Herzen in den Jahren der Kraft schlug, jetzt im Alter heilen und einen vollen, segnenden Strahl seiner Gnade mir schenken! Sein Name sei gepriesen, was mir immer begegnen möge, aber verdreifacht wird mein Glaube werden, der mich[28] stets aufrecht erhalten hat in Noth und Elend, wenn ich diese abgehetzten Glieder endlich nach langer Irrfahrt an meiner Aeltern Grabe zur Ruhe niederlegen sollte.«
Der Greis sprach so ernst und feierlich, daß selbst dem etwas neugierigen Wirth, der gern heiter und launig war, die Wiederanknüpfung des Gespräches verleidet ward. Er schwieg gänzlich, auch der jüdische Kutscher mit seinem Sohne flüsterte nur leise, dagegen erhob die spinnende Alte, die schon längst wieder ihrer Gewohnheit nach die Spindel drehte und ein Gespräch nur dann beachtete, wenn Worte darin vorkamen, die irgend ein vergangenes Ereigniß urplötzlich in ihr unklares Gedächtniß zurückriefen, abermals ihre Stimme. Phantastisch die linke Hand schüttelnd, sprach sie in singendem dumpfem Tone:
»Zu Haus, im Felde
Zwiefache Noth!
Schlimm ist's für Jeden,
Der hat kein Brod!«
Dann fiel sie sogleich in ein lustiges Gelächter, stampfte taktmäßig mit dem Fuße auf das Bänkchen ihres Rockenhalters und sang munter [29] und fröhlich, den Kopf hin und her wiegend und häufig laut dazwischen auflachend, indem sie die Spindel in hohen Bogen um sich tanzen ließ:
»Tom tom tinz,
Sie buck 'ne Blinz;
Tom, tom tich,
Drauf lüstert's mich.
Tom tom tin,
Sie gab mir ihn;
Tom tom tauf,
Ich aß ihn auf.
Tom tom ther,
Ich wollte mehr;
Tom tom ticht,
Sie gab mir's nicht.
Tom tom terr,
Da kam der Herr,
Tom tom tort,
Ich wälzt' mich fort.«
»Wollt Ihr nicht Feierabend machen, Mutter Maja?« sagte jetzt der Wirth zu der wunderlichen Alten, als sie den barocken Gesang endigte. »Ihr habt ja bald einen ganzen Rocken abgesponnen und was soll ich mit dem vielen [30] Garne anfangen bis Weihnachten? Der Garnsammler kommt nicht vor Neujahr, wie Ihr wißt, und in unserm ganzen Hause gibt's so viel Mäuse, daß weder Speck noch Flachs einen Tag lang sicher sind. Schade um Euer schönes Gespinnst!«
»Wohl gesprochen, mein Sohn! Ich will schlafen gehen,« erwiederte die Alte, schob den Rocken bei Seite und steckte die Spindel darauf. »Des Nachts seh' ich die Wassernixen tanzen, und wenn sie singen und mit mir reden, macht's mir keinen Aerger, wie das dumme Geschwätz der Mägde. Gute Nacht, Jürge; wünsche angenehme Ruhe, edle Herren!«
Sie stand auf und machte ein paar tiefe Knixe gegen die Fremden, worauf sie langsam die Thür aufstieß und quer über die Hausflur nach ihrer eigentlichen Wohnung schritt. Denn Mutter Maja lebte als Wittwe des früheren Wirthes und als Mutter des jetzigen im Ausgedinge.
»Es ist übel mit solchen alten Leuten,« sagte Jürge zu seinen Gästen. »Mit Härte und Gewalt ist nichts von ihnen zu erlangen und Güte und freundliches Zu reden fruchten blos dann, [31] wenn sie grade mit ihrem verworrenen Gedankengange im Einklange stehen. Die arme Mutter! So treibt sie's nun alle Tage schon seit Jahren! Bald bricht sie in herzerschütterndes Weinen aus und singt die traurigsten Lieder unseres Volkes, bald, ehe man die Hand umdreht, lacht und jubelt sie und erinnert sich der schabernäckischen Weisen, mit denen die jungen Burschen ihre Mädchen bei der Spinte und auf dem Felde necken. Denn Ihr müßt wissen, daß Maja die erste Liederkennerin im ganzen Wendenlande ist. Fragt sie, wonach Ihr immer wollt, sie wird Euch Rede stehen und auf jedes Begegniß, auf jede Verrichtung im gewöhnlichen Leben einen passenden Vers, ein Lied oder einen Spruch wissen! Deßhalb kommen auch Sonntags im Winter die Burschen oft stundenweit her zu mir, um von der Mutter neue Lieder und Melodien zu lernen, und es geht dann in meiner einsamen Schenke häufig lustiger zu, als im besuchtesten Kretscham großer Hofedörfer.«
Nach seiner Weise gab der Greis seine Zustimmung durch Kopfnicken zu erkennen. Die heitere, unbefangene Unterhaltung des Wirthes gefiel ihm und er hätte gern noch etwas Näheres [32] über die Verhältnisse des Mannes und seiner alten gestörten Mutter erfahren, da ihm die Schicksale seiner Stammesgenossen immer wichtig erschienen, weil er selbst von den traurigsten nicht verschont geblieben war, allein die Müdigkeit Pauls, der schon während des Essens eingenickt war, und der Wunsch, am nächsten Morgen zeitig wieder aufzubrechen, bestimmten ihn, für diesmal neue Erörterungen zu unterlassen. Er bat daher den Wirth, daß er die Streu für ihn möge bereiten lassen, was dieser bereitwillig selbst unternahm. Der Knecht, der schon geraume Zeit am Ofen gesessen hatte, führte den Juden in den Stall und wies ihm und seinem Sohne auf dem Futterkasten eine warme Lagerstatt an.
»Solltet Ihr früher wach sein, als ich oder meine Leute,« sagte der Wirth, nachdem die Streu auf umgestürzten Schemeln bereitet war, so dürft Ihr blos mit dem Deckel des Ofentopfes herzhaft klappern. »Das ist unsere Klingel, für die wir allesammt ein gar feines Ohr haben. Gute Nacht, der Herr behüte Euch!«
Er drückte seinen Gästen nochmals die Hand und ging dann ohne Licht, wie die Uebrigen, in die an die Wohnstube stoßende Schlafkammer.
Fußnoten
1 Bruchstücke noch jetzt unter den Wenden gäng und geber Volkslieder.