[58] 20. Vollendung einer fünfjährig-fortgewährten Betrachtung Gottes

O Ens Entium Miserere!


1722.


Allgegenwart! ich muß gestehn,
Du unaussprechlich tiefe Höhe
Erfüllest, ohne Dich zu sehn,
Doch alles, wo ich geh' und stehe.
Die Spur von Deinem Allmachts-Pfad,
Die ewiglich nicht auszugründen,
Ist dennoch überall zu finden,
So weit man Raum zu denken hat.
So kan es ja nicht anders seyn,
Weil ich Dich allerwegen merke;
So geb ich mich mit Ernst darein,
Die Grösse Deiner Macht und Stärke,
Die blendend-helle Majestät,
Vor der die finstren Tieffen weichen,
Mit einem Liede zu erreichen,
Das über alle Lieder geht.
Allein Du unbeschriebner Mann,
Wo fing ich meinen Lobs-Gedanken
Den ersten Stein zu setzen an?
Wohin versetzt ich ihre Schranken?
In welchem Lebens-Jahre wird
Erst mein Verstand so aufgekläret,
Daß er hinauf- und niederfähret,
Und sich nicht überall verirrt?
Es spreche, Du verborgner Gott!
Ein Mensch, was eigentlich Dein Wesen,
Und werde nicht dabey zu Spott
Vor allen, die den Ausspruch lesen:
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Er wird, mit ausgesuchter Art,
Die Sprache also führen müssen,
Daß er und alle nichts mehr wissen,
Als was Du längst geoffenbart.
Wie wagte sich der Sinn hinein
Bis zu den tiefen Eigenschaften!
Die sonderlich und insgemein
Genau an Deinem Wesen haften;
Und zu des Namens Wunder-Höhn,
Der sich zu nennen nicht beliebet,
Sich auch nur zu erfahren giebet,
Wo Aug und Sinnen stille stehn.
Wer führet mich zu Deiner Quell?
Unendlichkeit! des Geists Erstaunen!
Wo find ich eine freye Stell,
Von Deinen Wundern zu posaunen?
Ich warn'te alle Creatur,
Vom Fürsten an der reinen Geister,
Bis zu der Weisen Ober-Meister,
Vor Deiner fürchterlichen Spur.
Ich lasse Dich: Du bist zu hoch,
Zu tief, o Gott! zu groß und lichte,
Für einen Geist im Leibes-Joch,
Für ein umhülletes Gesichte.
Wie kam das Schaffen Dir in Sinn?
Verfehlt ein Fürst der Creaturen
Zu Dir, dem Schöpfer, Bahn und Spuren,
Wo will die andre Schöpfung hin?
Hör auf zu suchen was so fern,
Hör auf zu forschen was dich fliehet!
Du hast den ausgemachten Kern:
Sey nicht ums Aussenwerk bemühet:
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Verrükke nicht dein Seelen-Licht
Bis Zu dem Kreis der Ewigkeiten:
Du möchtest Finsternis erbeuten,
Und fändest Mich doch nirgends nicht.
Wie so? du unverständigs Kind!
Wilt du mich aus der Tieffe holen?
Wo meynest du, daß man mich find't?
Suchst du mich bey den Himmels-Polen?
Suchst du mich in der Creatur?
Gott, den kein leiblich Auge schauet,
Hat etwas sichtbarlich erbauet,
Der ganzen Gottes-Fülle Spur.
Ihr Menschen! kommt herbey, und seht
Die zugedekten Abgrunds-Schlünde,
Die eingehüllte Majestät,
In Jesu, dem geringen Kinde!
Seht, obs der Mensch in Gnaden sey,
Seht, ob Er euer Lob verdienet?
Wem Seine Lieb im Herzen grünet,
Wer gläubt; wird aller Sorgen frey.
Ach Gottes Wort, du wahres Licht,
Du Glanz des Königs aller Ehren!
O Liebe, die den Himmel bricht,
In meiner Hütte einzukehren:
Hie find ich mich! hie greiff ich zu.
Zwar hab ich Dich noch nicht gesehen:
Das wird zu seiner Zeit geschehen.
Itzt lieb ich Dich, und gläub und ruh.
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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von. Gedichte. Teutsche Gedichte. 20. Vollendung einer fünfjährig-fortgewährten Betrachtung Gottes. 20. Vollendung einer fünfjährig-fortgewährten Betrachtung Gottes. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-B795-F