304. Freischützsagen.

1.

Drei Lehrlinge sind bei einem Förster, der die Freischützenkunst verstand, zu gleicher Zeit in die Lehre getreten. Nach abgelaufener Lehrzeit hat der Förster in der Johannisnacht eine Eiche in Mannshöhe abgesägt, das obere Ende des stehen gebliebenen Stammes zu einem Zapfen geformt und ein Wagenrad darauf gesetzt, daß es sich wagerecht darauf hat herumdrehen lassen. Während der Förster sich einige Augenblicke entfernt, haben sich die drei Lehrlinge so gut wie möglich auf dem Rade festsetzen müssen. Dann ist er wiedergekommen (es war aber der Böse, der des Försters Gestalt angenommen), hat das Rad in Bewegung gesetzt und so lange gedreht, bis Einer heruntergefallen ist. Mit dem ist er verschwunden; die andern Beiden sind wirkliche Freischützen geworden und haben nur aus dem Fenster zu schießen brauchen, um jedes beliebige Wild zu erlegen.


Candidat A. Reimers in Rostock.

2.

Ein Jäger, der Freischütz werden wollte, wandte sich an einen Förster, der die Kunst verstand. Der Förster versprach es ihm, wenn er die drei erforderlichen Probeschüsse thue. An einem bestimmten [234] Tage nahm der Förster ihn mit ins Holz, stellte ihn an einer kleinen Blöße an und gab ihm die Weisung, auf das erste Wild, das er aus dem Dickicht ihm über diese Blöße bringen werde, zu schießen. Bald darauf kommt der Förster auf einem Rehbock aus dem Dickicht geritten; der Jäger schießt nicht, weil er den Förster zu treffen fürchtet. Darauf kommt der Förster zurück und macht ihm Vorwürfe; zweimal könne er ihm noch ein Wild vorbringen, einmal wenigstens müsse er schießen, wenn ihm sein Leben lieb sei; daß er ihn treffe, brauche er nicht zu fürchten, er sei schußfest. Das zweitemal kommt der Förster auf einem Hirsch vorüber, aber der Jäger schießt wieder nicht; das drittemal kommt er auf einem wilden Schweine und ruft ihm zu ›Schieß, oder es kostet dir das Leben!‹ Der Jäger schießt nicht und das Schwein verschwindet mit dem Förster, der auch nicht wiederkam. Dem Jäger geschah weiter kein Leid, aber Freischütz ist er nicht geworden.


Candidat A. Reimers in Rostock.

3.

Wer Freischütz werden will, muß bei der ersten Communion die Oblate wieder aus dem Munde nehmen, in das Gewehr laden und gegen einen Baum schießen. Wo der Schuß eingeschlagen hat, werden die Würfel aus dem Baum geschnitten und in den Stock genäht. Trägt er diesen, so kann er Alles schießen, auch was er gar nicht sieht. So hat ein Jäger aus Hinrichsdorf auf dem Alten Markt zu Rostock von Heydtmanns Hause aus einen Rehbock geschossen.


Pastor Dolberg.

4.

Ein Jäger sagte seinem Sohne, der auch Jäger werden wollte, er sollte bei der Confirmation die Oblate nicht herunterschlucken, sondern aus dem Munde nehmen. Dann ließ er sie ihn im Walde an einen Baum nageln und ließ ihn darnach schießen. Der Sohn legte an, aber in dem Augenblicke sah er das ganze Leiden Christi am Baume erscheinen. Da ließ er die Flinte fallen und war nicht zum Schießen zu bewegen.


Stud. Beckmann.

5.

In Parchim war mal ein Kerl, der hat, als er confirmirt wurde, beim Abendmahl die Oblate wieder aus dem Munde genommen und in der Hand behalten. Nachher hat er sie an einen Pfahl genagelt und darnach geschossen; da waren denn Blutstropfen raus gekommen. Der Kerl war aber nun ein Freischütz und traf Alles, was ihm vor [235] die Büchse kam, und Keiner konnt' ihm was anhaben. – Ebenso wird man auch Freischütz, wenn man in der Neujahrsnacht über'n Kreuzweg schießt.


Mündlich aus Parchim durch Gymnasiast Behm; vgl. Kuhn, WS. 1, 339 und Anm.


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TextGrid Repository (2012). Bartsch, Karl. 304. Freischützsagen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-F17B-A